Israel – eine partikularisierte Gesellschaft

Gespräch mit dem israelischen Historiker und Soziologen Moshe Zuckermann

Sven Jacob

Israel hat als Staat im letzten Jahrzehnt eine Reihe grundlegender Veränderungen erfahren. Sowohl ethnische als auch soziale, politische und religiöse Strukturen haben sich durch verschiedene Umstände um- und neu geformt. Moshe Zuckermann, Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv, hat auf diesen Gebieten geforscht und gibt im nachfolgenden Gespräch Auskunft über strukturelle Probleme der israelischen Gesellschaft, die auch die Haltung zu Sicherheitsproblemen und zur Palästinafrage berühren.

Herr Zuckermann, für das Vorhaben, die derzeitige gesellschaftliche Situation Israels zu analysieren, möchte ich vorschlagen, uns vor allem auf den Zeitraum der Neunzigerjahre festzulegen, einen Zeitrahmen, der mit der Auflösung der beiden großen Blöcke und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammenfällt. Zum einen, weil sich der weltpolitische Rahmen, in den der Nahe Osten eingebettet ist, drastisch veränderte, und zum anderen, weil die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzende Einwanderung nach Israel die demographische Situation bedeutsam veränderte.

Moshe Zuckermann: Hinzu kommt meiner Ansicht nach noch ein weiterer Grund: Der zweite Golfkrieg als ein zentrales Ereignis, das später für das Oslo-Abkommen bedeutsam war. Und man kann sagen, dass auf dieser Ebene in der Tat die Neunzigerjahre ausschlaggebend wurden für das, was sich im Moment als Katastrophe ausnimmt. Wir sollten uns auf diesen Zeitraum konzentrieren, weil dies das Jahrzehnt des Oslo-Abkommens ist. Dies aber vor dem Hintergrund, dass man sich nicht das Jahr 1948 (Gründung des Staates Israel) oder das Jahr 1897 (Erster Zionistischer Weltkongress in Basel) als Voraussetzung nehmen will. Aber zumindest noch das Jahr 1967, denn es geht noch immer um eine für die besetzten Gebiete erforderliche Lösung.

Lassen Sie uns mit einer Beschreibung der momentanen demographischen Situation in Israel beginnen.

Versucht man, nur die demographischen Daten als Grundstruktur zu umreißen, stellt sich die derzeitige Situation so dar: In Israel leben heute rund 6 Millionen Bürger, von denen 1,2 Millionen Nicht-Juden, also Araber sind. Im letzten Jahrzehnt sind etwa 1 Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert, und ich sage bewusst Menschen und nicht Juden, denn es waren vermeintlich Juden, die man zionistisch nach Israel einführen wollte. Es war schon Anfang der Neunzigerjahre klar, dass es sich bei einem nicht unerheblichen Teil dieser Menschen – offiziell hieß es damals schon 20 Prozent, später dann 30 Prozent, bei einer Dunkelziffer von 35 bis 40 Prozent – um Nicht-Juden handelt, die nach Israel eingewandert sind. Also um Wirtschaftsflüchtlinge beziehungsweise um Personen aus "Mischehen", das heißt Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden, die in der Sowjetunion gang und gäbe waren, und die dann nach Israel kamen. Ich erwähne das mit Vorbedacht, denn später wird sich das als ein zentrales Moment der politischen Analyse erweisen.

Dann haben wir heute in Israel ungefähr 250.000 bis 300.000 Menschen, die man früher in Deutschland euphemistisch Gastarbeiter genannt hat, also nichtisraelische Bürger, die hier arbeiten und leben. Und auch diese Gruppe hat, wie sich noch zeigen wird, natürlich eine ganz bestimmte sozialökonomische und politische Funktion. Und nicht zuletzt sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten etwa 50.000 Äthiopier eingewandert.

Wenn man dann die 2 Millionen Russen und Araber, die 250.000 Gastarbeiter und diejenigen, die ich jetzt nicht aufgezählt habe, abzieht – das sind ungefähr 1,8 bis 2,0 Millionen Menschen –, dann verbleiben etwa 4,0 Millionen aufgeteilt in etwa 50 Prozent Juden orientalischer Provenienz und einer entsprechenden Anzahl Juden aus dem aschkenasischen Bereich, aus Europa und Amerika. Weniger aus Amerika, denn das war ja immer eine Diaspora-Gemeinde, die man mit Bedacht nicht drängte, nach Israel zu kommen. Wir haben es also mit etwas weniger als 50 Prozent israelischer Juden zu tun, aus denen sich die aschkenasische Elite rekrutiert. Aus dieser Struktur allein leitet sich schon eine ganze Menge ab, das ist die Grundstruktur.

Ausgehend von der beschriebenen Situation und dem Umstand, dass der Holocaust beziehungsweise die Shoah eine zentrale Größe hinsichtlich des Gründungsmythos des Staates Israel und des Selbstverständnisses seiner zumindest mehrheitlich aschkenasischen Eliten einnimmt, stellt sich die Frage, wie dieser "Gründungsmythos" sich auf Grund der veränderten demographischen Situation transformiert, oder auch, in welcher Form die neu eingewanderten Bürger sich diesen Mythos aneignen?

Das ist eine wichtige, wenn auch nicht die zentrale Frage. Auf der einen Seite gibt es noch immer das staatstragende zionistische Narrativ des Holocaust, das mehr oder weniger auf eine Teleologisierung des Holocaust in Bezug auf die Gründung des Staates Israel zuläuft. Das zionistische Narrativ versteht den Holocaust dahingehend als Argument für die Gründung Israels, als es das zentrale Postulat des Zionismus, nämlich die Negation der Diaspora, infolge dieses katastrophischen Geschichtsereignisses als endgültig bestätigt ansieht. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, warum Juden nicht in der Diaspora zu leben, also ein Exilleben zu fristen haben, dann war der Holocaust der endgültige Beweis dafür, denn er bedrohte sie in ihrer physischen Existenz. Aber genau dieses über Jahrzehnte sehr raffiniert, sehr ideologisiert, teils auch sehr fetischisiert transportierte Narrativ des Holocaust im zionistischen Sinne ist in den letzten zehn Jahren parzelliert worden.

Hinzu kommt jedoch ein weiteres, für das Verständnis der Situation ausgesprochen wichtiges Moment. In Israel lebt ja eine nicht unerhebliche Anzahl sowohl orthodoxer als auch nationalreligiöser Juden. Es gibt also einen großen religiösen Block, der nicht unerwähnt bleiben sollte. Nicht nur, weil die Sichtweise eines Teiles dieses Blocks eine andere Interpretation der Shoah impliziert, sondern auch, weil diese Gruppe über einen erheblichen politischen Einfluss verfügt. Ein Großteil der Nationalreligiösen speist mehr oder weniger die Siedlerbewegung, und damit mutatis mutandis auch ein Zentralproblem der israelischen Außenpolitik.

Die orthodoxen Juden sind deshalb so bedeutsam, weil es sich bei ihnen um diejenigen handelt, die das halachische, also das orthodoxe jüdische Gesetz tragen, das den zivilen Personenstand in Israel definiert und damit auch das Kriterium für die Zugehörigkeit als legitimer Bürger im Staat ist. Den säkularen Israelis muss dies als eine Art Wiederkehr eines Verdrängens vorkommen, und zwar in dem Sinn, dass es sich bei den Orthodoxen um diejenigen handelt, die den eigentlichen "Ursprung" dessen darstellen, von dem man sich zionistisch entfernt hat. Das, von dem man dachte, es erfolgreich abgedrängt zu haben, erscheint seit ungefähr fünfzehn Jahren sehr zentriert mit der so genannten Shas-Partei als politische Macht wieder. In ihr spiegeln sich drei Komponenten des innerisraelischen Konflikts: die Tatsache, dass es zum einen eine Partei der orientalischen Juden ist, zum anderen eine orthodoxe Partei, und zum Dritten, dass sich ihre Klientel zum allergrößten Teil aus den unteren Schichten der israelischen Gesellschaft rekrutiert. Also als soziale Frage, als ethnische und als Frage des Religiösen. Das Religiöse ist also ein zentrales Moment. Deshalb sollte das hier mit thematisiert werden.

Im Hinblick auf die Shoah bedeutet dies für zumindest eine bestimmte Strömung der ultraorthodoxen Juden, dass die Shoah gedeutet wird als Strafe Gottes am jüdischen Volke dafür, dass es zweierlei Sünden begangen hat: Die eine Sünde ist der Weg der Aufklärung, mit dem das halachische (orthodoxe) Leben des traditionellen Judentums verlassen wurde. Eine Linie, die historisch unter anderem in Deutschland begann. Moses Mendelssohn als Vertrauter von Kant wäre da etwa zu erwähnen. Aber das gesamte heutige Reformjudentum wäre nach orthodoxem Verständnis eine Linie, die eine Sünde am Judentum begangen hat. Die zweite Linie ist die, den Weg des Zionismus gegangen zu sein, bis hin zur Anpeilung eines jüdischen Staates vor der faktischen Ankunft des Messias, denn erst mit der Ankunft des Messias kann das jüdische Volk aus aller Herren Länder versammelt werden. Genau genommen bedeutet dies, dass für das orthodoxe Judentum der Zionismus eine Ursache für den Holocaust ist. Umgekehrt ist für den Zionismus der Holocaust die Ursache für die Gründung des Staates Israel. Und damit haben wir es mit einer Ausgangssituation zu tun, die – was den israelischen Holocaust-Diskurs anbelangt – divergenter und polarisierter nicht denkbar ist.

Hinzu kommt, dass die in Israel lebenden Araber verständlicherweise einen ganz anderen Bezug zum Holocaust haben als die in Israel lebenden jüdischen Bürger. Und das heißt, dass in dem Moment, wo sie sich ihres nationalen Bewusstseins, zum Teil ethnisch begründet, besinnen oder es schärfen, der Holocaust zu etwas wird, mit dem sie im Gedenkdiskurs eher nichts zu tun haben wollen. Man kann sagen, dass in der ganzen arabischen Welt der Holocaust eher als ein historisches Ereignis gesehen wird, das als ein zionistisches Medium der Propaganda fungiert. Das gilt in einem nicht geringen Maße natürlich auch für viele Araber, die in Israel leben.

Ein anderes Moment wären die in Israel lebenden orientalischen Juden, die den Holocaust nicht durchlebt haben, in deren Familiengeschichte der Holocaust nicht als solcher vorkommt und die von daher einen ganz anderen Bezug zu diesem traumatischen Themenkomplex haben. Dies stellt sich in den letzten Jahren verstärkt so dar, dass in einem bestimmten Diskurs der orientalischen Intelligenz darauf verwiesen wird, die aschkenasischen Juden instrumentalisierten den Holocaust, um die Unterprivilegierung der orientalischen Juden beziehungsweise die Dominanz über sie voranzutreiben. Der Begriff "Aschkenazim", eine Zusammensetzung aus Aschkenasim und Nazim, also aschkenasische Juden, die Nazis seien, wurde schon Mitte der Achtzigerjahre als Graffiti auf den Wänden der Tel Aviver Häuserfassaden gesehen.

In diesem Zusammenhang muss man auch von den nach Israel eingewanderten russischen Juden sprechen, die politisch so sozialisiert waren, dass für sie in der Sowjetunion der Holocaust eine sekundäre Rolle gespielt hat – ganz ähnlich wie in der DDR, in der der Holocaust auch eine politisch eher zweitrangige Rolle gespielt hat. Dort ging es primär um den Antifaschismus, so wie es in der Sowjetunion um den "vaterländischen", antiimperialistischen, antifaschistischen Krieg ging. Von daher war deren Sozialisation eher eine in Richtung auf den Kampf gegen den Nationalsozialismus, als in Richtung auf die Opferwerdung durch den Nationalsozialismus. Ein Beispiel dafür ist, dass sich seit Einwanderung der russischen Juden am Holocaust-Gedenktag immer mehr alte Soldaten der Roten Armee, die nach Israel eingewandert sind, versammeln, um diesen als alte Kämpfer gegen die Nazis zu feiern und eben nicht als Leute, die des Holocaust gedenken. Von solchen Beispielen ließen sich noch unzählige anfügen. All dies läuft darauf hinaus, dass sich das Holocaust-Gedenken zunehmend fragmentiert und damit immer mehr in lebensweltliche Individualkategorien übertragen wird. Auf der andern Seite wird aber das Staatsideologische des Holocaust weiter perpetuiert.

Diese Parzellierung lässt sich recht anschaulich anhand einer Anekdote illustrieren. Es war bezeichnend, dass am Holocaust-Gedenktag im April 2001 in einer der zentralen Tageszeitungen Israels auf einer Seite vier Anzeigen gleichzeitig zu sehen waren. Die von Yad Vashem geschaltete Anzeige lud ein zu den zentralen staatlich abgehaltenen Holocaust-Gedenkfeiern; daneben gab es eine Einladung zu einer Feier, die sich als alternativ zur offiziellen verstand, bei der beispielsweise Homosexuelle und politische Gefangene reden sollten, und sogar eine Deutsche, die gerade in Israel lebt, die auch aus ihrer Sichtweise etwas dazu sagen sollte – also ganz entgegengesetzt zu der staatlichen Feier. Die dritte Anzeige war eine Einladung zu einer Gedenkfeier auf Jiddisch, also in dem Sinne: Wir wollen eine Gedenkfeier in der Sprache der eigentlichen Opfer abhalten, also eine aschkenasische Feier. Und die vierte Anzeige rief zu einer Demonstration gegen den Staat auf, und zwar von Holocaust-Überlebenden, die den Staat anklagen, dass er ihre Wiedergutmachungsgelder verschleudere.

Um das Bild weiter auszudifferenzieren wäre es noch wichtig, die von Ihnen beschriebenen religiösen und ethnischen Fragmentierungen mit der sozialen und ökonomischen Situation der Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Dabei wäre dann besonders zu berücksichtigen wie die jeweils spezifische soziale Lage auf die Konstituierung dessen zurückwirkt, was man als "ethnische Ausdifferenzierung" der Gesellschaft bezeichnen könnte.

Wenn ich sage, dass die oberste Schicht der israelischen Gesellschaft heute durch Aschkenasim repräsentiert ist – was nicht bedeutet, dass es nicht auch arme aschkenasische Juden gibt –, so heißt das, dass die Elitestruktur Israels heute so gestaffelt ist, dass das Kapital, und zwar in dem umfassenden Sinn, dass die Ausbildung und die Elitebildung in Akademie, Wissenschaft, über Jahre auch im Militär, und in der Wirtschaft, mehr oder weniger aschkenasisch besetzt ist. In der Politik und teilweise in der Wirtschaft hat sich das in den letzten 15 Jahren ein bisschen geändert. Es gibt heute durchaus exponierte Vertretungen der Araber in Israel, auch der orientalischen Juden, aber das ändert noch immer nichts daran, dass die unteren Schichten der Gesellschaft heute von orientalischen Juden getragen werden, und die alleruntersten von Arabern. Das bedeutet, dass die billigste Arbeitskraft heute von Arabern gestellt wird, und dass die niederen Tätigkeiten, also die "schwarzen Berufe", die eher handwerklichen Berufe und unteren Händlerberufe, heute von orientalischen Juden ausgeübt werden. Mittlerweile gibt es infolge der Entwicklung der letzten 50 Jahre heute auch eine orientalische Intelligenz, die in den akademischen Bereich vorgedrungen ist. Obwohl sie immer noch deutlich geringer vertreten ist im Vergleich zu den Aschkenasim, gibt es sie doch immerhin. Für die meisten Berufsgruppen ließen sich da Beispiele finden. So haben wir im Moment den ranghöchsten Offizier in der israelischen Armee, der ein kurdischer Jude ist. Oder in der Politik, einmal abgesehen von den exponierten orientalischen Parteien, haben wir im Moment einen Verteidigungsminister, der ein orientalischer Jude irakischer Provenienz ist.

Man muss aber doch feststellen, dass im Großen und Ganzen die Ausbildung und die Berufe mit größerem Prestige, vor allem aber auch die ökonomisch kapitalträchtigen Berufe, zum allergrößten Teil von aschkenasischen Juden ausgeübt werden. Dementsprechend werden auch die Eliten in der Wissenschaft, in der Kunst, im Akademischen, im Militär und im Politischen bis heute von aschkenasischen Juden gestellt. Dabei hatten orientalische Juden immer auch Repräsentationsfunktion. Das Polizeiwesen war beispielsweise immer in den Händen von orientalischen Juden. Aber das ist eine Enklave, die es immer gegeben hat und die wenig mit der Gesamtstruktur zu tun hat.

Dann kamen vor einem Jahrzehnt die Sowjetmenschen. Man kann über den Kommunismus, so wie er sich in Osteuropa gebildet hat, eine Menge Schlechtes sagen, aber eine Sache hat er geleistet: Er hat den Leuten eine gute Ausbildung gegeben. Also kamen auf einmal eine Menge von zumindest gymnasial, aber in sehr vielen Fällen auch akademisch ausgebildeten Menschen, die nun auf Grund ihrer Ausbildung Anspruch auf Berufe hatten, die nicht Berufe der Unterschicht sind. Das bedeutete, dass alteingesessene orientalische Juden mit einem Mal wieder ins Hintertreffen gerieten dadurch, dass – wie es damals polemisch hieß – das Land demographisch verweißlicht wurde. Es hieß im ethnischen polemischen Diskurs, der Zionismus, der im Ursprung aschkenasisch gewesen sei, habe wieder einmal einen Streich gemacht, indem er diese Russen nach Israel eingeführt habe und das Bevölkerungsprofil wieder zu Gunsten der Aschkenasim verändert hat. In der Tat kann man davon sprechen, dass durch die Ankunft der russischen Juden sich ganze Lebenswelten geändert haben, und damit auch eine ganze Menge für das innere Verständnis der israelischen Gesellschaft. Denn das muss hervorgehoben werden: Die allermeisten der nach Israel eingewanderten Russen kamen nicht aus zionistischen Motiven, es sind keine Zionisten. Und das ist der Grund dafür, warum Mitte der Neunzigerjahre eine Art Staat im Staate entstanden ist.

Dies scheint ein außerordentlich wichtiges Moment zu sein, da diese Fragmentierung der Gesellschaft eine sehr weit reichende Wirkung auf die Organe der politischen Organisation haben muss. Wenn die demographischen Veränderungen parallel zu den Festschreibungen sozialer Ungleichheitsverhältnisse verlaufen, kann dies dazu führen, dass sich politische Parteien als ethnische Parteien konstituieren oder aber sich in solche transformieren?

Es ist in der Tat so, dass die israelische Parteienlandschaft heute total zersplittert ist. Die Großparteien haben als Großparteien mehr oder minder ausgedient. Weder der Likud noch die Arbeitspartei sind heute noch fähig, wirklich als Massenpartei zu fungieren. Erfolge verzeichnen vor allem sektorale Vertretungen der verschiedenen Minderheiten der israelischen Gesellschaft. Beispielhaft kann man aufzählen, dass es religiöse Parteien gibt – zwei ultraorthodoxe Parteien, eine nationalreligiöse Partei –, die, abgesehen davon, dass sie Einwirkungen und Einflüsse auf die Außenpolitik haben, vor allem im Sinne der religiösen Belange aktiv werden. Es gibt heute – um gerade bei den Russen zu bleiben – zweieinhalb russische Parteien. Das sind die ersten sektoral-ethnisch motivierten Parteien, die es geschafft haben, in das Parlament einzuziehen, um dort ein Machtwort zu sprechen und die sich ganz prononciert für die Belange der russischen Einwanderer stark machen.

Könnten Sie ein Beispiel dafür geben, welche spezifisch russischen Interessen von diesen Gruppen vertreten werden und wie sie sich als eine "ethnische" Vertretung konstituieren?

Es beginnt damit, dass sie ihre Klientel als eine russische ansprechen, unabhängig davon, welche Machtpolitik sie später damit ausüben wollen. Sie sprechen die Klientel als russische Einwanderer an und sie sprechen sie programmatisch auf Russisch an. Sie gehen mit russischen Kulturcodes um, und sprechen sie vor allem auf ihre lebensweltliche Situation an. Das heißt, ihr Politdiskurs zentriert sich um die Fragen: Wer wird ihnen Wohnungen und Arbeitsplätze beschaffen? Wer wird ihnen Teilnahme am Elitewesen ermöglichen? Und sie sind diejenigen, die sich dafür einsetzen. Es ist wirklich prägnant, wie sehr diese Gruppe ein "Staat im Staate" geworden ist. Dabei sind die zweieinhalb politischen Parteien nur ein äußeres Symptom.

Es existieren heute etwa 50 bis 60 Presseorgane auf Russisch. Es gibt keine einzige Einwanderer-Gruppe in Israel, die so viele Presseorgane hat. Man sprach immer von zwei oder drei, vielleicht vier Presseorganen der aus Deutschland, von fünf oder sechs der aus Polen eingewanderten Juden, die Rumänen hatten zwei oder drei Presseorgane, die Ungarn hatten zwei. Bei 50 bis 60 russischsprachigen Organen legt das nahe, dass die Russen heute deutlich mehr als ein Sechstel der israelischen Bevölkerung ausmachen. In besonderer Weise bedeutsam erscheint mir, dass heute ganze Werbeblöcke auf Russisch synchronisiert oder gar auf Russisch produziert werden, weil diese Gruppe heute einen gewichtigen Konsumentenanteil darstellt. Die Beispiele sind Legion, wie sie als Gruppe im Spezifikum ihres kulturellen und sozialen Daseins ihr Leben organisieren: Sie haben ein eigenes Theater gegründet, das auf Russisch spielt. Es kamen eine ganze Menge Musiker nach Israel, es wurden eigene Orchester gegründet, die heute russischstämmigen Einwanderern mehr oder weniger den Lebensunterhalt garantieren. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sie, gesamtgesellschaftlich betrachtet, einen Gegenstand haben, mit dem sie Politik machen können. Die äthiopischen Juden hingegen waren zu schwach, eine eigenständige Vertretung oder Lobby zu schaffen. Sie werden und wurden entsprechend vereinnahmt durch die Likudpartei und zum Teil auch durch die Arbeitspartei. Eine weitere sektorale und vielleicht auch mehr als das Sektorale umfassende Partei war die Schas-Partei, die das Religiöse, das Orientalische und das Soziale zusammenfasste. Und es spricht Bände, was diese Parteibewegung für eine Erfolgsgeschichte aufweist, seit sie Mitte der Achtzigerjahre mit vier Mandaten in die Knesset einzog und bis zu 17 von insgesamt 120 Mandaten bei den letzten Wahlen anwuchs. Sie ist heute die drittstärkste Partei in Israel. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe sektoraler Parteien, und das korrespondiert in entscheidendem Maße mit der Parzellierung und Fragmentierung der Gesamtgesellschaft, von der ich vorhin sprach, als ich die Demographie des Landes darstellte.

Liegt hier ein Grund für den kontinuierlichen Niedergang der Arbeitspartei – dass zum einen ihre traditionelle Klientel sich nicht mehr nach sozialen Kategorien organisiert, sondern nach ethnischen, und zum anderen die sozial unterprivilegierten Gruppen sich immer mehr aus Personen rekrutieren, die nicht am Wahlrecht partizipieren, also Gastarbeiter und nicht-israelische Araber?

Es gibt sicherlich mehrere Gründe, warum die Arbeitspartei untergegangen ist. Der eine ist der, dass sie sich freiwillig, wie die meisten sozialdemokratischen Parteien, ihres sozialen Auftrags entschlagen hat. Sie wollte eine Massenpartei werden und hat mehr als andere Parteien den Abbau des Sozialstaats forciert betrieben.

Indem sie primär auf die Mittelschichten setzte, hat sie sich also selbst die objektive Grundlage entzogen, tatsächlich eine Massenpartei zu werden?

Das ist grundsätzlich der Selbstbetrug und die optische Täuschung, der die meisten sozialdemokratischen Parteien erliegen. Auf der einen Seite beobachten wir gerade in Israel einen Prozess, in dem immer mehr Menschen unter das Niveau des Mittelstandes absinken, und die wären die Klientel einer sozialistisch ausgerichteten Partei. Und genau die hat man verstoßen, indem man die Privatisierung, vor allem aber auch die Siedlerbewegung, auf Kosten unterprivilegierter Schichten vorangetrieben und zu guter Letzt die Institutionen des Sozialismus, beispielsweise die Gewerkschaften oder die Kibbuz-Bewegung, mehr oder weniger zerschlagen hat. Dies waren Strukturveränderungen, die von der Arbeitspartei ausgingen. Ein weiterer Grund ist, dass sich in Israel die Klassenstruktur mit der ethnischen Struktur überlappt. Die Leute, die objektiv unterprivilegiert sind und auch ein Bewusstsein für diese Lage hatten, sahen auf einmal darin ein ethnisches Problem und ideologisierten es als ein solches. Diese Situation ist von Menachem Begin schon Mitte der Siebzigerjahre in gewisser Weise ausgenutzt worden. Damals war plötzlich der Likud, also der rechtskonservative Block – zum damaligen Zeitpunkt die zweitgrößte Partei Israels – die primäre Heimstätte eines Großteils der sozial schwachen Klassen der israelischen Gesellschaft. Ein dritter Grund bestand darin, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt keine der Großparteien mehr fähig war, das soziale Problem noch als soziales Problem zu thematisieren. Dies vor allem aus dem Grund, weil die Außenpolitik in der Weise dominant wurde, dass die Frage der besetzten Gebiete, der Rückgabe oder Nichtrückgabe, des Friedensprozesses beziehungsweise die Abblendung des Friedensprozesses in den primären Focus der politischen Auseinandersetzung rückte. Während ein großer Teil der israelischen Gesellschaft immer mehr verarmte – das statistische Amt der israelischen Regierung spricht von etwa 1,2 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze – geriet die soziale Frage unter die Räder.

1,2 Millionen Menschen sind 20 Prozent der Bevölkerung und für ein Land, das sich einst aus egalitären, mithin sozialegalitären Vorstellungen mit konstituierte, ist das schlechterdings eine Katastrophe. Unter den entwickeltsten Ländern ist Israel nach den USA das Land auf der Welt, in dem die Diskrepanz zwischen den oberen und den unteren Einkommensstufen am größten ist. Die soziale Schere hat sich dermaßen weit aufgetan, dass man eigentlich erwarten könnte, dass hier ein Feld für sozial denkende und sozial agierende Parteien, wie ehemals die Arbeitspartei, zu finden sei. Das aber ist nicht der Fall. Es hat allerdings auch damit zu tun, dass die Arbeitspartei in Israel immer schon aus der staatstragenden Tradition heraus zugleich auch eine Regierungspartei war. Sie war eine Partei der sozialen Belange und zugleich auch eine Partei des Establishments. Diese Doppelfunktion, die gleichermaßen für das Gewerkschaftswesen in Israel galt, hat letztendlich dann, als es wirklich darum ging, die Unterbemittelten irgendwie aufzufangen und zu integrieren, zur Erosion der Arbeitspartei geführt. Hinzu kommt, dass es in den Reihen orientalischer Juden häufig hieß, die Arbeitspartei sei die Partei der arroganten Aschkenasim. Bis vor kurzem waren auch eine nicht unbedeutende Anzahl Araber in die Arbeitspartei integriert, obwohl im arabischen Sektor eher die Kommunisten das Wort führten. Aber seitdem das Bewusstsein davon angestiegen ist, dass die arabische Bevölkerung seit über fünfzig Jahren in der israelischen Gesellschaft nicht nur systematisch unterprivilegiert und diskriminiert wurde, sondern dass sie darüber hinaus politisch auch immer mehr ausgegrenzt wurde, hat sich dies massiv geändert. Selbst Itzak Rabin war, als er an die Regierung kam, bereit, mit den arabischen, mithin nicht-zionistischen Parteien eine Koalition zu bilden. Und das, obwohl sie die eigentlichen Partner für den Friedensprozess waren, den er vorantreiben wollte. Dadurch wurde klar, dass die Araber im Grunde für die Arbeitspartei großteils verloren sind. Diese Entwicklung kulminierte im Oktober 2000, als bei Ausbruch der Intifada 13 arabisch-israelische Staatsbürger bei Demonstrationen von der israelischen Polizei erschossen wurden. Ein Vorgang, der undenkbar gewesen wäre, wenn es sich um Juden gehandelt hätte.

Dieser Aspekt leitet über zu der Frage, ob es bei einer derartigen Zersplitterung der Gesellschaft überhaupt möglich ist, eine gesellschaftlich tragfähige und dauerhafte Position in Bezug auf das Palästinaproblem zu formulieren?

Vorab möchte ich aber noch, um das wirklich klar zu machen, die entscheidenden fünf Hauptkonfliktachsen innerhalb der israelischen Gesellschaft zusammenfassen. Zum einen wäre da die Frage von Staat und Religion. Wobei sich dieser Komplex nicht nur auf die Frage von Demokratie und Theokratie beschränkt, sondern auch den Aspekt der nationalreligiösen Juden als Träger der Siedlerbewegung mitdenkt und somit auch auf das außenpolitische Problem verweist, da hier das größte Widerstandspotenzial gegen eine mögliche Rückgabe der besetzten Gebiete liegt. Die zweite Konfliktlinie ist sicherlich die alte Spannung zwischen orientalischen und aschkenasischen Juden, den ich zu differenzieren versucht habe. Als dritte Achse kommt die sich in Israel immer weiter öffnende soziale Schere hinzu, die nicht nur als Folge der Weltkrise betrachtet werden kann. Eine vierte Achse ist der Status und die Lage der in Israel lebenden großen Minorität der Araber. Und als die fünfte Achse kann man die Lage der russischen Juden beziehungsweise Nicht-Juden, die heute in Israel leben, bezeichnen.

Diese fünf Konfliktachsen werden noch einmal durchzogen von Fragen der jüngeren, der mittleren und der älteren Generation im Hinblick auf Grundwerte des Zionismus; von Fragen der Kultur im Sinne einer Kulturindustrie, die eher popmäßig auf Europa und Amerika ausgerichtet ist, gegenüber einer mehr orientalisch geprägten Kultur. Und von einer ganz anderen Warte haben die Russen jetzt noch einige Motive mit eingebracht.

Hinsichtlich des Bezugs von innergesellschaftlicher Parzellierung und einer möglichen Friedenslösung würde ich noch ein Stück weiter gehen und einen zunächst rein analytischen Kausalzusammenhang herstellen. Ich glaube, dass gerade die Fragmentierung und die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft wesentlich dazu beiträgt, dass der so genannte Sicherheitskonflikt oder das Sicherheitsproblem als ein Band der israelischen Gesellschaft instrumentalisiert wird. Weil man weiß, dass man, solange man es mit dem äußeren Feind zu tun hat, sich auch nicht allzu dringlich um das Innere zu kümmern braucht. Wenn in Tel Aviv oder Jerusalem Busse in die Luft fliegen, ist die soziale Frage eben keine soziale Frage, und die ethnische Frage formuliert sich eher als das Problem, wie sich das gesamte Volk Israel um das Stammesfeuer der jüdischen Nation wieder versammelt. Ich würde da einen Zusammenhang herstellen, und zwar dahin gehend, dass die Sicherheitsfrage für die israelische Politik unter anderem die Bedeutung hat, dass sie die inneren Konflikte solcherart entsorgt, dass man sich mit ihnen nicht auseinander zu setzen braucht. Zugespitzt könnte man behaupten, dass dieses Dilemma durch den Mord an Jizhak Rabin und den sich anschließenden rechtfertigenden Rationalisierungen dieses Mordes prägnant zum Ausdruck kam. Es wurde sehr schnell gesagt: Er wollte das Sicherheitsproblem zu übereilt lösen, ohne zu wissen, ob er wirklich ein Hinterland dafür hat. Man brachte (und bringt) also zumindest ein halbes Verständnis für diese Mordtat auf. Rabin ist auf diese Weise zum Symbol des gescheiterten Versuches geworden, die Sicherheitsfrage langfristig zu lösen. Wenn aber die Sicherheitsfrage vom ersten Punkt der Tagesordnung gestrichen worden wäre, hätte man sich auf das Eigene besinnen müssen, und das Eigene ist, wie ich versuchte zu zeigen, nicht gerade sehr verlockend.

Das Gespräch führte Sven Jacob für die Kommune in Frankfurt am Main. – Die Redaktion dankt auch Bianca Winter für ihre Unterstützung beim Zustandekommen des Gespräches.

In deutscher Sprache erschienen von Moshe Zuckermann unter anderen : Zweierlei Holocaust – Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschland (1998), Gedenken und Kulturindustrie – Ein Essay zur neuen deutschen Normalität (1999).