Das neue Ich- und Wir-Paradigma

"Big Citizenship" statt "Big Government"

Daniel Dettling

Sozialpolitik wird zur Nachwuchspolitik. Eigenverantwortlichkeit heißt, so unser Autor, den Einzelnen und der Familie mehr Raum zu geben. Big Citizenship statt Big Government? Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sind künftig nicht mehr nur Staatsaufgaben. Menschen wollen mit anderen etwas bewegen und Unternehmer wissen, dass Kunden nicht nur Produkte, sondern auch Werte kaufen. Beide begreifen sich deshalb als aktive Bürgergesellschaft. Welche neuen Perspektiven ergeben sich für diese in einer Zeit des kooperativen Individualismus?

Wertewandel und heutige Erwartungen Sind wir eine Generation von Ichlingen, wie der Spiegel erst vor wenigen Monaten titelte? Gehen moderne Gesellschaften an ihrer Atomisierung und Individualisierung zugrunde? Kapitalismus und Sozialstaat als Solidaritätskiller? Was zunächst gut klingt, liest sich bei näherem Hinsehen eher hilflos. Die Werte und das Engagement der Zukunft werden nicht aus den Vorräten kommen, die die alten Interpreten der Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert angelegt haben.

Robert Putnam (Bowling Alone, 2000) nennt vier Ursachen für den angeblichen Rückgang der Solidarität in westlichen Demokratien:

1. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen führe zu einem Rückgang ihres gemeinnützigen sozialen Engagements.

2. Die wachsende soziale Mobilität erschwere es, Wurzeln zu schlagen und sich in einer spezifischen Gemeinschaft zu verorten.

3. Veränderte Familienformen, eine ständig zunehmende "Beziehungsmobilität", weniger Kinder und sinkende Realeinkommen von Familien reduzierten ihre Bedeutung als Produktionsstätten tragfähiger Beziehungen.

4. Die sich ausbreitende "Erlebnisgesellschaft" fördere die Orientierung an individualisierten Glückserlebnissen und damit den Egotrip der Menschen. Eine solche Bilanz setzt Individualisierung und soziale Veränderungen mit Verlust und Werteverfall gleich. Ist der neue flexible Mensch (Richard Sennett) tatsächlich moribus absolutus, von allen sozialen Fesseln befreit? Vieles spricht dagegen für eine Renaissance der Solidarität.

(1) In einer vom Bundesjugendministerium in Auftrag gegebenen Studie hat Gerhard Schmidtchen 1997 den Begriff der "moralischen Generation" geprägt. Die junge Generation widersetze sich einer ungeprüften Übernahme von Normen und Institutionen, die zu wenig Mitbestimmung verheißen. Die jungen Menschen wehren sich gegen politische Entscheidungen, die nicht einleuchten und fühlen sich zunehmend machtlos. Am Ende steht eine eigene "Gegenwelt" zur verfassten Politik. Diese könne sich auch als aggressive und gewaltbereite Welt entpuppen. Die Gewaltbereitschaft ist im Osten unter Jugendlichen mit 33 Prozent verbreiteter als im Westen (21 Prozent). Nahezu erschütternd ist die Antwort auf die Frage, ob sich moralisches Verhalten auszahle. Im Westen glauben das nur 22, im Osten gerade einmal 11 Prozent. Der Ball der Erwachsenen – "Was ist eigentlich los mit der Jugend?" – wird zurückgespielt: "Was ist eigentlich los mit der Gesellschaft? In welcher Solidarität lebt ihr?"

(2) In einer zweiten Jugendstudie (Silbereisen, Vaskovics, Zinnecker 1997) ist gar von fast 90 Prozent der Jugendlichen die Rede, die sich durch Politiker und Parteien nicht angemessen vertreten fühlen. Über 51 Prozent der jungen Erwachsenen aus den neuen Bundesländern haben bereits Arbeitslosigkeit erfahren. Die Schwierigkeit, eine Arbeitsstelle zu finden, ist für junge Frauen hier am größten. Im Zusammenhang von Werten und Zukunft wird von einer "erarbeiteten Identität" gesprochen. Über 50 Prozent sind der Überzeugung, dass das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm einen Sinn gibt.

(3) Die 13. Shell-Studie (2000) zeichnet ein ambivalentes Bild von Deutschlands Jugend. Keine politische Generation erlebt die Kluft zwischen Anspruch und Nachfrage nach Werten und Authentizität und die Wirklichkeit des ethischen Minimalismus so offensichtlich wie die jetzt 15- bis 24-Jährigen. Gesellschaftliche und persönliche Werte werden von der Studie als Vorräte an Wünschbarem" beschrieben. Das Planen und Organisieren der eigenen Lebensentwürfe verlangt die ständige Möglichkeit des Umsteuerns sowie die Vermeidung von allzu traditionellen Wegen im Lebenslauf. Nicht nur Produktionsstandort, auch Reproduktion von Werten, nicht nur materielle Versorgung, sondern emotionales Sorgen ist den Jugendlichen wichtig.

Das "Ehrenamt", so lassen sich die Studien und Befragungen zusammenfassen, ist einem umfassenderen Begriff von Solidarität gewichen, der sich vage mit dem des "kooperativen Individualismus" beschreiben lässt.

Im Zentrum dieses neuen Engagements steht das ganzheitliche Handeln aller und der Einzelne als Baumeister eines eigenen Beziehungsnetzwerkes.

Dieses neue Engagement nimmt Abschied von einer Reduzierung der Solidarität auf eine Beschäftigungstherapie für Problemgruppen oder einer Solidarität als Ausfallbürge eines Spar-Staates, der sich auf die Rolle des Auktionärs beschränkt. Es dominiert zwar immer noch der klassische mittelschichtgeprägte Freiwillige; andere Gruppen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Arbeitslose nehmen jedoch zu. Das dauerhaft institutionalisierte Ehrenamt ist einem eher punktuellen und oft unregelmäßigen Engagement gewichen.

Im Mittelpunkt des Interesses junger Menschen steht vor allem eine "Politik der Lebensführung". Sie engagieren sich nur dann, wenn dies in ihrem unmittelbaren Bezugskreis möglich ist, da sie hier sicher sein können, nicht korrumpiert und vereinnahmt zu werden. Kleine Schritte in einer möglichst hierarchiefreien Umgebung sind ihnen wichtiger als der große öffentliche Erfolg (Shell 1997).

Engagement muss sich auch lohnen. Jugendliche wollen durch soziales oder politisches Engagement für ihre spätere Berufstätigkeit etwas lernen können. Engagement wird nur dann auch als persönliche Bereicherung empfunden, wenn das Gefühl vermittelt wird, dass es sich auch "lohnt".

Hemmnisse und Schwierigkeiten freiwilligen Engagements Die soziale Organisationskultur der Bundesrepublik ist nach wie vor stark von den Wohlfahrtsverbänden geprägt. Der Professionalisierungsgrad freiwillig Engagierter ist entsprechend gering. Die Grenzen zwischen Haupt- und Ehrenamt sind oft starr, Entwicklungspotenziale von Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit können so nicht genutzt werden.

Die Frage, ob hauptberufliche und tariflich entlohnte Tätigkeiten nicht durch freiwillige Arbeiten ersetzt werden, spielt eine größere Rolle in der politischen Landschaft als die Frage, wie das eine (Erwerbsarbeit) mit dem anderen (soziales Engagement) attraktiv verknüpft werden kann.

Diese Angst hängt unmittelbar mit der Staatsnähe des deutschen Gemeinnützigkeitssektors zusammen. Rund 65 Prozent gewährt die öffentliche Hand, etwa 30 Prozent erwirtschaften die Einrichtungen selbst und nur vier Prozent werden durch Spenden eingenommen. In Österreich und Finnland liegt dagegen der Spendenanteil pro Kopf deutlich höher, obwohl Spenden dort steuerlich weniger belohnt werden.

Eine grundsätzliche und öffentliche Diskussion zur Frage, ob Stiftungen tatsächlich einen positiven Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisten, fehlt bislang. So veröffentlichen gerade einmal zehn Prozent der deutschen Stiftungen, unter ihnen vor allem die großen Institutionen, regelmäßig aussagekräftige Finanzberichte.

Die Stiftungen in Deutschland verharren noch "selbstgefällig in ihrem historisch gewachsenen Reservat", so der Leiter des Berliner Maecenata-Instituts zu Dritter-Sektor-Forschung, Rupert Graf Strachwitz.

Es gibt wenige Orte, Institutionen und Menschen, die als ökonomisch und sozial tätige Menschen die wirtschaftliche und soziale Logik zusammenbringen. Stiftungen kommt bei der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung des Ehrenamtes eine besondere Aufgabe zu. Freiwillige, die rekrutiert, betreut und in ihren Kompetenzen entwickelt werden wollen, brauchen eine hohe professionelle Ausbildung und eine entsprechende Anerkennung.

Stiftungen und Verbände, die zu "closed shops" werden und eine Zusammenarbeit mit neuen Netzwerken der Freiwilligen verweigern, entziehen sich ihrem sozialen Auftrag und sind nichts anderes als Privatiers im Schatten der Gemeinnützigkeit. Künftig sollten die Träger der Zivilgesellschaft vor allem daran gemessen werden, wie oft und intensiv sie mit anderen Netzwerken der Gesellschaft kooperieren. Noch stehen sie ausschließlich unter der Aufsicht der Finanzämter. Gemeinnützigkeit und Solidarität ist keine Frage der Finanzen, sondern es gilt die umgekehrte Logik: Wie lässt sich soziales Verhalten finanziell besser steuern? Und: Eine nach BAT bezahlte Zivilgesellschaft führt sich selbst ins Absurde. Die Anzahl der Stiftungen und das Kartell der Verbände allein ist noch kein Indiz für eine insgesamt solidarische und demokratische Gesellschaft. Auch gemeinnütziges Eigentum ist sozialpflichtig.

Die gesellschaftspolitische Frage lautet in Zukunft: Will man nur den Einzelnen aktivieren und sein Humankapital mehren? Oder soll aktivierende Politik darüber hinaus auch das Sozialkapital der Gesellschaft steigern? Das Ziel der Solidarität und eine Aktivierung auch dafür hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn Politik Institutionen, Organisationen und Netze unterstützt und sie fördert. Solche Netze sind vor allem Vereine, soziale Initiativen, Projekte und Stiftungen. Wer den unternehmerischen Einzelnen im Blick seiner Politik hat, sollte seine kulturellen und sozialen Bedingungen und Bedürfnisse nicht außer Acht lassen.

Neue Solidarität? Optionen und Bindungen im 21. Jahrhundert

Ideen, Informationen und Individuen machen den Unterschied aus, auch und gerade für die Deutschland AG. Eine "Kultur der Zusammenarbeit", ein kooperativer Individualismus, wird jedoch in dieser Republik in keiner Schule und in keiner Universität eingeübt. Tristesse sociale?

Freiwilligkeit setzt Optionen und Wahlmöglichkeiten voraus. Noch ist freiwilliges Engagement zu sehr davon abhängig, ob man es "sich leisten" kann. Unbezahlt für andere arbeiten kann oft nur der, der materiell abgesichert und über genügend Zeit verfügt. Zeitsouveränität und Existenzsicherung sind die beiden zentralen Voraussetzungen für bürgerschaftliches Engagement.

Freiwilligenarbeit wird immer noch als unbezahlte Arbeit verstanden. Dabei wird nicht bedacht, dass überwiegend diejenigen ehrenamtlich tätig sind, die in ihrem "Hauptamt" bezahlt werden. In Zukunft werden angesichts der steigenden "Patchwork-Biografien" Übergänge von Arbeit und freien Engagements, zu denen auch Zeiten von Arbeitslosigkeit gehören, wichtiger werden. In einer postindustriellen Wissensgesellschaft nimmt der informelle Bereich zwischen eigener Lebensführung und festen Anstellungen zu.

Die Wertschöpfung des Engagements kommt durch Dialog, Kommunikation und soziales Verhalten zustande und wird auch als "soziales Kapital" umschrieben (Robert Putnam). Inzwischen hat auch die Weltbank sich der ökonomischen Relevanz des Sozialkapitals angenommen (www.worldbank.org/poverty/scapitalIndex.htm). Sozialkapital wird zwischen Personen lokalisiert, nicht an ihnen. Es kommt sozialräumlich vor und kann lokal gemessen werden (vgl. die Studie von Paul Bullen/Jenny Onyx "Measuring Social Capital" – www.mapl.com.au/A2.htm).

Zum Ehrenamt und zur Arbeitsgesellschaft alten Typs gibt es kein Zurück. Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und Bürgerarbeit werden durchlässiger. Der Wechsel zwischen den Tätigkeitsfeldern wird normal. Voraussetzung dafür, dass sich Menschen in ihrem Zeiteinsatz beweglicher verhalten, ist ein erweitertes Leistungsverständnis, mithin eine Aufwertung der Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit. Die ökonomische Leistung jedes Einzelnen setzt andere Leistungen voraus (Bildung, soziale Leistungen, neben- und nachberufliche Leistungen).

Der glokale Bürger – flexibel und verantwortlich Das bürgerschaftliche Engagement ist ein wichtiges Innovations- und Modernisierungsfeld, weil es die Einmischung in öffentliche Angelegenheiten und das Kapital für die Zukunft fördert: Selbstbewusstsein, Offenheit und Teamfähigkeit.

Sozialpolitische Leistungen (Transferzahlungen, Sachleistungen, personale Dienstleistungen) sollen nach dem neuen Leitbild des aktivierenden Staates der Regierung Schröder primär Eigentätigkeit und Lebenssouveränität bezwecken. Künftiges Engagementverhalten setzt daher vor allem autonome, selbstbewusste und flexible Menschen voraus. Welche neuen Chancen für soziales Wachstum und für eine Solidarität, die von unten kommt, ergeben sich dadurch? Und: Braucht ein aktivierender Staat nicht auch eine Aktivierung von Politik?

Wir wollten soziale Gerechtigkeit und haben den Sozialstaat bekommen. Die professionelle und tariflich abgesicherte Erledigung sozialer Aufgaben erscheint in einer auf Arbeitsteilung basierenden Gesellschaft auf den ersten Blick plausibel. Durch diese Form indirekter Beteiligung in Form von Steuern und Geldleistungen meinte man sich von tatsächlich erbrachter Solidarität freikaufen zu können. Dieser Ablass galt so lange, wie eine Eintreibung der Steuern und Abgaben möglich war. Wirtschaftliche Globalisierung verbunden mit der Möglichkeit von Kapitalflucht und die Verschiebung der demografischen Alterspyramide haben diese Rechnung radikal verändert. Das Zahlen von Steuern ist ungerecht, wenn man sich dessen leicht entledigen kann. Globalisierungsfester wäre die Pflicht, sich an öffentlichen Aufgaben direkt zu beteiligen. Unabhängig von der Organisationsform, von den Projekten und dem Ziel. Dem Staat käme die Aufgabe zu sicherzustellen, dass die Institutionen der "Old Solidarity" – Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Pflegeheime – sich für nicht-professionelle Mitarbeiter öffnen.

Das Prinzip des Wehrdienstes – "Was tust du für dein Land?" – gilt für alle öffentlichen Angelegenheiten und nicht mehr nur für das Militär. Ein weiterer Zwangsdienst, den man abschaffen muss? Auch Steuern sind ein Zwang. Der Tausch heißt hier nur: "Wirke du, Profi, an meiner Stelle." Mit dem Zahlen von Geld wird man zugleich von der unmittelbaren Teilhabe am öffentlichen Leben "befreit". Eine Demokratie ohne Bürger ist die politische Folge. Aus ehemaligen Bewohnern eines Gemeinwesens werden Steuerzahler. Oder eben auch nicht.

Ein sozialer Bürgerdienst für alle Man kann den Trend der Globalisierung und Individualisierung bejammern und beklagen. Man kann beide aber auch begrüßen, weil sie eine neue Perspektive für Politik und Gesellschaft eröffnen: eine gerechtere und aktivierendere Form der Verpflichtung. Diese Verpflichtung hängt unmittelbar mit der Staatsbürgerschaft zusammen und ist somit globalisierungsfest. Die Flucht in Steueroasen gelingt leichter als die Flucht aus der sozialen Verantwortung.

Auch für Zuwanderer und Ausländer bietet diese Form der sozialen Bürgerschaft bessere Möglichkeiten der Integration an, weil sie die Teilnahme an öffentlichen Aufgaben mit sich bringt. Eine global ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft ist auf die politische Macht eines republikanisch verfassten Gemeinwesens angewiesen, wenn sie sich aus den Fesseln und (teuren) Widersprüchen des Neoliberalismus und des zur Perfektion getriebenen sozialen Sicherungssystems emanzipieren will.

Die Rechnung und Hoffnung, die Abschaffung des Zivildienstes führe automatisch zu tariflich abgesicherten Arbeitsplätzen, verkennt vor allem, dass bürgerschaftliches Engagement sehr voraussetzungsreich ist: Bürgerschaftliches Engagement ist abhängig von Berufsabschlüssen, Schichtung und Milieu. Wer vom Wertewandel und der modernisierenden Entwicklung profitiert hat, ist engagementbereiter oder hat zumindest eine positive Einstellung zum bürgerschaftlichen Engagement.

Freiwilliges, nicht umsonst erbrachtes Engagement ist oft erfolgreicher als schlecht bezahlte hauptamtliche Tätigkeit. Bürgerschaftliches Engagement nicht monetarisieren, aber monetäre Anreize setzen (etwa durch Gutscheine für Führerschein, öffentlichen Nahverkehr, Schwimmbäder)!

Die Renaissance der Solidarität in der Bürgergesellschaft Bürgerschaftliches Engagement sollte in Zukunft ökonomisch und demokratiepolitisch betrachtet und gefördert werden. Die "freiwillige Gesellschaft" ohne Rechte und Pflichten bleibt eine Fiktion. Eine "starke Demokratie" (Benjamin Barber) ist mehr denn je auf die soziale Teilnahme und Teilhabe ihrer Bürger angewiesen. Aktive Bürger, die öffentliche Aufgaben nicht an den Staat oder die Kommune delegieren, sondern wieder in die eigenen Hände nehmen.

Die Renaissance der Solidarität verlangt nach einer Renaissance der Politik im Zeitalter von Globalisierung und demografischer Herausforderung. Eine Politik aber, die jede Idee einer verbindlichen sozialen Verpflichtung ablehnt, braucht auch nicht mehr nach Bürgern zu rufen, wenn es um Ausländerfeindlichkeit und sozial Schwache geht. Soziale Rücksicht und bürgerschaftliches Engagement wachsen nicht von selbst nach. Der Zivildienst verstand es, soziale Verpflichtung mit individueller Wahlfreiheit zu verbinden. Er hat sich in seiner jetzigen Form überlebt, weil er nicht alle Bürger (Ausländer, Frauen, Alte) betrifft und zu wenig Schnittstellen zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern kennt.

Radikale und schnelle Veränderungen in den Technologien, der Gesellschaft und Kultur verlangen eine neue Kreativität öffentlicher Politik. Das neue Paradigma sozialer Politik lautet Ergebnisorientierung. Die traditionelle Philanthropie, einschließlich des Wohlfahrtsstaates, neigte dazu, Gelder für die Lösung von Problemen bereitzustellen, ohne den kurzfristigen, messbaren Ergebnissen Beachtung zu schenken. Soziale Unternehmer wollen jedoch Probleme lösen und nicht institutionalisieren. Sie wollen Städte und Systeme zivilisieren, nicht subventionieren.

Die individualistisch geprägten Marktwirtschaften benötigen Gesellschaften, die die langfristigen Investitionen tätigen, die sie selbst nicht erbringen können. Eine veränderte Gesellschaft, eine wieder zum Leben erweckte Gemeinschaft sowie zivilisierte Systeme und Städte. Unsere Gesellschaft steckt mitten in einem interessanten Experiment. Wird es möglich sein, eine Wirtschaftsordnung ohne Gemeinschaftskonzept zu halten? Ist es möglich, eine Gesellschaft zu haben, in der wirtschaftliche Belange nicht angesprochen werden? Ist eine vitale Wirtschaft denkbar ohne eine aktive Gesellschaft? Oder bleibt auch zu Beginn des 21. die Aporie des vergangenen Jahrhunderts Markt oder Bürokratie?

 

Literatur:

Robert Bosch Stiftung, Jugend erneuert Gemeinschaft. Manifest für Freiwilligendienste in Deutschland und Europa, Stuttgart 1998 (www.bosch-stiftung.de)

Daniel Dettling (Hrsg.), Deutschland ruckt! – Die junge Republik zwischen Brüssel, Berlin und Budapest, P.O.D. , Frankfurt am Main 2000

Ders., Wohin geht’s zur Solidarität? Was kommt nach den alten Diensten? Optionen und Bindungen im 21. Jahrhundert, als Download unter www.berlinpolis.de

Adalbert Evers, Aktivierender Staat – eine Agenda und ihre möglichen Bedeutungen, in: Erika Mezger, Klaus W. West (Hrsg.), Aktivierender Sozialstaat und Politisches Handeln, Marburg 2000

Rolf G. Heinze/Christoph Strünck, Die Verzinsung des sozialen Kapitals, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt am Main 2000

Heiner Keupp, Eine Gesellschaft der Ichlinge?, München 2000

Helmut Klages, Engagement und Engagementbereitschaft in Deutschland, in: Ulrich Beck, ebd.

Wilfried Maier, Politische Freiheit braucht Bürgeraktivität, in: Kommune 2/00

Robert Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000

Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000, Opladen 2000