Nachhaltigkeits-Check für den Planeten

 

Zur Beruhigung gibt es keinen Anlass

 

Hans-Jürgen Serwe

 

Vor fünf Jahren wurde an dieser Stelle(1) eine Übersicht der noch überschaubaren Indikatoren-Ansätze zur Messung der Nachhaltigkeit gegeben, die sich aus den Agenda-21-Folgeprozessen entwickelten. Die Konferenz Rio 10+ in Johannesburg gibt Anlass für eine aktuelle Bewertung der weiteren Entfaltung dieses Instrumentariums. Schwerpunkt dieses Aufsatzes ist die Indikatoren-Entwicklung auf globaler Ebene.

 

Zustandsindikatoren über den „lebenden Planeten“

Im Vorwort zum „Living Planet Report 2002“(2) stimmt der leitende Direktor des WWF International, Claude Martin, in eine bekannte Klage ein. Er moniert, dass der Nachhaltigkeitsbegriff inzwischen zu einer Floskel verkommen sei, unter der Regierungen, Industrie und NGOs jeweils das verständen, was ihnen gerade opportun erscheine. Martin betont weiter, dass die Idee des nachhaltigen Lebens in einem vor der Rio-Konferenz 1992 von WWF, IUCN und UNEP gemeinsam publizierten Bericht als „Verbesserung der Lebensqualität des menschlichen Lebens innerhalb der Kapazitätsgrenzen der ihm zu Grunde liegenden Ökosysteme“ definiert wurde, wobei die Betonung auf dem letztgenannten Kriterium der Kapazitätsgrenzen liegt.

Folgerichtig fährt der WWF in seinem Bericht nicht mit einem weiteren Lamento über den schlechten Zustand der Welt fort, sondern publiziert Zeitreihen von Indikatoren, die die Entwicklung der Ökosysteme unter der Beanspruchung durch die Weltgesellschaft und -ökonomie zeigen. Möglich und bedeutsam sind dabei Vergleiche zwischen den Erdteilen und zwischen einzelnen Nationen. Aus der Vielzahl vorhandener Umwelt- und Wirtschaftsdaten, die zu Indikatoren aggregiert wurden, hat sich der WWF für zwei sehr prägnante Summenindikatoren entschieden. Einmal den „Living Planet Index“ (LPI), der den Zustand und die Veränderungen dreier Ökosysteme zusammenfasst. Zum anderen den „Ökologischen Fußabdruck“, der den Druck auf die Ökosysteme durch die menschliche Ressourcennutzung abbildet.

Die Zeitreihe des Living Planet Index beginnt im Jahre 1970 mit dem Indexwert von 1,0 und ist im Jahre 2000 bei 0,63 angelangt, das heißt er hat sich um 37 Prozent verschlechtert (Abb. 1 a). Der LPI wird gebildet aus Bestandsveränderungsdaten bestimmter Tierspezies in den drei Leitbiotopen Wald, Süßwasser und Meere. Besonders gravierend ist die Abnahme der biologischen Vielfalt der Süßwasserspezies mit einer Halbierung (Indexwert 0,5) innerhalb der letzten 30 Jahre. Der LPI als Summenindikator ist „biologisch“ ausgerichtet und gehört innerhalb der Indikatorensystematik der OECD (pressure-state-response) zur Status-Kategorie. Er zeigt, wie die Ökosysteme auf den menschlichen Nutzungsdruck durch Abnahme der Artenvielfalt reagiert haben und in welchem relativen aktuellen Status, bezogen auf einen definierten Ausgangszeitpunkt, sie sich befinden.

Der ökologische Fußabdruck (engl. ecological footprint) nach der Methode von Wackernagel und Rees beruht dagegen nicht auf Daten der Beobachtung biologischer Systeme, sondern fußt auf nationalen Wirtschaftsstatistiken und Flächennutzungsdaten, verfolgt also einen volkswirtschaftlichen Ansatz.(3) Der ökologische Fußabdruck (ÖF) drückt letztlich alle relevanten Ressourcennutzungen des Menschen in einer Flächeneinheit (hektar) aus und weist so jedem Bürger einen statistischen Durchschnittswert seiner systembezogenen Flächenbeanspruchung – eben seinen ökologischen Fußabdruck – zu.

Der ÖF wurde in den letzten Jahren in einigen großen Städten innerhalb lokaler Agenden als probates Instrument aufgegriffen, um den lokalen Nutzungsstatus anschaulich und allgemein verständlich abzubilden. Für Städte wie Hamburg, Kopenhagen, Santiago de Chile und viele andere mehr liegen detaillierte Berechnungen vor. Der WWF ließ für die einzelnen Staaten der Erde den ÖF ermitteln und hat daraus wiederum den Summenindikator für den gesamten Globus ermittelt, den „ökologischen Weltfußabdruck“ (WÖF). Dieser lässt sich ebenfalls in einer Zeitreihe über nunmehr fast 40 Jahre (1961-1999) darstellen (Abb. 1 b) und ergänzt als Pressure- und Status-Indikator den Living-Planet-Index. Der WÖF lässt sich absolut in etlichen Milliarden Hektar darstellen, anschaulicher ist jedoch die Verhältniszahl bezogen auf die für menschliche Nutzung relevante biologische Sphäre der Erde, das heißt als Anteil an der nutzbaren Planetenoberfläche. Dabei ergibt sich, dass 1961 in der Summe etwa 0,69 des Planeten von der Weltbevölkerung in Anspruch genommen wurde. Um 1980 herum war es der gesamte Planet (Index = 1), im Jahre 1999 lag der Index bei 1,2, das heißt es lag bereits eine Übernutzung um 20 Prozent vor.

Dies sagt jedoch noch nichts über die Verteilung der Nutzung aus. Auf Nationen bezogen führen die Bürger der Vereinigten Arabischen Emirate mit mehr als 10 Hektar/Einwohner (ha/E) die Weltrangliste noch vor den Bürgern der USA. Deutschland steht mit 4,71 ha/E an 21. Stelle. Die Tabelle endet bei Mozambique mit 0,48 ha/ E. Der Weltdurchschnitt liegt derzeit bei 2,28 ha/E. Die nachhaltige Tragekapazität der Erde lässt sich bei der derzeitigen Weltbevölkerung von mehr als 6 Milliarden Menschen mit etwa 1,8 ha/E annehmen. Die wahre Sprengkraft entfaltet dieser Ansatz erst, wenn der durchschnittliche ÖF von 6,48 ha/E der 900 Millionen Einwohner der High-income-Länder auf die 2,9 Milliarden Bürger der Middle-income-Länder (ÖF bisher = 1,99 ha/E) und erst recht auf die 2,1 Milliarden „Hungerleider“ der Low-income-Länder (ÖF bisher = 0,83 ha/E) ausgedehnt wird (Abb. 2). Diese Zukunftsprojektion zeigt nicht nur die Grenzen der ökologischen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der ökonomischen Machbarkeit auf.

 

Überzogene Szenarien?

Man mag gegen diese Betrachtungsweise einwenden, dass es sich um Überspitzungen von Umweltorganisationen handele. Zumal die katastrophische Zuspitzung bei 20 Prozent Übernutzung der Erde schon gravierend sichtbar geworden sein müsse. Strukturelle und konkrete Wahrnehmung liegen hier weit auseinander. Die öffentliche Debatte kreist deshalb häufig um die Prägnanz und Anschaulichkeit der Argumente im Sinne „schlüssiger Beweise“ insbesondere mit Anbindung an Alltagserfahrungen. Gibt es den Schlüsselindikator, der auch dem letzten Laien erkennbar und unwiderlegbar die Folgen unseres derzeitigen Wirtschaftens vor Augen führt? Wohl kaum! Es gibt jedoch Indizien, deren medientaugliche Darstellung hilfreich ist. Ein Korrelat für den CO2-Anstieg in der Atmosphäre ist beispielsweise das dramatische Zurückweichen der Gletscher innerhalb weniger Dekaden. Eine akribische vergleichende Dokumentation historischer und aktueller Fotos großer Gletscher, die Greenpeace jüngst publiziert hat, belegen dies.(4)

Konkret lässt sich sagen, dass drei der Einzeldimensionen des ökologischen Fußabdrucks besonders starke Wachstumstendenzen innerhalb des Betrachtungszeitraums von 40 Jahren aufweisen: Fischfangfläche (+ 164 %), Siedlungs- und Verkehrsfläche (+ 88 %) und Energiefläche (+ 168 %) (Abb. 3). Beim Fischfang bedarf es inzwischen internationaler Regulationen mit zum Teil rigiden Fangverboten, um den Fischbestand in bestimmten Meeresgebieten überhaupt wieder aufleben zu lassen. Die Ausweitung der Siedlungs- und Verkehrsfläche wird in Europa und Nordamerika – außerhalb der Ballungsräume – bislang eher als landschaftsästhetisches Problem wahrgenommen. In Teilen von Asien (Bangladesh, China, Japan) geht es inzwischen jedoch schon um echte Nutzungskonkurrenzen.

Die strategisch interessanteste Variable ist jedoch die Energiefläche, ihr kommt innerhalb des WÖF ein immer größerer Anteil zu. Die Energiefläche meint jene Fläche, die notwendig wäre, wenn die benötigte Energie nachhaltig, also über regenerative Quellen, zum Beispiel dem Anbau von Biomasse, zur Verfügung gestellt werden würde. War die Energiefläche am WÖF im Jahre 1961 noch mit einem Drittel beteiligt, so macht sie inzwischen die Hälfte aus, wobei der WÖF selbst um über 80 Prozent gewachsen ist. Die energetische Versorgung der Weltökonomie speist sich derzeit hauptsächlich aus der fossil akkumulierten Energie der Vergangenheit und nimmt eine nicht nachwachsende Ressource zukünftiger Generationen in Anspruch. Somit entzerrt die Nutzung fossiler (wie auch der ebenfalls endlichen atomaren) Energie den eigentlich schon vorhandenen Nachhaltigkeitskonflikt im Energiebereich für die Dauer noch einer oder vielleicht auch mehrerer Generationen. Umgekehrt wird die Bedeutung der regenerativen Energien für eine nachhaltige Entwicklung deutlich.(5)

 

Roll-back des Club of Rome?

In den letzten Jahren haben Umweltverbände, Ökobewegung und Grüne mehr und mehr mit Gegenwind zu kämpfen, wenn es um die Verteidigung ihrer Grundgewissheiten, der Begründungsmatrix ihrer Existenzberechtigung geht. Die Solidität der Daten und die Stichhaltigkeit der Szenarien werden angezweifelt, Untergangshysterie und Katastrophismus unterstellt. Es bröselt allerorten, selbst in bislang als ökologische Musterländer geltenden europäischen Staaten. Ein – in der Wissenschaftsgemeinde ob seiner Methoden und Aussagen umstrittener – dänischer Forscher, der sich mit Vorliebe über die Zertrümmerung ökologischer Gewissheiten profilierte, wird gar zum Umweltminister der neuen konservativen dänischen Regierung bestellt. Vorbei die Zeiten, als 30 Prozent regenerative Energieversorgung ein greifbares dänisches Staatsziel waren.

Auch der Club of Rome, der vor 30 Jahren die Nachhaltigkeitsdebatte maßgeblich mit angestoßen hat, vollzieht in seinem gerade veröffentlichten Memorandum(6) eine scheinbare Kehrtwende. Scheinbar deshalb, weil in der deutschen Presseberichterstattung vor allem der Absatz über die mögliche Verzehnfachung der globalen Wirtschaftsleistung zitiert wurde, mit der den Dritte-Welt-Ländern eine Entwicklungschance eingeräumt werden soll. Liest man das Memorandum jedoch in Gänze, so kann von einer kompletten Trendwende der Lagebeurteilung nicht die Rede sein. Zwar korrigiert der Club of Rome seine ursprünglichen zugespitzten Szenarien der unmittelbar bevorstehenden Erschöpfung der rohstofflichen und energetischen Vorräte – die sich aus unterschiedlichen Gründen „gestreckt“ haben –, er insistiert jedoch weiter auf der begrenzten Ressourcenverfügbarkeit und fordert Ressourceneffizienz sowie „Steuerungsmechanismen als Antwort auf begrenzte Ressourcen“. Übersetzt heißt das: künstlich erzeugte ökonomische Verknappung der Ressourcen durch Instrumente wie die Ökosteuer.

Weiterhin setzt der Club of Rome seine Hoffnung auf die Informations- und Kommunikationstechnologien, die er als Schlüsseltechnologien für die geforderte Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenbeanspruchung einschätzt. Das Ziel ist die Dematerialisierung des Wirtschaftsprozesses hin zur nachhaltigen Wissensgesellschaft. Für die Unternehmen fordert der Club of Rome schließlich bis 2010 eine „Dreifachergebnis-Rechnung“, die die Entwicklung des Natur-, Sozial- und Humankapital einschließt, also einen mit dem Konzept der Nachhaltigkeits-Indikatoren verwandten Ansatz.

Wie schwierig der Prozess der Dematerialisierung realiter ist, hat die Entwicklung in Japan gezeigt, wo in den Achtzigerjahren eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Stoffumsatz realisiert werden konnte, in den Neunzigerjahren nach Ausschöpfung der primären Einsparpotenziale weiteres Wirtschaftswachstum jedoch wieder mit erhöhtem Stoff- und Energieumsatz bezahlt werden musste. Die Abbildung der Stoffstromproblematik für die Raumentwicklung(7) und die Produktentwicklung (MIPS-Konzept) ist methodisch unter anderem durch verschiedene Studien am Wuppertal-Institut und artverwandter internationaler Gremien weit gediehen. Die Übersetzung dieser Erkenntnisse und Methoden in die Planungs- und Wirtschaftsprozesse stehen indes weltweit noch am Anfang, wobei in Deutschland sicher einige Weichenstellungen in den letzten vier Jahren erfolgt sind.

Die Bundesrepublik Deutschland war einer von 22 Staaten, der zwischen 1995 und 2001 an einem Testlauf von Nachhaltigkeitsindikatoren teilnahm, die die Commission for Sustainable Development (CSD) definiert hatte. Im Ergebnis hält der Abschlussbericht unter Federführung des Umweltministeriums(8) fest, dass viele der 134 Indikatorenvorschläge der CSD (Paradebeispiel „Wüstenbildung“) für ein Industrieland wie Deutschland nicht relevant oder nur wenig aussagekräftig sind, manche wünschenswerte dagegen fehlen (Beispiel: „Personal und Mittel für Umweltforschung“). Insgesamt resultierte aus dem Test eine deutsche Vorschlagsliste von 218 angepassten Indikatoren. Es bleibt abzuwarten, ob sich aus der Vielfalt der nationalen Tests und Vorschläge ein einheitliches Indikatoren-Set entwickeln wird. Zu hoffen ist, dass Johannesburg hier Fortschritte bringt.

 

1 Serwe, H.-J. (1997): „Nachhaltigkeitsindikatoren in der Agenda 21“, in: Kommune, Heft 11/1997: S. 47-51.

2 WWF-International (2002): Living Planet Report 2002 (www.wwf.de, download am 22.7.02).

3 Wackernagel, M./Rees, M. (1996): Unser ökologischer Fußabdruck Basel: Birkhäuser.

4 www.greenpeace.org.

5 BMU (2000): Erneuerbare Energien und nachhaltige Entwicklung, Berlin.

6 Club of Rome (2002): „Das Naturkapital unserer globalen Umwelt ist bedrohter denn je“, in: Frankfurter Rundschau v. 5.8.02, S. 6 (Dokumentation).

7 Bringezu, S. (2000): Ressourcennutzung in Wirtschaftsräumen. Stoffstromanalysen für eine nachhaltige Raumentwicklung, Berlin: Springer.

8 BMU (2000): Erprobung der CSD-Nachhaltigkeitsindikatoren in Deutschland – Bericht an die Bundesregierung (download über www.bmu.de/presse/2000/kurz_info10.php).

 

 

Abbildungen:

 

Abb. 1 a: Living Planet Index (1970-2000) (Quelle: WWF 2002)

Abb. 1b: Ökologischer Weltfußabdruck (1961-1999) (Quelle: WWF 2002)

Abb. 2: Ökologischer Fußabdruck pro Einwohner 1999 nach Region, Bevölkerungszahl und Einkommensgruppe (Quelle: WWF 2002)

Abb. 3: Ökologischer Weltfußabdruck nach einzelnen Bereichen (Quelle: WWF 2002)