Der Siegeszug der Ostprodukte

Zur Mentalitäts- und Produktgeschichte der deutschen Vereinigung
Conrad Lay

Der Riß, der 40 Jahre lang durch Deutschland ging, war auch eine Spaltung zweier Warenwelten. Er drückte sich nicht nur in politisch gegensätzlichen Ideologien aus, sondern auch in den Niederungen der Alltagswelt: in Essen und Trinken, in Jeans und Fernsehapparaten, in Kaffee, Kühlschränken und Gurken, also in vielen von dem, was Kulturhistoriker als "materielle Kultur" bezeichnen.

Zum Teil war diese materielle Kultur recht unterschiedlich geartet - man denke an die Produktgeschichten von Trabant und Mercedes. Zum Teil handelte es sich um - vom Stofflichen her - völlig identische Gegenstände, denen ausschließlich der äußeren Abgrenzung wegen unterschiedliche Namen gegeben wurden - man denke an den westdeutschen Polyesterstoff "Trevira" und das ostdeutsche Gewebe "Präsent 20", das die SED-Parteiführung im Jahre 1969, zum zwanzigsten Jahrestag der Republikgründung, den Werktätigen zum Geschenk machte - daher der Name.

Doch der Eiserne Vorhang, so martialisch er die Deutschen in Ost und West auch auseinanderhielt, war durchsichtig. Fernsehen, Reisen, "Päckchen von drüben": die Deutschen in der DDR kannten viele West-Marken. Berechnungen ergaben, daß 10 bis 15 Prozent des Kaffeebedarfs in der DDR per Päckchen aus dem Westen gestillt wurden. Manager im Westen, Funktionäre im Osten - beide hatten die Zahl fest in ihre Produktionsziffern eingerechnet.

Produktwerbung und Propaganda

Die in Päckchen gepackte "Jacobs Krönung" kündete von den Segnungen des westdeutschen Wirtschaftswunders und verband so auf unnachahmlich-harmonische Weise Produktwerbung und politische Propaganda miteinander. Im östlichen deutschen Teilstaat dagegen wurde der eigene, der DDR-Kaffee in den achtziger Jahren immer schlechter. Wie bei vielen anderen Import-Artikeln knappste die DDR-Führung an der Qualität, um dadurch die knappen Valuta-Mittel einzusparen. Viele DDR-Bürger halfen sich auf ihre Weise: um auf die gleiche Qualität zu kommen, nahmen sie einfach mehr Pulver pro Tasse. Der Effekt war freilich nicht der gewünschte: der Kaffee wurde nur noch bitterer. Besonders kraß klaffte die Lücke zwischen Verbraucherwünschen und Versorgungswirklichkeit bei Frischgemüse und Obst:

"Beim Konsum keine Tante,/ Beim HO keine Verwandte,/ Aus dem Westen kein Paket,/ Und da fragen Sie mir noch,/ Wie es mir geht."

So lautet der Knittelvers, der die aufgestauten Erwartungen auf volkstümliche Weise beschrieb. Jugendliche bezogen ihre Lieblingskleidungsstücke bevorzugt aus Päckchen aus dem Westen. Das ergaben Untersuchungen, die in den achtziger Jahren das inzwischen leider abgewickelte Zentrale Jugendinstitut in Leipzig durchführte. Mit Verachtung schaute so mancher DDR-Jugendliche auf Nadelcord-Hosen, die von weitem wie gewebtes Wollmaterial aus Fischgrät-Muster aussahen, aber in Wirklichkeit doch nur eine Mogelpackung waren: Es handelte sich um 100 Prozent Polyester wie eh und je. "Präsent 20", in den sechziger Jahren noch weithin beliebt als Beweis sozialistischen Fortschritts, verlor in den achtziger Jahren rapide an Zuspruch.

So unterschiedlich die Warenwelten in Ost und West auch waren, so unterschiedlich waren auch die Erwartungen, mit denen die Bewohner der beiden Teilstaaten sie bedachten: Ost schaute sehnsüchtig nach Westen, West schaute überhaupt nicht oder allenfalls mit Mitleid und herablassend gen Osten. Das asymetrische, ungleiche Verhältnis, das heute noch in den Stereotypen vom "Wessi" und "Ossi" zum Ausdruck kommt, war auch im unterschiedlichen Wohlstandsniveau angelegt.

Der Produktstau und der Pfropfen

Doch dann kam der Herbst 1989 und damit für die Ostdeutschen die lang ersehnte Möglichkeit, sich nicht länger mit Imitaten und Ersatzprodukten zufriedengeben zu müssen. Nun wollte man nur die echten, die wirklichen Produkte haben. Freiheit war etwas sehr Handgreifliches: Man konnte sie essen, schmecken, riechen, anziehen, kaufen. Es waren Kaffee und Joghurt, Obst aus tropischen Gegenden, westliche Turnschuhe und Farbfernseher.

Als der Pfropfen weg war, brach sich in Ostdeutschland ein jahrelang aufgebauter "Produktstau" Bahn. Produktstau - die Wortschöpfung der Marketingbranche erinnert an das Wort vom Gefühlsstau, den der ostdeutsche Psychologe Hans-Joachim Maaz als Folge des autoritären DDR-Regimes diagnostizierte.

Prägend für das Bild des Westens, das viele Ostdeutsche sich unmittelbar nach der Maueröffnung machten, waren die überwältigenden Einkaufswochenenden, an denen Abertausende in die ehemaligen Zonenrandgebiete des Westens zogen. Sie wurden dort mit Musik und Fanfarenzügen empfangen, mit Kaffee und Sekt. Der Jägermeister-Hersteller Mast war sich nicht zu schade, seine Probier-Fläschchen mit einem 20-Mark-Schein zu umwickeln. Die DDR-Bürger, die ursprünglich nur wegen des "Begrüßungsgeldes" angereist waren, nahmen auch dieses Geschenk an.

Das goldene Bild, das sie sich bislang nur mittels des Werbefernsehens machten, bestätigte sich durch diese ersten Besuche. Das Einkaufsparadies wurde im ersten Überschwang mit dem Westen insgesamt gleichgesetzt. Über Nacht sollte mit den westlichen Waren auch im Osten der Wohlstand einziehen. Wunschdenken und ein übermächtiger Stau an Erwartungen führten zu der eklatanten Fehleinschätzung, der Westen habe nur eine Schokoladenseite.

Daß die Marktwirtschaft das bestehende wirtschaftliche Gefüge zerstören würde und nur wenige Reste übrigbleiben würden, hatten sich nur wenige klargemacht. Und so zog die Marktwirtschaft in einer Art und Weise ein, die kaum jemand für möglich gehalten hätte. Fliegende Händler, unseriöse Gebrauchtwagenverkäufer und Kredithaie hauten manch einen Ostdeutschen übers Ohr. Die wüsten Methoden erinnern eher an Wildwest-Zeiten als an die soziale Marktwirtschaft, wie sie zuvor in vier Jahrzehnten im Westen Deutschlands gewachsen war. So ähnelt der Beginn der Marktwirtschaft in Ostdeutschland noch am ehesten jenem Zerrbild, das auf SED-Parteilehrgängen gelehrt worden war. Kurioserweise sahen sich so im Osten gar einige Dogmatiker bestätigt.

"Test the West"

Das erste Jahr nach dem Fall der Mauer war eine Zeit des Ausprobierens und Prüfens: "Test the West", die Zigarettenreklame ist Sinnbild für diese erste Phase der Wendezeit. Was aus dem Osten kam, galt den Ostdeutschen nichts mehr; selbst bei Obst, Milch und anderen Frischwaren zogen sie die Produkte der westdeutschen Handelsketten vor. Diese fackelten nicht lange und nutzten die Neugier auf Westprodukte dazu, ostdeutsche Markenartikel in Bausch und Bogen aus den Regalen zu werfen. Nicht nur veraltete, museumsreife Kreationen wie der Trabi, sondern auch ausbaubare Produkte wurden mit harten Bandagen bekämpft, schlecht gemacht, wirtschaftlich isoliert. Selten deutlich ist etwa der Fall des Kühlschrank-Herstellers Foron: Nachdem er den weltweit ersten umweltfreundlichen Kühlschrank hergestellt und damit in den Augen von Konkurrenten die Gefährlichkeit seines Ingenieurs-Know-hows bewiesen hatte, wurde zweimal die Übernahme von Foron durch westliche Firmen (Samsung, Koch) auf üble Weise durch den Hausgeräte-Hersteller Bosch-Siemens verhindert. Wozu zahlen eigentlich die Steuerzahler in Ost und West Solidaritätszuschlag, wenn westdeutsche Unternehmen derart ungestraft den vielbesungenen "Aufschwung Ost" hintertreiben? Inzwischen wurde Foron von einem holländischen Konzern übernommen: 180 von 6.000 Arbeitsplätzen wurden gerettet - das gilt als schöner Erfolg.

Die alten DDR-Produkte sollten vom Markt verschwinden - jedoch galt mit ihnen auch die Arbeit nichts mehr, die die Ostdeutschen in sie gesteckt hatten. Sie empfanden denn auch den Niedergang "ihrer" Warenwelt durchaus als zwiespältig: schließlich stellten sie selbst die Produkte her, die sie anschließend nicht kaufen wollten. Die Aufspaltung in Produzent und Konsument wurde noch dadurch vertieft, daß sofort die Beziehung zwischen Ost und West hineinspielte. Denn daß die Westbürger die Ostprodukte in Bausch und Bogen verdammten und als Schrott bezeichneten, wurde von den Ostbürgern als persönliche Geringschätzung ihrer eigenen Arbeit aufgefaßt, als Demütigung dessen, was sie jahrelang - oft unter harten Bedingungen und mit zahlreichen Hemmnissen - erarbeitet hatten. In dieser Hinsicht sahen sich also die Ostdeutschen nicht als Konsumenten, sondern als Produzenten, während sich die Brüder und Schwestern aus dem Westen Deutschlands trotz Begrüßungsgeldes und Einheitsgesäusels nun als gerissene Geschäftemacher erwiesen, die strikt darauf bedacht waren, keine ostdeutsche Konkurrenz aufkommen zu lassen.

Die Enttäuschungen der ersten Jahre nach 1989 wirkten sich aus: viele Ostdeutsche besannen sich auf die (Waren-)Welt zurück, in der sie zuvor gelebt hatten. Die Hinwendung zum Westen, die Phase des "Test the West", war deshalb für sie so schnell und abrupt beendet, wie sie gekommen war. Bereits Ende 1990 setzte die Hinwendung zu den Ostmarken ein: Knapp die Hälfte der Ostdeutschen gab damals in Meinungsumfragen an, Ostprodukte zu bevorzugen. Ende 91 waren es bereits drei Viertel der Befragten, und bei diesen Zahlen ist es bis heute geblieben. Was oft als Nostalgie bezeichnet wird, ist nur zu einem kleinen Teil ein verbohrtes Festhalten von Ewiggestrigen; mehrheitlich ist es als eine Reaktion auf die Nachwendezeit zu verstehen: es sind die aktuellen Erfahrungen mit der westlichen Warenwelt, die die Ostdeutschen auf die eigenen Produkte verwiesen.

Hellhörige Marketingchefs

Der neue Trend, die Stärkung des ostdeutschen Wir-Gefühls, machte vor der Werbe- und Produktwelt nicht Halt. Im Gegenteil, sie wurde zu einem Spiegel ostdeutscher Lebensgefühle, zu einer Folie, auf der sich die rasch wechselnden Hoffnungen und Enttäuschungen des Vereinigungsprozesses spiegelten. Auch Trotz und Wut auf den Westen kamen dabei nicht zu kurz.

Die ersten, die hellhörig wurden, waren westdeutsche Marketing- und Werbeleute. Was war geschehen? Warum waren die Ostdeutschen von den bisher begehrten Westprodukten nicht mehr angetan? Hatten Sie einen anderen Geschmack? Galten nicht die desolate Verfassung der DDR-Produkte und die miserable Ästhetik des Alltags als Synonyme für eine abgewirtschaftete DDR? Wollten die neuen Bundesbürger dahin wieder zurück? War das Nostalgie nach alten Zeiten? Was war nur in sie gefahren? Doch es nützte alles nicht, die Marketingleute sahen sich gezwungen, die Gefühle der von der Vereinigung enttäuschten Ostdeutschen aufzugreifen und diese als gleichberechtigte Bürger mit eigenen Gefühlen und Präferenzen anzuerkennen.

Bekanntlich funktioniert Werbung nicht einseitig, indem sie ihre Botschaft aussendet, sondern ist ein Reflex auf Mentalitäten und Gefühle, die sich beständig wandeln. Um zu verstehen, wie dieses Verhältnis zwischen Sender und Empfänger funktioniert, ist die Werbebranche darauf angewiesen, diesen Mentalitäten möglichst genau nachzuspüren. Warum ist ein Käufer einmal bereit, die Botschaft der Werbung aufzunehmen und ein andermal nicht?

"Der Osten hat gewählt"

Seit der Produktwende des Jahres 1991 sind "bekennende Ost-Marken" gefragt: Spee, Fit, Florena, Rotkäppchen-Sekt, Spreewald-Gurken, Foron-Kühlschränke, Bautzner Senf, Burger Knäcke, Nordhäuser Korn, f6, Karo, Juwel, Club-Zigaretten, Hasseröder, Wernesgrüner, Radeberger, Köstritzer... - die Reihe läßt sich nach Belieben fortsetzen.

"Der Osten hat gewählt: Kathi" - so lautet einer der Werbesprüche des ostdeutschen Marktführers für Backmischungen. Die Cola aus Berlin-Weißensee macht es sich noch einfacher: "Club Cola - unsere Cola". "Uns" - wer mit dem Plural "wir" wohl gemeint ist? Was für ein Kollektiv hier in Anspruch genommen wird? Als die "Club Cola" 1992 wieder auf den Markt kam, warb sie keck mit den Worten: "Hurra, ich lebe noch." Wer ist eigentlich dieses "ich"? Der Konsument, der die Anzeige liest, oder das Produkt, für das geworben wird? Erinnerungen an die Zeit nach 1945 werden wach, als auf Demonstrationen Transparente zu lesen waren, auf denen stand: "Hurra wir leben noch". Johannes Mario Simmel schrieb einen Roman über jene Zeit und wählte dabei diesen Ausspruch als Titel. 1989 wie 1945 - was sich die Marketing-Leute aus dem Osten Berlins wohl bei dieser Parallele dachten?

"Von einigen belächelt, ist sie doch nicht tot zu kriegen: Club Cola - die Cola aus Berlin", geht die Anzeige im Kleingeschriebenen weiter. Genauso fühlen sich viele Ostdeutsche: Hauptsache, nicht kleinkriegen lassen, mögen auch einige andere lächeln. "Hurra, ich lebe noch!" Das ist Lebensgefühl Ost, und zwar so pur, daß man zwischen Produkt und Konsument kaum unterscheiden kann. Das Idealziel eines Marketing-Spezialisten ist erreicht: Produktgeschichte und persönliche Biographie lassen sich nicht mehr trennen.

Was bleibt? "Der Geschmack bleibt!"

Um die Ostmarken bewußt bevorzugen zu können, muß der Kunde sie im Laden als solche erkennen. Wappen der inzwischen nicht mehr ganz so neuen Länder in Verbindung mit dem Aufdruck "Aus unserer Heimat" machen auf die Regale aufmerksam, in denen ausschließlich ostdeutsche Markenprodukte zu finden sind. Die Vergangenheit wird wieder entdeckt, allerdings vornehmlich die Vergangenheit, die den 40 Jahren DDR (und auch dem Nationalsozialismus) vorausgingen. Der Erfurter Blumenladen, der ehemals zur HO gehörte, entdeckt lange verschüttete Traditionen und wirbt damit, bereits seit dem Jahr 1878 zu bestehen. Der "Nordhäuser Korn" legt Wert darauf, in wenigen Jahren seinen 500. Geburtstag feiern zu können. Ein westdeutscher Brotkonzern, der seinem Steinofenbrot den Namen "1688" gegeben hat, versichert treuherzig: "Bei uns gebacken" - auch hier fragt sich, wer sich hinter dem "uns" verbirgt. 73 Prozent der befragten sächsischen Kunden erklären sich sogar bereit, für Brot oder Fleisch aus ihrer Heimat Sachsen "einen höheren Preis zu zahlen". "Ein knackiges Stück Heimat" - so wirbt das Knäckebrot aus Burg. Die Verbraucher belohnen eine solche Verkaufsstrategie mit ihrer Treue; das (älteste deutsche) Knäckebrot ist im Osten Marktführer mit einem stolzen Anteil von 65 Prozent.

Im Strudel der Ereignisse, die so gut wie alles änderten, von der großen Politik bis zu Formularen, Versicherungen und Verkehrsschildern, sind die Ostprodukte zu einem der ganz wenigen Begleiter im Alltag geworden, die für Kontinuität und Vertrautheit sorgen. Daß Produkte mittels Werbung ein Gefühl von Heimat geben können, ist nichts Neues. Um die Bindung zu den in der Nachwendezeit verunsicherten Kunden emotional zu festigen, setzten deshalb viele ostdeutschen Markenprodukte auf eine Abgrenzung zum Westen und auf die Neuentdeckung lange verschütteter Heimatgefühle.

Vorreiter dieser Entwicklung waren die Zigaretten. Alles Räsonieren der westdeutschen Marktstrategen half nichts, mit "Marlboro" am Prenzlauer Berg waren keine Umsätze zu machen, da mußte man die ostdeutschen Verbraucher und ihre Vorlieben schon ernst nehmen. Als abschreckendes Beispiel galt die Zigarette "Cabinet", die von Reemtsma aufgekauft und völlig zu einer West-Zigarette umgemodelt worden war. Cabinet verlor seinen Marktanteil von ehemals 30 Prozent und rutschte auf 12 Prozent ab.

Philip Morris, der größte Tabakkonzern der Welt, zog daraus Konsequenzen. Er geht davon aus, daß sich die Mentalitäten in Ost und West deutlich unterscheiden und fährt deshalb zwei völlig unterschiedliche Strategien. Der Erfolg scheint ihm recht zu geben: Im Westen Deutschlands stellt Philip Morris mit Marlboro den Marktführer, im Osten mit der "f6". "Die f6 steht für das Gute und das Vertraute aus den vergangenen Tagen und hilft, die ostdeutsche Identität selbstbewußt auszudrücken", ließ die Presseabteilung der Münchener Philip-Morris-Zentrale verlauten. Und weiter heißt es im Marketing-Konzept der in Dresden hergestellten Zigarette: "Die f6 steht nicht für falsch verstandenen Konservativismus, vielmehr wird durch diese Zigarette ein Stück ostdeutscher Kulturgeschichte repräsentiert, die inzwischen wieder einen bedeutenden Teil der Identitätsbildung der Bürger in den neuen Bundesländern ausmacht. Das offene und demonstrative Bekenntnis zum eigenen Geschmack, als Ausdruck eines sich neu entwickelnden Ost-Bewußtseins, schlägt sich deshalb auch im Rauchverhalten der Ex-DDR-Bürger nieder: f6 als Symbol für gewachsene Tradition und erfolgreiche Selbstbehauptung."

Hatte Christa Wolf noch bange gefragt Was bleibt?, so gibt die "f6" darauf eine ebenso banale wie geniale Antwort: "Der Geschmack bleibt"!

In einer Presseinformation beschreibt der Tabakhersteller seine Strategie so: "Obwohl Qualität und Herstellung entscheidend verbessert wurden, ist die f6 doch genau so geblieben, wie sie schon immer war: kräftig, stark und unverwechselbar würzig im Geschmack." Mit anderen Worten: auch wenn sich die Zusammensetzung des Produkts stark verändert hat, "f6 bleibt f6". Wahrscheinlich fallen den meisten Rauchern dergleichen Ungereimtheiten gar nicht auf. Daß es sich bei der "f6" nur um eine Fassade der alten Marke handelt, ändert nichts an dem gewünschten Effekt: Hauptsache, die emotionale Botschaft kommt an: Das ist eine von uns, eine, die auch nicht zum Wessi mutieren will, da wissen wir uns mit unserer Zigarette einig.

Philip Morris übernahm mit den Vereinigten Zigarettenfabriken Dresden, kurz: VeZifa, nicht nur die "f6", sondern auch die einstigen DDR-Marken "Juwel" und "Karo". "Juwel" wirbt mit dem trotzigen Slogan: "Ich rauche Juwel, weil ich den Westen schon getestet hab'. Eine für uns." Die "Karo", die schon in DDR-Tagen als "nicht gesellschaftsfähig" gegolten hatte, drückt ihre Botschaft noch krasser aus. Sie wirbt damit, die Zigarette sei ein "Anschlag auf den Einheitsgeschmack", wendet sich also gegen den Beigeschmack, den die Vereinigung im Osten Deutschlands angenommen hat.

Die Verwandlung von DDR-Produkten in Ostmarken

Das Image der neuen Ostmarken ist als eine gezielte Reaktion auf den Meinungsumschwung in Ostdeutschland anzusehen, als ein Seismograph für Stimmungen und Mentalitäten in der deutschen Vereinigung. Die Markenstrategie setzt sich - ob bei Sekt, bei Bieren oder Zigaretten - jeweils aus drei Elementen zusammen: Am eingeführten Markennamen hält man fest, die Qualität wird auf westlichen Stand gebracht, das äußere Erscheinungsbild jedoch nur äußerst behutsam modernisiert. Mit dieser Strategie gelingt es den alten Produkten, einerseits Tradition und Kontinuität auszudrücken, andererseits das neue Lebensgefühl der Nachwendezeit aufzunehmen. Die DDR-Produkte haben sich in Ostmarken verwandelt.

Auffällig sind Ähnlichkeiten der Marketing-Strategien von "f6" und PDS: vorsichtige Modernisierung ist geboten, das A & O ist allerdings die Beibehaltung des Stallgeruches. Beide Male waren diese Strategien zunächst erfolgreich: doch während im Fall der Zigarette der Kauferfolg beifällig honoriert wird, ist im Fall der politischen Partei die Reaktion zwiespältig, wenn nicht ausgesprochen mißgünstig. Es liegt nahe, daß die PDS versuchte, den erfolgreichen Trend für sich zu vereinnahmen: "Ich bin ein Ostprodukt!" Mit diesem Slogan warb der Leipziger Kandidat der PDS bei den vergangenen Oberbürgermeisterwahlen. Zusätzliche Stimmen brachte es ihm nicht. Eine sehr ähnliche Werbestrategie zeitigt also in der Politik und in der Warenwelt unterschiedliche Konsequenzen.

Seit gut vier Jahren hält der Trend nun schon an: Nach der Enttäuschung über den Westen legt man um so mehr Wert auf den eigenen Geschmack und betont die Unterschiede. Ob beim Brot oder bei Saurem - im Osten wird ein kräftiger Geschmack bevorzugt, im Westen ein leichterer, milderer. Im Westen trinkt man Kaffee light, im Osten Kaffee schwarz. Produkt für Produkt stellt sich heraus, daß es im Geschmack so schnell keine Einheit zu feiern gibt.

Besonders empfindlich wird das Gespräch, wenn es auf Geschmacksbeigaben wie Gurken oder Senf kommt: "Hoffentlich geben die Westler nicht auch noch ihren Senf dazu", lautet der unausgesprochene Stoßseufzer. Es gibt nicht wenige Ostdeutsche, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, Löwensenf aus Düsseldorf oder gar den süßen bayrischen Mostrich zu sich zu nehmen. Ostdeutsche Kaufhäuser - auch die des gehobenen Bedarfs - sahen sich deshalb gezwungen, die kleinen, häßlichen Plaste-Becher des Bautzner Senfs wieder zu ordern. Am bewährten Bautzner Senf mit seiner etwas grauer wirkenden, aber natürlichen Senffarbe kamen sie nicht vorbei, auch wenn damit kein großer Umsatz zu machen ist. Dem "westdeutschen Einheitssenf mit seiner unnatürlich gelben Farbe" hat die Bautzner Senffabrik den Kampf angesagt. Nebenbei bemerkt: Sie gehört einem Unternehmen aus dem bayrischen Unterhaching.

"Lieber klein als hohl"

Doch die Abgrenzung zu den gerade noch begehrten West-Produkten geht darüber hinaus: Plötzlich stellen viele Ostdeutschen fest, daß West-Produkte gar nicht so langlebig und solide sind, wie man das von DDR-Produkten gewohnt war. Daß im eigenen Lager gemogelt wurde, daß Nadelcord-Hosen aus "Präsent 20" Schwindelpackungen waren, das wußte man seit langer Zeit. Doch sollten auch die zunächst so begehrten Produkte aus dem goldenen Westen Mogelpackungen sein?

Marktführer Ost bei Backmischungen sind mit weitem Abstand die seit 40 Jahren bekannten kleinen, handlichen Kathi-Packungen, genannt nach der Firmengünderin Käthe Thiele. Das Familienunternehmen ("Dr. Oetker aus Halle") konnte nach der Wende den Betrieb reprivatisieren. In einem Werbefilm von Kathi heißt es: "Kathi-Packungen haben einen optimalen Auslastungsgrad. Sie sind zu 95 Prozent gefüllt. Der Durchschnitt der Wettbewerber liegt bei nur 55 Prozent. Anders gesagt: 45 Prozent des Packungsinhalts sind bei den Wettbewerbern Luft." Die Botschaft kommt an: "lieber klein als hohl".

Es ist schon erstaunlich: Wenn wir das Produkt-Beispiel wechseln und uns den traditionellen "Ost-Schrippen" zuwenden, stoßen wir auf die gleichen Attribute. In einer Rundfunksendung über die Frühstücksbrötchen heißt es: "Westbrötchen sind zwar groß und braun und krachend zwischen den Zähnen, aber sie halten nicht, was sie versprechen. Luxusgeschöpfe ohne Substanz. Was dabei im Westen herauskommt, ist nichts - nichts für den Gaumen, nichts für den Magen, nur Luft und Krümel. Ostschrippen dagegen sind klein und blaß, eben unscheinbar, aber in den Tiefen zwischen Teig und Zubereitung lauern Geschmack und Kraft."

Die hohe Emotion gegen Westbrötchen kann wohl nicht nur den Brötchen gelten. Offenbar wird von den Produkten auf die Menschen im Westen geschlossen, die man ebenso als "Luxusgeschöpfe" ansieht, "die nicht halten, was sie versprechen". Über Geschmack läßt sich nicht streiten: das ist sein Vorteil, denn er macht unangreifbar, bietet einen Rückzugsort auf Gewohntes, ohne daß übereifrige Westler daran herummäkeln könnten. Er eignet sich vortrefflich dazu, dem Druck auszuweichen, alles rechtfertigen zu müssen. Gerade deshalb werden über den Geschmack Differenzierungen eingeführt, die argumentativ nicht zugänglich sind. So können in die Produkte Zuschreibungen über Menschen hineingeschmuggelt und zur Geschmackssache erklärt werden.

Umfragen des Leipziger "Instituts für Marktforschung" ergaben, daß im Osten Deutschlands die Meinung vorherrscht, westdeutsche Produkte enthielten viel Chemie, sie seien durch Konservierungsstoffe künstlich haltbar gemacht; in ostdeutschen Produkten dagegen vermuteten die Befragten weniger Chemie. Westprodukte gelten ihnen als verfälscht und künstlich, sie stehen für einen aufgebauschten, hohlen Lifestyle, dem jede Tiefe, Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit abgeht.

Galten zu Zeiten, als der Eiserne Vorhang noch geschlossen war, die DDR-Produkte als künstliche West-Imitate, gegenüber denen man lieber das Original wählte, so haben sich nun unter der Hand die Zuordnungen um 180 Grad gedreht. Echt und eigentlich - das sind nicht mehr die Waren aus dem Westen, sondern die Erzeugnisse aus "unserer Heimat". Mit ihnen kann man sich identifizieren und gleichzeitig von einer Warenwelt absetzen, von der man enttäuscht ist.

Wo nach der Wende alles im Umbruch war und in den ersten Jahren der umgestülpte Alltag gar Ausmaße eines Kulturschockes annahm, da will man doch wenigstens im Geschmack der Brötchen und den Gerüchen des Senfs "bei sich bleiben" und schwört auf Rotkäppchen-Sekt und "Spreewald-Gurken".

Daß der Marktführer Ost für Gurken, der "Spreewaldhof", von einem niederrheinischen Apfelmus-Hersteller aufgekauft wurde, daß "Nordhäuser Korn", der haushohe Marktführer bei den scharfen Alkoholika, inzwischen zu "Eckes" in Nieder-Olm gehört, "Köstritzer" zu "Bitburger" und "Hasseröder" zur Hannoveraner "Gilde"-Brauerei - das alles spielt im Empfinden der Käufer keine Rolle. Daß die Entscheidungen über Wohl und Wehe von "Spee", des Waschmittelmarktführers Ost, bei Henkel in Düsseldorf fallen und das Marketing der "f6" von Philip Morris in München bestimmt wird, das ist für solche Gefühlslagen nicht weiter von Belang. Die Zeiten, in denen man sich für Kapitalverflechtungen interessierte, sind vorbei: heute zählt der Geschmack. Kein Wunder, daß der Trend zu Ostprodukten fast ausschließlich auf Lebens- und Genußmittel beschränkt ist, also auf Güter, bei denen es in besonderem Maße auf das subjektive Erleben ankommt.

Im Pluralismus angekommen

Doch würde man den Trend zu Kathi-Backmischungen und Fit-Spülmittel unterschätzen, wenn man annähme, er ginge in nostalgischen Kindheitserinnerungen auf. Was im ersten Schritt eine gefühlsmäßige Wahl war, das wird in einem zweiten zu einer rationalen Entscheidung für Produkte, die "hier bei uns" für Arbeitsplätze sorgen. Das Votum für Florena-Creme ("das Nivea des Ostens") und Spee-Waschmittel ist zu einer nachvollziehbaren Zukunftsentscheidung geworden und hat doch viele Merkmale von Emotionalität bewahrt. Die Produktwahl wurde zu einem Plebiszit mit dem Einkaufskorb.

Anders als in der Politik, wo Anhänglichkeit an die Vergangenheit sofort den Geruch von Funktionären und Kaderleitern nach sich zieht, ist man sich in der Welt der Waren einig: Bewährtes muß erhalten bleiben. Als Identifikationspunkte werden Bilder und Orte bevorzugt, "an denen die seelische Flucht aus der DDR stattfand", so der Ostberliner Werbefachmann Alexander Mackat.

Erfolgreiche Markenartikel wie etwa der "Nordhäuser Korn" waren auch zu DDR-Zeiten nicht durch und durch von der Politik eingenommen, sondern konnten in ihrem Marketing gegenüber Partei und Staat eine gewisse Eigenständigkeit bewahren. Um so eher versucht man heute, an der "guten, weil unpolitischen Tradition der deutschen Heimat" anzuknüpfen. Als Bezugspunkt dient nicht das politische System, sondern die Erfahrungsgemeinschaft regionaler Eigenheiten.

Ostprodukte lassen nicht nur (unterschiedliche) Vergangenheiten lebendig werden, sondern drücken auch aktuelle Stimmungen aus. Sie sind ein Reflex auf die Enttäuschung über den Westen in den Jahren nach 1989; denn der Versuch, zum Super-Wessi zu mutieren, hat sich als unmöglich herausgestellt. Doch wenn man sich schon nicht mehr verstecken kann, dann ziehen es viele Ostdeutsche vor, die Unterschiede lieber herauszustreichen. Geschmacksfragen und regionale Identitäten werden offensiv nach außen gekehrt und als Mittel eingesetzt, sich von anderen zu unterscheiden.

Die nicht mehr ganz so neuen Bundesbürger demonstrieren damit, daß sie in der Wettbewerbsgesellschaft angekommen sind. Sie haben die Spielregeln des Pluralismus begriffen. Wenn in der Politik vieles von der Vergangenheit überschattet erscheint, so pochen sie wenigstens in der Welt des Konsums auf den eigenen Geschmack.