Multikulturalismus in der Kritik

Grenzen der Anerkennung

Peter Lohauß

Multikulturelle Identitätspolitik

Multikulturelle Identitätspolitik1 kann in einer ersten Annäherung wie folgt definiert werden: Multikulturelle identitätspolitische Gruppen machen eine persönliche, nicht selbst gewählte und meist nicht wählbare Eigenschaft wie ethnische Herkunft, Geschlecht, Lebensalter und ähnliches zum Mittelpunkt ihrer politischen Aktion und fordern nicht nur die Toleranz der Mehrheitsgesellschaft und Chancengleichheit, sondern öffentliche Anerkennung und Unterstützung ihrer Gruppenidentität, den Ausgleich der Benachteiligungen und die Gleichberechtigung mit der Mehrheitskultur.

Multikulturelle Identitätspolitik knüpft an die neuen sozialen Bewegungen an, in denen die unmittelbare Berufung auf die universellen Prinzipien der "alten" sozialen Bewegungen (Arbeiterbewegung, erste Frauenbewegung) wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit ersetzt wurde durch die Forderung nach Freiheit und Gleichheit als individueller Autonomie mit dem Ziel der Selbstentfaltung. Sie geht insofern noch darüber hinaus, als identitätspolitische Forderungen legitim allein von den Angehörigen der jeweiligen Gruppe vorgetragen werden können und die Gruppen zudem beträchtliche Anstrengungen unternehmen, ihre Gruppenidentität durch den politischen Kampf um Anerkennung herauszubilden und zu festigen. Im Kern geht es letztlich um die Relevanz, ja sogar den Vorrang partikularer Eigenschaften und Forderungen gegenüber universellen oder von der Mehrheitsgesellschaft für universell erklärten Prinzipien.

Über Ursachen und Gründe für das Auftreten von multikultureller Identitätspolitik gibt es keine einhelligen Erklärungen. Am häufigsten fällt das Stichwort Globalisierung. Offensichtlich ist, daß in allen westlichen Gesellschaften der Anteil der Einwanderer und Migranten oder zumindest der Einwanderungsdruck zunimmt. Ein ganz anderer Erklärungsstrang bezieht sich auf geistige Strömungen. Manche amerikanische Autoren halten Identitätspolitik für einen französischen Import und beschuldigen den Dekonstruktivismus und postmoderne Theorien als Förderer.

Beide Argumentationsstränge können kombiniert werden. So definiert Claus Leggewie in einem frühen Text zur Verteidigung der multikulturellen Gesellschaft: "Multikulturalismus ist die Gesellschaft ohne kulturelles Zentrum und ohne hegemoniale Mehrheit. Dieser Aggregatzustand tritt ein, wenn das historische Gerüst des europäischen Universalismus, der Nationalstaat als Denk- und Handlungseinheit, nachgibt und transnationale Mobilität in einem Maße stattfindet, daß die Weltgesellschaft von einer Abstraktion zur alltäglich erfahrbaren Realität wird. Migrationen und grenzüberschreitende Kommunikationen lassen die ,postmoderne` Vorstellung der Dezentrierung Wirklichkeit werden. In der wirklichen Weltgesellschaft gibt es keine dominanten kulturellen Muster mehr, und die universale Tradition des Westens darf sich nicht in einem trotzigen Ethnozentrismus der Diskussion verweigern, sondern muß die Debatte (warum nicht selbstbewußt?) führen ... In einer solchen Gesellschaft verschwindet nicht nur der traditionelle Raum des ,Einheimischen`, es löst sich auch die für die klassische Moderne typische, zweistellige Opposition des ,Eigenen` und des ,Anderen` auf. Aus dieser binären wird eine multiple, auf den ersten Blick chaotische Konstellation von Personen und Gemeinschaften, die zueinander in einem Verhältnis struktureller Fremdheit und situativer Vergemeinschaftung stehen" (Leggewie 1990: XIII).

In die gleiche Richtung zielen Cohn-Bendit und Schmid, wenn sie die Tendenz der multikulturellen Gesellschaft, in "Stammeswesen" zu verfallen und "zum Statischen, etwa zur Ethnizität, Zuflucht zu nehmen" (Cohn-Bendit, Schmid 1993: 347) damit kontern, daß sie sich in Anlehnung an Walzer (1992) komplexere und vielfältige Identitäten wünschen.

Es ist bemerkenswert, daß beide Texte, obwohl sie grundlegend die Debatte um die multikulturelle Gesellschaft in der Bundesrepublik bestimmten, mit ihren Argumenten zu den Ursachen des Multikulturalismus recht sparsam sind. Das entscheidende Argument ist ein schlichter Imperativ: Die Bundesrepublik Deutschland "muß verstehen, daß sie sich nur in begrenztem Maße aus der neuen Weltunordnung heraushalten kann ..." (Cohn-Bendit, Schmid 1992: 329), heißt es inmitten einer Kette weiterer Imperative. Multikulturelle Gesellschaft sei "nur ein anderes Wort für die Vielfalt und Uneinheitlichkeit aller modernen Gesellschaften, die offene Gesellschaften sein wollen (Cohn-Bendit, Schmid 1992: 11). Die Propagandisten des radikalen Multikulturalismus verlangen letztlich eine gesellschaftliche Umwälzung, in der die gesellschaftliche Mehrheit auf die Dominanz ihrer Kultur verzichtet und sich situativ multiple Identitäten bastelt.

Kommunitaristische Positionen

Auf den ersten Blick scheinen die kommunitaristischen Positionen die Schwierigkeiten der überzogenen multikulturalistischen Ansätze zu vermeiden. Sie verweisen auf die Bedeutung des Kampfes um Anerkennung, aber auch auf die Notwendigkeit einer demokratischen Identität des Gemeinwesens. Sie begründen eine allgemeine Identitätspolitik, aber die Aporien der multikulturellen Gesellschaft wollen sie in einem gesellschaftlichen Prozeß der Verhandlungen und der Inkorporation der identitätspolitischen Gruppen aufheben. In abgestuften Varianten heben sie die Bedeutung der rechtsstaatlich-liberalen Grundsätze hervor. Soweit ich sehe, lassen sich die kommunitaristischen Argumente in folgende drei Thesen zusammenfassen:

Demokratien brauchen eine Basis gemeinsamer Identität Die Verwirklichung der Demokratie setzt nicht nur allgemeine Gesetze und die Gleichheit aller vor dem Gesetz voraus. Die Bürger müssen nicht nur Meinungen haben, sondern diese auch formulieren, letztlich müssen ihre Repräsentanten gemeinsam entscheiden. Da ständig neue Fragen auftauchen, ist ein permanenter Konsensbildungsprozeß gefordert. All dies setzt ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen voraus und einen hohen Grad an sozialem Zusammenhalt. Wenn größere Gruppen das Gefühl haben, sie würden nicht gehört, könnten ihre legitimen Interessen nicht durchsetzen und seien nicht am politischen Prozeß beteiligt, dann verlieren die getroffenen Entscheidungen an Legitimität. Demokratien bedürfen der Sicherheit, daß die Bereitschaft zur Einbeziehung aller auch von Dauer ist. "Dazu bedarf es einer Art gegenseitiger Verpflichtung. In der Praxis kann eine Nation nur dann eine stabile Legitimität garantieren, wenn ihre Mitglieder einander in hohem Maße verpflichtet sind kraft eines von allen geteilten Gefühls der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft" (Taylor 1997: 82). Das Gefühl der Zugehörigkeit erwächst aus den Wir-Identitäten bezüglich des Staates und diese sind mit allen partikularen Identitäten verknüpft, die in gewachsenen Kulturen ausgeprägt sind. "Demokratische Staaten sind auf eine gemeinsame Identität angewiesen" (Taylor 1997: 81).

Demokratien müssen Differenz anerkennen Ähnlich wie die Theoretiker des Multikulturalismus geht Taylor davon aus, daß sich die demokratischen Gesellschaften am Ende unseres Jahrhunderts faktisch durch Migration und eine immer geringere Wirksamkeit von Assimilationspolitik unumkehrbar und unaufhaltbar kulturell vervielfältigen (Taylor 1997: 86). Sein zentrales Argument bezieht sich jedoch auf den historischen Wandel der Identität (vgl. Taylor 1996). Identitätspolitik oder, wie Taylor sie nennt, "Politik der Differenz" erwächst aus einer Politik der Menschenwürde. Die Politik der Differenz verlangt, die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe, ihre Besonderheit gegenüber anderen, anzuerkennen.

Das positive Bild einer kollektiven Identitätsfiguration ist für Taylor und andere Kommunitaristen eine Vorstellung eines guten Lebens. Auf den Urteilen darüber, worin ein gutes Leben besteht, gründet er einen Entwurf eines Liberalismus, in dem der Integrität der Kulturen ein zentraler Platz zukommt. Damit unterscheidet Taylor einen älteren (liberalen) Liberalismus von einem neueren (kommunitaristischen) Liberalismus (vgl. Taylor 1993: 28 f.). Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat gebührt demzufolge nicht allein den freien und gleichen Individuen, sondern allen Kulturen, allen Identitätsfigurationen. Taylor weist die multikulturalistische Vorstellung zurück, alle Kulturen hätten ein Recht darauf, von vornherein als gleichwertig angesehen zu werden, er verlangt allerdings einen unvoreingenommenen Standpunkt bei der Überprüfung des Werts von Kulturen.

Einbindung in demokratische Verfahren Wenn Demokratie als Selbstregierung einer "Gemeinschaft von Gemeinschaften" (Etzioni) verstanden wird, dann gibt es buchstäblich kein Argument, einer Gruppe die Artikulation und Selbstbestimmung zu verweigern. Die Berufung auf eine abstrakte Norm, die allem übergeordnet ist, wäre nicht konsensfähig und könnte nur mit Gewalt durchgesetzt werden. Walzer entwirft eine "Politik der Differenz" in den Stufen:

- Artikulation der Differenzen,

- Verhandlung zwischen den Gruppen über Gleichbehandlung und Beschränkung und

- Inkorporierung der neuen Gruppen innerhalb von Gesellschaften in Form von kulturellem Pluralismus, regionaler Autonomie, Vertretungen der jeweiligen Gruppen, Einbindung aller Gruppen ins öffentliche und wirtschaftliche Leben sowie neue Formen der Staatsbürgerschaft (vgl. Walzer 1992: 228ff).

Daneben plädiert er dafür, Völker aus dem Staatenverband gehen zu lassen, wenn sie gehen wollen. Skeptischer als die Befürworter der multikulturellen Gesellschaft erwartet er auf Europa bezogen nach der Artikulation der Differenzen, daß "die Verhandlungen darüber immer wieder abbrechen und in eine Art bewaffnete Diplomatie und Freischärlerkriege umschlagen. Aber die Unterdrückung der Differenz zeitigt ihre eigenen charakteristischen Grausamkeiten, und sie war notwendig und wesensmäßig antidemokratisch. Artikulation von Differenz kann der Beginn von Demokratie sein ..." (Walzer 1992: 240).

Die radikal-liberale Gegenposition

Die schärfsten grundsätzlichen Einwände gegen multikulturelle Identitätspolitik in allen Varianten kommen von liberalen Kritikern. Mit dem Bestehen auf ihrer Partikularität gegenüber der Mehrheitsgesellschaft fallen identitätspolitische Gruppen in einen Widerspruch, der sehr grundlegende liberale Einwände hervorruft.

Gemäß der liberalen Verfassungsinterpretation wird der Zusammenhalt der Gesellschaft auf der Grundlage der durch Recht garantierten Gleichheit ihrer Mitglieder erzeugt. "In der liberalen Gesellschaft (werden) die besonderen Eigenschaften der Individuen, durch die sie sich von anderen unterscheiden – Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben – von den öffentlichen Sphären des Rechts, der Politik und des Marktes verbannt ..." (Preuß 1998: 61). Das Recht solle die Individuen als "eigenschaftslose, abstrakte Personen" ansehen, die Verfassung kenne nur den "Menschen sans phrase". Indem auf diese Weise alle Diskriminierungstatbestände weggefiltert werden, "schützt sich die Gesellschaft gewissermaßen gegen ihre regressiven Tendenzen, und die potentiellen Opfer zahlen dafür durch die Verlagerung ihrer Individualität in die unsichtbaren Bezirke der Privatheit" (Preuß 1998: 66). So wird die politische Nation zum Triumph der für alle Menschen gleichen, also universalistischen Form über die Borniertheit und den Partikularismus der Kultur, über die in der Tradition wurzelnden religiösen, ethnischen, sprachlichen und moralischen Gemeinschaften. Ganz prägnant auf den Punkt gebracht: "Das Abstrakte verbindet die Menschen, nicht das Konkrete! Die Kulturen trennen die Menschen, die Zivilisation vereint sie!" (Burger 1997: 178).

Mit dieser Betrachtungsweise entdeckt Preuß die Einbruchstellen des Multikulturalismus als eine Position, die eben die partikularen Identitäten in den öffentlichen Räumen vertreten will, bereits im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht. Da ist zunächst das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das man vielleicht noch im Rahmen traditioneller Toleranz interpretieren könnte. Aber bereits bei der verfassungsrichterlichen Interpretation von Artikel 1 Grundgesetz, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt, begännen die Probleme einer "überschießenden normativen Tendenz". Ältere Lehrbücher sehen diesen Artikel noch als rein deklamatorisch an, als lediglich andere Formulierung des Rechts jedes Menschen auf Anerkennung als Gleicher. Indem das Bundesverfassungsgericht sich in seinen Entscheidungen zur Gewissensfreiheit nicht nur auf die Menschenrechte, sondern auch auf die Menschenwürde als materiellen Rechtsgrundsatz bezieht, wird "die Würde des Menschen nun in seiner unverwechselbaren Individualität, in seiner Einmaligkeit, vor allem aber in der Zugehörigkeit und Verwurzelung in einer bestimmten Kultur gesehen. Sie liegt in dem, was ihn von anderen unterscheidet" (Preuß 1998: 71). Damit wandle sich der alte republikanisch-egalitäre Schlachtruf nach Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit in ein Freiheit – Gleichheit – Identität.

Demnach beginnt Multikulturalität da, wo partikulare Identitäten besondere Rechte konstituieren: wenn in der "affirmative action" der USA Afroamerikanern, Frauen, amerikanischen Ureinwohnern unter anderem wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Abstammung dauernde und nicht nur vorübergehende Quotierungen eingeräumt werden, wenn in der Bundesrepublik Zeugen Jehovas auch den Wehrersatzdienst verweigern dürfen, orthodoxe Juden und Muslims vom Verbot der Schächtung ausgenommen werden oder wenn Pornographie wegen der Mißachtung weiblicher Würde verboten würde. Preuß warnt vor den Folgen, daß die erst unter dem Schutz der "farbenblinden" Verfassung entstandenen Identitätsgruppen bei einer Durchsetzung ihrer Anerkennung in der öffentlichen Sphäre eben auch die Voraussetzungen ihrer Autonomie und des wechselseitigen sozialen Austausch zerstören könnten.

Gegen das Einräumen von Gruppenrechten bei Identitätskonflikten trägt Offe eine Reihe von weiteren Einwänden vor. So sei schwer zu bestimmen, was eine Minderheit oder eine Gruppe sei; sei kaum objektivierbar, ob diese Gruppe wirklich unterdrückt sei oder nur so tue als ob; sei möglich, daß sie unter den Minderheitsrechten mehr leiden würde als ohne diese, und grundsätzlich seien Gruppenrechte immer kaum begründbare Privilegien (Offe 1996: 33 f). Generell wären individuelle politische und soziale Rechte völlig ausreichend, um Nachteile askriptiver Gruppen auszugleichen.

Die Positionen auf dem Prüfstand

In der Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus in der radikalen und der kommunitaristischen Variante sowie der radikal-liberalen Kritik werden die oben aufgeführten drei kommunitaristischen Argumente der Reihe nach wieder aufgenommen.

1. Demokratien brauchen eine Basis gemeinsamer Identität In der Regel ist die Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Positionen außerordentlich schwierig. Vor dem Hintergrund der verletzten Anerkennung formuliert sich radikale multikulturelle Identitätspolitik als Vorwurf an die Mehrheitskultur. Sie strebt im Kern nicht nur den Ausgleich von materiellen oder politischen Interessen an, sondern auch so etwas Immaterielles wie Respekt und Hoch- oder zumindest Gleichschätzung mit der Mehrheitskultur. Bei allen tatsächlichen Identitätskonflikten (also unter Absehung von allen Grüppchen, die auf der Welle von Identitätspolitik Sonderinteressen verfolgen) berührt das Problem der Anerkennung der Minderheit stets auch die Selbstachtung und das Selbstbild der Mehrheitskultur. Die Auflösung der Mehrheits- und Minderheitskultur in eine beliebige oder gleichgeltende Menge von Multikultur bedeutet, das jeweils partikular Hochgeschätzte nunmehr als gleichrangig einzuschätzen. Solange sich die Identitäten nicht unmittelbar an universellen menschlichen Werten festmachen, ist das eine logisch unmögliche Operation. Entweder werden Konzeptionen guten Lebens angestrebt, oder es gibt nur unbewertbare Konzeptionen des Lebens. Ganz konsequent führte die Zuspitzung der Identitätspolitik an manchen amerikanischen Colleges  zu dem Versuch, ein Verbot schon der Benennung und jeder Auseinandersetzung über den Wert unterschiedlicher Kulturen und Identitäten als politisch korrekt durchzusetzen. Damit werden letztlich aber auch die Prozesse unterbunden, die am Ende zur Überwindung der trennenden Partikularitäten hätten führen können, und damit werden dann Opferrollen auf Dauer festgeschrieben.

In diesem Zusammenhang ist Leggewies Bild der multikulturellen Gesellschaft eher beunruhigend: "Multikulturelle Gesellschaften sind, nicht nur auf den ersten flüchtigen Blick, sozusagen ,reine Oberfläche`; ihre Bauprinzipien und Strukturen sind nach außen projiziert und erscheinen dort plastisch in leiblichen Formen und ornamentalen Accessoires: in Hautfarbe und Körperform, Physiognomie und Habitus, Kleidung und anderen Merkwürdigkeiten" (Leggewie 1990: 97). Wenn Leggewies Beschreibung als gesellschaftliches Bauprinzip gültig wäre, so gäbe die bunte Oberfläche Material für tausenderlei partikulare Identitäten und entsprechend zersplitterte Zugehörigkeiten ab, und die gesellschaftlichen Konflikte würden sich in gleichem Maße vervielfältigen.

Eine wirkliche Anerkennung setzt einen Rahmen der Übereinstimmung über Fragen des guten Lebens der gesellschaftlichen Gemeinschaft voraus. In einer multikulturellen Gesellschaft bleibt offen, welche Bindungen an die Gesamtgesellschaft bestehen, die Menge der Betroffenengruppen kann allein mit identitätspolitischen Argumentationen keine übergreifende Verbindlichkeit schaffen. Bei einer verallgemeinerten multikulturellen Identitätspolitik könnten alle Lebensstilgruppen der Mehrheitskultur aus dem privaten Raum in den öffentlichen Raum streben und ihre Differenz zur Basis von Sonderrechten und Anerkennung machen. Schließlich wird nicht mehr zu entscheiden sein, welche Gruppe dann wem Kompensation für vergangene Diskriminierung oder Subventionen für die Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Besonderheit schuldet. Die Verallgemeinerung der Identitätspolitik zum Multikulturalismus wird der Identitätspolitik ihre Voraussetzungen entziehen. In den USA ist es längst schon soweit, daß weiße Männer ihre Diskriminierung durch die Quoten für Frauen und Minderheiten erfolgreich eingeklagt haben und daß Betroffenengruppen von "Weißen" entrüstet diese Bezeichnung zurückweisen und darauf bestehen, in ihrer "irischen" oder "germanischen" Identität anerkannt zu werden.

Cohn-Bendit und Schmid erhoffen sich einen Ausweg aus dem Dilemma der Nichtanerkennung von Identitäten durch ihre Vervielfältigung in einer multikulturellen Gesellschaft, und sie stützen sich dabei auf Walzer (Walzer 1992: 136). Doch auch die kommunitaristischen Positionen vertreten hier schwache Argumente. Identitätsfigurationen können in der modernen Gesellschaft immer vielfältige Bezüge aufweisen: Man muß in Partnerschaft, Beruf, Freizeit und Politik nicht die gleichen Werte hochschätzen und ist in unterschiedliche Gruppen integriert. Walzer meint, eine Überwindung der Partikularitäten könne in einer Vervielfältigung der Identitäten liegen. Sein Beispiel dafür ist wenig überzeugend: Er meint, als Amerikaner, Jude, Ostküstenbewohner, Intellektueller und Professor gehöre er unterschiedlichen Gruppen an und sei deshalb weniger partikular. Das ist falsch. Er hängt als Jude, Intellektueller und Professor universalen Werten an und kann deshalb die Partikularitäten für sich überwinden. Aber beispielsweise einem illegalen hispanischen Einwanderer, Voodoo-Anhänger, Wanderarbeiter, Familienvater und TV-Konsumenten in Kalifornien werden seine multiplen Identitäten kaum über seine Partikularitäten hinweghelfen. Statt von der Vervielfältigung beliebiger Identitäten eine Aufhebung der Identitätskämpfe zu erwarten, wäre zu beantworten, welche Werte denn alle Identitätsgruppen gemeinsam hochschätzen könnten, um der Tatsache, daß sie Teil einer Gesellschaft sind, einen Sinn zu geben und sich gegenseitig zu achten.

2. Demokratien müssen Differenz anerkennen Die Kommunitaristen heben zu Recht die Bedeutung der Anerkennung der Differenz für den demokratischen Prozeß hervor. Der gewichtigste Einwand gegen die radikal-liberale Position ist ihr verkürztes Verständnis von Recht und Verfassung. Private und öffentliche Autonomie sind nicht so getrennt, wie es die liberale Position unterstellt. "Letztlich können nämlich die privaten Rechtssubjekte nicht einmal in den Genuß gleicher subjektiver Freiheiten kommen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klar werden und auf die jeweils relevanten Hinsichten einigen, unter denen jeweils Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll" (Habermas 1993: 154). Das Rechtssystem ist in der Wirklichkeit eben nicht blind gegenüber den kulturellen Differenzen. Es schützt im Kern gerade die Integrität des einzelnen auch in seinen identitätsbildenden Zusammenhängen.

Es ist unsere spezifische Variante von Gleichheit vor dem Gesetz und Ausprägung der grundlegenden Menschenrechte, die bestimmt, wer in Deutschland Deutscher ist, ob der verfassungsrechtliche Schutz der Familie verhindert, daß gleichgeschlechtliche Partnerschaften gleichgestellt werden oder wie weit Sonderrechte gewährt werden können, ohne die Gleichheit zu verletzen. Der auf universalistischen Prinzipien beruhende Rechtsstaat ist eine bestimmte Konstruktion eines bestimmten Kulturkreises und wird in jeder praktischen Verwirklichung durch die ihn konstituierende Vereinigung von Bürgern schon in seiner Grundkonstruktion kulturell gefärbt.

Rechtsstaat und Verfassung schweben nicht in einem abstrakten Raum jenseits des Staatsvolkes und müssen nicht vor Versionen des guten Lebens beschützt werden. Letztlich ist jede Verfassung ein Konzept guten Lebens der gesellschaftlichen Gemeinschaft, das unter den Bürgern konsensfähig sein muß. Es ist eine falsche Abstraktion, wenn Burger meint, das Abstrakte verbinde die Menschen und versucht, die Idee des Staates gegen die Staatsbürger in Schutz zu nehmen (und eine sehr deutsche Bewußtseinsform ist es außerdem). Diese Art des Liberalismus ist blind gegenüber den Fragen der konkreten Menschenwürde und der wirklichen Gesellschaftlichkeit der Bürger.

Offes Auffassung, daß identitätspolitische Diskriminierung nicht genau feststellbar sei, ist zurückzuweisen. Das Spezifische ist doch, daß unter der Geltung gleicher Rechte Ungleichheiten vorhanden sind, die mit Hilfe wesentlicher Merkmale der Identität der Mehrheit und der Minderheit festgeschrieben werden. Wer betroffen ist und welche Nachteile sich für die Minderheiten ergeben, läßt sich meines Erachtens genauso "objektiv" feststellen wie etwa die Angemessenheit von Subventionen für die Landwirtschaft oder die Höhe eines angemessenen Kindergeldes. Da die Ungleichheit und die Diskriminierung die Ausgangspunkte sind, ist schwer verständlich, daß Offe generell Gruppenrechte als Privileg ansieht. Wäre nicht vorab eine politische und soziale Ungerechtigkeit gegeben, wären selbstverständlich spezielle Gruppenrechte ein Privileg, das den Gleichheitsgrundsatz verletzte. Gegen die radikal-liberale Position muß also hervorgehoben werden, daß mit dem Fortschreiten der Demokratie in Richtung auf Anerkennung der Menschenwürde aller ihrer Subjekte eine Anerkennung der Differenz von identitätspolitischen Gruppen nicht mehr hintergehbar ist. Damit verlagert sich die Debatte von der grundsätzlichen Frage, ob Gruppenrechte anerkannt werden dürfen, zur komplexeren Fragestellung, welche Gruppenrechte wie weitgehend anerkannt werden müssen.

3. Die Grenzen der Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat Die verschiedenen multikulturellen Ansätze verharmlosen das Problem der Kämpfe um Anerkennung, wenn sie die Konflikte einfach in ein Lob der Vielfalt oder in formalen Verfahren auflösen wollen. Sie neigen dazu, zu übersehen, daß die gesellschaftliche Mehrheit ja genau das gleiche Recht auf Anerkennung und Beibehaltung ihrer spezifischen Kultur hat wie die Minderheit und daß es sich beim Kampf um Anerkennung nicht nur um die Anerkennung einer weiteren Lebensweise oder Identität neben den vorhandenen handelt, sondern daß zwischen der Mehrheitskultur und den mehrheitlichen Lebensstilen auf der einen Seite und den diskriminierten Identitätsfigurationen oder Merkmalen auf der anderen Seite immer scharfe Gegensätze bestehen.

Eine Lösung dieser Konflikte kann grundsätzlich nicht durch additive Anerkennung, sondern nur durch Erweiterung sowohl der herrschenden als auch der um Anerkennung kämpfenden Identitätsfigurationen geschehen, und zwar durch eine Verschiebung hin zu universalistischen Inhalten. Als Beispiel soll hier wieder der Rassismus gelten. Nur wenn die Mehrheitskultur bereit ist, ihre Hochschätzung von Eigenschaften, ihre Vorstellung von gutem Leben und ihre persönliche Identität von ihrer eigenen Hautfarbe oder ihrer wie auch immer konstruierten ethnischen Herkunft zu lösen, wird sie in der Lage sein, ethnisch anderen Gruppen Anerkennung entgegenzubringen. Damit verändert sich zwangsläufig der Horizont der Werte, vor dem sich in der Mehrheitskultur Identitäten bilden. Das kann die Identitätspolitik der Minderheitsethnien nicht unberührt lassen. Auch sie müßte in diesem Prozeß ihren Bezug auf die im Gegenzug positiv besetzte eigene ethnische Identität zugunsten einer gemeinsamen Wertschätzung nichtethnischer Identitätsfiguration ablösen.

Auf den Punkt gebracht: Die wechselseitige Anerkennung von irgendwelchen Differenzen ist überhaupt nicht das Problem. In einer Situation, in der die diskriminierten Merkmale gerade für die Wir-Identitäten von Mehrheit und Minderheit entscheidend sind, ist wechselseitige Anerkennung dieser partikularen Identitäten gar nicht möglich. Da Identitätsbildung immer Ich- und Wir-Identitäten verknüpft, bedeutet die wechselseitige Anerkennung vollständig getrennter, partikularer Wir-Identitäten, daß man gerade nicht in zumindest einer Hinsicht zu einer gemeinsamen Gruppe gehört, sondern zu verschiedenen Gruppen.

In der Auseinandersetzung um gemeinsame Werte der Demokratie und die Anerkennung von Minderheiten können also nicht alle Identitätsfigurationen gleich gelten. Offe macht nicht zu Unrecht darauf aufmerksam, daß die Anerkennung von Identitätsgruppen um so leichter möglich sein wird, je näher sich die Kulturen stehen. Soweit Identitätsgruppen ihre kollektive Identität auf Wertungen stützen, die die Gewährung von Autonomie und Gleichheit ausschließen, können sie nicht als gleichwertig im öffentlichen Raum von demokratischen Rechtsstaaten anerkannt werden (im privaten Raum hingegen durchaus). Als Beispiel: Es ist nicht die Frage, ob islamische fundamentalistische Identitäten kulturell gleichwertig mit Kulturen in demokratischen Rechtsstaaten sind, sondern ob im öffentlichen Raum Rechtsstaatlichkeit und Freiheit gleichwertig mit Auffassungen vertreten sein können, die eine Einheit von Islam und Staat anstreben. Nur die Anerkennung der Autonomie des Nationalstaates ermöglicht es, daß islamische fundamentalistische und demokratische Staaten nebeneinander bestehen können. Innerhalb der Staaten jedoch sind einander ausschließende Kulturen im öffentlichen Raum nicht kompatibel.

Die kommunitaristischen Positionen betonen sowohl die Bedeutung der Identität der gesellschaftlichen Gemeinschaft als auch die ihrer Teilgemeinschaften. Wenn beide in Konflikt geraten, bieten Kommunitaristen aber keine klaren Kriterien. Walzer vertritt in bezug auf ethnische Unterschiede die These, daß, wer ziehen will, doch seine eigene autonome Nation aufmachen solle. Aber die Ethnien sind in sozialer Hinsicht keineswegs gleiche Gebilde. Überall überlagern sich ethnische mit sozialen Kriterien. Bei der nationalen Abspaltung von Slowenien und Tschechien aus ihrem vormaligen Staatsverband spielten neben ethnischen und kulturellen auch soziale Gesichtspunkte eine Rolle. Wie im Fall der Lega Nord in Italien gibt es einen Wohlstandschauvinismus in den reicheren Landesteilen, der sich durch die staatliche Autonomie der lästigen Verpflichtung zur Umverteilung von Steuergeldern zugunsten benachteiligter oder unentwickelter Regionen entziehen will. Durch räumliche Segregation entstehen auch innerhalb eines Landes reiche und arme Gemeinschaften, und durch Verstärkung der wechselseitigen Autonomie lassen sich soziale Verpflichtungen der Gemeinschaft kappen. Ob die Beweggründe für Autonomiebestrebungen auf unvereinbaren Identitäten oder auf kollektivem Eigennutz beruhen, sollte für eine kommunitaristische Position nicht ganz unerheblich sein. In einer modernen Gesellschaft werden wesentliche materielle Grundlagen für Freiheit und Gleichheit durch soziale Prozesse innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft von Nationalstaaten hergestellt. Die Frage ist also: "Auf welche Community werden die Vorstellungen guten Lebens bezogen?" Je nachdem, ob hier die gesellschaftliche Gemeinschaft des Nationalstaats oder beliebige Teilgemeinschaften angesprochen sind, können die Resultate einmal zu mehr gesellschaftlicher Gleichheit oder zu mehr Ungleichheit führen und damit wiederum Freiheit und kulturelle Identität von allen entwickeln oder bei einigen Gruppen einschränken. Die nähere Bestimmung der Gemeinschaft, auf die sich der Kommunitarismus bezieht, ist genauso wichtig wie die Erörterung der individuellen Freiheiten in dieser Gemeinschaft (vgl. Lohauß 1995a).

Die kommunitaristischen Positionen machen zudem nicht deutlich genug, daß sich bei der Trennung von Identitätsgruppen unweigerlich neue Minderheiten bilden, deren Rechte nun wieder gegen die neue Mehrheitskultur gesichert werden müssen. Um hier nicht in einen unendlichen Regreß zu kommen, muß die Vorstellung, ethnische Identität könnte die Basis von demokratischen Nationalstaaten sein, überwunden werden. Taylor und Walzer machen die Beobachtung, daß infolge der weltweiten Migration die Nationalstaaten stärker ethnisch vermischt werden, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, an deren Ende sie jedoch für eine Verstärkung der kulturellen Abgrenzungen plädieren. Aber nur eine Zurückdrängung ethnischer Merkmale für die Herausbildung von kollektiven Identitäten kann einen demokratischen Prozeß innerhalb der ethnisch vermischten Nationalstaaten ermöglichen. Identitätspolitik in diesem Sinne wäre eine politische Strategie des Gemeinwesens zur Überwindung ethnischer und kultureller Trennungen zugunsten von kollektiven Identitäten auf der Basis tatsächlich gemeinsamer Werte.

Eine lebendige Demokratie benötigt auch und gerade unter den Bedingungen der Globalisierung notwendig ein von allen geteiltes Gefühl der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Gegenüber einer naiven Auffassung des Multikulturalismus muß klargemacht werden, daß dies die Spannweite der Anerkennung von Identitätsgruppen begrenzt. Diskriminierungen, die die Menschenwürde verletzen, können und müssen durch eine gesellschaftliche Identitätspolitik ausgeglichen werden, die das Ziel verfolgt, eine wechselseitige Anerkennung vor einem gemeinsamen Horizont geteilter Werte bezüglich der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu erreichen. Um diese Position zu begründen, ist weniger eine weitere Annäherung von kommunitaristischen und liberalen Ideen notwendig als eine Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Gemeinschaft, Identität und Demokratie.

1 Die Argumente dieses Beitrages finden sich in ausführlicher Form in: Peter Lohauß, Widersprüche der Identitätspolitik in der demokratischen Gesellschaft; in: Walter Reese-Schäfer, Identität und Interesse, Leske und Budrich (Opladen), erscheint Ende des Jahres.