Die Wende und die Müdigkeit

Serbien nach dem Sturz des Milosevic-Regimes

Velimir Curgus Kazimir

Wie schnell sich die Stimmung in einem Land ändern kann, wenn sich etwas grundlegend zu ändern scheint. Plötzlich wachen viele auf wie aus einem Alptraum und erkennen sich selbst nicht mehr. Eine neue Agilität brachte die Wende in Serbien, aber ist sie konservierbar und reicht sie aus, um die Ergebnisse des Regime Milosevic zu überwinden? Wenn der Blick zurückgeht, entsteht Hass über eine verlorene Zeit, vergeudete Kraft und aalglatte Wendehälse. Dann kann auch Müdigkeit einsetzen. – Ein Stimmungsbericht aus den Tagen nach der Wende.

"Ich las nur das vor, was man mir vorlegte!", verteidigt sich die Sprecherin des staatlichen Fernsehens, nach alledem, was passiert ist. Am 5. Oktober bespuckte und beschimpfte sie die erzürnte Masse der Demonstranten, als sie versuchte, aus dem brennenden Gebäude der Belgrader Fernsehanstalt zu fliehen. Eine herausragende Journalistin des Regimes bekam sogar einige Ohrfeigen. Sie hat sich bislang nicht geäußert.

Zwanzig Tage nach dem Sturz des Regimes Milosevics erscheinen die Zeitungen voller Äußerungen und Bekenntnisse jener Menschen, die den Zorn der erweckten Bürger zu spüren bekamen. Jetzt beginnt also die andere Seite der Geschichte zu interessieren: Was haben "die" gemeint, an was haben sie geglaubt, als sie noch an der Macht waren? In der ersten Woche hingegen zogen die Helden aus Cacak, Baggerfahrer, Anhänger des Vereins "Zvezda" ("Delije"), Mitglieder des "Otpor" und anonyme Helfer aus den Reihen des Regimes, die Aufmerksamkeit auf sich. Dann kamen die Führer der Opposition an die Reihe: die einen "erledigten" das Militär, die anderen verständigten sich mit der Polizei und wiederum andere eroberten die Medien ... Die Zeitungen sind jetzt voller verschiedener Affären – meistens geht es darum, wer von der alten Regierung wie viel gestohlen, für sich ergattert hat. Allgemeines Erstaunen. Die Lautstärke des Zischens der Verwunderung übertönt den Lärm der baufälligen und klapprigen Busse während der Stadtfahrten.

Ja, und was haben wir heute? Verhält es sich normaler? Eher wie früher. Alles ist äußerst merkwürdig und verwunderlich geblieben. Man kennt den Ort, aber nicht die Handlung. Das Gefühl der "Unwirklichkeit", von dem Kazimir Brandis schreibt, wenn er über die Zeiten des KOR und der polnischen Illegalität spricht, ist eigentlich nicht neu. Ich würde sagen, dass dieses Gefühl in Serbien in den letzten etwa zwölf Jahren sehr gegenwärtig und verbreitet war. Man konnte es nicht einfach mit dem Krieg, den Sanktionen, dem Elend oder der Ungewißheit erklären. Und was war daran das spezifisch Nationale, jenes, was man vermittels eines nationalen Codes, der Mentalität und Sensibilität wiedererkennt? Ich bin mir nicht sicher, die Antwort zu kennen. Selbst wenn ich Zeuge oder Teilnehmer einer viel längeren Zeitperiode, etwa der letzten sechzig Jahren gewesen wäre, könnte ich auf der Grundlage dieser Erfahrung kaum ein objektives Urteil geben.

Seit geraumer Zeit herrscht hier ein selektives Gedächtnis. Heute ist es zu einer Art moralischen Geschützes geworden. Und zwar ungefähr gleich für jene, die von Beginn an gegen Milosevic waren, wie für jene, die ihn bis zum letzten Moment unterstützten. In der gnadenlosen Kritik der nationalen Werte werden jetzt nur jene Beispiele des serbischen Hegemonismus, Primitivismus und der Demokratielosigkeit (deren es in den letzten hundert Jahren eine Unmenge gab) gewählt, die zugunsten der These einer genetischen oder historischen Störung und des Konservatimus der serbischen Gesellschaft sprechen. Die andere Seite dieses Extrems, die Befürworter der glorreichen Tradition des serbischen Europäertums, des Liberalismus und der Demokratie, übersieht mit Leichtigkeit all jenes, was diese Werte negierte, und schiebt die Verantwortung dem Einfluß der Großmächte und dem geopolitischen Kontext des Balkans zu. Beide Seiten wählen sich ihre Ereignisse und Daten aus den vergangenen hundert Jahren sehr durchsichtig und tendenziös aus. Der Streit zwischen diesen "Mundialisten" und den aufgeklärten Nationalisten ist natürlich kein wesentlicher. Beide Seiten lehnen es die ganze Zeit ab, sich mit der eigenen Verantwortung, das heißt den unverdienten Privilegien und Vorteilen auseinanderzusetzen, die sie nicht erst in der Zeit der Herrschaft von Slobodan Milosevic, sondern seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges herausschlugen. Sowohl unter "Mundialisten" wie unter "Nationalisten" gab es immer eine beträchtliche Schicht Angehöriger des Establishments. Unter Tito, unter Stambolic oder Milosevic zu leben, ganz gleich, stellte für sie immer nur die Möglichkeit dar, eigene Privilegien und Einfluss zu gewinnen. Sich auflehnen muss also nicht immer Risiko und Unglück der Tugend bedeuten; es kann sogar gewisses Prestige und Profit bringen.

Und doch gibt es Unterschiede: es gibt keine Angst mehr. Es scheint, als hätte es sie nie gegeben. Lauschangriffe, Bedrohungen, Entführungen, Hausfriedensbrüche, Durchsuchungen, Inhaftierungen ... all das scheint jäh ferne Vergangenheit geworden zu sein. Als wäre die Erinnerung an die kommunistische Gesetzlosigkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stärker als die an Ereignisse, die vor nur zwei, drei Monaten passierten! Wahrscheinlich bedingt auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation die Qualität und die Verbreitung der Erinnerung. Freilich entledigen sich die Zwanzigjährigen, die unter Milosevics Regime aufwuchsen, viel leichter der Traumata und Frustrationen. Für sie beginnt die Zukunft wirklich mit dem Machtwechsel. Darin liegt auch eine gewisse historische Gerechtigkeit, denn es waren gerade diese, die jüngsten Menschen, die die größte Last der Veränderung trugen. Über zweitausend Mitglieder der Volksbewegung "Otpor" wurden im letzten halben Jahr seitens der Polizei und unterschiedlicher quasistaatlicher Schlägergruppen inhaftiert und misshandelt.

Gegenüber jenen Gegnern Milosevics und des Traums eines Großserbien, die dabei in keinem Moment ihre Arbeitsstelle, ihre physische Sicherheit, Wohnung oder Bewegungsfreiheit aufs Spiel setzten, bin ich sehr zurückhaltend. Vor allem wenn ich an die mangelnde Solidarität denke, die so wichtig gewesen wäre in all diesen Jahren.

Dann freilich auch diese Unwissenheit und Dummheit! Sind sie bloß Folgen der oberflächlichen und schlechten Bildung oder handelt es sich dabei um eine gewöhnliche Maskierung, um das phantastische Spiel der gesellschaftlichen Anpassung? Viel zu viel Moralismus allenthalben – bloß, um sich mit sich selbst nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen.

Wie bei allen kleinen Gemeinschaften, besonders bei den kleinen osteuropäischen Völkern, geschieht alles "Wichtige" – wie es Istvan Bibò eindringlich schilderte – buchstäblich in nur einigen Straßen. Das provinzielle Ehepaar Milosevic-Markovic, aus der Kleinstadt Pozarevac, südostlich von Belgrad kommend, trug in sich viel von dieser negativen Energie der Frustrierten. Ihre Umgebung zur Zeit der Machtergreifung bestand aus einer Mischung aus einem ähnlichen Provinzialismus und der Verachtung gegenüber dem gewachsenen Belgrader Bürgertum einerseits und der Einschmeichelei und der Angst eines Teils der Belgrader Elite andererseits. Die "antibürokratische Revolution", die Ende der Achtzigerjahre losgetreten wurde, hatte ein einfaches politisches Ziel: Säuberung der staatlichen und Parteiinstitutionen von den Mitstreitern und Anhängern der früheren Führung. Aber sie führte mit sich eine starke, proletenhafte Botschaft, die sich besonders in der Kultur und in den Medien auswirkte. Sie kündigte an, dass die Zeit der neuen Werte angebrochen und niemand an seinem Platz mehr sicher sei. Das war eine Mischung des provinziell-volksnahen Vitalismus, des "gesunden Menschenverstandes", der traditionalistischen Rückkehr zum großen Chef und zu den kleinen Chefs – quer durch das Land. Darin war eine politische und psychologische Antwort auf die vorangegangene unfruchtbare Periode der Selbstverwaltung und des Systems der "Verständigung" unter den kommunistischen Spitzen der Republiken enthalten. Gleichzeitig handelte es sich dabei keineswegs um eine "Kulturrevolution". Dafür fehlte sowohl die Energie als auch die entsprechende Ideologie.

Erstaunlicherweise war schon damals jedem, der darüber ernsthaft nachdenken wollte, klar, dass durch die "antibürokratische Revolution" weder ein Aufschwung noch eine Erneuerung ausgelöst wurde – weder in der Wirtschaft noch im "Überbau". Was für Siege und was für Werke ermöglichte die "antibürokratische Revolution" im Bereich der Kultur und Kunst? Das stattlichste Ergebnis war das schäbige Filmspektakel Schlacht von Kosovo, das unzählige Male im staatlichen Fernsehen wiederholt wurde. Der serbische Führer hatte weder seinen Bulgakow noch seinen Eisenstein. Auch jene Künstler, die anfangs von seiner Energie und Fertigkeit beeindruckt waren, haben ihn nicht verewigt. Mihailo Markovics philosophischer Versuch, vor den ersten Mehrparteienwahlen in Serbien die parlamentarische Demokratie als überlebt zu deklarieren und der "parteilosen Demokratie" eine große Zukunft zu prophezeien, blieb ohne Tragweite. Kosturicas Gastaufenthalt in Milosevics Serbien führte zu seinem Film Underground, einem merkwürdigen Mischmasch (den hauptsächlich der Westen faszinierte), von der Idee eines Jugoslawiens als einem einzigartigen Experiment besessen, das sich in einem Arkadien irgendwo zwischen Russland und Amerika befindet. Keine Romane, Dichtung noch weniger, die Malerei verkrampft in der Mythologie schwelgend und ein Theater aus lauter Einfällen und "Dance macabre".

Warum aber wollten so viele in Milosevic jenen erkannt haben, der Veränderungen bringt? Wahrscheinlich deshalb, weil das durchaus stimmte. Ohne Bedeutung blieb, dass diese Veränderungen katastrophale Folgen hatten. Der Sprung ins Unbekannte hat immer inbrünstige Nachfolger. Besonders wenn dieser Sprung denjenigen Furcht einjagt, die wir nicht mögen. Milosevic galt vor allem deshalb als toll, weil er die Kroaten, Slowenen und Kosovo-Albaner in Angst versetzte. Diese erkannten, daß mit ihm nicht zu spaßen ist. Das wiederum erhebt wahrscheinlich kleine Gemüter, die die Angst des Gegners als eigenen Triumph erleben.

Welche Situation aber haben wir jetzt? Gibt es mehr Normalität? Oder leben wir wieder in der Unwirklichkeit? Wäre nicht schon das gerade normal? So sind die allgemeinen Dienstregeln! "Wir machen weiter, wie wir angefangen haben", sagen mir junge Führer des "Otpor". Womit sie angefangen haben, ist nicht nur die Ablösung des Slobodan Milosevic und seines Systems, sondern die Erweckung und die Rückkehr der Hoffnung. Sie scheinen sich der Schwächen und der Zerstrittenheit in der Koalition der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) bewußt zu sein. Gleichzeitig verschließen sie auch nicht die Augen vor der Stärke und der Gefahr, die von dem besiegten Regime noch immer ausgeht. Sie setzen den Kampf an zwei Fronten fort. Deren Anschläge, Aufkleber und Plakate mit der Aufschrift "Wir beobachten euch" und dem Photo des Baggers, der zum Symbol der serbischen "demokratischen Revolution" geworden ist, richten sich in etwa gleichermaßen an die frühere wie an die jetzige Opposition.

Wie wird sich die Lage weiter entwickeln?

Kommt es zum Prozess gegen Milosevic? Und wo? Mit welcher Anklage? Es rumort aus allen Ecken: von jenen, die sich auf "gut informierte Kreise" berufen, bis zu jenen, die aus Hinterzimmern von Sekretärinnen und Kaffee-Kränzchen herrühren.

In einem Interview für die Wochenzeitung Vreme spricht der Vorsitzende der Jugoslawischen Vereinten Linken (JUL) –  einer Partei, die eigentlich von Mira Markovic gesteuert wird –, der berühmte Theaterregisseur Ljubisa Ristic, in einer Manier, als befände er sich vor dem Tribunal des Klassenfeindes. Was nicht in die gedruckte Fassung kam, erzählte die Journalistin später: Am Ende des Gesprächs, das im Theaterraum geführt wurde, der seinen eigenen Wünschen und Projekten entsprechend wie eine Art persönliche politische Mitgift gestaltet war, zeigte der Regisseur auf Benzinkanister, die an der Wand aufgestellt waren, und sagte, wenn jemand versuchen sollte, mir diesen Raum wegzunehmen, werde ich das alles hier anzünden. Die Journalistin hatte wohl zu viel Angst vor dem "gerechten Furor" des Nachfolgers Brechts, um diese herostratische Phantasie drucken zu lassen.

Ein paar Monate vor den Wahlen stürzte sich eine große Anzahl Spitzenpolitiker der JUL und der SPS in eine große Aktion von Wohnungs- und Häuserkäufen. Die Ankäufe erledigten sie mit vertrauenswürdigen Rechtsanwälten und Reisetaschen voller DM in bar. Man spricht von Summen zwischen zwei- und fünfhunderttausend DM. Als hätten sie damals geahnt, dass ungewisse und harte Zeiten kommen, in denen allein solche Investitionen Sicherheit bieten.

In Zentrum Belgrads begegnet man jener Armut und dem trostlosen Elend nicht, die in Außenbezirken und auf dem Land allgegenwärtig sind. Wer seine Eindrücke nur in der Belgrader Stadtmitte sammelt, wie die meisten westlichen Journalisten, die in Luxushotels im Zentrum absteigen, wird oft einen falschen Eindruck der Normalität bekommten. Außerdem: Wenn man heute keine langen Schlangen alter Leute antrifft, die auf den Straßen vor Lebensmittelläden warten, um Speiseöl, Zucker oder Milch zu kaufen, dann hat dies schlicht damit zu tun, dass diese Lebensmittel nicht mehr zu subventionierten Preisen verkauft werden. Jetzt ist etwa das Speiseöl um das Dreifache teurer und kann auch ohne Warten in der Schlange gekauft werden. Das Essen wird heute eben aus den alten Reserven aus Milosevics Zeiten zubereitet. Aber zwischen dem Leben in Belgrad und jenem im Landesinneren besteht ein Riesenunterschied.

Es ist keine leichte Arbeit, die neue Regierung zu konstituieren. Das Kräfteverhältnis auf der serbischen und jugoslawischen Szene wird zusätzlich durch alte Konflikte zwischen Montenegro und Jugoslawien beeinträchtigt. Die Föderation, die vor etwa sieben, acht Jahren von der serbischen und der montenegrinischen Kamarilla gemeinsam ausgeheckt wurde, ist nunmehr ihrer Kraft und Glaubwürdigkeit verlustig gegangen, weil sich nämlich zunächst die politischen Verhältnisse in Montenegro und jetzt auch in Serbien geändert haben. Der Mechanismus der Fragmentierung, den man noch im 19. Jahrhundert als "Balkanisierung" kannte, erhält damit erst heute seinen vollen Sinn. Wie sieht das auf der gewöhnlichen, menschlichen Ebene aus? Heißt das, dass sich Montenegriner des eigenen politischen Vermögens und der Differenz bewusster sind als die Serben? Kann das Gefühl der Selbstgenügsamkeit stärker als der politische Pragmatismus sein?

Einmal hatte Jugoslawien als Gemeinschaft unterschiedlicher Völker und unterschiedlicher Interessen noch eine theoretische Überlebenschance – als nämlich der Reformer Ante Markovic 1990/91 Chef der Bundesregierung wurde. Er versprach einen schnellen Ausweg aus der Krise, wenn es zur friedlichen demokratischen und wirtschaftlichen Transformation des Landes komme. Auch hatte er die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft, die ihm fünf Milliarden Dollar dafür bewilligte. Aber die nationalistischen Leidenschaften und Interessen waren stärker als dieses Angebot. Vor allem im Serbien Slobodan Milosevics. Hat sich die Lage in dieser Hinsicht geändert? Ich vermute ja. Die Dummheit hat sich abgenützt. Aber ihre wirklichen Reserven kennt man auch noch nicht.

Hasst Du jemanden?" fragt der Radio-Reporter einen jungen Mann. – "Ich hab keine Zeit für den Hass", sagt der junge Mann ruhig. – Und doch ist der Hass allgegenwärtig – vermischt mit Selbstmitleid. Einfache Leute mittleren Alters empfinden den Verlust der letzten zehn Jahre als etwas wirklich Unwiderbringliches und sind daher nicht bereit zu verzeihen. Das Leben ist eine Erscheinung von viel zu kurzer Dauer, um unbegrenzt und sinnlos vergeudet zu werden. Deshalb blitzt oft mitten im Jammern über sich selbst und das eigene Schicksal der Funke des glühenden unkontrollierten Hasses auf Milosevic und seine Helfershelfer auf.

Während der Wahlkampagne reiste ich viel, quer durch Serbien. Ich war in steter Verbindung mit zahlreichen Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich an der Aktion "Von Tür zu Tür" beteiligten. Das Resultat dieser außerordentlich intensiven und bunten – jenen Initiativen in der Slowakei und Kroatien ähnlichen – Aktion war eine überwältigende Wahlbeteiligung, insbesondere der jungen Menschen. Unser Kalkül war sehr einfach: Wenn es uns gelingt, die Wahlbeteiligung um zehn Prozent gegenüber früher zu erhöhen, wird sie um siebzig Prozent liegen, und dann kann der Erfolg nicht ausbleiben. Dessen war man sich überall in Serbien bewusst. Die Wahlhelfer gingen von Dorf zu Dorf und von Haustür zu Haustür. An der Initiative waren auch die Vertreter der Minderheiten und zum ersten Mal auch jene der Roma beteiligt. So hatte jede Region und jede Zielgruppe ihre eigene spezifische Wahlkampagne. Ich fühlte, wie alle nach ihrer eigenen Stimme suchten, wie sie diese fanden, wie sie mit eigenem Kopf zu denken begannen und von der Hoffnung beflügelt waren, dass diesmal alles anders wird.

So oft nämlich in den letzten zehn Jahren war die Hoffnung in Serbien erwärmt und dann wieder abgekühlt, dass die größte Gefahr in der verbreiteten fatalistisch-zynischen Haltung der Wähler gesehen wurde. Also waren jene, die "wussten", dass Milosevic niemals die Wahlen ausschreiben würde, wenn er sie verlieren könnte, seine stärksten geheimen Verbündeten. Diese "Wissenden" sind durch die Exklusivität ihres Wissens blind geworden. Es gab indes auch andere "Wissende", und diese haben gewaltige Arbeit geleistet. Etwa die Meinungsforscher. Resultate ihrer Umfragen begann man etwa vier, fünf Monate vor der Wahl zu veröffentlichen. Die Bevölkerung lernte allmählich durch Tabellen und statistische Analysen ihre eigene Stimme kennen. Das wirkte sich viel stimulativer als viele politische Versprechungen oder Drohungen aus.

"Er ist erledigt!" "Er ist erledigt!" "Er ist erledigt!" Wie oft muss man den wirkungsvollsten Slogan des "Otpor" wiederholen, damit er Wirklichkeit wird? Worauf wartet man jetzt noch? Auf seinen Auftritt vor dem Gericht, öffentliches Hängen auf Terazije (der zentrale Platz in Belgrad), Begnadigung, Flucht aus dem Land? Angst und Hass, die das Regime im letzten halben Jahr gegenüber "Otpor" zeigte, kann man nur als eine irrationale Reaktion verstehen. Einigen Erklärungen zufolge hätte das Regime – und vor allem sein äußerst linker, mafiosester Teil, verkörpert in der Gestalt von Mira Markovic – in "Otpor" die größte Gefahr erkannt, weil es in den Jungen und Mädchen den Keim jenes Widerstands sah, der 1941 zum Aufstand gegen Nazideutsche und andere Faschisten führte. Die besagte Dame hat nämlich in ihren geschmacklosen Zeitungsbeichten die kommunistische Jugend in der Partisanenbewegung als edelste romantisch-jugendliche Revolte in diesem Teil der Welt verherrlicht. Und "Otpor" besaß ähnliche Energie, Massivität, Solidarität und Phantasie! Deshalb erklärte man die Organisation sofort zu einer "faschistischen Bewegung". Man wünschte sich geradezu, dass "Otpor" auf die Gewalt der Polizei und angeheuerter Schläger mit Gewalt antworten würde, um vorführen zu können, dass es sich wirklich um eine terroristische Organisation handele. Aber die Bewegung griff nicht zu Gewaltmitteln und entblößte damit völlig den gewalttätigen, totalitären Charakter des Regimes von Slobodan Milosevic.

"Beschlagnahmt haben sie etwa zwei Tonnen unseres Infomaterials, aber etwa vierzig Tonnen konnten problemlos verteilt werden", erzählte mir neulich einer der führenden Köpfe des "Otpor".

Die Bewegung hatte sieben regionale Zentren, von wo aus das Material in ganz Serbien verbreitet wurde. Von etwa 70000 Mitgliedern wirkte gut die Hälfte bei den politischen Straßenaktionen eifrig mit. Eine erstaunlich effiziente Organisation – ohne einen Führer oder das Zentralkomitee! Alles geschah durch kleine, lokale Organisationen. Das brachte das Regime am meisten in Rage.

Insgeheim sympathisierten auch manche Polizisten mit den Leuten aus "Otpor": Sie warnten sie vor Razzien und bevorstehenden Polizeiaktionen. Ich vermute, dass man vieles, was hinter dem Rampenlicht geschah, nie erfahren wird. Die Verwesung des politischen Systems von Slobodan Milosevic und seiner Frau war schon fortgeschritten. Dennoch hätte niemand ahnen können, dass das System an jenem 5. Oktober so leicht und schnell in sich zusammenfallen würde.

Wenn der Erfolg dasjenige ist, was am meisten erfolgreich ist, verstehe ich nicht, warum es uns nicht "erfüllt". Viele Leute, die ich in den letzten Wochen traf, erzählten mir, wie müde und entleert sie seien. Dennoch ändert sich vieles in Serbien auf dieser Woge des Erfolges. Aber es ergibt sich kein eindeutiges Bild. Der Zorn und die Entrüstung über all das, was die Machthaber in den letzten zehn Jahren getan haben, macht die Menschen unfähig, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Darüber hinaus erfüllt die große Zahl der "Wendehälse", die nunmehr die schmutzige Wäsche aus Milosevics Riege in der Öffentlichkeit waschen, um sich damit den neuen Regierenden anzudienen, viele Menschen mit Abscheu und Übelkeit. Es fällt schwer, wenn man beginnt, die Massivität und die Tiefe der Verdorbenheit zu erkennen, in der man lange gelebt hat. Während S. M. an der Macht war, hatte der normale Bürger, der abseits von alledem stand, gar keine richtige Einsicht in die Ausmaße der Katastrophe. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir in parallelen Welten lebten. Das bestätigt sich heute. Denn jetzt ist all das irgendwie durchgemischt. Deshalb fühle ich wahrscheinlich so eine Leere in mir und so eine Müdigkeit.

So steigert die wachsende Demokratie und Offenheit in mir viel mehr das Gefühl der Misanthropie als das der inneren Freude. Das ist, ohne Zweifel, auch der Preis der zehnjährigen Quälerei und der bedrückenden Erinnerung.

Übersetzung: Dunja Melcic

 

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Ausgabe Dezember 2000 (18. Jg., Heft 12/2000)