Die Misere des Gesundheitswesens

Von medizinischen Fabriken und antiquierten Leitbildern

Harry Kunz

Mit dem medizinisch-technischen Fortschritt kann die Weiterentwicklung von alltagstauglichen Versorgungsrezepten nicht mithalten. Reformen reduzieren sich auf Kostendämpfungsstrategien. Prävention und Rehabilitation werden zugunsten spektakulärer Akutmedizin vernachlässigt. Unser Autor zeigt Erosionsflächen im Gesundheitssystem auf, die die Versorgungsqualität drastisch herabsetzen.

Westliche Gegenwartsgesellschaften sind chronisch krank. Nahezu die Hälfte der deutschen Bevölkerung leidet an mindestens einer chronischen Erkrankung. In den Krankenhäusern und beim Arzneimittelkonsum machen sie rund die Hälfte aller Patienten aus. Trotz eines dort "jüngeren" Bevölkerungsaufbaus stimmt diese Situation gut mit den Daten aus den USA überein: 1995 litten 38 Prozent der US-Amerikaner unter mindestens einer chronischen Erkrankung, 16 Prozent wiesen mehr als ein Gebrechen auf. Auf diese Patientengruppe entfielen 80 Prozent der Krankenhaustage, 66 Prozent der ambulanten Arztkontakte, 83 Prozent der Arzneimittelverschreibungen und 96 Prozent der Hauspflegebesuche.

Obwohl sich in wohlhabenderen Schichten ihre Ausbreitung abschwächt, wird die Bedeutung chronischer Erkrankungen aus drei Gründen insgesamt weiter zunehmen: Erstens bewirkt die demografische Alterung eine vermehrte chronische Krankheitslast. Zweitens trägt der medizinische Fortschritt zu einer Zunahme chronischer Krankheitsverläufe bei. Ehedem kurz- und mittelfristig tödliche Erkrankungen wie Herzinfarkt, Krebs oder Schlaganfälle können heute oft so weit behandelt werden, dass sich chronische Krankheitsverläufe herausbilden. Und drittens eröffnet der diagnostische Fortschritt Frühdiagnosen, welche die Betroffenen länger als "krank" deklarieren.

Die Privilegierung der Akutmedizin

Doch unser heutiges Gesundheitssystem ist nur unzureichend an die Erfordernisse chronisch Kranker angepasst. "Gesundheitsreformen" reduzieren sich seit Jahren auf Kostendämpfungsstrategien. Dies war nicht völlig erfolglos: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steigen nicht schneller als das Bruttoinlandsprodukt. Doch unspezifische Ausgabenbegrenzungen, die auf Prioritäten bei medizinischen Angeboten verzichten, sind für einen Umbau des Gesundheitssystems untauglich. Die gewachsenen Machtstrukturen innerhalb des Medizinbetriebs bleiben unangetastet und an der Sozialisation, Qualifikation und Kooperation der Gesundheitsdienstleister ändert sich nichts. Entsprechend nimmt Deutschland im jüngsten "World Health Report 2000" der Weltgesundheitsorganisation hinsichtlich des Zuwachses an Lebenserwartung unter den Industrieländern nur eine Mittelstellung ein. Gleichzeitig ist das deutsche Gesundheitswesen aber durch ein im internationalen Vergleich hohes Ausgabenniveau bestimmt. Von allen OECD-Ländern haben nur die Schweiz und die USA noch höhere Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben (siehe Tabelle 1).

Folgerichtig sieht auch der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen die Gleichzeitigkeit von Über-, Fehl- und Unterversorgung weniger in aktuellen Sparzwängen als in den überholten Versorgungsgewohnheiten begründet.(1) Die historisch gewachsenen Strukturen der medizinischen Ausbildung und Versorgung hinken den demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen sowie dem sich ändernden Krankheitsspektrum hinterher. Die Kluft zwischen dem rasanten medizinisch-technischen Fortschritt und dessen flächendeckender Umsetzung in die Alltagsversorgung verbreitert sich, weil die Weiterentwicklung und Anwendung von alltagstauglichen Versorgungskonzepten nicht mit dem medizinisch-technischen Fortschritt mithält. So steht den wachsenden Aufwendungen für technikintensive Bereiche der Medizin eine Vernachlässigung von Prävention und Rehabilitation gegenüber. Während Gesundheitsförderung wenig spektakulär individuell nicht besonders hohe Erkrankungswahrscheinlichkeiten verringert, umgibt die technikintensive Akutmedizin eine Aura des Aufsehen erregenden und des Unerlässlichen. Vielfach schließen Laien (und Ärzte) auch von der Ineffektivität von Prävention und Rehabilitation etwa bei einem akuten Herzinfarkt oder Schlaganfall auf deren generelle Unwirksamkeit. In Wahrheit fördern aber zu wenig Prävention und Rehabilitation akute Krankheitsausbrüche auf dem Boden einer chronischen Erkrankung. Dies macht dann aufwändige akutmedizinische Interventionen notwendig. Die verfügbaren medizinischen Ressourcen werden derart immer stärker auf die "Reparatur" dramatischer Folgen chronischer Erkrankungen gelenkt (vgl. etwa die Entwicklung der Akutkardiologie in Tabelle 2).

Natürlich ist eine Akutbehandlung bei einer Verschlechterung einer (chronischen) Erkrankung unumgänglich. Dennoch bestehen in der Notfallmedizin zwei Formen der Überversorgung: Erstens setzt man massenhaft Verfahren in Diagnose und Therapie ein, die zwar generell nutzbringend sein mögen, im konkreten Einzelfall jedoch sinnlos sind oder sogar schaden. Dies gilt etwa für die Wiederholung von Koronarangiographien trotz bekannter Herzprobleme oder die bei Depressionen oder sonstigen Verhaltensstörungen im Übermaß verordneten Neuroleptika. Zweitens dokumentieren auch solche intensivmedizinische Eingriffe eine Fehlversorgung, bei denen akute Vorfälle durch eine verbesserte Vorsorge vermeidbar wären. Dies zeigt sich am Beispiel der Kardiologie. Hier kann die aufwändige Krisenmedizin die Folgen vielfach vermeidbarer Risikofaktoren für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung allenfalls kurzfristig und wenig effizient behandeln. Das in Deutschland hohe akutkardiologische Leistungsangebot schlägt sich bislang nicht in entsprechend günstigen Krankheitsverlaufs- und Sterberaten nieder. Dennoch werden allen Sparzwängen zum Trotz diese Angebote beständig ausgeweitet. Prävention und Rehabilitation geraten hingegen auch deshalb ins Hintertreffen, weil die akutkardiologische Infrastruktur kein ökonomisches Interesse an einer Vermeidung von Herzkreislauferkrankungen hat. Vielmehr weitet sich mit der zunehmenden Zahl von Leistungserbringern die Indikationsstellung für aufwändige Behandlungen aus: Die Medizin schafft sich selbst ihre Nachfrage.

Medizin als Fabrik

Eine generelle Folge des Wettbewerbs im Gesundheitswesen bildet die Verbetrieblichung der Medizin: Medizinische Entscheidungen von wirtschaftlicher Relevanz werden vom Arzt auf das Management übertragen. Der einzelne Arzt agiert nach vorgegebenen, leitliniengestützten Behandlungsstandards (evidence based medicine) und aufgrund einer an epidemiologischen Erkenntnissen ausgerichteten Ergebnis- und Kosten-Nutzen-Orientierung. Die Finanzierung wird durch Fallpauschalen oder Budgets standardisiert. Eine solche Medizin nach allgemein begründbaren Behandlungsleitlinien ist sicherlich imstande, bestehende Fehlversorgungen zu verringern. Auch für die skizzierte Perspektive einer integrierten Versorgung dürfte sie unabweisbar sein. Wahrscheinlich ist jedoch auch, dass sich eine Medizin als standardisiertes Massenprodukt erstens noch stärker am "Maschinenmodell des Menschen" orientieren wird. Dies geht zumindest in der Regelversorgung zu Lasten einer Perspektive, die die Subjekthaftigkeit des Einzelnen in den Vordergrund stellt. Zweitens steht eine Orientierung an Kosteneffizienz selbst da im Widerspruch zur Chancengleichheit, wo man den Behandlungserfolg im Hinblick auf die gewonnene Lebensqualität und Lebenserwartung misst. Während das öffentliche Gesundheitswesen bislang – zumindest dem Anspruch nach – für jeden Patienten alles medizinisch Erforderliche bereithielt, läuten Effizienzanalysen auch theoretisch das Ende fairer Gleichbehandlung ein: Im Extremfall können Bevölkerungsgruppen, bei denen besonders hohe Behandlungskosten für die Erreichung eines gesundheitlichen Zieles erforderlich sind, künftig keine Behandlung mehr beanspruchen.

Drittens verkehren sich die vom (Kassen-)Wettbewerb erhofften Vorteile im Hinblick auf Produktivität und Qualität dort ins Gegenteil, wo die Wettbewerbslogik einer gemeinsamen Orientierung auf die besten Betreuungsstandards widerspricht: So dienen qualitätsverbessernde Maßnahmen häufig der Profilierung einzelner Kassen. Um den eigenen Wettbewerbsvorteil zu sichern, münden neue Erkenntnisse nicht in veränderte Behandlungsstandards und an sich sinnvolle Pilotprojekte behindern eine verbesserte Regelversorgung. Fehlt es an gesundheitspolitischen Zielvorgaben, erschwert die Verbetrieblichung der Medizin schließlich viertens sogar eine integrierte Versorgung. Dies droht aktuell bei der Krankenhausfinanzierung. Schon heute sind Klinikärzte für den Hausarzt oft schwer greifbar, wenn in der ambulanten Behandlung im Anschluss an einen Klinikaufenthalt Fragen auftauchen. Umgekehrt klagen Krankenhausärzte über medizinisch ungerechtfertigte, etwa in Budgetrestriktionen begründeten Behandlungsänderungen seitens der niedergelassenen Ärzte. Diese Abstimmungsprobleme werden sich als Folge des von der Bundesregierung verabschiedeten Gesetzentwurfs für Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung zuspitzen. Zwar bietet die pauschalisierte Abrechnung einen Anreiz, auf nicht notwendige Leistungen zu verzichten und Ablaufprozesse zu verbessern. Doch bei Fallpauschalen, die sich an durchschnittlichen Behandlungskosten orientieren, gefährden Kliniken künftig ihre Existenz eher durch hohe Kosten als durch eine schlechte Versorgungsqualität. Pauschalen ermuntern zur Reduzierung der Leistungsqualität, zu vorzeitigen Entlassungen und zu einer Patientenselektion nach Kosten-Erlös-Gesichtspunkten. Mit den vom Gesetz intendierten, verkürzten Klinikaufenthalten wird eine verbesserte Absprache zwischen Klinikärzten und ihren niedergelassenen Kollegen noch dringlicher. Doch für die Kliniken fehlt jeglicher Anreiz zur Kooperation.

Die neuen gesundheitlichen Ungleichheiten

Für die gravierende Lücke zwischen dem gesundheitlich Erreichbaren und dem tatsächlich in der Alltagsversorgung Praktizierten sind jedoch nicht nur fest gefügte (Macht-)Strukturen und antiquierte Mentalitäten der Leistungserbringer verantwortlich. Vielmehr vergrößert auch die Neuausrichtung der Medizin unter den Leitbildern von Prävention und vom mündigen und selbsttätigen Patienten die Schere zwischen der optimalen Behandlung und der tatsächlichen Versorgung. Denn mit diesem Umbau der Medizin sind erhöhte Anforderungen an die Kompetenzen und an die Motivation der Patienten verbunden, denen viele sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht genügen können. Gesundheitliche Ungleichheiten dürften deshalb zunehmen. Ohnehin besitzen große Teile der Unter- und Mittelschichten ein deutlich höheres Krankheitsrisiko als besser situierte Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig verfügen sie aber über geringere finanzielle und persönliche Ressourcen, diesen Krankheitsrisiken zu begegnen. Gesundheitsaufklärung stößt bei ihnen auf besonders große Verständnis- und Akzeptanzprobleme. Bei gesundheitlichen Problemen gehen sie nicht so schnell zum Arzt wie Bessergestellte. Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen werden seltener in Anspruch genommen. Deshalb erzielen Gesundheitsförderung, Aufklärung und Prävention heute vor allem bei gesundheitlich ohnehin weniger belasteten Mittelschichtsangehörigen einen Nutzen: Gesundheitliche Eigenverantwortung wird nur von jenen akzeptiert, die einen relativ großen Handlungsspielraum besitzen, ihre Lebensweise zu verändern.

Aufgrund dieses sozialen Dilemmas der Medizin zielt ein umstandsloses Plädoyer für mehr Eigenverantwortung und Patientenmündigkeit ins Leere: Sicherlich muss sich die Rolle des Patienten zu einer aktiv mit gestaltenden "dritten Kraft" im Gesundheitswesen wandeln. Doch je größer die sozialen Risiken einer Gesundheitsgefährdung sind, desto weniger sind Patienten individuell in der Lage, ihnen zu begegnen. Eine "aktivierende Gesundheitspolitik" die die wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Ressourcen randständiger Personengruppen stärkt, sucht man indes vergebens. Die Folgen zeigen sich etwa bei der Volkskrankheit Diabetes. Noch immer werden pro Jahr bei etwa 28.000 Diabetikern Fußamputationen vorgenommen. 5000 Diabetiker erblinden jährlich und etwa ein Drittel der langjährigen Diabetiker wird dialysepflichtig. Diese Folgekomplikationen könnten durch eine verbesserte Behandlung und regelmäßige Therapieselbstkontrollen, eine regelmäßige Einnahme von Medikamenten und ein angepasstes Essverhalten deutlich eingeschränkt werden. Dennoch hat sich im letzten Jahrzehnt die Zahl von Fußamputationen bei Diabetikern nicht nennenswert geändert. Von den mit einer verbesserten Versorgung verbundenen neuen Zwängen und Selbstdisziplinierungen sind insbesondere verarmte Personen, Patienten mit psychischen Problemen oder mit fehlenden Sprachkenntnissen überlastet. Eine aktuelle Untersuchung belegt außerdem, dass drei von fünf älteren Diabetes-Patienten von dem Schulungsprogramm für eine Insulintherapie überfordert sind. Die Kompetenz zur Selbsthilfe steht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status. Je höher Bildung und Einkommen sind, desto eher sind Patienten zu selbstständigen Insulinanpassungen und einer eigenverantwortlichen Diätpraxis fähig. Und umso häufiger sind sie Mitglieder einer Patienten-Selbsthilfegruppe.

Mehr Markt, mehr Mündigkeit?

Gleichwohl steht der "mündige Patient" rhetorisch im Zentrum der aktuellen Vorschläge zur Reform des Gesundheitswesens: Vorschläge aus dem Bundeskanzleramt, aus dem Wirtschaftsministerium und vom Arbeitgeberverband streben eine Aufspaltung der Krankenversicherung in eine Basisversicherung nach dem Vorbild der amerikanischen Health Maintenance Organizations (HMO) und in frei wählbare Zusatzleistungen an. Nach den Vorstellungen von Wirtschaftsminister Müller sollen die Arbeitgeberbeiträge künftig als Lohn ausbezahlt und von den Arbeitnehmern zum Aufbau einer privaten, kapitalgedeckten Vorsorge genutzt werden. Die damit suggerierte Gesundheitsreform nach dem Modell der Riester-Rente ignoriert allerdings den Umstand, dass im Unterschied zur Rente eine personenzentrierte kapitalgedeckte Krankheitsvorsorge aufgrund der unkalkulierbaren Bedarfsrechnung unmöglich ist.

Auch die Bündnisgrünen und die CDU wollen programmatisch am Trend von Selbstbestimmung und Individualisierung teilhaben.(2) Zwar will der grüne Programmentwurf "Wahlmöglichkeiten auf medizinisch nicht unbedingt erforderliche Leistungen eingrenzen", damit sich der Zugewinn an Optionen "nicht als erhöhtes Gesundheitsrisiko für sozial Benachteiligte und Kranke auswirkt." Doch dies kommt der Quadratur des Kreises gleich: Entweder wiederholen die Bündnisgrünen nur, was längst gilt. GKV-Leistungen sind qua Sozialgesetzbruch auf das "medizinisch Notwendige" begrenzt. Weiter gehende Leistungen, sei es die Chefarztbehandlung, kosmetische Operationen oder das Einzelzimmer, werden ohnehin über private Zusatzversicherungen abgedeckt oder sind Teil des Gesundheitsmarktes außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Oder man setzt auf (zusätzliche) Einschnitte beim medizinisch Notwendigen, um Kosteneinsparungen für die Kassen zu erreichen. Letzteres propagiert die CDU, die gleichzeitig eine stärker auf Prävention und Rehabilitation orientierte Medizin einfordert. Doch mehr Prävention könne nicht allein von den Kassen getragen werden, sondern sei eine durch ein besonderes Präventionsgesetz zu sichernde "gesamtgesellschaftliche Aufgabe". Heißt dies Abkehr von der jahrzehntelang praktizierten Demontage der staatlichen Gesundheitsversorgung ? In der (alten) Bundesrepublik hat sich der Anteil der öffentlichen Haushalte an den Gesundheitsausgaben von rund 14,2 Prozent im Jahre 1970 auf 10,5 Prozent im Jahre 1997 reduziert (siehe Tabelle 3).

Auch im internationalen Vergleich ist der Anteil staatlicher Gesundheitsausgaben gering, die Bedeutung der Sozialversicherung besonders groß. Denn Rotgrün und die Vorgängerregierungen haben die gesetzliche Krankenversicherung massiv als Steinbruch zur Konsolidierung anderer Zweige der Sozialversicherung und des Steuersäckels missbraucht (siehe Schaubild 1: Jährliche Einnahmeausfälle durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rentenreform).

Im Zuge dieser Ausgabenverlagerung wurden 1989 jene Bereiche von Prävention und Gesundheitsförderung, die primär auf die Veränderung individueller Überzeugungen und Lebensstile ("Verhaltensprävention") setzen, in das Aufgabengebiet der Krankenkassen übertragen, während die "Verhältnisprävention" ein (ungeliebtes) Aufgabenfeld staatlicher Gesundheitsversorgung blieb. Zwar gab es in der betrieblichen Gesundheitsförderung oder im Umgang mit Aids auch ermutigende Erfolge der Präventionsarbeit. Oft verwechselten jedoch die zunehmend unter Konkurrenzdruck agierenden Kassen die Werbewirksamkeit von Prävention mit deren gesundheitlicher Effizienz: Lieber organisierte man einen Lauftreff im Grünen als eine Initiative gegen falsche Ernährung und Bewegungsmangel bei Kindern in einer Plattenbausiedlung. Obwohl die höchste Effizienz bei der Gesundheitsförderung von Unterprivilegierten, schlecht Ausgebildeten und Armen besteht, wird eher die junge Bankangestellte als der ältere Bauarbeiter oder die bedürftige Rentnerin gefördert.

Seit 1996 den Kassen die Präventionsarbeit teilweise wieder entzogen wurde, sucht man eine Gesamtkonzeption zur Präventionspolitik in Deutschland vergebens. Auch künftig dürfte in einer Konkurrenzdemokratie staatliche Prävention vor allem in Sonntagsreden eine Rolle spielen: Initiativen zur Prävention stoßen beim Wahlvolk nur auf passive Zustimmung, widersprechen aber gewichtigen Lobbyinteressen des Medizinbetriebs. Erfolg versprechender wäre es, die wirtschaftlichen Einsparpotenziale von Prävention für die Durchsetzung von Präventionskonzepten innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu nutzen: Modellrechnungen zeigen, dass der wirtschaftliche Nutzen von Prävention umso größer ist, je optimistischer die Annahmen über zukünftige Behandlungserfolge sind. So führen die therapeutischen Fortschritte bei der Verlängerung der Lebenserwartung von Herzkranken zu einer deutlichen Steigerung der Gesamtkosten des Gesundheitssystems, weil die verlängerte Lebenserwartung mit einem Anstieg der Fälle von Herzinsuffizienz einhergeht. Die wichtigste Investition zur langfristigen Sicherung der Finanzierbarkeit der Versorgung herzkranker Patienten bestünde daher in der Prävention dieser Erkrankungen. Je mehr Mittel für eine zielgruppenspezifische Prävention ausgegeben werden, umso eher könnten die Krankenkassenbeiträge stabilisiert werden.

Das Beispiel zeigt, dass im Gesundheitssystem erhebliche Rationalisierungsreserven vorhanden sind. Doch statt die in kurativen Überversorgungen gebundenen Mittel für einen Ausgleich von Unterversorgungen zu nutzen, dürfte die Politik nach der Bundestagswahl auf eine Ausgliederung von Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung setzen. Dabei geht es zunächst um versicherungsfremde Leistungen, die künftig entweder aus dem Steuersäckel finanziert oder vom Einzelnen bezahlt werden müssen. Fremdleistungen im engeren Sinne, wie künstliche Befruchtung, Abtreibungen, Sterilisationen oder das Krankengeld bei Erkrankung des Kindes, machten 1997 einen Gesamtbetrag von 3,9 Milliarden DM aus.(3) Um zusätzliche Einsparungen zu erreichen, ist darüber hinaus eine Aufspaltung der Krankenversicherungsleistungen in Kernbereiche und in allein aus Beiträgen der Versicherten zu finanzierenden, freiwillige Wahlleistungen absehbar. Als Aufgaben, für die künftig Wahltarife oder Zusatzversicherungen angeboten werden, gelten Unfälle (z. B. aufgrund riskanten Freizeitverhaltens), Vorsorgeleistungen (z. B. Kuren) und Gesundheitsuntersuchungen, die Rehabilitation von Müttern sowie Zahnersatz und Soziotherapie. Anwärter für Wahltarife oder für höhere Patientenzuzahlungen stellen darüber hinaus die medizinische Rehabilitation, die Heil- und Hilfsmittel, die Psychotherapie und die zahnärztliche und kieferorthopädische Behandlung und Prophylaxe dar.

Im Ergebnis würde die Aufspaltung der Gesundheitsversorgung in Kern- und Wahlleistungen die technikintensive Akutmedizin und die symptomorientierte Behandlung im Wesentlichen unangetastet lassen. Jene Bereiche der Medizin hingegen, bei denen heute Versorgungsmängel unverkennbar sind (Psychotherapie, Psychiatrie, Vorsorge, Gesundheitsförderung und Rehabilitation), würden noch stärker von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen oder von politischen und ökonomischen Konjunkturen abhängig. Im Kontext der Herausbildung einer evidenzbasierten Medizin würden standardisierte medizinische "Massenprodukte" als Kernleistung solidarischer Absicherung für alle fortbestehen. Gesundheitliche Ansätze, die die Besonderheiten des Einzelnen berücksichtigen, blieben dagegen noch stärker exklusiv jenen vorbehalten, die sich eine Individualmedizin leisten können.

Versorgungsqualität statt Leistungskürzungen

Die traditionelle sozialstaatliche Arbeitsteilung ist am Ende, wo allein das medizinisch Machbare die Gesundheitsziele definierte – und Politik und Krankenversicherung für die Finanzierung sorgten. Künftige Gesundheitspolitik muss sich mit den "Inhalten" gesundheitlicher Versorgung befassen und dabei Prioritäten setzen. Zumindest für einzelne Krankheitsbilder sind gesundheitspolitische Zielvorgaben und Leitbilder zu formulieren, entlang denen Strukturreformen des Gesundheitswesens zu erfolgen haben. Die medizininterne Fortentwicklung von Evidenz basierten Versorgungsleitlinien kann diesen Prozess ergänzen, aber nicht ersetzen. Überfällig sind beispielsweise auch nach Auffassung des Sachverständigenrates für Gesundheitsfragen ein "Nationales Herz-Kreislauf-Präventionsprogramm" und eine verbesserte medizinische und psycho-soziale Versorgung von Diabetikern und generell von Kranken am Lebensende. In allen Fällen ist das Ausmaß an Fehlversorgungen gravierend und zugleich besteht ein gesichertes Wissen um praktizierbare Alternativen.

Ohne Impulse zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgungsqualität wird sich nicht nur die Erosion des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung weiter fortsetzen.(4) Es geht auch die soziale Akzeptanz für Maßnahmen verloren, um die Einnahmenprobleme der gesetzlichen Kassen zu lösen. Aufgrund der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und des sich abzeichnenden demografischen Wandels weisen die etwa von den Bündnisgrünen geforderte Einbeziehung aller Bürger in das System solidarischer Krankenversicherung ("Bürgerversicherung") und die Berücksichtigung anderer Einkommensarten fraglos in die richtige Richtung. Doch wie erkläre ich meinen Eltern, dass sie künftig von Ihren Mieteinnahmen einen erklecklichen Anteil an die Krankenversicherung abzweigen sollen, wenn sie gleichzeitig höhere Zuzahlungen für Arzneien bezahlen müssen und Krankengymnastik aus dem Leistungskatalog gestrichen wird? Und ohne Gewissheit über eine auch künftig hochwertige gesundheitliche Versorgung werden junge und gesunde Versicherte schwerlich bereit sein, höhere Krankenkassenbeiträge zu zahlen, denen für sie unmittelbar keine gleichwertige Leistung entspricht.

Siehe zum Thema in der Kommune auch:

Harry Kunz: "Die Zukunft der Gesundheit" (in der Reihe "Sozialstaat mit Zukunft, Teil II" – 6/00)

(1)

Vgl. ausführlich: SACHVERSTÄNDIGENRAT: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Band III: Über-, Unter- und Fehlversorgung (Gutachten 2000/2001).

(2)

Vgl. "Grundsatzprogramm" von Bündnis90/Die Grünen, Entwurf vom 16.7.01; Beschluss der Kommission "Sozialstaat 21" der CDU vom 28.9.01: "Für ein patientenorientiertes und zukunftsfähiges Gesundheitswesen", www.cdu.de/human280901.pdf.

(3)

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Sterbegeld, das allein vierzig Prozent dieser Summe ausmacht, ohnehin sukzessive als Leistung auslaufen wird.

(4)

Über deren aktuelles Ausmaß informiert: B. Braun: Rationierung und Vertrauensverlust im Gesundheitswesen, Bremen, Schwäbisch-Gmünd 2000.

 

 

KASTEN 1

Mangelnde Kooperationen und antiquierte Leitbilder

In einer alternden Gesellschaft werden künftig immer häufiger unterschiedliche Arten und Phasen von Kranksein und Behinderung nebeneinander stehen. Mehr Menschen werden krank sein, ohne dass sich ihr Dasein in der Rolle des Patienten erschöpft. Heute betrachtet man chronisch Kranke hingegen meist als passive Hilfeempfänger. Statt Information, Partizipation und der Schulung ihrer Selbsthilfekompetenzen geht es um Reparatur, Kur und Schonung.

Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen auf das Paradigma eines "sequenziellen Krankheitsverlaufs" fixiert: Gesundheitsförderung, Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege werden als zeitlich getrennte und nacheinander geschaltete Maßnahmen begriffen. Der für das höhere Alter und für die unteren sozialen Schichten typischen Gleichzeitigkeit von mehreren chronischen Erkrankungen ("Multimorbidität") wird dies nicht gerecht. Notwendig wäre in unterschiedlichen Verlaufsstadien einer Erkrankung eine Verzahnung bis hin zur gleichzeitigen Anwendung von Gesundheitsförderung, Prävention, (Akut-)Behandlung, Rehabilitation und Pflege. Einen ersten Schritt hierzu bilden die für 2002 von den Krankenkassen geplanten Programme für ausgewählte chronische Erkrankungen. Doch dieses an der Praxis der amerikanischen Health Maintenance Organizations (HMO) orientierte "Disease Management" zielt vorrangig auf eine effektivere Koordination der einzelnen Behandlungsschritte.

Machthierarchien, Fehlsteuerungen und Pfründe im Medizinbetrieb bleiben unangetastet. Eine integrierte Versorgung würde demgegenüber auch eine zeitliche, räumliche und rechtliche Zusammenführung von Maßnahmen, Trägerschaften und Finanzierungswegen erforderlich machen. Beispielsweise müsste die Rehabilitation chronisch Kranker häufig bereits bei Stellung der Diagnose oder unmittelbar nach Krankheitsausbruch beginnen. Gerade bei älteren Menschen könnte dies Krankenhausaufenthalte verkürzen und Pflegebedürftigkeit vermeiden. Heute steht den oft bemühten Grundsätzen "Rehabilitation vor Pflege" und "Rehabilitation auch bei Pflegebedürftigkeit" beispielsweise bei den 500 000 Heimbewohnern und den 1,2 Millionen Pflegebedürftigen in häuslicher Versorgung noch immer eine gegenläufige Praxis gegenüber. Von einem Verständnis von Rehabilitation als einem den gesamten Verlauf einer (chronischen) Erkrankung begleitenden Prozess sind die meisten Ärzte und Patienten weit entfernt. Rehabilitation gilt als eine nachrangige, kurzfristige und in der Regel stationär durchgeführte Intervention, mit der "Urlaub" und "Wellness" assoziiert werden. Krankenkassen betrachten Rehabilitation als Ermessensleistung und administrativen Gnadenakt, nicht aber als selbstverständlichen Bestandteil der Regelversorgung. Insbesondere bei älteren Patienten ist die Diskrepanz zwischen dem durch Rehabilitation Erreichbaren und dem tatsächlich Praktizierten groß: Während die Zielsetzung "Rehabilitation statt Rente" den Rentenversicherungsträgern einen wirtschaftlichen Anreiz (Verhinderung einer Rentenzahlung) für die Erbringung von Rehabilitationsleistungen bietet, fehlt solches den Krankenkassen. Die finanziellen Folgen einer nicht ausgeschöpften Rehabilitation tragen meistens Renten- und Pflegeversicherung. Und warum sollten sich Pflegedienste in der Rehabilitation engagieren, die im Gefolge geringer Pflegebedürftigkeit nur ihre Umsätze vermindert? – Auch als Ergebnis solcher Fehlsteuerungen entfielen von den gesamten Gesundheitsausgaben im Jahre 1995 nur rund 6 Prozent auf Rehabilitationsmaßnahmen.

H. K.

 

ALS KASTEN 2

Die selbstverantwortete Gesundheit

Chronische Erkrankungen, die heute das Krankheits- und Sterbegeschehen in industrialisierten Ländern dominieren, dürften in den meisten Fällen auch künftig nicht heilbar sein. Die Medizin der Zukunft wird deshalb sowohl auf die Senkung und Vermeidung als auch auf die verbesserte Bewältigung von lang andauernden gesundheitlichen Beeinträchtigungen abzielen. Sie wird vorrangig eine präventive Medizin und der künftige Arzt ein gesundheitlicher Lifestyle-Berater sein: Was muss der Einzelne tun, um die Risiken einer Erkrankung zu verringern, wie soll er mit einer Erkrankung leben und wie können seine gesundheitlichen Ressourcen gestärkt werden? Auftreten und Verlauf chronischer Erkrankungen sind in hohem Maße abhängig vom persönlichen Verhalten sowie von Fehlanreizen und Belastungen der Umwelt. Biografische, soziale und psychische Aspekte von Krankheit und deren Folgen für die Alltagsorganisation werden deshalb an Bedeutung gewinnen. Demgegenüber basiert die heutige medizinische Versorgung auf einem Krankheitsverständnis, das sich an der Therapie akuter Leiden orientiert, die auf wenigen körperlichen Ursachen beruhen. Dieses sich historisch an der Bekämpfung von Infektionskrankheiten entwickelnde biomedizinische Krankheitsverständnis kann heute keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen. Schon seit Jahren steht die bloß somatische Orientierung etwa bei den Leistungen der Pflegeversicherung in der Kritik. Bemängelt werden die fehlende Abrechenbarkeit psychosozialer Leistungen oder die mangelnde Unterstützung von pflegenden Angehörigen. Ähnliches gilt auch für die Fehlversorgung psychisch Kranker. Leichtere, aber gleichwohl belastende Erkrankungen werden bagatellisiert, schwer psychisch kranke Patienten hingegen häufig stigmatisiert. Die Fixierung auf körperliche Symptome fördert zudem eine Somatisierung psychosozialer Störungen.(1)

(1)

Die Hamburger Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen beschreibt dies eindrucksvoll für die Kinder- und Jugendpsychiatrie: Außerhalb der Psychiatrie können viele Kinder und Jugendliche mangels eines sozialen Rückhalts nicht leben. Und innerhalb der Psychiatrie verwechseln sie die therapeutischen mit realen Beziehungsangeboten. Das Krankenhaus aber verlangt die Aufrechterhaltung eines Symptoms. Deshalb entwickeln die Betroffenen sekundäre Krankheitssymptome, um die erwünschte Zuwendung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Eine unangemessene somatische und pharmakologische Versorgung springt ein, wo es an psychotherapeutischen und mehr noch an nichtmedizinischen, sozialen Verbindlichkeiten und Hilfen fehlt.– Ch. Köttgen: Wenn alle Stricke reißen, Bonn: Psychiatrie Verlag 1998, S. 62-70.