"Es gibt verschiedene Mexikos"

Interview mit dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Montemayor

Albert Sterr

Der Romancier, Essayist und Übersetzer Carlos Montemayor, geboren 1947, gehört zu den angesehensten Autoren Mexikos. Seine Bücher, Kolumnen und tagespolitischen Interventionen finden dort breite Beachtung. Mit "Krieg im Paradies" leigt nun sein bislang wichtigster politischer Roman in deutscher Übersetzung vor. Im Gespräch mit Montemayor spüren wir den Wurzeln der gegenwärtigen Campesino-Rebellionen nach. Am Beispiel einer Bewegung, die in den 70er Jahren im Bundesstaat Guerrero niedergeschlagen wurde, lassen sich exemplarisch wichtige Schlußfolgerungen für die Möglichkeiten und Grenzen der Zapatisten sowie ähnlicher Gruppen ziehen.

Persönliche Verpflichtung und literarischer Umweg

Herr Montemayor, würden Sie "Krieg im Paradies" als Roman bezeichnen? Und: Bis zu welchem Punkt enthält Ihr Buch überprüfte historische Fakten?

Mein gesamtes erzählerisches Werk geht von realen Tatsachen aus. Ich versuche, der Realität mit erzählerischen Mitteln auf den Grund zu gehen und das individuelle Sein der Menschen auszuleuchten. Für mich ermöglicht ein Roman sowohl dem Autor als auch den Lesern, sich Lebens- und Gefühlswelten anzunähern. Allen meinen Romanen geht eine minutiöse historische Untersuchung voraus. Diese schließt sowohl Bibliotheksarbeit mit Büchern und Zeitschriften als auch das Einholen mündlicher Zeugnisse von Betroffenen ein.

Ihr Buch befaßt sich mit einer Bauernrevolte im Bundesstaat Guerrero, die zu Beginn der siebziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte, bevor sie blutig niedergeschlagen wurde.

Die Vorbereitungen für Krieg im Paradies haben ungefähr fünf Jahre in Anspruch genommen. Nachdem ich die wenigen Bücher über das Thema gelesen hatte, studierte ich die große Zahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die zwischen 1967 und 1974 in Lokal- und Regionalblättern sowie in hauptstädtischen Publikationen erschienen waren. Danach machte ich eine Serie von Interviews mit überlebenden Guerilleros, Soldaten, Campesinos und Landbewohnern. Dafür war es in einigen Fällen erforderlich, bis nach Los Angeles oder Paris zu reisen. Dazu kommen meine Aufenthalte in der Sierra von Guerrero. Für mich war es von grundlegender Bedeutung, die Orte der Handlungen selbst kennenzulernen.

Warum schien Ihnen ein derart großer Forschungsaufwand nötig?

Nun, ich hatte mir vorgenommen, einen Teil der neueren sozialen und politischen Geschichte Mexikos zu beschreiben, der bis dahin so gut wie unbekannt war.

Was hat Sie getrieben, ausgerechnet die Geschichte der Aufständischen in Guererro zu erforschen? Was heute als Thema plausibel ist, war es Mitte/Ende der achtziger Jahre, als Sie daran arbeiteten, keineswegs. Die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen hatten ihren Zenit überschritten, und die mexikanischen Gruppen, die ähnliches versuchten, waren schon ein Jahrzehnt vorher gründlich gescheitert.

Das stimmt. Die mexikanische Realität war unbekannt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: So wußte die internationale Presse nur von den mittel- und südamerikanischen Bewegungen. Dies lag nicht zuletzt daran, daß es damals noch keine internationale Menschenrechtsarbeit gab, wie wir sie heute kennen. Ebensowenig hatten wir einen aktiven und unabhängigen Journalismus, wie er sich in den letzten Jahren entwickelte. Die mexikanische Regierung kontrollierte damals nicht nur die Medien, sondern auch die politischen Vorgänge im Land.

Aber die von der Staatspartei PRI gefahrene Politik war nicht eindimensional, wie jetzt anklingt, sondern im Gegenteil höchst facettenreich und vielschichtig, was wir uns in Europa kaum vorstellen können!

Es scheint unglaublich, aber während im Inneren ein brutaler Krieg gegen die Aufstandsbewegungen lief, gewährte Mexiko den Guerilleros aus Südamerika, die in ihren Ländern verfolgt wurden, politisches Exil. Es ist paradox: Die Regierung öffnete die Tür für die Guerilleros des Kontinents, während sie ihre eigenen blutig bekämpfte. Wobei letzeres niemand wußte.

Einige wußten es ja. Und sie berichteten auch darüber.

Damals waren weder die Guerilla-Organisationen noch die Formen der militärischen Repression in ihren Einzelheiten bekannt. Erst mit den Arbeiten Salvador Castañedas und mit Krieg im Paradies begann man zur Kenntnis zu nehmen, was die mexikanische Guerilla wirklich war. Dies ging so weit, daß nach Erscheinen meines Buches ehemalige Militärs und Ex-Guerilleros zu mir kamen und mir sagten, sie könnten kaum glauben, daß die bewaffneten Bewegungen diese Dimensionen gehabt hätten. Es ist eine Tatsache, daß es in Mexiko eine kaum unterbrochene Geschichte von Guerillabewegungen gibt, die von 1965 bis zur Gegenwart reicht.

Wenngleich die Formen und die politische Relevanz variierten ...

Die Dynamiken von Stadtguerillas und Gruppen, die auf dem Land agierten, waren völlig verschieden. Aber es gibt Traditionslinien, wie jene der PROCOUP und der "Volksbefreiungskräfte" (FLN), die nie abgerissen sind. Die Genannten sind heute Teil der "Revolutionären Volksarmee" (EPR). Die Geschichte dieser und anderer Bewegungen wurde lange nicht wahrgenommen.

Lassen Sie uns noch einmal auf Ihre Motivation zurückkommen, so tief in diese Thematik einzusteigen.

Im nördlichen Bundesstaat Chihuahua, in dem ich geboren wurde, entstanden 1964 bewaffnete Gruppen. Deren erste Phase endete mit einer fehlgeschlagenen Attacke auf die Armeekaserne in Chiudad Madera (Chihuahua). Dabei kamen die Angreifer ums Leben. Unter ihnen waren einige Freunde von mir, mit denen ich zusammen aufgewachsen war und die ich als ehrenhafte und intelligente Burschen kennengelernt hatte.

Wie nannte sich die Gruppe?

Sie hatte keinen eigenen Namen. Sie gehörten zu den Campesino-Bewegungen, die sich zu jener Zeit in der Sierra von Chihuahua entwickelt hatten. Am 25. September 1965, ich studierte bereits in Mexiko-Stadt, erfuhr ich von ihrem Tod. Die offizielle Version lautete, es habe sich um Kriminelle, Viehdiebe und Banditen gehandelt. Ich wußte, daß dies falsch sein mußte. Dafür kannte ich meine Freunde zu gut. Ich fühlte mich den Toten verpflichtet und stellte mir die Frage, ob und wie es möglich wäre, trotz oder wegen der offiziellen Propaganda das humane Wollen meiner Freunde herauszuarbeiten und bekanntzumachen. Als ich zu schreiben begann, wurde mir klar, daß ich diese Verpflichtung in einem literarischen Text erfüllen mußte. Beim Versuch, darüber einen Roman zu schreiben, merkte ich, daß ich emotional so nahe dran war, daß ich nicht objektiv bleiben konnte. Deshalb nahm ich einen Umweg, den Roman, über den wir reden. Er handelt von einer anderen Landguerilla, in einer Region, dem Bundesstaat Guerrero, der von Chihuahua weit weg ist und von Leuten, die ich nicht persönlich kannte. Wie schon die 1965 getöteten Pablo Gómez und Arturo Gámiz war aber auch in Guerrero die Schlüsselperson ein Landschullehrer. In der Tat ermöglichte mir die Distanz ein objektiveres Herangehen an die regionalen, sozialen, politischen, militärischen und nicht zuletzt auch menschlichen Aspekte des Konfliktes.

Wenn Fidel sie nicht erwähnt, existieren sie nicht

Anders als die übrigen Gruppen Lateinamerikas fanden mexikanische Aufstandsbewegungen der siebziger Jahre kaum internationale Resonanz. Liegt das mit daran, daß es nur sehr schwache Verbindungen in die Städte gab?

Nein. Es gab ja auch eine Stadtguerilla. Die bekannteste Gruppe darunter war im übrigen die "Kommunistische Liga 23. September", in deren Namen auf meine Freunde Bezug genommen wurde, die am 23. September 1965 jene Armeekaserne angegriffen hatten. Ich denke, die Gründe für die Nichtbeachtung hängen mit den Besonderheiten Mexikos zusammen.

Die Gruppe um Fidel Castro, die sich in Mexiko auf die Überfahrt mit der "Granma" nach Kuba vorbereitete, wurde bei ihrem militärischen Training von der politischen Polizei Mexikos entdeckt. Fidel Castro und Che Guevara wurden bekanntlich inhaftiert. Der Chef der politischen Polizei, der dieses Amt 25 Jahre innehatte, ließ sie frei und unterstützte ihr Vorhaben. Seit jenem Zeitpunkt, lange bevor sich sein Expeditionskorps überhaupt eingeschifft hatte, war Fidel Castro der mexikanischen Regierung schon verpflichtet.

Die Verpflichtung lautet, sich unter keinen Umständen in innermexikanische Angelegenheiten einzumischen?

Diese Verpflichtung hat Fidel Castro immer respektiert. Dies bedeutete eben auch, die mexikanische Guerilla überhaupt nicht zu unterstützen und ihre Existenz weder propagandistisch auszunutzen noch sie auch nur zu erwähnen. Das Schweigen Kubas war entscheidend für die weltweite Nichtbeachtung der Guerilla Mexikos. Ich nehme an, daß die südamerikanischen Exilanten, denen Mexiko politisches Asyl gewährte, ähnliche Verpflichtungen eingegangen waren, ihre internationalen Kontakte der mexikanischen Opposition nicht zur Verfügung zu stellen. Es gab also einen doppelten Ring des Schweigens um die mexikanische Guerilla. Auf der anderen Seite wurde die Presse Mexikos vollständig kontrolliert.

In der Originalausgabe erschien Ihr Buch einige Jahre vor dem Auftauchen der Zapatisten und des EPR in Guerrero. Hat letzteres die Rezeption Ihres Buches beeinflußt?

Seither ist es unmöglich zu leugnen, daß es in den letzten dreißig Jahren in Mexiko nahezu ohne Unterbrechungen Guerillabewegungen gegeben hat.

Wenngleich Kuba seine alte Politik beibehält und sich auch in bezug auf die aktuellen Bewegungen völlig in Schweigen hüllt.

Klar. Aber wir wissen mittlerweile, daß dort wichtige Archive über alle Bewegungen Lateinamerikas, darunter auch Mexikos, existieren.

Es scheint also, daß der Historiker und Che-Biograph Jorge Castañeda mit seiner Anmerkung, "wenn Kuba nicht über sie redet, existieren sie nicht", völlig Recht hat.

Vor dem Zapatismus fehlte den mexikanischen Guerillabewegungen der Resonanzboden. Aber umgekehrt können wir die Entstehung und Dynamik der EZLN und des EPR nicht verstehen, wenn wir uns die Geschichte mexikanischer Guerillabewegungen nicht vergegenwärtigen.

Nicht nur Chiapas, auch Guerrero

Können Sie beurteilen, ob die heutigen Rebellen Guerreros politische und gegebenenfalls sogar personelle Kontinuitäten mit den Bewegungen aufweisen, mit denen sich Ihr Roman befaßt?

Ich sehe vier Gründe für die Annahme, daß es sich um dieselbe Gruppe von Leuten handelt oder wenigstens um deren Fortentwicklung. Erstes Indiz: Meine Untersuchungen hatten letztlich einen kleinen Kreis von Gemeinden und Familien zum Gegenstand, die sehr spezifische Charakteristika aufweisen. Es sind genau dieselben Regionen, in denen das EPR wieder mit Aktivitäten in Erscheinung trat. Wir können also schlußfolgern, daß die Repression, mit der diese Regionen vor 25 Jahren überzogen worden waren, Wunden hinterließ, die so schwer zu heilen sind, daß sich die Guerilla wieder festsetzen konnte. Zweites Indiz: Während der zwei Monate, die ich mich in den Bergen Guerreros zur Recherche aufhielt, überraschte mich das überaus große Mißtrauen, das mir entgegenschlug. Natürlich waren diejenigen, von denen ich vermutete, daß sie mit dem Drogenhandel zu tun hatten, sehr zugeknöpft. Ich konnte mir aber nicht erklären, warum das Thema Guerilla, also Dinge, die 15 Jahre zuvor passiert waren, mit soviel Vorsicht behandelt wurden. Denn für mich war es Geschichte. Aber das war es nicht.

Heute verstehe ich es besser. Ich hatte mich Zonen genähert, in denen die Guerilla dabei war, sich zu reorganisieren. Drittes Indiz: Das EPR selbst hat wiederholt erklärt, daß es aus dem Zusammenschluß von über zehn bewaffneten Gruppen entstand, die in den vergangenen Dekaden aktiv waren. Die zwei wichtigsten darunter sind die PROCUP und die "Partei der Armen" (PdP). Also zwei Organisationen, die es schon seit 1962/63 gibt und auf die sich schon der damalige Führer des Aufstandes, Lucio Cabañas, stützen konnte. Viertes Indiz: Der Militärgeheimdienst bringt die heutige Guerilla ebenfalls mit Gruppen in Verbindung, die schon mit Lucio Cabañas zu tun hatten. Es handelt sich also um eine neue Generation derselben Guerilla, die in denselben Regionen operiert. Es handelt sich also nicht um eine Organisation, die an den alten Orten wieder aufgetaucht ist, sondern um eine, die sich an diesen Orten über 25 Jahre lang gehalten hat.

Was ein entscheidender Unterschied ist, wenn man die andauernde Militärpräsenz, die vielen Toten etc. berücksichtigt.

Ganz genau. Zum Andauern der Guerillapräsenz müssen wir etwas hinzufügen: das anhaltende Im-Stich-Lassen dieser Regionen und deren soziale Rückständigkeit. Man muß sich fragen, warum nach den drastischen Militärmaßnahmen, die ich schildere, nicht ebenso drastische Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Arbeit und Infrastruktur unternommen wurden. Statt dessen blieb die Gegend, was sie war, ein vernachlässigtes Randgebiet. Das Anhalten dieser sozialen Zustände belegt, daß Aufstandsbewegungen keineswegs Auslöser, sondern die Folge einer sozialstrukturellen Gewalt sind, die sich in Armut und Rückständigkeit manifestiert.

Welche Rolle spielt die Militarisierung dieser Zonen?

In dem Maße, wie die Regierung sich weigert anzuerkennen, daß das Aufkommen dieser Bewegungen primär soziale Ursachen hat, nimmt die Bedeutung des Militärs zu. Solange die Guerilla vor allem als bewaffnetes Phänomen gesehen wird, versuchte man eine militärische Lösung herbeizuführen. Wenn man anerkennen würde, daß die Rebellionen soziale Ursachen haben, läge es auf der Hand, soziale Transformationen in Gang zu bringen, um so eine andere Art von Lösung zu suchen. Polizeiliche und militärische Unterdrückungsmaßnahmen verfehlten dabei nicht nur ihr Ziel, sondern bewirkten sogar das Gegenteil.

Kann man die EZLN in Chiapas und das EPR in Guerrero als Ausdruck von Kleinbauernrebellionen begreifen, oder sind sie eher das Ergebnis von ideologischen Radikalisierungsprozessen städtischer Kleinstgruppen?

Es sind ganz eindeutig Campesino-Aufstände. Im Fall des EPR in Guerrero handelt es sich vor allem um Mestizen, während es in Chiapas hauptsächlich Indígenas sind. In beiden Fällen sind es Campesinos. Die ländlichen Guerillas von Mestizen und Indígenas gleichen sich in vielen Aspekten, sind jedoch nicht identisch. Wobei hinzuzufügen ist, daß beide auf jahrhundertealte rebellische Traditionen zurückblicken können.

Haben diese ländlichen Bewegungen heute relevante Beziehungen zu den Städten, vor allem zu Mexiko-Stadt?

Im Fall des EPR gibt es vielfältige Hinweise darauf, daß die Organisation heute wesentlich stärker ist als deren von mir beschriebene Vorläuferin unter Lucio Cabañas. Alles deutet darauf hin, daß das EPR eine Basis auf dem Land hat und auch über Stadtguerillakommandos verfügt. Die Organisation ist in mindestens sechs bis sieben Bundesstaaten aktiv, darunter in Mexiko-Stadt. Man kann annehmen, daß die Ausdehnung der geheimen Organisation sowie die militärische Kapazität des EPR größer ist als jene der Zapatisten. Denn die EZLN ist letztlich in einer spezifischen Zone von Chiapas konzentriert (Las Cañadas), wenngleich sie auch in anderen Gegenden von Chiapas, vor allem in Los Altos, nennenswert verankert ist. Die Zapatisten können auch auf breite Resonanz unter den Indígenas Mexikos zählen. So kommt in ihrem Fall zum Kampf gegen regionale Ungerechtigkeiten jener um die Anerkennung indianischer Rechte im ganzen Land. Die ideologischen Kategorien, die das EPR verwendet, erinnern mehr an Thesen und Argumentationen, wie sie in der radikalen Linken in den siebziger und achtziger Jahren vorherrschten.

Die Zapatisten und das EPR sind offensichtlich Ausdruck einer Rebellion der verarmten Campesinos. Heißt das nicht gleichzeitig auch, daß sie von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind? Denn die Zukunft Mexikos wird in den Städten entschieden und nicht in pauperisierten und verödeten Landstrichen.

Es gibt mehrere Mexikos. Daß es nur ein Mexiko gebe, ist ein Konzept, das es nur in den Köpfen einiger mexikanischer Politiker sowie von Wirtschaftsfachleuten der Weltbank und des IWF gibt. In Wirklichkeit gibt es ganz verschiedene Mexikos, und in einigen davon herrscht Krieg. Diese Mexikos haben nicht die Möglichkeit zu entscheiden, ob der Kriegszustand von Vorteil ist oder nicht. Sie haben sich erhoben, weil dies der einzige Ausweg ist, der ein Überleben ermöglicht. Wenn sie nicht rebellieren, werden sie genullt, gelöscht und in das absolute Nichts verwandelt. Diese im Aufstand befindlichen Mexikos sind ein gutes Zeichen für unser Land. Denn sie zeigen, daß die Menschen dort noch leben, daß sie sich wehren und daß sie für ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen. Unter den gegebenen Umständen kann ich mir vorstellen, daß sich viele Länder in ähnlicher Weise aufspalten, so daß es mehrere Ecuadors, Kolumbiens, Brasiliens und so weiter geben wird. In einigen dieser Länder wird es ebenso Krieg geben wie heute in Mexiko.

Kommen diese Rebellionen, so berechtigt sie sein mögen, zu spät?

Die Landguerillabewegungen sind nicht das Ergebnis von ideologischer Radikalisierung, sondern Resultat von sozialen Prozessen, die zum Ausbluten und Auslaugen ganzer Landesteile führen. Dies wird immer wieder Gegenbewegungen hervorbringen. Das EPR beispielsweise spricht davon, daß es den bewaffneten Kampf zur Selbstverteidigung führe. Darin liegt für mich der Schlüssel zum Verständnis. Der Punkt ist, daß es ganze Regionen gibt, in der die reale Alternative nur lautet: sterben oder kämpfen. Aus diesem Grund geht die Frage, ob diese Kämpfe rechtzeitig stattfinden und ob es gute Erfolgsaussichten gibt, ins Leere.

Wissen die "anderen Mexikos" überhaupt, was in diesen Regionen vor sich geht, und verstehen sie die Gründe für die Rebellion?

Der industrialisierte Norden und die städtischen Zentren machen sich vielfach keinen klaren Begriff davon. Sie unterscheiden zwischen EZLN und EPR. Die Zapatisten sehen sie durch eine rassistische Brille oder sind hinsichtlich der Indígenas indifferent. Das EPR sehen sie einerseits mit der üblichen Indifferenz, die sie dem Süden ohnehin entgegenbringen, andererseits haben sie aber Angst vor einer wohlorganisierten und gut bewaffneten Kraft. Mexiko durchlebt einen starken Politisierungsschub. Dieser manifestiert sich auf vielen Ebenen, die jedoch vielfach nicht miteinander in Beziehung treten. Der industrialisierte Norden und die städtischen Zentren konzentrieren sich voll auf Wahlen und auf die Stärkung politischer Parteien. Dies entfernt sie sehr weit von den Aufstandsbewegungen. In gewisser Weise gehen sie in entgegengesetzte Richtungen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir brauchen Oppositionsparteien, die in der Lage sind, die Staatspartei PRI in Wahlen zu schlagen. Aber wir brauchen ebenso Bewegungen, welche die Marginalisierten und Vergessenen mobilisieren und ihre Anliegen, auch bewaffnet, vorbringen. Es wird einen Moment geben, in dem beide Richtungen koordiniert werden müssen.

Klar gesagt geht es also vor allem um das Verhältnis der PRD von Cuauthémoc Cárdenas, derzeit Bürgermeister von Mexiko-Stadt und bei den Wahlen im Jahr 2000 möglicherweise Herausforderer des PRI-Kandidaten, zur EZLN und zum EPR.

Die PRD hat mehr Zugang als andere, um den sozialen Charakter der bewaffneten Bewegungen zu verstehen.

Schließlich überschneidet sich ihre Wählerbasis auf dem Land zum Teil mit der sozialen Basis der Aufstandsbewegungen ...

Ihre Politiker kommen zum Teil aus sozialen Protestbewegungen, nicht unbedingt aus militanten Gruppen, aber aus Oppositions- und Campesinovereinigungen. Aber der Punkt ist, daß sie die Dynamik des Wahlkampfes von ihrer ursprünglichen sozialen Basis entfernt. Außerdem verschließt er ihnen direkte Kontakte zu den Zapatisten oder anderen vergleichbaren Gruppen, weil der PRD dies bei Wahlen schaden könnte. Die PRD muß sich als Partei des Ausgleichs präsentieren, um Wahlen gewinnen zu können.

Dieses Schwinke-Schwanke kann die PRD in der Opposition noch machen, als Regierungspartei nicht mehr. Denn in diesem Falle lautet die Frage "Krieg gegen die Guerilla" oder "Dialog und Verhandlungen". Dazwischen gibt es nichts.

Die PRD will sich nicht definieren.

Übersetzt in die Realität hieße das, sie wäre im Prinzip bereit, mit dem Krieg gegen die Zapatisten und das EPR weiterzumachen. Denn wenn sie nicht einmal in der Opposition eine klare Position gegen den Krieg einnimmt, wie soll das erst an der Regierung anders sein, wo ohnehin alle anderen relevanten politischen Kräfte für das Niederkartätschen der Rebellionen sind?

Das ist eine Spekulation, zu der ich nicht Stellung nehme.

Carlos Montemayor, Krieg im Paradies, Hamburg/Berlin (VLA/Schwarze Risse/Rote Straße) 1998 (408 S., 39,80 DM)

 

Keine leichte Sache

Es ist keine leichte Sache, Mexiko zu verstehen. Während in den Konfliktgebieten von Chiapas erneut heftige Konfrontationen zwischen indianischen Modernisierungsverlierern und der Armee gemeldet werden, lobt eine OECD-Studie "die überaus positiven Ergebnisse der Deregulierung". Indessen häutet sich die "Partei der Institutionalisierten Revolution" (PRI) ein weiteres Mal, um ihre Funktion als Staatspartei noch einmal fünf Jahre beibehalten zu können. Einige interessante Neuerscheinungen helfen, den Blick über den tagespolitischen Tellerrand zu heben und Tiefenschichten mexikanischen Seins zu sondieren. Der englische Historiker Hugh Thomas, die Romanciers Carlos Fuentes, Carlos Montemayor und Paco Ignacio Taibo II haben Bücher vorgelegt, die trotz ihrer unterschiedlichen Sujets und Perspektiven eines gemeinsam haben: es geht um Gewalt. In unterschiedlichen Varianten und mit all ihren destruktiven Potenzen wird sie als Grundkonstante mexikanischen Seins beschrieben.

Hugh Thomas geht zum Ausgangspunkt zurück: die Eroberung Mexikos durch die Spanier. Er durchforstete nicht nur die umfangreiche Sekundärliteratur, sondern auch Originalakten, die bisher in spanischen Archiven schlummerten. Auch indianische Augenzeugenberichte wurden umfassend herangezogen. Thomas konnte so eine detailreiche, die Hauptakteure aller Seiten kenntnisreich porträtierende Studie vorlegen. Zudem ist das 800-Seiten-Werk packend geschrieben. Manche seiner Wertungen, wie jene, daß "die Spanier gar nicht anders handeln konnten" oder daß es ihre handlungsleitende Idee gewesen wäre, der angeblichen "Bestialität" der "Mexica" ein Ende zu setzen, mag man ablehnen. Aber Hugh Thomas ist weit davon entfernt, das zu tun, was der Verlag ihm im Klappentext unterstellt: Er kocht die Grausamkeit der Eroberung und Unterwerfung nicht auf ein "farbenprächtiges Gemälde der Begegnung zwischen zwei Kulturen, Denkweisen und Mentalitäten" herunter. Vielmehr dechiffriert er das Innere des historischen Orkans, aus dem heraus das entstand, was heute Mexiko ist.

Die drei mexikanischen Romanciers Carlos Fuentes, Carlos Montemayor und Paco Ignacio Taibo II springen ins Jetzt. Ihre Romane nehmen sich unterschiedlicher Aspekte heutiger Mexikanität an. Krieg im Paradies, von Carlos Montemayor, schildert die militante Bauernbewegung von Lucio Cabañas. Montemayor gelingt es, nicht nur ein vorzügliches Bild der Bewegten selbst zu zeichnen. Er schafft es auch, ihre unmittelbaren Verfolger, die Armee, differenziert zu schildern. Die Einkreisung der Rebellen, die mit wissenschaftlichen Mitteln und außerordentlich gewalttätig erfolgt, liest sich wie eine Blaupause dessen, was sich heute in Chiapas abzeichnet. Montemayor kennt auch seine "Pappenheimer" von der Regierungspartei PRI in- und auswendig. Ihr falscher Patriotismus, ihre Anbiederei und ihre hohlen Phrasen von Legalität und gesetzlichem Handeln werden mit der technokratischen Kühle militärischer Entscheidungen und dem Seufzen in geheimen Folterkammern konterkariert.

Carlos Fuentes hat sicher schon Besseres geschrieben als Die gläserne Grenze. In seinen neun Erzählungen – dessen Protagonisten sich zum Teil überschneiden –, die nicht nachvollziehbar als "Roman" bezeichnet werden –, interessiert er sich für das wirkliche Leben und hat ein Gespür für die Abgründe und Tragödien Mexikos. Seine Geschichten von der Nordgrenze, der geographischen und psychischen "borderline" zwischen Mexiko und den USA, mit ihren Drogenzaren, Menschenhändlern, gestrandeten Migranten, armen Schluckern und gestylten Schönheiten lesen sich nicht nur gut. Sie schildern eine unbekannte Welt voller Hoffnungen und Enttäuschungen, voller Liebe und Gewalt.

Dies gilt auch für Paco Ignacio Taibo II. Eine leichte Sache, in der Originalausgabe bereits 1977 erschienen, erzählt drei Fälle des Detektivs Hector Belascoarán Shayne. Ausgehend von losen Fäden verwirren sich ein Familiendrama, eine Streikangelegenheit und die Suche nach dem angeblichen überlebenden Revolutionär Emiliano Zapata zu einer dichten Story. Daß der zwanzigjährige Abstand zwischen der Erstveröffentlichung im Original und der deutschen Übersetzung den politischen Krimi nicht hoffnungslos veraltet erscheinen läßt, spricht für das Gespür des Autors Taibo. Wie in einer Momentaufnahme ist hier aber auch die Versteinerung der Verhältnisse festgehalten. Eine leichte Sache gehört zu den besten Büchern Taibos. Schön, daß es wegen des 25jährigen Jubiläums des Nautilus-Verlages auch so preiswert ist.

Albert Sterr

Carlos Fuentes, Die gläserne Grenze, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1998 (336 S., 44,90 DM)
Carlos Montemayor, Krieg im Paradies, Hamburg/Berlin (VLA/Schwarze Risse/Rote Straße)1998 (408 S., 39,80 DM)
Paco Ignacio Taibo II, Eine leichte Sache, Hamburg (Edition Nautilus) 1999 (190 S., 15,00 DM)
Hugh Thomas, Die Eroberung Mexikos, Frankfurt/M. (S. Fischer) 1998 (912 S., 78,00 DM