"Nur zufällig Sizilien?"

Bücherfenster II:

Joscha Schmierer

Der Name Sizilien klinge ihm nun einmal besser als die Namen Persien oder Venezuela, doch wie die Hauptgestalt des Gesprächs in Sizilien nicht autobiographisch sei, sei auch das Sizilien, das sie umgibt und begleitet, nur zufällig Sizilien, behauptet Elio Vittorini in einer Anmerkung zu seinem erstmals 1938/39 in der Zeitschrift Letteratura, dann 1941 als Buch erschienenen Roman. "Im Übrigen nehme ich an, dass sämtliche Manuskripte in einer Flasche gefunden werden." Das kann man als Versuch verstehen, die Zensur hinters Licht zu führen, oder als Ehrgeiz, unmittelbar zu den Universalien der Weltliteratur vorzudringen, in ihrem Schillern zwischen Naivität und Ironie ist sie typisch für Vittorini. Jedenfalls ist sein Gespräch in Sizilien in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur gelandet. Damit bleibt die Flaschenpost greifbar.

Die Hauptgestalt, ein dreißigjähriger Setzer in Florenz, der aus Sizilien stammt, ist von einer "gestaltlosen Wut gepackt". Diese Wut hat nichts mit dem Brief des Vaters zu tun. Der teilt mit, daß er sich von der Mutter getrennt habe, schreibt aber, der Sohn solle gerade jetzt auf keinen Fall versäumen, der Mutter den fälligen Geburtstagsgruß zu schicken. Lohnauszahlung und ein Sonderangebot der Bahn und vor allem seine Stimmung führen dazu, daß der Sohn selbst nach Sizilien fährt. Absichtslos.

Schon im Zug ist Sizilien zweierlei: Heimat, die die gestaltlose Wut über die Welt lindert, aber auch Urlaubsort für die Staatsspitzel, die sich aus Sizilien kommend in ganz Italien verbreitet haben. Grundlage für beides ist Zurückgebliebenheit und Armut.

Die Mutter wohnt in einem Dorf in den Bergen. Tief verletzt davon, daß der Mann sie verlassen hat, kommt es ihr dem Sohn gegenüber darauf an, einen ungebrochenen Stolz hervorzukehren. Das ist nicht so einfach. Wenn sie ihren Vater, eine Ausgeburt von Autorität und Gesundheit, mit ihrem Mann vergleicht, den sie als kränkelndes Weichei darstellt, und die Gegensätze herausstreicht, vermischen sich doch ihre Erinnerungen an die beiden. So leicht sind sie gar nicht auseinanderzuhalten, weil ihr beide fehlen.

Sie nimmt den Sohn auf ihren Rundgang durch das Dorf mit. Den Lebensunterhalt verdient sie, indem sie tatsächlichen und vermeintlichen Patienten Injektionen setzt. Dem Sohn zeigt sie, wie gut sie das kann, und dem Dorf zeigt sie den Sohn. Sie steht auf eigenen Beinen und auch nicht allein da.

Nach einigen Besuchen wird es dem Sohn zuviel. Es geht dann symbolisch zu: Ein Scherenschleifer tritt auf und hält unverständliche Tiraden, die sich offensichtlich gegen das Regime richten. Mit zwei Freunden des Scherenschleifers ziehen sie in eine Weinschenke. Das hat etwas von einer Verschwörung. In der Nacht, mit schwerem Kopf, hat der Sohn eine Vision. Er begegnet einem Soldaten, seinem Bruder, der nicht tot, aber auch nicht mehr ganz von dieser Welt ist. "Ist dir dein Rausch noch nicht vergangen?" fragt die Mutter am nächsten Morgen.

",Hatte ich einen Rausch?‘ fragte ich. ,Weißt du es nicht einmal?‘ sagte meine Mutter. ,Du bist genauso nach Hause gekommen, wie dein Vater, wenn er einen Rausch hatte. Schwarz. Und du hast dich geradewegs auf mein Bett geworfen, so daß ich auf dem Sofa schlafen musste.‘" Sie verstehe nicht, was mit ihnen los sei: "Dein Grossvater sang und scherzte, wenn er getrunken hatte."

Die beiden stehen auf dem Treppenabsatz vor dem Haus. Eine Schar Raben hat sich über dem Dorf gesammelt und läßt sich von Schüssen der Dörfler weder treffen noch vertreiben. Auch die Mutter beteiligt sich an der erfolglosen Schießerei. "Da erklang vom Fuß der Treppe die Stimme einer fetten Frau und verkündete meiner Mutter eine Nachricht, schrie ihr zwischen den Schüssen und den Raben zu: ,Glückliche Mutter!‘" Die Nachricht lautet, daß der jüngere Sohn gefallen ist. Dann folgen ein paar Seiten subtilster Wehrkraftzersetzung, das Ende des Gesprächs.

Vittorini stand dem Faschismus keineswegs von Anfang an kritisch gegenüber. In seinem früheren Roman Die rote Nelke, der 1933 bis 1936 in Fortsetzungen in der Florentiner Literaturzeitschrift Solaria erschienen war, aber erst 1948 in Buchform veröffentlicht werden konnte, findet sich eine Passage, die seine ursprüngliche Haltung charakterisiert. Die rote Nelke war ein Widerstandssymbol. Sie wurde getragen, um gegen die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti zu protestieren. Aber nicht deshalb trägt sie der junge Protagonist des Romans. Er hat den Spott des Freundes im Ohr, der das nicht wissen kann: ",Dieses ganze Affentheater, in dem Kommunisten, Freimaurer und Liberale sich einmütig unter einem Heilsarmee-Banner zusammenrotten, enthüllt die kleinbürgerliche und ganz und gar nicht revolutionäre Gesinnung der traditionellen italienischen Parteien. Und für den Faschismus ist das gut so, das sage ich euch. Den Faschismus, den ihr für reaktionär gehalten habt, er allein wird als revolutionäre und wirklich antibürgerliche Kraft daraus hervorgehen ...‘ Diese Worte von ihm, die auch meine eigenen waren, kamen mir in den Sinn, mit ihnen hatte ich ihn manchmal im Sprechsaal der Sektion über bestimmte kleinbürgerliche Dissidenten herziehen sehen. Ah, welcher Zauber doch in dem Wort ,antibürgerlich‘ lag! Und welche Lust zu schießen."

Die Sätze aus diesem Roman einer Pubertät können durchaus als autobiographisches Bekenntnis gelesen werden. In Gespräch in Sizilien sind Zauber und Lust verflogen. Eine "gestaltose Wut" findet ihren Grund.

Elio Vittorini, Gespräch in Sizilien. Aus dem Italienischen von Trude Fein, Zürich (Manesse Verlag) 1977 (319 S., 42,00 DM)
ders., Die rote Nelke. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, Köln Bruckner & Thünker Verlag) 1995 (282 S., 36,00 DM)