Wenn sich der Suchfinger verirrt

Udo Scheer

Ein halber Sieg ist einzugestehen und eine neue Niederlage ... das Wegtauchen der Täter, das Versacken der Vergangenheit und der Fakten in einem merkwürdigen Macht- und Meinungsmorast", schrieb Jürgen Fuchs in seinem heftig diskutierten Roman Magdalena über den Erstarrungszustand nach dem Aufbruch 1989. Sehr genau registriert der Autor, der ein Jahr in den Archiven der Gauck-Behörde über Stasi-Methoden der "Zersetzung" recherchierte, darin das Wachsen einer neuen Behördenwelt.

Seine Kritik fand jetzt eine unglaubliche Bestätigung. Der Leiter des Referates Grundsatzfragen und Chef des Büros der Behördenleitung ließ ein sechsseitiges Dossier über Personen kursieren, die in Magdalena mit Namen genannt werden. - Kein Register zur Vertiefung des Geschichtsverständnisses, denn über Stasi-Opfer wurde ebenso hinweggegangen wie über Personen der Zeitgeschichte. Der Suchfinger rasterte die Fahnen des Buches akribisch nach vorkommenden Behördenmitarbeitern durch. Links die Namen, in der Mitte Seitenzahlen, rechts verkürzte inhaltliche Bezüge und Beziehungen zu Jürgen Fuchs.

"Es ist ein Wer-ist-wer-Schema. Ich habe in meinen Stasi-Akten ganz ähnliche Dokumente gefunden von Gutachter-IM, über meine Bücher, über meine Begegnungen mit anderen", sagte Fuchs im Interview.

Einer seiner Kritikpunkte, der ihn im Januar zum Austritt aus dem Beirat des Bundesbeauftragten bewog, war die Personalpolitik in der Behörde: "Daß plötzlich so viele angepaßte DDR-Bürger in diesen Büros hockten, wo die Stasi-Leute vorher waren, das kam mir schon ein bißchen absurd vor." In einem Interview in der Zeit (2.4.98) antwortete Joachim Gauck: "Hier gab es sicher ein Problem, an das Jürgen Fuchs rührt: Es ging bei der Auswahl der Mitarbeiter zuerst einmal nach der Papierform, und da können Menschen schon leicht herausfallen, die eine weniger gute Ausbildung haben."

Das klingt plausibel. Und doch muß sich Joachim Gauck fragen lassen, ist das Demagogie oder Selbsttäuschung? Ihm persönlich wurde 1990 durch Wolf Biermann und Jürgen Fuchs neben anderen der DDR-Dissident Siegfried Reiprich empfohlen, einst zwangsexmatrikulierter Philosophiestudent, 1981 ausgebürgert und auch im Westen im Zentralen Operativen Vorgang "Weinberg" feindbearbeitet. Ausgezeichnete Noten, Sprachkenntnisse, soziale Kompetenz, die Fähigkeit wissenschaftlich zu arbeiten, brachten dem diplomierten Geophysiker im Januar 1991 dennoch eine Ablehnung ohne Begründung. In einem späteren Gespräch mit Gauck äußerte der seine Verwunderung: Das könne nur an untergeordneten Bürokraten liegen. Er nahm die Bewerbungsmappe wohlwollend an sich. Dann lag der Vorgang auf Eis. Bis Anfang 1997. Reiprich hatte ein frisches und kluges autobiographischen Buch Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikulation (Robert-Havemann-Archiv) über die Opposition in den 70er Jahren veröffentlicht. Eine Bürgerrechtlerin hörte am Rande einer Lesung von der seltsamen Geschichte seiner Nichteinstellung und sprach mit Gauck. Der wollte sich mit Reiprich in Verbindung setzen. Das Gespräch steht noch aus. Fragt sich, warum tut sich die Behörde mit dem intelligenten Fundamentalbürgerrechtler so schwer? Weil er west-linke Beschwichtigungspolitik schon vor 1989 kritisiert hatte und aus Protest gegen die Behandlung des Falles Stolpe aus der SPD ausgetreten ist? Weil man ihm viel Mut zur Öffentlichkeit zutraut? Immerhin dauerte es bis ins verflixte 7. Jahr der Behörde, ehe durch Hubertus Knabe eine erste Veröffentlichung zu den Verstrickungen von bis zu 30.000 Westdeutschen in die Machenschaften des MfS erschien.

Offen erklärte Joachim Gauck im Zeit-Interview: "Was wir aber nicht wollen, ist einen - nach welchen Kriterien auch immer definierten - Kern moralisch besonders legitimierter Menschen zusammenführen." Fragt sich: Wer ist "Wir"?

Frischer Wind scheint angeraten in dieser Einrichtung, die mit dem Votum der Bürgerbewegung antrat, das einmalig offengelegte Erbe der Diktatur, Menschenrechtsverletzungen und Verstrickungen transparent zu machen. Gerade diesen mutigen Menschen verdankt die Behörde ihre Existenz. Seit Jahren werden keine Zeitverträge für Forschungsprojekte mehr vergeben. Es liege am fehlenden Geld, verlautet aus der Behörde. Nur daran?

Personalpolitik, weiß jeder Zuständige, ist immer die Grundlage für Inhalte und Intensität der Arbeit. Der Einigungsvertrag sah für Bewerber öffentlicher Stellen Einstellungsverbot vor, sofern sie gegen "Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit" verstoßen hatten. Das betraf u.a. MfS-Mitarbeiter, Grenztruppenoffiziere, hauptamtliche SED-Funktionäre. Joachim Gauck: "Selbstverständlich überprüfen wir unsere Leute auch auf Stasi-Mitarbeit. Wir durften und wollten jedoch keine politische Gesinnungsprüfung durchführen. Nach früherer SED-Mitgliedschaft zum Beispiel durfte nicht gefragt werden."

Am 15.1.97 antwortete der Bundestag auf eine kleine Anfrage (Drucksache 13/6599): Der Bundesbeauftragte beschäftige fünfzehn ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS, darunter einen Oberst, einen Oberstleutnant, vier Majore - hochgradige Offiziere mit Agentenausbildung. Elf dieser Übernommenen arbeiten in den sensiblen Bereichen der Behörde, in den Archiven mit den zum Teil ungeordneten, nichtregistrierten Hinterlassenschaften des MfS. Zum Schutz der Akten, schreibt das Stasi-Unterlagengesetz vor, haben nur zwei Personen gemeinsam Zutritt. Jürgen Fuchs erzählt in Magdalena von Fällen, in denen beide Personen ehemalige MfS-Mitarbeiter waren.

Die Öffentlichkeit wisse seit 1990 um die Beschäftigung von hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS, sagt Joachim Gauck. Er könne nichts tun. Laut Arbeitsgerichtsentscheid hätten sie inzwischen das Anrecht auf Dauerbeschäftigung. Von der Empörung Betroffener, in deren Akten die ehemaligen Täter Einblick nehmen, spricht er nicht. Der vom Bundestag als Kontrollgremium eingesetzte Beirat hatte frühzeitig auf diesen unhaltbaren Zustand hingewiesen. Hier staut sich etwas.

Bei aller Transparenz, etwa im Vergleich zum absichtlich angelegten Steuerdschungel der Finanzämter und zur Verwaltung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsämter, bei allem Engagement und Bürgernähe vieler Mitarbeiter der Akten-Einsichts-Behörde, moderiert wird auch sie inzwischen von Leuten, die begrenzen, die nach außen abwiegeln. Aber dieses Prinzip wird auch durchbrochen von mutigen Mitarbeitern wie dem, der das peinliche Dossier an die Öffentlichkeit brachte.

"Der Dichter handelt, indem er die Bedrohung, die alle betrifft, aufdeckt" (Siegfried Lenz). Jürgen Fuchs hat die Finger auf wunde Stellen gelegt. Dreißig Jahre nach 1968 hatten die Bürger in der Bundesrepublik vor der Verbehördung ihrer Verwaltungen weithin kapituliert. Dabei sollten die nichts als ihr Dienstleister sein. Am Beispiel der "Gauck-Behörde" durchbricht Fuchs das Tabu einer sich verkehrenden Welt.

Andere Dimensionen in Magdalena sind noch zu entdecken. Sie sind gleichermaßen unbequem: - Die Unterwanderung der Gesellschaft durch antidemokratische Interessengruppen. - Der Menschenrechtsdiskurs, Diktaturen, neue, moderne Verbrechen, auch "in China hinter der Mauer", Wirtschaftskontakte ohne Einflußnahme auf Menschenrechtsverletzungen... Mit Magdalena ist Haltung wieder gefragt. "Ein halber Sieg ist einzugestehen..."