Die NATO im Krieg

Joscha Schmierer

 

Jeder Krieg öffnet einen Raum von Ungewißheiten und Unsicherheiten. Die beteiligten Kräfte können auch bei sorgfältigster Abwägung der Argumente nicht wissen, wie und wie verändert sie aus ihm wieder herauskommen und ob das Ergebnis, selbst im militärischen Erfolgsfall, einigermaßen den Absichten entsprechen wird, die der Entscheidung, den Krieg zu führen, zugrunde liegen. Über die Folgen eines Krieges Bescheid zu wissen, ist das Privileg des Historikers, der zeitgenössische Kommentator hat es ebensowenig wie die Bürgerinnen und Bürger, die die politischen Entscheidungen ihrer Regierung mittragen oder verwerfen. Bekanntlich waren die amerikanische Öffentlichkeit und die amerikanischen Wählerinnen und Wähler lange gegen einen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Heute können wir uns kaum vorstellen, was aus Europa geworden wäre, wenn die USA sich herausgehalten hätten. In die damaligen Zweifel können wir uns heute besser hineindenken als noch vor ein paar Wochen. Nicht die Kriege selbst sind vergleichbar, wohl aber die Entscheidungssituation, in der nur der hohe Einsatz feststeht, nicht aber die Konsequenzen. Der Krieg sei die Ultima ratio der Politik, heißt es. Als letztes Mittel der Politik bewegt sich der Krieg am Rande des Irrationalen. Kriegsbegeisterung kann nur Ausdruck von Unvernunft sein. Aber von ihr ist in der Bundesrepublik oder in den anderen NATO-Staaten auch keine Rede. Die Intervention gegen Jugoslawien wird selbst von denen, die sie für legitim halten, mit großer Skepsis verfolgt. Andere nehmen der NATO übel, daß sie die westlichen Gesellschaften in den Krieg hineingezogen hat, obwohl sie ihn offensichtlich nicht begonnen hat. Mit dem Widerspruch, massive Menschenrechtsverletzungen vor Augen zu haben und nichts gegen sie zu unternehmen, läßt es sich leichter leben, als mit den Ungewißheiten einer Kriegsbeteiligung. Im Zweifel an einer riskanten Entscheidung festzuhalten, weil Schwanken und Zurückweichen die sichere politische Katastrophe für den Balkan und die OSZE und die definitive menschliche Katastrophe für den Kosovo bedeuten würde - in einer solchen Situation muß eine Demokratie sich erst bewähren. Daß das schwer ist, wissen ihre Feinde. Milosevics Hartnäckigkeit hat Aussicht auf Erfolg. Für ihn ist Krieg von Anfang an das erste Mittel der Politik gewesen.

 

In Wirklichkeit fanden in den vergangenen Wochen zwei Kriege statt. Das jugoslawische Militär, unterstützt von serbischen Polizei- und Milizeinheiten, führte einen systematischen Vernichtungs- und Vertreibungskrieg gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung, und die NATO führte einen Bombenkrieg gegen die Infrastrukur der serbischen Vernichtungsmaschinerie, nicht aber gegen die Akteure der Vernichtung selbst. So weitgehend die serbischen Verbände den Boden beherrschen, so weitgehend beherrscht die NATO den Luftraum. Die UCK ist auf dem Boden zu keinem koordinierten militärischen Widerstand gegen die Besatzungstruppen in der Lage, kann höchstens Nadelstiche versetzen, wenn sich die serbischen Einheiten  verstreuen, die serbische Luftabwehr muß sich auf den Zufall verlassen, solange die NATO-Flugzeuge aus großer Höhe angreifen, macht aber Tiefflüge immer noch gefährlich. Milosevic führt seinen Krieg und die NATO den ihren. Das Kriegsgeschehen verläuft auf verschiedenen Ebenen, ist asymmetrisch. Die NATO kann die Vertreibung der Kosovo-Albaner nicht verhindern, die jugoslawische Armee steht der Zerstörung ihrer Infrastruktur fast wehrlos gegenüber. Offensichtlich spielt der Zeitfaktor eine große Rolle. Wenn die serbischen Truppen schneller und systematischer bei der Vertreibung der Kosovo-Albaner sind als die NATO bei ihrem Zerstörungswerk, dann kann am Ende dieses Krieges herauskommen, daß das Kosovo bevölkerungsleer und Serbien auf Jahrzehnte zugrunde gerichtet ist. Diese Asymmetrie der Kriegshandlungen zum Zwecke der Vertreibung der Albaner einerseits und zum Schutz ihrer Menschenrechte und ihres nackten Lebens andererseits, war von der NATO zunächst nicht zu vermeiden, wenn sie überhaupt und schnell in den serbischen Vernichtungskrieg gegen die Kosovo-Albaner eingreifen wollte. Sie kann aber nicht lange anhalten, wenn es der Sinn des Eingreifens sein soll, den Kosovaren und letztlich auch Serbien eine friedliche Perspektive zu sichern. Damit die Zeit nicht gegen die Ziele der Intervention arbeitet, wird die NATO spätestens jetzt den Einsatz von Bodentruppen vorbereiten müssen. Er setzt die Beherrschung des Luftraums voraus, muß dann aber auch möglich sein. So läßt er sich am ehesten vermeiden.

 

Diese Asymmetrie der Kriegshandlungen hat einen tieferen Grund in den Gesellschaften, die sie mittragen, und den politischen Klassen, die sie führen. Die NATO hat ihre Intervention von Anfang an mit einer doppelten Botschaft versehen. Dem Vernichtungskrieg Milosevics wollte sie mit Bombendrohungen und notfalls mit Bombardierungen Einhalt gebieten. Zugleich versicherte sie, auf keinen Fall Bodentruppen vor der Unterzeichnung eines Friedensabkommens einsetzen zu wollen. Die eine Botschaft richtete sich an Milosevic, die andere an die eigenen Gesellschaften. Beide waren ernst gemeint. Doch schwächte die eine den Sinn der anderen ab. Milosevic hat sie dahin ausgelegt, daß er im Kosovo treiben könne, was er schon immer vorhatte, die Durchführung seiner Pläne nun aber beschleunigen müßte und könnte. Er führt seinen Bodenkrieg schon lange - gegen wehrlose Zivilisten und ohne irgendwelchen inneren Widerstand fürchten zu müssen.

 

Die Pläne dafür sind sehr alt. Milosevic erfand sie nicht, sondern setzt sie lediglich in die Tat um. Le Monde hat ein Dokument von 1937 ausgegraben, das sich wie eine frühe Gebrauchsanweisung für die gegenwärtige Politik Serbiens gegenüber den Kosovo-Albanern liest (s. Kasten). Es stammt von Vaso Cubrilovic, der 1914 von den Österreichern wegen Beteiligung an dem Attentat in Sarajewo zu vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war und nach seiner Befreiung bei Kriegsende zum Philosophieprofessor an der Belgrader Universität avancierte. Da eine langsame serbische Kolonisation des Kosovo nichts gebracht habe, bleibe nur die gewaltsame Vertreibung der Albaner. Das war kein Augenblickseinfall. 1944 wandte sich derselbe Verfasser erneut mit einem Memorandum an Tito und legte ihm nahe: "Es ist nicht so sehr ihre Zahl, die unsere Minoritäten gefährlich macht, als vielmehr deren geographische Stellung und deren Verbindungen zu den Völkern, zu denen sie gehören und die unsere Nachbarn sind. Allein die ethnische Reinheit kann den Frieden und den Fortschritt in einem demokratischen und föderalen Jugoslawien sichern" (Le Monde, 22.4.99). Natürlich war Vaso Cubrilovic auch ehrenwertes Mitglied jener serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, die diese Konstante serbischer Politik Ende der achtziger Jahre wieder offiziös gemacht hat und zum Stichwortgeber Milovics wurde. Man muß wissen, was mit Frieden und Fortschritt gemeint ist, wenn in der serbischen Propaganda von ihnen die Rede ist. Dies nur als kleiner Hinweis für jene, die in den Vertreibungen eine Reaktion auf die NATO-Intervention sehen wollen (vgl. auch den Artikel von Dunja Melcic in diesem Heft). Es handelt sich bei ihnen um ein langgehegtes Projekt. In diesen Wochen wird es als "Operation Hufeisen" nicht auf dem Papier, sondern in der Realität ausgeführt (etwa taz, 20.4.). Wieder einmal hat Milosevic die Verlängerung der Verhandlungsfrist von Rambouillet nur genutzt, um die letzten Vorbereitungen für seine Aggression zu treffen.

 

In der Asymmetrie der bisherigen Kriegshandlungen wird die Differenz der Kriegsgegner sichtbar. Milosevic und seine Helfer hatten schon zu Beginn der jugoslawischen Krise ein klares politisches, territorial aber unbestimmtes Ziel vor Augen: Serbien - und damit sich als serbischen Machthabern - soviel wie möglich von Jugoslawien als Erbmasse zu sichern. Zu diesem Zweck brachen sie die jugoslawische Verfassung und verleibten sich die autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina ein und sicherten sich deren Stimmenanteile im jugoslawischen Staatsrat. Dieser Verfassungsbruch war die Kriegserklärung an die anderen Republiken Jugoslawiens. Und seither führen Milosevic und Serbien diesen Krieg mit großer Konsequenz. Es ist ein Erbfolgekrieg um die Hinterlassenschaft Titos. Gegenüber der Republik Slowenien scheiterte er sofort. Das war eingerechnet und leitete in den Aufmarsch in Kroatien über. Auch in Kroatien scheiterte die Aggression letztlich. Gegenüber Bosnien-Herzegowina scheiterte Milosevic zwar auch, konnte aber mit der Republik Srpska im Dayton-Abkommen einen wichtigen Teilerfolg erzielen, der auf der weiteren Entwicklung der Region als Hypothek lastet.

 

Hat Milosevic inzwischen das Ziel der maximalen Erbfolge aufgegeben? Manche Beobachter meinten im letzten Jahr, mit den Auseinandersetzungen im Kosovo komme der Krieg jetzt dorthin zurück, wo er angefangen habe und auch enden werde. Tatsächlich aber hat Milosevic im Kosovo die zweite Runde des großserbischen Erbfolgekrieges eröffnet. Mit den Vertreibungen zielt er systematisch auf die Grundlagen eines nationalen Befreiungskrieges. Das Wasser wird abgelassen, bevor die UCK schwimmen lernen kann. Zugleich destabilisiert er mit den Vertreibungen die Nachbarstaaten und versucht, die Logistik der NATO-Staaten zu überanspruchen und die EU über die Vertriebenenproblematik zu spalten.

Die erste Runde von Milosevics großserbischer Kriegsführung bestand in einem Angriff auf die jugoslawische Verfassung und ihre Republiken. Die zweite Runde eröffnete er mit einem Angriff auf die gesamte Staatenordnung des Balkan. Chaos schaffen und im Chaos als starke Macht verbleiben und dann abgreifen, ist die Grundstrategie von Milosevic, auf die die Staatenwelt keine Antwort fand, auch nicht mit dem Dayton-Abkommen. Es ist klar, daß es nicht halten wird, wenn Milosevic im Kosovo durchkommt.

 

Die Bemühungen der UNO und des Westens richteten sich von Anfang an darauf, zu verhindern, daß der Krieg die Staatenordnung und die bestehenden Grenzen sprengt. Sie waren rein reaktiv. Daher galt das erste Bestreben, auch der Bundesrepublik, dem Ziel, Jugoslawien als Staat zu erhalten. Als sich mit den Kriegen in Slowenien und Kroatien herausstellte, daß dieses Ziel nicht aufrechtzuerhalten war, konzentrierten sich die Bemühungen darauf, die Republiken Jugoslawiens in ihren bestehenden Grenzen zu erhalten und als Subjekte in die UNO-Ordnung einzufügen. Oberstes Ziel war die Erhaltung der Staatenordnung und nicht etwa die Durchsetzung der Menschenrechte. Serbische Einheiten konnten auf dem Boden der Nachbarrepubliken lange machen, was sie wollten, ohne daß es zu Gegenmaßnahmen kam. Die Fixierung auf die Erhaltung der Staatenordnung und die Behandlung des großserbischen Erbfolgekrieges als innere Angelegenheit der Nachbarrepubliken schloß es auch aus, daß die NATO, als sie schließlich in Bosnien-Herzegowina eingriff, den Aggressor selbst auf seinem Staatsgebiet zu treffen versuchte. Sie schloß es ebenso aus, die Lage im Kosovo zum Gegenstand der Verhandlungen in Dayton zu machen. Der Westen und die Kontaktgruppe teilten immer noch die Behauptung Belgrads, daß es sich beim Kosovo-Problem um eine innere Angelegenheit Serbiens handle.

Während sich die serbische Führung einen Dreck um die Souveränität der Nachbarrepubliken kümmerte und sich in ihrer Aggression auch nicht stören ließ, nachdem die UNO diese Republiken international als unabhängige Staaten anerkannt und als Mitglieder aufgenommen hatte, wurde Serbien das Privileg eingeräumt, außerhalb seiner Grenzen Krieg zu führen und in seinen Grenzen vor jeder Bedrohung sicher zu sein. Wenn also die UNO-Ordnung von einem Spannungsverhältnis zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und der Verpflichtung dieser Mitgliedstaaten auf die Einhaltung der Menschenrechte geprägt ist, räumte der Westen im ganzen bisherigen Verlauf des großserbischen Krieges der Souveränität Serbiens und (Rest-)Jugoslawiens immer den Vorrang ein, bis er schließlich merkte, daß die systematische Verletzung der Menschenrechte durch das serbische Regime auch jede Aufrechterhaltung einer Staatenordnung auf dem Balkan unmöglich machen muß. Seine ursprüngliche Position versuchte der Westen selbst noch aufrechtzuerhalten, als Serbien im Kosovo bereits zum offenen Vernichtungs- und Vertreibungskrieg übergegangen war. Bei den Rambouillet-Verhandlungen wurde die Souveränität Serbien-Jugoslawiens und seine territoriale Integrität fraglos vorausgesetzt. Die Absicht, im Kosovo eine friedensichernde Truppe unter NATO-Oberbefehl einzusetzen, war ja der Gegenzug, um die Entwaffnung der UCK zu ermöglichen, bestätigte also die Souveränität und territoriale Integrität Serbiens, statt sie, wie von Serbien behauptet, in Frage zu stellen.

 

Als die NATO nach dem Scheitern der Verhandlungen und dem massiven Einmarsch serbischer Verbände in das Kosovo direkt zu Schlägen gegen die serbische Militärmaschinerie und ihre Infrastruktur überging, trug sie zum ersten Mal im bisherigen Verlauf des großserbischen Krieges dem Spannungsverhältnis der UNO-Ordnung zwischen Souveränität und Verpflichtung auf die Einhaltung der Menschenrechte politisch Rechnung. Ihr Eingreifen zielt nicht auf eine Verletzung oder gar Aufhebung der Souveränität Serbien-Jugoslawiens, sondern auf die Einhaltung der Menschenrechte bei der Ausübung dieser Souveränität. Das militärische Eingreifen der NATO verstößt nicht gegen die UNO-Ordnung, sondern ist als Ultima ratio in dem politischen Versuch zu werten, der UNO-Ordnung gegenüber einem Regime und dessen Machthaber Geltung zu verschaffen, die diese seit Jahren systematisch verletzten, um ihren Aggressions- und Expansionsgelüsten Raum zu verschaffen, und die sich auf die Souveränität nur berufen, um freie Hand bei der Verletzung elementarer Regeln der UNO-Ordnung zu haben. Wo sie keinerlei Rechtfertigung für ihre Vernichtungs- und Vertreibungspolitik haben, beklagen sie sich scheinheilig darüber, daß die NATO kein Mandat für ihre Intervention habe. So werden die Widersprüche der UNO-Ordnung genutzt, um sie für eine ganze Region völlig aus den Angeln zu heben (zur Rechtsproblematik s. den Artikel von Birgit Laubach in diesem Heft).

 

Die Souveränität von Staaten ist keine Naturtatsache, sondern ein Recht, das sich die Staaten gegenseitig einräumen unter der Voraussetzung, daß sie sich jeweils an die Regeln der Staatenwelt und neuerdings eben auch an die Menschenrechte halten. Durch die Taten seiner Regierung kann ein Staat dieses Recht vorübergehend verspielen. Man kann die NATO-Intervention auch so verstehen: Sie hat den politischen Sinn, Bedingungen zu ermöglichen, unter denen die Souveränität Jugoslawiens wieder gelten kann, ohne auf die Kosten von Menschen und eines ganzen Volkes auf jugoslawischem Staatsgebiet und der Nachbarstaaten zu gehen. Der Streit um die Legitimität und die Rechtmäßigkeit der NATO-Intervention entspringt einem ungelösten Verfassungskonflikt in der UNO-Ordnung selbst. Um sie gegenüber einem Staat durchzusetzen, der sie systematisch verletzt, müssen bei den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates die Sichtweise auf den Fall und ihre Interessen gegenüber dem der UNO-Ordnung zuwiderhandelnden Staat vollständig übereinstimmen. Dies aber wird immer die Ausnahme bleiben und niemals die Regel sein. So erhalten die alten institutionellen Regelungen praktisch immer Vorrang gegenüber den Regeln, die sich die UNO mit ihren Konventionen grundsätzlich gegeben hat. UNO-Ordnung und das Verfahren, ihre Verletzung festzustellen und sie im Notfall wiederherzustellen, stehen im Widerspruch zueinander. Der Sicherheitsrat soll wie ein unabhängiges Gericht funktionieren, ist aber im Normalfall in Parteien zerfallen, die sich ganz unabhängig von den UNO-Prinzipien nach Mächteinteressen bilden. An diesem Widerspruch muß jede Reform der UNO ansetzen. Solange sie nicht gelungen ist, dürfen sich die demokratischen Staaten durch diesen Widerspruch nicht generell zur Tatenlosigkeit verurteilen lassen, wenn eine Macht darangeht, ihn zu nutzen, um systematisch alles Recht außer Kraft zu setzen. Ohne solche politische Entschlossenheit vor allem der USA wäre die UNO nie zustande gekommen. Im übrigen gibt es noch heute genug Leute, die selbst die Rechtmäßigkeit der Nürnberger Prozesse in Frage stellen.

 

Während in der öffentlichen Meinung der Mitgliedstaaten der NATO Zweifel über den politischen Sinn der militärischen Intervention und ihre Rechtsgrundlage herrschen, scheint in Serbien auch nicht ein Schatten von Unrechtsbewußtsein in der Bevölkerung vorhanden zu sein. Dies ist nach Jahren eines unerklärten Krieges gegen die Nachbarrepubliken und angesichts der jahrzehntelangen völligen Entrechtung und Unterdrückung der albanischen Bevölkerung im Kosovo, das seit mehr als einem Jahr mit Vernichtung und Vertreibung überzogen wird, am meisten beunruhigend. Ein ganzes Volk lädt über Jahre große Schuld auf sich und reagiert wie die verletzte Unschuld, wenn der Krieg, den es dauernd geführt hat, zum ersten Mal auf das eigene Land zurückschlägt. Liegt das daran, weil ihm wichtige Informationen vorenthalten werden? Oder ist dieser Mangel an Unrechtsbewußtsein Folge dessen, daß Verbrechen im Namen des Serbentums ohne weiteres als Heldentaten gewertet werden, weil dieses in der kollektiven Werteskala unbefragt den höchsten Rang einnimmt? Beides kommt zusammen, letzteres aber scheint ausschlaggebend. Und schottet gegen Informationen ab. Dieses Phänomen ist ja auch aus der deutschen Geschichte nicht ganz unbekannt. Dazu kommt, daß in der Gesellschaft auf Grund der Zerstörung jeder zivilen Ordnung inzwischen eine solche Apathie herrscht, daß auf dem Boden einer völligen Selbstbezogenheit nur noch nationale Aufschwünge der Selbstbetroffenheit möglich sind (Nenad Stefanov geht diesen Fragen nach, s. S. 26 ).

 

Es wird von Tag zu Tag deutlicher, daß die Asymmetrie von Vertreibungskrieg und Intervention auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden kann. Die Behauptung, daß die Albaner im Kosovo keine Lebenschancen haben, wenn nicht internationale Truppen dort den Frieden sichern, ist inzwischen so brutal durch die Tatsachen untermauert worden, daß für ihren Einsatz wohl nicht mehr lange auf ein vorheriges Abkommen gewartet werden kann. Ein zusätzliches Rechtsproblem entsteht nicht. Es ist eine politische Frage: Wird das ursprüngliche Ziel des Schutzes der Albaner im Kosovo grundsätzlich beibehalten oder praktisch aufgegeben? Letzteres würde der ganzen Intervention den Boden entziehen. Das gleiche gilt für eventuelle Absichten einer Teilung des Kosovo. Wenn keine sichtbaren Vorbereitungen für die Bekämpfung der Besatzungstruppen auf ihrem Feld getroffen werden, ist zu befürchten, daß sich Milosevic nicht einmal zu einem seiner bekannten Verhandlungsmanöver veranlaßt sieht. Nach Primakow scheint er nun auch Tschernomyrdin auflaufen zu lassen. Wer also vernünftigerweise auf die Verhandlungsbemühungen Rußlands setzt, darf sich gerade nicht von Rußland diktieren lassen, mit welchen Mitteln die Intervention geführt wird. Umgekehrt: Die Möglichkeit der NATO, direkt gegen die Besatzungstruppen im Kosovo vorzugehen, ist das einzige Druckmittel, das die russische Diplomatie gegen Milosevic in der Hand hat. Alle Friedenspläne und Entwicklungsabsichten für die Zukunft des Balkans hängen davon ab, daß Milosevic mit seiner Vertreibungspolitik im Kosovo und der Chaotisierung einer ganzen Region nicht durchkommt. Eine Beendigung des Krieges ist nur möglich, wenn diese Politik beendet wird. Eine Einstellung der NATO-Intervention allein wird dagegen Rechtlosigkeit, Chaos und Krieg auf dem Balkan zum Dauerzustand machen.