Der neue Regionalismus

Von einem demokratischen Europa der Regionen zum ethnonationalen Föderalismus

Bruno Luverà

Eine 1987 veröffentlichte Karte hob die Gebiete in Europa hervor, in denen in den siebziger Jahren regionalistische Ansprüche erhoben wurden: Schottland und Wales sowie Nordirland; auf dem Festland in Frankreich die Bretagne, Okzitanien und das Elsaß; in Spanien das Baskenland und Katalonien. Und schließlich in Italien Südtirol. In der kartographischen Darstellung von Dirk Gerdes bildete Südtirol das östlichste Gebiet in Europa, in dem der Regionalismus als "innenpolitische Konfliktdimension" über "eine oppositionelle Politisierung von kulturellen, politischen und/oder wirtschaftlichen Zentralisierungsprozessen" eine Rolle spielt. Das Verhältnis zwischen Region und Nationalstaat wird folgendermaßen beschrieben: Die "Betonung der Existenz homogener Räume innerhalb übergeordneter Raumeinheiten läßt den Regionalismus zu einem politischen Störmoment bzw. zu einem verändernden Gestaltungsprinzip in Konkurrenz zu Zentralisierungstendenzen bestehender Staats- und Gesellschaftssysteme stehen"

Die Definition des Regionalismus als politische Entscheidung in Kontrast zu den Nationalstaaten tendiert dazu, die ethnische, historisch-kulturelle Homogenität der Regionen zu stärken. Vor dem Mauerfall liegen der europäischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit grundsätzlich andere Kriterien zugrunde: "Nach dem zweiten Weltkrieg hatten wir nur zwei Alternativen, entweder weiter mit dem Rücken zueinander zu leben oder die Zusammenarbeit zu beginnen. Gegenüber den Deutschen gab es ein starkes Mißtrauen aufgrund der noch frischen Erinnerung an den Krieg, aber wir haben damals beschlossen, uns in die Augen zu sehen." Die Ursprünge der ersten Europaregion, der deutsch-holländischen Euregio, werden von ihrem Vorsitzenden Wim Schelberg, dem Bürgermeister von Weerselo, erläutert. Neben den Gründen der Befriedung bringen auch wirtschaftliche Motive Deutsche und Holländer in den fünfziger Jahren zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Euregio experimentiert in den ersten Jahren ihres Bestehens mit einer gemeinsamen Politik und vertritt die Interessen des transnationalen regionalen Netzes. Sie versucht, die Beschlüsse der politisch-administrativen Entscheidungsgremien der beiden Staaten dahingehend auszurichten. Die periphere Lage der beiden Regionen am Rand der wichtigsten nationalen Wirtschaftszentren macht eine gemeinsame grenzüberschreitende Strategie gegen eine Isolation notwendig. Das Modell wird 1978 institutionell ausgebaut: An der Spitze steht der "Euregio-Rat", eine gewählte Versammlung, die aus 60 Kommunalräten besteht, je zur Hälfte Holländer und Deutsche. Das Organ hat beratenden und koordinierenden Charakter in den die grenzüberschreitende Zusammenarbeit betreffenden Themen und hat nur indirekte Kompetenzen. Da der Euregio-Rat kein Organ öffentlichen Rechts ist, haben dessen Beschlüsse keine administrativ bindende Wirkung, sie haben jedoch politisches Gewicht. Die Satzung und das Regelwerk der Aktivitäten der Euregio haben privatrechtlichen Charakter, aber auf dieser Grundlage sind Handlungsfelder entstanden, die vor allem öffentliche Belange betreffen. Es gibt Arbeitsgruppen, die die Sitzungen des Euregio-Rates vorbereiten und ein Sekretariat mit Informations- und Beratungsschalter, das sich in Gronau an der deutsch-holländischen Grenze befindet. Das Leitprinzip der Organisation der Euregio ist die paritätische Besetzung.

Nach dem Modell der Euregio werden in den siebziger Jahren weitere europäische Regionen gegründet, weitgehend im Gebiet zwischen Nordsee und Aachen. Ein potentieller Ausbau der regionalistischen Bestrebungen und vor allem eine normative Rationalisierung der grenzüberschreitenden Beziehungen wird mit dem Madrider Rahmenübereinkommen vorgenommen, das am 21. Mai 1980 vom Europarat unterzeichnet wird. Aus einer Sicht der Zusammenarbeit, die "die Völker vereint", sieht das Übereinkommen zwar im Artikel 1 vor, " die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ... zu erleichtern und zu fördern", setzt jedoch voraus, daß dies "unter Beachtung der jeweiligen verfassungsrechtlichen Bestimmungen der einzelnen Vertragsparteien" zu erfolgen hat.

Die Europaregionen der ersten Phase entwickeln sich schrittweise über "eine Flucht ins Privatrecht" aus vor allem von der kommunalen Ebene ausgehenden Initiativen. Es sind Befriedungs- und praktische wirtschaftliche Beweggründe, die die Bewohner dies- und jenseits unstrittiger Grenzen zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bringen. Die Europaregionen operieren auf der Basis von interkommunalen - und seit kurzem auch interregionalen - Übereinkommen, die Formen der gemeinsamen Beratung und Planung erlauben, ohne jedoch "einen ausgereiften institutionellen Rahmen mit eigenen normativen und administrativen Kompetenzen" zu definieren. Das politisch-institutionelle Profil der Europaregionen der ersten Phase bleibt schwach ausgeprägt.

Die Euroregionen im Osten

Bei einem Blick auf eine aktualisierte Karte des Regionalismus fällt die Verschiebung des grenzüberschreitenden regionalen Phänomens nach Osten ins Auge. Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung haben sich die Projekte der Europaregionen vor allem entlang den Grenzen zu den ehemaligen Ostblockstaaten entwickelt. Die Tiroler Europaregion und die Regio Insubrica an der italienisch-schweizerischen Grenze befinden sich jetzt im Süden der neuen Regionalismuskarte. Entlang der Oder-Neiße-Linie sind ohne Unterbrechung von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze vier europäische Regionen geplant: Pomerania, Viadrina, Spree-Neiße-Bober, Neiße-Nysa. Im Rahmen einer Studientagung zur Euregio Viadrina im Oktober 1992 definiert James Scott vom Berliner Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung IRS zunächst "die Bewahrung bzw. Schaffung einer neuen regionalen Identität auch über Staatsgrenzen hinweg" als "eine vielschichtige Aufgabe", bei der die "kulturhistorischen Gemeinsamkeiten" neben den gemeinsamen Interessen im Umweltschutz, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Lösung gemeinsamer Probleme "verbindende Faktoren innerhalb internationaler Grenzregionen" sind. Für Scott, der an einem Projekt zur Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit entlang der Oder-Neiße-Grenze arbeitet, bedeutet die Gründung von deutsch-polnischen Europaregionen den Versuch, an die Erfahrungen der deutsch-holländischen Grenzregionen anzuknüpfen, um "eine allmähliche Annäherung von ,Ost und West` zu ermöglichen. ... Die Oder-Neiße-Linie, Produkt eines furchtbaren Krieges und seit 1945 die Grenze zwischen Polen und Deutschland, wird sich langsam zu einer echten ,Brücke der Freundschaft` entwickeln können."

Auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene wird in Deutschland der Zusammenarbeit eine große Bedeutung zur Überwindung der Grenzen beigemessen, eine Zusammenarbeit, die nach den Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, dem Inkrafttreten des Binnenmarktes und dem Beginn des Prozesses der politischen Integration Europas neue Züge und Dimensionen angenommen hat. Trotz des politischen und finanziellen Einsatzes für den Ausbau der Europaregionen gibt es jedoch Widersprüche zwischen Erwartung und Realität. Manfred Sinz von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung erläutert dies für einen der wichtigsten Sektoren der grenzübergreifenden Zusammenarbeit, die Raumplanung: "Bei nüchterner Betrachtung ist allerdings nicht zu übersehen, daß die damit verbundene Kooperationsrhetorik der grenzüberschreitenden Kooperationspraxis zur Zeit noch weit vorauseilt." Sinz geht davon aus, "daß viele Grenzraumsituationen aus wirtschaftlichen, politischen und historischen Gründen mehr Probleme und Konflikte bergen als die immer wieder apostrophierten Chancen und positiven Synergieeffekte." Im Rahmen der Jahrestagung des Informationskreises für Raumplanung in Radolfzell am Bodensee im November 1994 zum Thema "Regionale Leitbilder" stellte die Referatsleiterin im brandenburgischen Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung, Lotzmann, das Projekt der Euregio Spree-Neiße-Bober vor, das zwei Jahre zuvor begonnen wurde. Sie kommt zu der Schlußfolgerung, daß die Entwicklung der Region vor allem von ihr selbst abhängt, vom Willen ihrer Bewohner, sich mit ihr zu identifizieren, "da die Region keine eindeutigen Stärken (Industrieproduktion, Tourismus, Landwirtschaft oder Ökologie) aufweist...Dafür lautet das Leitbild ,Regionale Entwicklung durch regionale Identität`". Trotz der Finanzierungsmöglichkeiten für die grenzüberschreitenden Projekte mit Nichtmitgliedern der EU über die Gemeinschaftsinitiative Interreg II wird ein ungleiches Verhältnis auf wirtschaftsstruktureller Ebene zwischen den deutschen und polnischen Regionen verzeichnet, auch weil gegenüber den Großinvestitionen in den neuen deutschen Ländern im Bereich der Telekommunikation und der Verkehrsinfrastruktur auf polnischer Seite eine entsprechende Ausbaupolitik fehlt. Das jetzige Wohlstandsgefälle zwischen westlichem und östlichem Teil der Europaregionen wird mit 1:1 bemessen. Die Entwicklung der euroregionalen Projekte im Osten wurde bisher durch die polnischen und tschechischen Ängste vor deren politisch-institutioneller Bedeutung und durch die Verbindung nationaler und/oder nationalistischer politischer Kräfte mit dem neuen europäischen Regionalismus verlangsamt.

Der Regionalstaat

An der östlichen Grenze Deutschlands befindet sich außer den vier Euroregionen entlang der Oder-Neiße-Linie auch die Regio Egrensis zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik. Sie umfaßt Westböhmen, das östliche Oberfranken, die nördliche Oberpfalz auf bayerischer Seite sowie das sächsische Vogtland. Das Projekt, das sich über die Sudeten erstreckt, geht auf Initiative des Intereg, des Internationalen Instituts für Nationalitätenrecht und Regionalismus, das 1977 von sudetendeutscher Seite mit Sitz in München gegründet wurde, zurück. Bereits 1988 hatte das Intereg zwei Ziele für seine Aktivitäten definiert: die Fortsetzung des Symposiums "Friede, Sicherheit und Selbstbestimmung in der Mitte Europas" in Prag und die Realisierung der Regio Egrensis, sobald sich die Möglichkeiten dafür bieten würden. Unter der Voraussetzung, daß die Nationalstaaten an Gewicht verlieren, während "der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr an den Staatsgrenzen haltmacht", wünscht sich der Leiter des Intereg, Rudolf Hilf, "großzügige und gerechte Lösungsversuche". Es sollen unteilbare Prinzipien der Freiheit und Selbstbestimmung und deren Anerkennung in einem europäischen und internationalen Volksgruppenrecht erarbeitet werden. Die Einrichtung der Regio Egrensis bildet für Hilf "nicht nur einen Weg, um die ökonomische, ökologische und kommunikative Zusammenarbeit entlang dessen, was einmal die Demarkationslinie zwischen Ost und West war, zu begünstigen", sondern "auch den Versuch, ein für alle Mal den Streit zwischen Sudeten und Tschechen beizulegen. Zwischen ihnen wird nicht geschossen - im Unterschied zu Kroaten und Serben - aber der Frieden bleibt riskant. Und das Ende dieses Friedens hätte Konsequenzen auf das gesamte Mitteleuropa." Am 1. Juli 1991 wird das erste Informationsbüro zur Regio Egrensis in Cheb/Eger eingeweiht, der Geist der Zusammenarbeit kühlte sich jedoch auf tschechischer Seite ab, nachdem Bayern sich im Bundesrat geweigert hatte, das zwischen Bundeskanzler Kohl und dem Präsidenten Havel am 27. Februar 1992 unterzeichnete Abkommen zu ratifizieren. Die rein politische Natur des neuen europäischen Regionalismus geht aus den Worten des Leiters des Intereg hervor: "Dort, wo zwei Völker oder Volksgruppen den gleichen Raum beanspruchen, kann man sich auf eine gemeinsame grenzüberschreitende Region einigen, die Territorien beider Staaten umfaßt und die in einem von den beiden Staaten vorgegebenen räumlichen Rahmen autonom regiert wird." Das Intereg kann als Zentrum der theoretischen Ausarbeitung des neuen ethnozentrischen europäischen Regionalismus bezeichnet werden. Von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung finanziell beim Aufbau unterstützt, befinden sich bei der Gründung in Regensburg im Oktober 1977 unter den Mitgliedern des Kuratoriums der Theoretiker der ethnischen Regionalstaaten Guy Héraud, die Minderheitenschutzexperten Theodor Veiter, Fried Esterbauer und Felix Ermacora, der ehemalige Senator der Südtiroler Volkspartei Karl Mitterdorfer sowie der Paneuropäer Otto von Habsburg. Die Aufgabe des Intereg liegt laut Gründungserklärung "in einem zu entwickelnden Nationalitätenrecht (Volksgruppenrecht) und in den Prinzipien regionalistischer Eigenständigkeit und Selbstbestimmung und der freien Entfaltung von Regionen".

Die theoretische Grundlage der Aktivitäten des Intereg ist die Idee des ethnozentrischen Föderalismus, die 1968 von Guy Héraud in seinem Buch Les principes du fédéralisme et la Fédération Européenne erarbeitet wurde. Das Ziel der Schaffung einer ethnischen europäischen Föderation stellt sich "als ein Niveauwandel ... des Phänomens der Souveränität dar. Anstelle der deutschen, französischen, italienischen usw. Souveränität wird es nur noch eine einzige Souveränität geben, die ihrerseits unter der Voraussetzung des föderalistischen Gemeinwesens stark verdünnt ist: die europäische Souveränität". Die Schaffung einer europäischen Föderation bringe auch eine Neudefinition der inneren Grenzen mit sich; mit dem Willen der betroffenen Bevölkerung "versöhnen sich Demokratie und objektiver Ethnizismus". Héraud formuliert eine Liste von Zonen, die "sowohl durch die Bevölkerungszahl als auch durch tiefe ethnische, wirtschaftliche bzw. geschichtliche Einheitlichkeit dazu bestimmt sind, Regionalstaaten zu bilden und damit unmittelbare Mitglieder der europäischen Föderation zu werden". In der Liste der zukünftigen Regionalstaaten erscheint neben Lettland, Litauen, Estland, Galizien, Mazedonien usw. auch Tirol, mit der Präzisierung, es handele sich um "den österreichischen und italienischen Teil". Héraud betont das monoethnische Prinzip als aggregierendes Element der Regionalstaaten: "Nun müssen diese Regionen homogen in bezug auf ihre Sprache und Kultur sein, oder aber zumindest auf ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl (das ist der Fall gewisser politischer polyethnischer Einheiten, wie die Schweiz, die eine Teilung nicht akzeptieren würden)." Der monoethnische Charakter sei die beste Garantie gegen die ethnischen Rivalitäten und die Assimilation der Minderheiten. Das Kriterium der Sprache bei der Abgrenzung der neuen Regionen beinhalte die Wiedervereinigung kulturell homogener Räume im politischen Raum als Nation. Die Nation müsse sich als "eine leichte, aber entscheidend bedeutsame Stufe" zwischen der europäischen Föderation und den Regionen entwickeln. Der europäische Bundesstaat würde gemäß Héraud "sich so als Union der Regionen Normandie, Burgund, Wallonien, Savoyen-Aosta Tal usw. (französische Nation) darbieten, der Regionen Lombardei, Toskana, Sizilien usw. (italienische Nation), Bayern, Hessen, Niedersachsen, Tirol usw. (deutsche Nation)". In der institutionellen Artikulierung der drei Ebenen der Föderation (Kommunen, Regionalstaaten, Föderation) gibt es keinen Platz für den heterogenen Nationalstaat. Ein weiterer Ethnoföderalist, der Universitätsprofessor aus Innsbruck Fried Esterbauer bemerkt dazu: "Diese Notwendigkeit von Volksstaaten statt künstlicher Staaten als Mitgliedstaaten (Regionalstaaten), also eines ethnischen Föderalismus, nimmt mit der zunehmenden Größe von politischen Systemen zu, da in größeren Systemen, wie vor allem einer Europäischen Union, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Regel abnimmt." "Im übrigen müßten ethnische Kriterien und entsprechende Volksinitiativen zu Volksabstimmungen über Grenzänderungen führen, um das ,Europa der Heimatländer` und das Selbstbestimmungsrecht voll zu verwirklichen." Esterbauer hatte 1977 eine Volksabstimmung für die Rückkehr Südtirols zum Bundesland Tirol vorgeschlagen. Eine Ausnahme sollte Leifers, eine Gemeinde südlich von Bozen, bilden, während Bozen selbst in das alte Bozen und Nuova Bolzano aufgeteilt werden sollte, um damit einen "rein deutschsprachigen" und einen "rein italienischsprachigen Gemeinderat" zu schaffen.

Die Idee eines Europas der Regionen wurde nach dem Ausbruch der Nationalismen und Mikronationalismen von Ralf Dahrendorf als kritisch und gefährlich eingeschätzt. Der liberale Gedanke müsse den heterogenen Nationalstaat verteidigen und aufwerten und optiere damit für eine civic nation im Gegensatz zur ethnic nation, da laut Dahrendorf nur die Nation, die sich auf die Gleichheit der zivilen Rechte der Bürger stützt und nicht auf die ethnische Homogenität, eine Errungenschaft der Gemeinschaft ist. "Tatsächlich können aus dem Europa der Regionen Regionen ohne Europa entstehen", mit dem Risiko, in Stammesdenken zu verfallen, da man "das Syndrom der ethnischen Homogenität als die größte einzelne Bedrohung der offenen Gesellschaft" sehen müsse.

Die Hauptargumentationslinien Hérauds, der 1987 den Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft erhielt, die Auflösung der Nationalstaaten und die darauffolgende Neubildung in Regionalstaaten gemäß dem monoethnischen Prinzip, haben bei den deutschen ethnozentrischen Regionalisten ihre Bedeutung bis heute bewahrt und haben neue potentielle Verbreitungsmöglichkeiten gefunden, auf der einen Seite dank der Bedeutung, die der Freistaat Bayern in der Bewegung für das Europa der Regionen inzwischen verzeichnet, auf der anderen durch den Mauerfall. In der Magna Charta Gentium et Regionum, die vom Intereg auf der internationalen Tagung von Maribor (3.-5.2.1992) zum Thema "Kleine Nationen und ethnische Minderheiten im Umbruch Europas" vorgestellt wurde - es nahmen unter anderem Vertreter der osteuropäischen Länder teil - wird in Artikel 10 jeder Region das Recht zuerkannt, "sich mit Nachbarregionen (auch grenzüberschreitend) zu autonomen Gemeinschaften zusammenzuschließen bzw. an der Bildung föderativer Gliedstaaten in den großen Nationalstaaten (als Gegengewichte gegen die Zentralgewalt) beteiligt zu sein.". Im Artikel 8 der Magna Charta, eine Überarbeitung eines Entwurfs von Ermacora durch die Professoren Fried Esterbauer und Guy Héraud, wird hervorgehoben, daß "jede Region darüber hinaus, insbesondere im Hinblick auf die Vereinigung Europas, zu einem autonomen Regionalstaat entwickelt werden (soll), um die Bürgernähe in die Identifikation mit dem Staat einzubringen."

1991 formuliert der österreichische Universitätsprofessor Peter Pernthaler, ein ehemaliger Assistent Ermacoras und Gründungsmitglied des Kuratoriums des Intereg, den Vorschlag der Schaffung einer Europaregion Tirol. Dank der "neuen europäischen Ordnung" aufgrund der Umwälzungen im Osten, des Binnenmarktes und des Prozesses der politischen Integration der Europäischen Union sowie aufgrund der Stärkung des europäischen Regionalismus könne das Ziel, die regionale Identität Tirols zu festigen und darauffolgend gemeinsame politische und administrative Organe zu entwickeln, nun verfolgt werden, um damit "eine Selbstbestimmungslösung für Gesamttirol" zu schaffen.

Der ethnonationale Regionalismus

Während die europäischen Regionen der ersten Phase durch eine informelle grenzübergreifende Zusammenarbeit gekennzeichnet sind, sind die Projekte der neuen Europaregionen (wie die Region Tirol) darauf ausgerichtet, starke institutionelle Verankerungen zu schaffen, mit der Koordinierung der Gesetzgebung und Regierungsaktivitäten, wobei auch die spätere Schaffung von transregionalen Parlamenten und gemeinsamen Regierungen nicht ausgeschlossen wird. In einer Phase der Revision des klassischen Begriffs der territorialen Souveränität, mit den Staaten, die sich auf der einen Seite in Unionen integrieren, auf der anderen Kompetenzen nach unten abgeben, bewegen sich die Europaregionen in einer politisch-institutionellen Grauzone. Das Europa der Regionen wird zum Terrain politischer Initiativen nicht nur für die Föderalisten, sondern auch für die Förderer einer ethnonationalen Politik, die mit Hilfe einer verführerischen Euro-Rhetorik die Grenzen zu verändern suchen. Es ist kein Zufall, daß die neuen Europaregionen vor allem auf ehemaligen deutschen Gebieten gegründet werden und von Politikern unterstützt werden, die "historische Rechte" auf diese Gebiete erheben. Der Mythos der "erniedrigten und verletzten Nation" lebt mit einer neuen Rechten wieder auf, die, um den Theoretiker der österreichischen Freiheitlichen, Andreas Mölzer, zu zitieren, "eine regionale, kulturelle und ethnische Differenzierung" befürwortet, die einen Weg bildet, "versteinerte Staatsgewalt zu durchdringen". Nach dem Mauerfall schwächen die Befürworter einer Revision der östlichen Grenzen ihre Forderungen nach einem Selbstbestimmungsrecht ab und entdecken statt dessen die europäische Dimension. Im Oktober 1990 schlägt auf dem "Tag der Heimat" der Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen Hartmut Koschyk die Gründung einer Europaregion Oder-Neiße vor, die die ehemals deutschen, heute polnischen Gebiete zu einer Selbstverwaltung führe. Einige Monate später, am 17. Oktober 1991, stimmt Koschyk als Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Vertriebene und Flüchtlinge" der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusammen mit 23 weiteren Abgeordneten gegen die Ratifizierung des Abkommens über die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze. "Die Volksrepublik Polen besitzt über die Gebiete östlich von Oder und Neiße keine territoriale Souveränität, sondern lediglich Gebietshoheit."

Die deutsche Wiedervereinigung, die einen deutschen Einheitsstaat in die Mitte Europas gesetzt hat, habe das Tabu Deutschlands als "Zentralmacht" sowie der Idee einer "organisatorischen" Rolle der Deutschen gegenüber dem Osten wegfallen lassen, wie der CSU-Europaabgeordnete Ingo Friedrichmeint, "mit dem Ziel, die Verlagerung der Demokratie und des freien Marktes auf Gebiete zu begünstigen, die in der Vergangenheit unter deutscher Verwaltung standen". Diese Haltung findet Zustimmung nicht mehr nur in Kreisen des extremen Pangermanismus, sondern auch bei den Nationalliberalen und Konservativen, wie Jürgen Habermas anmerkt: "Heute differenziert sich das neokonservative Lager in Liberale und Preußisch-Deutsch-Nationale. Wenn man die intellektuelle Szene betrachtet, entdeckt man seit dem November 1989, daß es immer schon eine moderat rechte Opposition gegen das Rheinbündische der Adenauerrepublik gegeben hat; ... seitdem zelebrieren sie den Abschied von der alten Bundesrepublik und die Rückkehr zu den deutschen Kontinuitäten einer ,Vormacht in der Mitte Europas`."

Michel Korinman, einer der Mitherausgeber der italienischen Zeitschrift Limes, unterstreicht, wie "Koschyk und seine Freunde des Bundes der Vertriebenen schnell die Kraft des europäistischen Arguments verstanden haben", weshalb man sich fragen müsse, ob "nicht vielleicht die Gefahr einer Instrumentalisierung des Euroregionalismus von seiten der Interessenvertretungen besteht, im Sinne einer natürlich friedlichen Wiedereroberung? Und wenn man die Wirtschaftskraft Deutschlands trotz der ernsthaften Probleme der Neustrukturierung der ehemaligen DDR berücksichtigt, besteht für die Grenzbereiche dazu nicht langfristig die Gefahr, als Euroregionen vereinnahmt zu werden?"

Wenn die Wirtschaftskraft Deutschlands eine anziehende Wirkung auf die Grenzregionen ausübt, so beeinflußt der ethnische Faktor die Aggregationskriterien der neuen grenzüberschreitenden Realitäten. Die Förderung der Euroregionen erfolgt über eine politische Initiative von oben, mit elitärem Charakter. Das Hauptziel, das von den Neoregionalisten genannt wird, die Schwächung der Bedeutung der Grenzen und ihre Entpolitisierung - "Die Grenzen werden nicht verschoben, sondern verschwinden" - führt zu einem neuen diplomatischen Spiel zwischen den europäischen Staaten. Die politisch und ökonomisch Schwächeren sehen die Gefahr der Zersplitterung, die den sezessionistischen Strömungen Zulauf bringt und die die Abspaltung der Grenzregionen, die vom stärkeren Nachbarn durch seine Katalysatorwirkung aufgesogen werden, nach sich zieht.

Hartmut Koschyk wird nach der Nominierung zum Vorsitzenden des "Vereins für das Deutschtum im Ausland" (VDA) zu einer Schlüsselfigur für die Verknüpfung zwischen alter pangermanischer Tradition und neuem europäischen Regionalismus. Seit seiner Gründung im Jahre 1871 verbindet der VDA die Ideologie des "deutschen Blutes" mit der germanischen Mythologie und spricht in bezug auf die Deutschen von der Existenz einer "besonderen Blutsgemeinschaft", die sie zu "einem besonderen Volk" mache. Während des Nationalsozialismus unterstützt der VDA die arische und pangermanische Ideologie des Regimes. In der Nachkriegszeit erfolgt der Wiederaufbau des Verbandes, der zunächst von den Alliierten für ungesetzlich erklärt wurde, mit öffentlichen Mitteln. Zwei Hauptkriterien werden verfolgt: die Europäisierung der pangermanischen Ziele sowie die Unterstützung der deutschen Minderheiten im Ausland. In den 70er Jahren fungiert der österreichische Verfassungsrechtler und ÖVP-Abgeordnete sowie Experte für die Südtirol-Frage Felix Ermacora als Verbindungsglied zwischen Intereg und VDA, mit dem Ziel der "Schaffung einer Neuordnung Europas und der Welt", die den deutschen Minderheiten das Recht auf Selbstbestimmung zukommen läßt.

Zu Beginn der neunziger Jahre lanciert Koschyk eine Kampagne für das Europa der Regionen, "in dem die staatlichen Grenzen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen". Der CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg, dem Koschyk das Verdienst zugesteht, "bei unseren östlichen Nachbarn das Bewußtsein geweckt zu haben, daß es noch zu lösende offene Fragen gegenüber den Deutschen gibt, was freilich in zukunftsorientierter Form geschehen muß", äußert offen, daß "der europäische Regionalismus sicherlich zur Selbstbestimmung führen kann, aber es handelt sich um einen Prozeß, der nicht von heute auf morgen verwirklicht werden kann. Europa muß wie ein Baum und nicht wie ein amerikanischer Wolkenkratzer wachsen." Das "organische Wachstum" Europas als "Einheit der Völker" wird von Bernd Posselt unterstützt, dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft und zusammen mit Koschyk und von Habsburg Spitzenvertreter der deutschen Sektion der Paneuropabewegung, die in Bayern ihre Zentrale hat. Posselt erklärt, sich "persönlich für die Entwicklung der Regio Egrensis und der Neiße-Nysa einzusetzen, weil mit einer regionalistischen Initiative die Probleme schneller als mit einem staatlichen Eingriff gelöst werden können".

Die neue regionalistische Rechte

In den neunziger Jahren präsentieren sich der Rechtsextremismus und die neue Rechte in Europa mit Schlagwörtern, die von den eigentlichen Zielen ablenken. Pierre Krebs, einer der Hauptvertreter der neuen Rechten, die im Franzosen Alain de Benoist ihren Ideologen hat, behauptet, daß heute die politische Alternative zwischen Universalismus und Ethnopluralismus liege, die Aufgabe einer neuen rechten Kultur sei es, "der egalitären Moral, der egalitären Sozialökonomie eine auf Differenzierung hinauslaufende Weltanschauung entgegenzusetzen", denn "durch seine Vermischung der Rassen, der Kulturen und Weltanschauungen beseitigt der Egalitarismus nicht nur die grundlegenden Begriffe von Achtung und Toleranz, sondern darüber hinaus die Freiheit und das Grundrecht auf Verschiedenheit". Die politisch-kulturelle Kampagne der neuen Rechten richtet sich gegen die "ethnische Vermischung", da die Ethnie laut de Benoist nicht die Summe der Individuen, sondern den Geist eines Volkes ausmacht. Über den "Ethnopluralismus" aktualisiert die neue Rechte das Bedürfnis nach Identität, sich von "gemeinsamen Wurzeln" gestärkt "zu Hause zu fühlen".

Die Opposition gegen jede Form von Nivellierung der natürlichen homogenen Gemeinschaften wird mit der Betonung der regionalen Besonderheiten ausgedrückt, mit der Bewahrung von homogenen "ethnischen Inseln". Die Wiederentdeckung der Heimat und der regionalen Identität hat für die neue Rechte funktionale Bedeutung beim Versuch, sich dem europäischen Integrationsprozeß zu widersetzen, der als gefährlich angesehen wird, weil er den Nationalstaaten Gewicht entzieht. "Den Regionalismus-Fanatikern geht es nicht um ein föderalistisches Europa. ... Ihnen kommt es auf eine möglichst umfassende Erweiterung Deutschlands und die Zerlegung der europäischen Staaten in ihre ,ethnischen Bestandteile` an."

Die österreichische neue Rechte entwickelt seit 1990 die Idee des Ethnopluralismus und findet sich zusammen mit den Freiheitlichen im Manifest des neuen ethnozentrischen europäischen Regionalismus "Europa der Regionen" wieder. In dem Buch sind Aufsätze von Guy Héraud, Jürgen Hatzenbichler, dem Chefredakteur der Zeitschrift "Identität", Andreas Mölzer, dem Leiter des Freiheitlichen Bildungswerks, Umberto Bossi, dem Chef der italienischen Lega Nord, sowie ein Interview mit Jörg Haider gesammelt. Im Aufsatz von Andreas Mölzer wird ein ethnischer Föderalismus angestrebt, "der gegen das etatistische Denken einen neuen Regionalismus setzt". Die Völker und ihre Kulturen werden als europäische Realitäten gesehen, die nicht abzuleugnen sind und deren Grenzen auch im Westen dank des Regionalismus neu gesetzt werden können, auch wenn "die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen beschworen" wird. Mölzer fragt sich: "Wenn es den Deutschen der ehemaligen DDR gelang, ihr Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen, warum nicht auch den Südtirolern?" Der Chef der Freiheitlichen Jörg Haider, der sich für "überschaubare, sprachlich und ethnisch ,Heimaten` begründende kleine staatliche Gebilde, ... für europäische Regionen, wie er sie in Freistaaten wie Bayern, Sachsen und Kärnten begründet sehe" stark macht, spricht bei der Wahlkampferöffnung der Südtiroler Freiheitlichen am 15. Oktober 1993 vom "neuen politischen Klima", das man in Europa spüre. Er befürwortet eine Änderung der Ausübungsformen der Selbstbestimmung: "Man braucht nicht mehr die Wahlkabine, da der europäische Einigungsprozeß, wenn er friedlich durchgeführt wird, der Wiederangliederung jener Regionen wie Tirol Raum lassen muß, die historisch eine wichtige Rolle gespielt haben und die in der Zukunft diese Rolle zurückerobern wollen".

Die Europaregion Tirol

Am Projekt der Europaregion Tirol lassen sich die starken Bedeutungsschwankungen des neuen europäischen Regionalismus festmachen. Sofort nach der Südtiroler Streitbeilegungserklärung zwischen Österreich und Italien (Juni 1992) richtet die Südtiroler Volkspartei SVP, die Sammelpartei der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol, ihre politische Strategie auf ein neues institutionelles Gerüst aus: die Europaregion Tirol. Gleichzeitig wird der Modellcharakter des Regelwerks zur Autonomie Südtirols, der von der italienischen und österreichischen Regierung als exemplarisch bezeichnet wird, nicht anerkannt. Der Beschluß des 42. Parteikongresses der SVP (19.11.94) gibt das Ziel der Europaregion vor. Sie soll dabei helfen, "die Unrechtsgrenzen am Brenner" zu überwinden, um eine Zusammenarbeit "nicht nur auf der Ebene der Institutionen und der Politik, sondern auch auf der Ebene der Bevölkerung" zu fördern, "damit alle Tiroler sich als ein Volk betrachten und entsprechend handeln können". Der institutionelle Charakter der Euregio, die für den Obmann (Parteivorsitzender) Siegfried Brugger "etwas mehr als eine neue Arge-Alp" sein soll, wird offiziell in der Grundsatzerklärung ausgesprochen, nach der sich die "vereinigten Landtage ...weiterhin regelmäßig" treffen und "im Konsenswege grundlegende Beschlüsse (Richtlinien)" fassen, die "die Ausrichtung der Gesetzgeber und der Exekutiven" angeben. "Die geistig-kulturelle Einheit des Landes Tirol" wird dabei als bleibende Zielsetzung der SVP bekräftigt.

Auf Südtiroler Seite wird das Projekt vom Landeshauptmann Luis Durnwalder (SVP) geleitet, der bei verschiedenen Anlässen von einer "weichen" Euregio spricht und sie als grenzübergreifende Zusammenarbeit zwischen Südtirol, Tirol und Trentino ("Wenn die Trentiner es wollen!") versteht, ohne daß dies die Revision der Grenzen bedeute.

In Nordtirol konkretisieren sich die Pantiroler nationalen Bestrebungen in der Übergangszeit zwischen der Südtiroler Streitbeilegungserklärung und dem EU-Beitritt Österreichs. Der Landeshauptmann Tirols, Wendelin Weingartner (ÖVP), läßt dem Projekt eine ökonomische und ethnonationale Bedeutung zukommen; er sieht die Gründung einer "nationalen grenzüberschreitenden Region" vor, die von Rom und Wien gleich weit entfernt ist und die es Tirol ermöglicht, seine vergangene Einheit und Identität zurückzugewinnen, weil vor 1918 "Demos und Ethnos identisch waren". Skeptisch stehen dem Projekt der Euregio, "das von oben heruntergefallen ist", die Tiroler Sozialdemokraten und Grünen gegenüber.

Der Prozeß der Bildung der Europaregion ist bisher charakterisiert durch eine starke Bündelung der politischen Initiative von seiten der Landesregierungen, durch eine mangelhafte öffentliche Information über die tatsächlichen Rahmenbedingungen der einzurichtenden transregionalen Realität und durch die Unsicherheit über den effektiven Willen, das Trentino daran teilnehmen zu lassen. Die Wiener Regierung hat eine neutrale Beobachterposition eingenommen; der ehemalige Außenminister Alois Mock läßt jedoch keine Zweifel über die Risiken aufkommen, denen zufolge "am Ende neben den zentralistischen Versuchungen der Europäischen Union auch die verdeckt separatistischen der Euregio stehen können, eine explosive Mischung für das prekäre Gleichgewicht dieses Teils des Alten Kontinents".

Die italienische Regierung weist im Juni 1995 den Artikel 1 des Regionalgesetzes zurück, das zum ersten Mal das Ziel der Europaregion Tirol bestimmt, und erklärt damit die Verfassungswidrigkeit des Projektes, das einen institutionellen Charakter in Kontrast zum Artikel 5 der italienischen Verfassung habe, der das Prinzip der Einheit und Unteilbarkeit der Republik festlegt, sowie zu den Artikeln 114, 115 und 116 über die Regionen. Die Verfassungswidrigkeit der Tiroler Europaregion als Institution wird von der italienischen Regierung unter Ministerpräsident Dini aus Anlaß der Eröffnung einer Vertretung der Europaregion in Brüssel im Oktober 1995 erneut betont.

Ein klarer Hinweis auf die Anerkennung der Verfassung wird vom italienischen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro während seines offiziellen Besuchs in Trento am 24. November 1995 ausgesprochen. Nachdem er daran erinnert hatte, daß es "eine einzige und unteilbare Republik" gebe, richtete Scalfaro einen Appell zur Vorsicht an die Trentiner und indirekt an die Südtiroler, "die Hypothesen für Regionen vorsehen, die ich zwischenstaatlich nennen würde und in einem zukünftigen Europa und faktisch noch nicht ausgereift" sind. Vier Tage zuvor hatte der Staatspräsident in Mailand vor den "falschen Europäisten" gewarnt, die "meinen, sie könnten Europaregionen erfinden, um vor der nationalen Einheit zu flüchten".

Das Projekt der Europaregion Tirol kann drei verschiedene Bedeutungen annehmen.

Im ersten Szenario würde es einen grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum mit der Möglichkeit zur Erleichterung der Handelsbeziehungen und gemeinsamer Förderungsinitiativen bilden.

Im zweiten Szenario würde das Projekt der Europaregion Tirol im Rahmen des Madrider Abkommens die Konsolidierung einer engen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bedeuten, in den Bereichen, die vom italienisch-österreichischen Rahmenabkommen vom 27.1.1993 ratifiziert wurden. In Südtirol und dem Trentino sind die Grünen, die Popolari, die PDS und Alleanza Nazionale für ein solches Euregio-Konzept.

In einer dritten Bedeutung enthält es ein starkes politisch-institutionellen Ziel: der Gründung einer Europaregion Tirol als modernes Instrument, um eine räumliche Zwischenstufe zwischen die staatliche und die europäische Ebene zu setzen. Die immer größere Funktionalisierung der nationalen Souveränität gegenüber der EU-Ebene verändert die Form der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes. Im heutigen europäischen Kontext, in dem Rom und Wien immer peripherer gegenüber Brüssel werden, hätte die Gründung eines Freistaates Tirol oder die erneute Zugehörigkeit zum österreichischen Staat kaum Perspektiven. Auf politischer Ebene erscheint eine Selbstbestimmung, die man als "weich" bezeichnen kann, die Schaffung eines neuen rechtlich-institutionellen Status über eine Reihe von juridischen Akten und die Verankerung in einem neuen internationalen Recht, das auch den Regionen internationale Hoheitsrechte zugesteht, zunächst praktikabler. Die Existenz einer Vielfalt von Formen und Stufen von Selbstbestimmungsrecht, deren extreme Form die Abspaltung und der Gewinn der territorialen Souveränität darstellt, so wie die historisch bewiesene Schwierigkeit, das "klassische" Selbstbestimmungsrecht ohne eine starke militärische Unterstützung auszuüben, bestärken die Idee neuer "zukunftsorientierter" Lösungen. Die Definition gemeinsamer politisch-administrativer Institutionen zwischen Tirol und Südtirol, eventuell auch mit dem Trentino, würde eine neue Realität bedingen, die mehr einem "Zwischenstaat" als einer Region ähneln würde. Das Modell dieses Tiroler Zwischenstaates wäre ein radikaler Föderalismus, der auf eine Reform der Europäischen Union setzt, bei der nicht nur die Staaten, sondern auch die Regionalstaaten Mitglied wären, die direkte Beziehungen zur Union in einer Reihe von Befugnissen in Wirtschaft, im Sozialbereich, der Kultur und Bildung und der Raumplanung hätten. Die bisherige Entwicklung der Europaregion Tirol charakterisiert sich durch die elitären und im Demokratiebereich defizitären Elemente, ohne eine klare Haltung gegenüber der Einbeziehung der italienischsprachigen Provinz Trentino in der Europaregion einzunehmen (die SVP hat im Januar 1996 einen nationalen Gesetzesentwurf über die Föderalisierung Italiens und die Abschaffung der Region Trentino-Südtirol eingereicht). Wenn die Bildung der Europaregion Tirol nicht das Konsensprinzip aller Gruppen respektieren und statt dessen einer einseitigen politischen Option der Mehrheitsgruppen den Vorrang geben sollte, bestünde das Risiko ethnischer Konflikte mit unvorhersehbaren Wirkungen.

Wenn man die These der weichen Selbstbestimmung jedoch weiter verfolgt, stellt sich die Frage nach der Rolle der Europaregion Tirol. Wäre sie eine Rückkehr zur Vergangenheit über die Wiederherstellung einer gemeinsamen Tiroler Identität, die 1918-1919 verlorengegangen ist und zu einer Südtiroler Identität als Resultat einer multikulturellen Verflechtung der drei Sprachgruppen in Südtirol (Deutsch, Italienisch, Ladinisch) geführt hat? Das Risiko der Schaffung einer abgeschotteten Insel der regionalen Egoismen besteht so wie die Gefahr, daß die Euregio eine Überwindung des Autonomiestatuts bedeutet, also des konstitutionellen Paktes zur Regelung des ethnischen Konfliktes.

In einem Europa, das eine nicht einfache politische Integration vor sich hat, werden Trentino-Südtirol und Tirol ein entscheidendes Element des Konfliktes zwischen dem "echten" Regionalismus und dem ethnozentrischen Regionalismus. Alternativ zur Europaregion könnte sich ein "Patriotismus des Statuts" entwickeln, der sich auf die Loyalität gegenüber der Autonomie gründet, die den Unterschiedlichkeiten volle Legitimität zugesteht. Ein ziviler Patriotismus, der auf dem Stolz einer multikulturellen Grenzgemeinschaft basiert, die es geschafft hat, mit den Verfassungsnormen des Autonomiestatuts eine beispielhafte Lösung des ethnischen Konfliktes zu erarbeiten, eine Autonomie die man nicht als Vorstufe zur Selbstbestimmung verstehen darf, sondern als Instrument zur Konfliktlösung zwischen Mehrheitsgruppen und Minderheiten, ohne daß es auf eine Abspaltung hinausläuft.

Der Disput zwischen dem europäischen Regionalismus der ersten Phase und neuen regionalistischen Grenznationalismen, der Druck, der von einem obsessiven Appell an die Identität ausgeht, der auch weitergeführt wird, obwohl keine Assimilationsgefahren mehr bestehen, setzt sich in einen Konflikt zwischen Zusammenleben und Sezession um.

Fußnoten im Heft

Übersetzung aus dem Italienischen:
Petra Potz

Zum Thema ist soeben auch ein Buch des Autors erschienen:
"Oltre il confine", Verlag: Il Mulino,
Bologna