Bestandssicherung der Atomkraft oder Ausstieg?

Energiepolitische Bewertung der Vereinbarung zum Konsens mit den Atomkonzernen<R>

Hartwig Berger

"Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den vier größten deutschen Energieversorgungsunternehmen (zur Kernenergie)" ist nicht akzeptabel. Sie stellt eine Regelung zur staatlichen Absicherung des weiteren Betriebs von Atomkraftwerken dar, kein Ausstiegskonzept, das diesen Namen verdiente. Sie macht in der Sicherheitsfrage sehr weit gehende Zugeständnisse an die AKW-Betreiber und gesteht in der Gestaltung der Atompolitik den Stromkonzernen weit reichende Rechte zu. Das wirft die Frage auf, ob denn diese Konzerne oder demokratisch gewählte Institutionen dieses Land regieren. Eine Unterzeichnung der "Vereinbarung" würde auch nur scheinbar den viel beschworenen Konsens in der Atomfrage begründen; vielmehr ist durch verschiedene Regelungen und auslegbare Formulierungen im Vertrag die Möglichkeit eines Dauerstreits zwischen Regierung und Atomkonzernen vorprogrammiert. Letztere können die "Drohung", den Konsens aufzukündigen, als ständiges Erpressungsmittel nutzen, um weitere Konzessionen zu erreichen.

Laufzeiten

Durch verschiedene Rechentricks liegen die Restlaufzeiten deutlich über den von der zwischen SPD und Grünen abgesprochenen Maximalzeit von 30 Jahren, sie sind auch klar höher als die offiziell vereinbarten 32 Jahre. Zeitlich hätte die Atomkraftnutzung in Deutschland gerade ihren Zenit erreicht: Etwa so viel Strom wie bisher (gut 2500 Terawattstunden) dürfen demnach ab 2000 noch durch AKWs in Deutschland produziert werden (noch 2623 Terawattstunden). Hier von "Restlaufzeiten" oder von "beginnendem Ausstieg" zu sprechen, ist eine sachlich nicht begründbare Beschönigung.

Als Berechnungsgrundlage noch zulässiger Strommengen gelten die fünf ertragsreichsten Jahre, die ein Kraftwerk jeweils in den Jahren 1990-1999 aufzuweisen hatte. Darauf haben die EVU deshalb bestanden, weil die Liberalisierung des EU-Strommarkts ihnen in den letzten Jahren einen Zuwachs beschert hat, den sie als Bonus in die Zukunft nehmen möchten. Die Anrechnung einer virtuellen Laufzeit des abgeschalteten AKWs Mühlheim-Kärlich von 11 Jahren (plus oben angesprochenem Bonus) sichert den vier AKWs von RWE weitere Laufzeiten. Unverständlich ist, weshalb sich die Staatsseite zu einem Effizienz-Zuschlag von 5,5 Prozent bereit gefunden hat. Heißt dieses, dass die deutschen AKWs ihre Kapazität noch ausbauen dürfen? Oder heißt es, dass sie auf Kosten der Sicherheit weiter ausgeknautscht werden können? Oder was? (Siehe die Tabellen 1 und 2.)

Auch macht die Regierung in der viel zitierten Flexibilität der Laufzeiten unverständliche Konzessionen. Zwar soll die Strommenge grundsätzlich nur von älteren auf neuere Anlagen übertragen werden, ältere Anlagen sollen also möglichst eher abgeschaltet werden. Diese Regelung verlängert jedoch die Atomkraftnutzung insgesamt. Wenn ältere Anlagen früher vom Netz gehen, bleiben neuere länger in Betrieb. Dabei ist immer zu bedenken, dass die Abnutzungserscheinungen durch den starken radioaktiven Beschuss (Materialermüdung, Versprödung) mit dem Alter zunehmen und nicht vorhersehbare Gefahren, bis hin zum Super-Gau, erhöhen.

Außerdem gilt im Vertrag die Übertragung "von Alt auf Neu" nicht, wenn Neuanlagen vorzeitig stillgelegt werden. Im Klartext: Wenn aufgrund eines schweren Atomunfalls ein AKW vorzeitig vom Netz muss, darf seine Reststrommenge in jedem Fall von anderen Anlagen übernommen werden. Schwere Störfälle in dieser hochriskanten Technologie schaden nicht dem weiteren Betrieb, sie werden durch längere Laufzeit anderer Atomanlagen sogar belohnt.

Sicherheit und "Diskriminierung" der Atomenergie

"Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard (in AKWs) und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern."

Diese Selbstfesselung einer gewählten und dem Grundgesetz verpflichteten Regierung ist eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Vernünftigerweise wäre Bundestagsabgeordneten zu empfehlen, gegen sie vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Der Schutz von Leben und Gesundheit ist ein überragendes Grundrecht in unserer Gesellschaft. Wenn es neue Erkenntnisse oder unerwartete Ereignisse gibt, muss daher eine verantwortlich denkende Regierung die Sicherheitsanforderungen verschärfen. Schon das Ansinnen von Konzernen, ein bestimmtes Sicherheitsniveau dauerhaft festzuschreiben, muss als Anmaßung zurückgewiesen werden. Es ist nun Bestandteil des Konsenses.

Jürgen Trittin und Rainer Baake erklärten, dass zu den Sicherheitsstandards deren Fortschreibung in Recht und Gesetz gehört. Man kann das nur halb erleichtert zur Kenntnis nehmen; denn es drängt sich die Frage auf, warum unterlassen wurde, das im Konsens ausdrücklich so festzuhalten. Die Atomkonzerne werden das aus gutem Grund nicht gewollt haben. Sie werden sich im Konfliktfall auf den leider eindeutigen Wortlaut berufen und mit einer Kündigungsdrohung der Vereinbarung Druck machen.

"Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für das Steuerrecht."

Mit dieser Generalklausel wird den Atomkonzernen ein Druckmittel gegen unliebsame Staatsmaßnahmen generell in die Hand gegeben. Die Besteuerung von Kernbrennstoffen – noch von Grün in Karlsruhe beschlossen – wäre dahin; so ziemlich sämtliche Verbesserungen im Strahlenschutz, soweit Atomanlagen betreffend, würden am Veto der AKW-Betreiber scheitern; es würde höllischen Druck geben, um die Genehmigung von Castor-Transporten zu beschleunigen; gegen alle energiepolitischen Schritte, die die Wettbewerbsfähgikeit der AKWs schwächen, können die Konzerne mit dieser Generalklausel vorgehen.

Kontrolle der Regierungsarbeit durch die Atomkonzerne

Zur Umsetzung der Atomvereinbarung soll eine "hochrangige Arbeitsgruppe aus drei Vertretern der beteiligten Unternehmen und drei Vertretern der Bundesregierung"> eingesetzt werden;  zur Durchführung der Transporte "richten Bundesregierung, Länder und EVUs gemeinsam eine ständige Arbeitsgruppe ein", die "auch mit den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zusammenarbeitet"; über die Novellierung des Atomgesetzes " wird auf der Grundlage des Kabinettsentwurfs vor der Kabinettsbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten."

Die Atomkonzerne erhalten also weit reichende Möglichkeiten, Regierungstätigkeit und hoheitliche Aufgaben zu beeinflussen. Wieder drängt sich die Frage auf: Wer regiert in diesem Land? Sollen die Atomkonzerne Mitsprache erhalten, wie und wie schnell Castor-Transporte genehmigt werden, wie Polizeieinsätze gegen zu erwartende Demonstrationen und Blockaden vorbereitet werden? Will "die Regierung" (welcher Minister? der Kanzler?) einen Gesetzentwurf mit der Industrie förmlich beraten, bevor dieser im Kabinett gewesen ist? Müssen wir nicht damit rechnen, dass die einzusetzende Monitoring-Gruppe auch in Verordnungen und Beschlüsse, die irgendwie mit der Atomfrage zusammenhängen, hineinregiert?

Mit diesen Schattengremien hätte sich die Atomwirtschaft Kontrollrechte auf die Regierungstätigkeit gesichert. Wenn die Dinge günstig verlaufen, wird das zu einem ätzenden Dauerstreit zwischen Bundesregierung und den Konzernen um Einzelfragen führen. Wenn es ungünstig verläuft, wird die Regierung in Vor- und Hinterzimmern ständig Rückzieher machen, in der Furcht, der Konsens könne aufgekündigt werden.

Diese "Vereinbarungen" sind nicht nur fragwürdig für eine demokratisch gewählte und dem Volk verantwortliche Regierung, sie sind auch brüchig und unter einer (hoffentlich) nicht willfährigen Regierung auf Scheitern angelegt. Im Ergebnis hätte die Bundesregierung weit reichende Konzessionen an die Atomkonzerne gemacht; diese wiederum können jeden Anlass nutzen, den feierlichen "Konsens" aufzukündigen und gegen jede Betriebsschließung doch mit Entschädigungsforderungen vorzugehen.

Entsorgung

Der vierte dunkle Punkt der Vereinbarung sind Regelungen zur Entsorgung. Schacht Konrad wird – übrigens auch gegen das Votum der Karlsruher BDK – als Endlager akzeptiert, nur der Vollzug der Genehmigung soll – unklar: mit welcher Frist – ausgesetzt werden. Gorleben wird als mögliches Endlager nicht aufgegeben, allerdings wird ein Moratorium von 3 bis 10 Jahren vereinbart. Entgegen früheren Vereinbarungen soll aber die 1998 im Atomgesetz verankerte "Veränderungssperre" in Gorleben weiter gelten. Sie untersagt dem Eigentümer, dem Grafen Bernstorff, irgendwelche Aktivitäten zur konventionellen Nutzung des unterirdischen Salzstocke zu entfalten.

Resümee

Unter dem Strich muss die "Konsens-Vereinbarung" negativ beurteilt werden. Sie bleibt hinter den meisten Minimalforderungen grüner Politik in Regierungsverantwortung deutlich zurück. Sie verpflichtet die Bundesregierung zu weit reichenden Konzessionen, bindet die Atomkonzerne jedoch letztlich nicht. Sie wird in einer kritischen Öffentlichkeit dieses Landes mit guten Gründen eher als weitere Absicherung der Atomwirtschaft, denn als Ausstiegspolitik aufgenommen. Nicht einmal die Abschaltung mehrerer AKWs noch in der Legislaturperiode ist mit ihr zu erwarten; ausdrücklich wird ein Bestandsrecht des nuklearen Methusalems – Obrigheim – bis zum 31.12.02 festgeschrieben, in der kommenden Legislaturperiode ist also nur eine Abschaltung von Obrigheim und von Stade zu erwarten.

Tabelle 1

Unter Absehung vom internen Strommengen-Handel kommt man auf folgende "Rest"Laufzeiten der deutschen AKWs. Die Rechnung in Tabelle 1 unterstellt eine realistische Kapazitätsauslastung von 80 Prozent. Wenn ein AKW stärker genutzt wird, verkürzen sich die Laufzeiten, wird es weniger genutzt, verlängern sie sich entsprechend.

Das AKW MülheimKärlich wird den 4 RWE-Anlagen zugeschlagen.

Beim Handel mit Strommengen zwischen den Kraftwerken verändern sich die Enddaten entsprechend, ohne die gesamtlaufzeit aller AKWs zu verändern.

AKW bisherige Laufzeit

in Jahren

Kapazität in Megawatt zugelassene Strommenge ab 01.01.00

in TeraWatt-

stunden

zulässige Laufzeit

in Jahren

Datum der vorgesehenen Stillegung ohne Stromhandel
Obrigheim 31 340 8,70 34 2003
Stade 28 64o 23,18 33,1 . 2005
Biblis A 25 1167 62,00 32,6 2007
Neckarwest-

heim I

24 785 57,35 34,4 2010
Biblis B 24 1240 81,46 36,4 (+ M/K) 2012
Brunsbüttel 24 771 47,67 32,8 2008
Isar 1 22 870 81,46 34,8 2012
Unterweser 21 1285 117,98 34,1 2013
Philippsburg. 1 21 890 87,14 35,0 2014
Grafen-

Rheinfeld

18 1275 150,03 34,9 2017
Krümmel 16 1260 158,22 34 2018
Gund-remmingen B 16 1284 160,92 36,9(+M/K) 2020
Philippsburg 2 15 1358 198,61 35,9 2020
Grohnde 15 1360 200,90 36,1 2021
Gund

remmingen C

15 1288 168,35 36,7(+M/K) 2021
Brokdorf 13 1370 217,88 35,7 2o22
Isar 2 12 1400 231,21 35,6 2023
Emsland 12 1290 230,07 40,8(+M/K) 2028
Neckar-

Westheim 2

11 1269 236,04 37,5 2026
           
           

 

Tabelle 2

Die folgende Tabelle wurde von Rudi Amannsberger, Mitarbeiter der bayerischen Landtagsfraktion erstellt. Sie rechnet die Abschaltungsfristen, indem sie von der bisherigen durchschnittlichen Stromerzeugung der einzelnen AKWs ausgeht.

Mülheim/Kärlich müsste hier pro AKW mit einem 3/4 Jahr dazugerechnet werden.

AKW-Laufzeiten nach der getroffenen Vereinbarung
               

AKW

 

Reststrommenge ab 01.01.2000

Jahresdurchschnitts-

Restlaufzeit

Erstkritikalität

Abschaltung

Gesamt-

   

(GWh netto)

produktion (GWh)

   

(sofern keine Strom-

laufzeit

     

seit 1.Synchronisat.

   

menge übertragen wird)

 
               

Obrigheim

 

8700

2305

3,8

Sep 68

2003

35

Stade

 

23180

4531

5,1

Jan 72

2005

33

Biblis A

 

62000

6634

9,3

Jul 74

2009

35

Neckarwestheim 1

 

57350

5436

10,6

Mai 76

2010

34

Biblis B

 

81460

7024

11,6

Mär 76

2011

35

Brunsbüttel

 

47670

2499

19,1

Jun 76

2019

43

Isar 1

 

78350

5502

14,2

Nov 77

2014

37

Unterweser

 

117980

8610

13,7

Sep 78

2013

35

Philippsburg 1

 

87140

5527

15,8

Mär 79

2015

36

Grafenrheinfeld

 

150030

9165

16,4

Dez 81

2016

35

Krümmel

 

158220

8107

19,5

Sep 83

2019

36

Gundremmingen B

 

160920

8461

19,0

Mär 84

2019

35

Philippsburg 2

 

198610

10067

19,7

Dez 84

2019

35

Grohnde

 

200900

10351

19,4

Sep 84

2019

35

Gundremmingen C

 

168350

8299

20,3

Okt 84

2020

36

Brokdorf

 

217880

9850

22,1

Okt 86

2022

36

Isar 2

 

231210

9943

23,3

Jan 88

2023

35

Emsland

 

230070

10391

22,1

Apr 88

2022

34

Neckarwestheim 2

 

236040

10063

23,5

Dez 88

2023

35

Summe

 

2516060

142764

17,6

     

Mülheim-Kärlich

 

107250

633

     

0,75 /AKW

Gesamtsumme

 

2623310

143397

18,3

   

36,27