Wohin führt die Forderung
nach einer militärischen Interventionspflicht
gegen Völkermord?

Ein offener Brief an die Mitglieder von Bündnis 90 / Die Grünen


Kerstin Müler, Claudia Roth, Jürgen Trittin, Ludger Vollmer

Liebe Freundinnen und Freunde,
vor einiger Zeit hat Joschka Fischer in einem Brief zum Bosnienkrieg ein militärisches Eingreifen gefordert, mit dem Ihr Euch ausführlich befaßt habt. Zu den Konsequenzen seiner Forderung hatte sich der Autor nicht geäußert. Trotz vielfacher Nachfragen ist es uns damals nicht gelungen zu erfahren, wer eine solche Operation unternehmen sollte, mit welchen militärischen Mitteln, wie denn der Gegner zu definieren sei, welches militärische Ziel erreicht werden solle und wie dies eingebunden sei in politische Zielsetzungen. Es wurde vorab weder die Eskalationsgefahr kalkuliert, noch eine Prognose abgegeben, ob ein Militärschlag überhaupt erfolgreich sein würde. Denen, die Krisenintervention forderten, haben wir daraufhin vorgehalten, daß sie auch Kriseninterventionskräfte befürworten müß- ten, taugliche Angriffswaffen und ihre Produktion und die entsprechende Militärdoktrin. Joschka hat bei der Länderratssitzung in Berlin einräumen müssen, daß die Abgrenzung der grünen InterventionsbefürworterInnen zur Militärpolitik von Volker Rühe schwierig sei.

Wir schreiben diesen Brief nun, weil Joschka auf dem Bonner Perspektiven-Kongreß, statt die Abgrenzung zu Rühe zu klären, in öffentlicher Rede und mit programmatischem Geltungsanspruch einen bemerkenswerten Schritt weiter gegangen ist. Er hat nicht nur die Interventionsforderung für Bosnien verteidigt, sondern eine allgemeine Interventionspflicht der UNO bei Völkermord gefordert. Da diese Formel für die Bundesversammlung in Bremen eine Rolle spielen wird, als Einfallstor für eine praktisch umfassende Befürwortung von Kampfeinsätzen, möchten wir vorab eine Klärung dazu in den Diskussionen der Kreisverbände anregen. Wir setzen uns deshalb in diesem Brief in Form von Rückfragen kritisch mit dem neuen Vorstoß auseinander.

Die neue Formel zielt direkt auf Emotionalisierung. Wer kann schon etwas dagegen sagen, daß Völkermord verhindert werden müsse. Durch die neue erweiterte Forderung aber wurde der Abgrenzungsfrage zu Rühe ausgewichen. Statt dessen sind eine ganze Reihe neuer Fragen an diese außenpolitische Konzeption und ihre Einbettung in eine grüne Gesamtstrategie aufgeworfen, so daß wir es für wünschenswert und nötig halten, daß er möglichst bald eindeutig dazu Stellung nimmt.

Nach internationalem und deutschem Recht begeht Völkermord (nach Greifelds, Rechtswörterbuch),
"wer in der Absicht, eine nationale, rassische oder religiöse oder Volkstumsgruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich Mitglieder der Gruppe tötet, ihnen schweren körperlichen oder seelischen Schaden zufügt, sie durch Maßnahmen zur Beschränkung der Lebensbedingungen (Ernährung, Gesundheitsfürsorge) oder Geburtenkontrolle (Sterilisation u. dgl.) der physischen Vernichtung aussetzt oder ihre Kinder in eine andere Gruppe überführt."

Wenn jemand aus dieser begrüßenswert weiten Definition die Pflicht der UNO zur militärischen Intervention ableitet, in wie viele Kriege wird er sich gleichzeitig verwickeln? Die aktuellen circa 40 regionalen Kriege der Welt werden nicht nach dem sogenannten humanitären Kriegsvölkerrecht der Haager Kriegskonvention geführt. Auf sie trifft meistens der Völkermordbegriff zu, was Josef Joffe, einen liberal- konservativen und Bundeswehreinsätze prinzipiell begrüßenden Leitartikler der Süddeutschen Zeitung am 4.10.95 zu dem Kommentar veranlaßte:
"Dabei gilt das Gebot der intellektuellen Ehrlichkeit auch für jene, die nur unter der Flagge der Moral in den Krieg zu ziehen wünschen. Der Grünen-Fraktionschef Fischer hat zum Beispiel eine ,Interventionspflicht` angesichts der ,Gefahr des Völkermordes` konstruiert. Wenn dem so wäre, müßte sich die Bundeswehr um ihre Daseinsberechtigung nicht mehr sorgen. Ethnisch-religiöse Kriege sind zur Routine geworden: Sudan, Somalia, Ruanda, Kaschmir, Bosnien. In diesen Kriegen gilt nicht der Ehrenkodex des 18. Jahrhunderts, sondern die Regel: Morde so viele - Frauen, Kinder, Alte - wie es geht, und vertreibe den Rest."

Man kann, wie Teile der Öffentlichkeit es tun, aus Joschkas Position einen weltweiten Kampfauftrag der Bundeswehr herauslesen, ein Ansatz, den wir nicht einmal Rühe anlasten würden. Wenn das nicht beabsichtigt war, dann müßte er zumindest einen eingegrenzten Begriff von Völkermord vorschlagen und international durchsetzen. Damit aber würde verhindert, daß manch grausamer Krieg unter das historisch und völkerrechtlich wichtige, wenn auch nicht mit einer automatischen Konsequenz versehene Verdikt des Völkermordes gestellt wird.

Zudem: Wie soll Völkermord so frühzeitig festgestellt werden, daß ein militärisches Eingreifen, was einen operativen Vorlauf braucht, rechtzeitig möglich ist? In der Regel werden Völkermorde im nachhinein als solche festgestellt. Kann es in den internationalen Beziehungen einen Verfolgungszwang geben? Wer ist der Staatsanwalt? Welche Instanz soll feststellen, daß ein kriegerisches Ereignis als Völkermord zu werten ist? Die Grünen sind es mit Sicherheit nicht. Kann es die UNO-Vollversammlung sein - mit wie überzeugenden Mehrheiten? Faktisch werden es die sein, die auch den Sicherheitsrat dominieren, die führenden Mächte in NATO, Westeuropa und G 7. Soll es auf dieser Grundlage einen Interventionsmechanismus geben, der automatisch in Gang gesetzt wird?

Joschka kritisiert die antimilitaristische Haltung - zu Unrecht - damit, daß sie weltfremd sei und höchstens langfristig wirksame Utopien entwickele, statt konkrete Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen. Wer dies tut, muß das Kriterium der Realitätstüchtigkeit aber auch an sein eigenes Konzept anlegen lassen. Er darf nun nicht seinerseits seine Forderung nach einer Interventionspflicht der UNO von deren Reform abhängig machen, die so schnell nicht kommen wird. Er muß - dem eigenen Anspruch folgend - sagen, wie Intervention denn hier und heute angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse, Machtkonstellationen und Methoden möglich ist. Er muß die Frage beantworten, wer denn mit welchen Mitteln intervenieren soll? Führende NATO- Staaten haben bis zur Zahlungsverweigerung an die UNO alles getan, damit diese Organisation keine eigenen Erzwingungsmittel erhält. Faktisch ist deshalb nur die NATO als Interventionskraft handlungsfähig, vielleicht im politisch hoch belasteten Zusammenspiel mit GUS-Staaten-Armeen. Heißt die vage Vorstellung von der Interventionspflicht der UNO nun praktisch, daß, weil andere Verbände nicht zur Verfügung stehen, es letztlich die NATO ist, die im UNO- Auftrag weltweit intervenieren muß? Und wie soll verhindert werden, daß sich das Weisungsverhältnis praktisch umdreht und die NATO, deren Führungseliten weitgehend identisch mit denen der G-7-Staaten und des Sicherheitsrates sind, den ,westlichen" Eigeninteressen folgend, der UNO eine bestimmte Sicht der Dinge aufzwingt und diese zur Legitimationsinstanz der NATO degradiert?

Faktisch steuert die internationale Politik auf eine neue Blockkonfrontation zu - mit allen Folgen. Schlüsselfunktion hat dabei die NATO, die sich über angeblich humanitäre Aufträge neue Legitimation verschafft, mit ihrer Politik und ihren Absichten aber weit darüber hinaus geht. Wer jetzt die NATO, die sich als weltweite Schutzmacht aufzuspielen beginnt, über ihre angeblich humanitäre neue Funktion legitimiert, muß darlegen, wie er sich denn internationale Abrüstung und die Verminderung von Rüstungsproduktion - und -export vorstellt. Wie eine neue Blocklogik verhindert werden soll. Wie man sich eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaft vorstellen kann als Antwort auf die ungeregelte und chaotische Globalisierung, die die Dritte Welt tiefer ins Elend stürzt und den Aufstieg von Schwellenländern zum Vorwand der Bundesregierung für Deregulierung, Lohndrükkerei und Sozialabbau macht. Steht die subtile Befürwortung der NATO, die hinter der - Interventionsforderung steht, im Zusammenhang mit dem weltwirtschaftlichen Selbstbehauptungsinteresse Westeuropas und Deutschlands, wie es Joschka in seinem von der Presse sogenannten Wirtschaftspapier beschreibt?

Was bleibt angesichts der realen Entscheidungsmechanismen überhaupt von einem moralisierenden Interventionsansatz übrig? Die Führungsmacht von NATO, G 7 und Sicherheitsrat hat für den Hausgebrauch ihre eigenen höchst realen Kriterien für einen Militärschlag entwickelt: Er muß trotz Haushaltsdefizits finanzierbar sein, die anderen Westpartner müssen mitmachen, der Sieg muß sicher und die ganze Operation muß mehrheitsfähig sein, sprich die Wiederwahlchancen des Präsidenten erhöhen. Dieser Pragmatismus steht in bemerkenswertem Gegensatz zum Moralismus grüner InterventionistInnen. (Einen ähnlichen Rat zum "Pragmatismus" gibt Joffe der Bundesregierung.) Sollen Grüne den USA statt dessen raten, das Trauma des verlorenen Vietnamkriegs, das immer noch wirksam ist, zu verdrängen und zurückzukehren zur Doktrin des ehemaligen Präsidenten Woodrow Wilson? Der forderte zu Beginn des Jahrhunderts, die USA müßten überall auf der Welt ohne Rücksicht auf pragmatische Überlegungen die Werte des freien Westens und die Menschenrechte durchkämpfen. Er forderte damals in seiner Doktrin, die bis heute eine ideologische Grundlage der US- amerikanischen Außenpolitik ist:
"Wir sind auf keinen Wettbewerb im Handel und ebensowenig auf eine andere friedliche Errungenschaft eifersüchtig. Wir wollen unser eigenes Leben nach unserem Willen leben, wir wollen aber auch andere leben lassen. Wir sind die aufrichtigen Freunde aller Völker der Welt, weil wir niemanden bedrohen, niemandes Besitz begehren und niemanden vernichten wollen."

Das klingt nach grüner Selbstbeschränkung. Doch dieser Humanismus ist mit einem Staat verknüpft, der nur durch den Völkermord an den nordamerikanischen Indianern hatte entstehen können. Mehr noch: Wie die heutigen grünen InterventionsfreundInnen leitet Wilson aus dieser Haltung eine weltweite Verpflichtung ab:
",Wir bestehen auf Sicherheit in der Verfolgung unserer selbstgewählten Richtlinien staatlicher Entwicklung. Wir tun mehr als das: Wir fordern sie auch für andere. Wir beschränken unsere Begeisterung für persönliche Freiheit und eine freie staatliche Entwicklung nicht auf Zufälligkeiten und die Bewegungen der Geschehnisse, die uns selbst berühren. Wir empfinden sie vielmehr überall da, wo ein Volk auf diesen schwierigen Pfaden der Unabhängigkeit und des Rechts zu wandeln sucht."

Wenn sich diese Sätze auf den ersten Blick auch harmlos ausnehmen, so bildeten sie faktisch die Begründung für einen weltweiten amerikanischen Interventionismus, wie Henry Kissinger in seinem Kommentar dazu ausführt:
"Fortan hatte Amerika eine Art Freibrief, sich im Ausland einzumischen. Welch ungewöhnlicher Einfall, aus der Warnung ... vor Einflußnahme im Ausland eine Rechtfertigung weltweiter Interventionen abzuleiten! Welch Paradox, eine Neutralitätsphilosophie zu ersinnen, die eine Verwicklung in Kriege unabwendbar machte!"

Und welch verblüffende Ähnlichkeit mit den Denkfiguren der heutigen grünen InterventionsfreundInnen.

Spätere Präsidenten wiesen diese "Kreuzzugs"-Mentalität (Kissinger) zwar zurück, bedienten sich bei der Verfolgung des nationalen Interesses aber fleißig der Wilsonschen Menschenrechtsrhetorik, um ihre eigentlichen Absichten zu verschleiern. Das begann bei der Uminterpretation der Monroe-Doktrin, die gegen die imperialistischen Interessen der westeuropäischen Staaten ein besonderes Interesse der jungen USA am lateinamerikanischen Raum formuliert hatte. Nachdem Roosevelt sie bereits als Folie zur Politik der Einflußsphärensicherung genommen hatte, wurde das Ganze noch mit Wilsons Idealen überwölbt, um so die amerikanischen Interventionen seit den zwanziger Jahren bis zum Militärputsch in Chile, der Invasion auf Grenada, dem Überfall auf Panama und der Blockade von Kuba zu legitimieren. Es ging weiter im Vietnamkrieg, wo angeblich der freie Westen verteidigt wurde und endete bisher beim Wüstenkrieg am Golf. Immer ging es angeblich um Menschen- und Freiheitsrechte. Uns interessiert die Frage, wie denn verhindert werden kann, daß ein grüner, auch militärisch ausgerichteter Menschenrechtsfundamentalismus als Mäntelchen für andere, reale Interessen genutzt wird.

Zudem: Wie soll ein Kampfeinsatz im grünen Sinne praktisch aussehen? Joschka hat die kritischen Anfragen an seine Interventionsforderung für Bosnien damit gekontert, daß er eine Interventionspflicht auch für Ruanda verlangt hat.

In Ruanda sind zwei tief verfeindete Ethnien bis zum äußersten entschlossen, sich gegenseitig abzuschlachten. Doch was als Völkermord erscheint, ist letztlich auch eine soziale Auseinandersetzung, die nach jahrhundertelangem Kolonialismus jetzt aufbricht. Ohne eine Stärkung der Organisation für afrikanische Einheit (OAU), verbunden mit einer wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie, wird in Afrika Konfliktschlichtung nicht möglich sein. Wie soll denn praktisch eine Intervention in Ruanda aussehen? Was nährt den Optimismus, daß ein Kampfeinsatz im zentralen Afrika erfolgreicher verlaufen wäre als die böse Vorstellung in Somalia?

Die Interventions-BefürworterInnen wollen aber nicht nur in Ruanda einmarschieren lassen, sondern fordern eine umfassende Verpflichtung der UNO. Die gilt also auch für weitere völkermörderische Kriege.

In Somalia gab es Hunderttausende von Hungertoten, für die Stammesfehden mitverantwortlich sind. Die UNO hat nicht zuletzt aus finanziellen Gründen eine echte Peace-keeping-Aktion durch das OAU-Mitglied Eritrea ein Jahr vor dem bekannten Einsatz verweigert. Wie hätte denn in Somalia statt des gescheiterten Einsatzes eine effektive militärische UNO- Intervention aussehen müssen? Oder war das kein Völkermord, da nicht absichtlich geplant?

In der Nachbarschaft Somalias, im Südsudan, setzt der arabisch-islamische Norden alles daran, die schwarzen Ethnien animistischen Glaubens physisch zu vernichten, ein ethnisch- rassistisches Ziel, das schon die arabischen Sklavenjäger vor gut 200 Jahren verfolgten. Innenpolitisch ist dies bereits ein Thema. Welche Truppen sollen nun aber an den oberen Nil geschickt werden, um dem Morden ein Ende zu machen?

In Kurdistan wird ein Volk seiner Lebensgrundlagen beraubt. Türkisches Militär zerstörte Tausende kurdischer Dörfer, ermordete zehntausend Menschen und vertrieb Hunderttausende. Gibt es dort die militärische Interventionspflicht der UNO über das Flugverbot auf irakischer Seite hinaus? Soll die NATO dies als Auftragnehmerin leisten, auch gegen den NATO-Partner Türkei?

In Osttimor, zugegeben einem kleinen Fleckchen im Pazifik, haben indonesische Regierungstruppen vor Jahren eine ehemalige portugiesische Kolonie militärisch okkupiert, als sie in die Unabhängigkeit entlassen wurde, haben die Einwohner vertrieben, ermordet oder versuchen ihre kulturelle Tradition zu vernichten. Die Besetzung dauert an. Ist auch dies ein Anlaß für eine UNO-Militärintervention oder ist das zu weit weg für uns, obwohl es wegen der portugiesischen Komponente sogar Thema der EU sein müßte?

In Brasilien gibt es einen Vernichtungskampf von Wirtschaftsverbänden und -banden gegen die Urbevölkerung im Amazonasgebiet. Wenn dies aber Völkermord ist, und davon gehen alle Beobachter aus, und nicht eine innere Angelegenheit Brasiliens, wie stellt man sich eine NATO-Expedition am Amazonas vor?

Im Bürgerkrieg von Afghanistan wird immer wieder die Grenze zum Völkermord überschritten. Die Belagerung von Kabul erinnert in vielem an die von Sarajewo. Dürfen wir da nicht so genau hinschauen, weil wir einst die Kriegsparteien gegen die russische Invasion unterstützt hatten oder ist dies gar ein hinnehmbares Gemetzel? Soll die UNO intervenieren, die NATO hinschicken oder wäre es diesmal besser, die Russen einmarschieren zu lassen - oder beide?

Wie halten wir es mit Tibet? Sollen wir den Begriff des Völkermordes dafür ablehnen, weil wir uns nicht mit China anlegen wollen, oder kämpfen wir die Menschenrechte militärisch gegen die atomare Großmacht durch? Oder müssen wir nicht einräumen, daß dies zwar Völkermord ist, der Begriff allein aber keinen automatischen Mechanismus von Intervention nach sich ziehen kann?

Wer der Formel der Interventionspflicht bei Völkermord folgt, müßte in all diese Konflikte rigoros und konsequent eingreifen, wenn er sich nicht mitschuldig am Morden machen will. Wenn aber pragmatisch gesagt wird, wir greifen nur dort ein, wo wir - ähnlich den amerikanischen Kriterien - gewisse Erfolgschancen sehen, dann sollte man die Moral nicht zum Maßstab aller Dinge machen. Welche Größenordnung muß denn ein Völkermord haben, daß die UNO / NATO eingreifen soll?

Tatsache ist: Gegen kleine Verbrecher ist Intervention nicht nötig, gegen große nicht möglich. Aber selbst in mittleren Konfliktlagen gibt es absolut keine Garantie für einen militärischen Sieg. Wir fragen deshalb: Wieweit soll das militärische Eskalationspotential getrieben werden, um bei anhaltender Stärke des Verbrechers siegreich zu sein? Und wie will man in dem Moment, wo die Bereitschaft zum nächsten Eskalationsschritt nicht besteht, sich gegen denselben Vorwurf erwehren, der gegen die Antiinterventionisten erhoben wird, nämlich daß man angeblich tatenlos dem Morden zuschaut?

Es ist schlechterdings nicht bestreitbar, daß eine Intervention auch einmal erfolgreich sein kann. Rechtfertigt diese Ausnahme aber die Vorratshaltung all der Militärapparate, die für eine Krisenintervention unabdingbar sind? Die gesamte politische Krisenstrategie wird im Wissen um die Ultima ratio dann doch wieder regelmäßig die nichtmilitärischen Mittel übergehen, die viel Geld kosten, während das Militär schon bezahlt ist.

BefürworterInnen von Intervention, militärischer Friedenserzwingung und Kampfeinsätzen werden sich nicht darauf beschränken können zu sagen, vermittelt über die internationale Rechtsinstanz der UNO definiert die Politik den Völkermord und gibt den Einsatzbefehl, das Militärische hätten die Militärs zu beurteilen, das sei nicht Sache der Politik. Mit einer solchen Haltung werden sie sogar auf den massiven Widerstand zahlreicher aufgeklärter Militärs treffen, die zu Recht sagen, daß die Politik es sich sehr leicht mache, wenn sie vor schwer lösbaren Problemen kapituliert und die "Lösung" den Militärs zuschiebt.

Eine solche Politik drückt sich vor der Eskalationsfrage, die der Militärwissenschaftler und Oberst a. D. Karl Harms im freitag vom 13.10.95 so beschreibt:
"In Deutschland bröckelt indes die Front konsequenter Interventionsgegner, besonders während des Strategiekongresses der Grünen in Bad Godesberg war das zu erkennen. Die Machbarkeit einer Intervention wird kaum ernsthaft in Zweifel gestellt. Offenbar zweifelt man nicht an den entsprechenden Fähigkeiten des Militärs." Nach einer Analyse des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und militärischen Bedingungsgefüges verschiedener Konflikte und Interventionen kommt er zu den Aussagen:
"Eine Interventionsstreit macht kann bei langandauernden bürgerkriegs ähnlichen Auseinanrdersetzungen (und als solche analysiert er fast alle aktuellen Konflikte) in eine Vielzahl von Gefechten verwickelt werden. Früher oder später erfolgt die Anpassung an die Logik eines archaischen Partisanenkrieges mit all seiner Brutalität und Hinterhältigkeit. Das schließt Aktionen gegen die Zivilbevölkerung ein, zu Lasten von Moral und Motivation einer Eingreiftruppe - aus Eliteeinheiten wird eine gnadenlose Soldateska. Die hehren Ziele einer Mission im Auftrag der UNO mögen in den Medien noch so oft kolportiert werden, sie müssen nicht in den Hirnen und Herzen der beteiligten Soldaten wurzeln. Kurzum: ein ,sauberer Krieg` - hart, aber ehrenhaft - ist unter den geschilderten Bedingungen kaum zu haben. Nach ersten Mißerfolgen können Militärs zu einem massierten Einsatz der Kräfte und Mittel nach dem Prinzip der Feuerwalze oder des Flächenbombardements neigen. Ein konzentrierter Einsatz von Fliegerkräften, Artillerie und Panzern erfolgt dann zumeist nicht in der offenen Feldschlacht, sondern gegen Dörfer, Siedlungen und Städte, die ja im Bürgerkrieg zwangsläufig mit zu den Hauptoperationsbasen der einheimischen Parteien gehören. ... Die Angst, das Gesicht zu verlieren, zwingt zu einer mehrfachen Wiederholung dieser Handlungsabläufe und zwar so lange, bis die Erkenntnis reift, daß der begonnene Militäreinsatz unter den vorgegebenen politischen und geostrategischen Rahmenbedingungen nicht zu gewinnen ist - es folgt die Entscheidung zum Rückzug."

Wie fragwürdig die Forderung nach einer Militärintervention ist, zeigt auch der Ausgangspunkt dieser Debatte, das Massaker von Srebrenica. Dies wird als Grund für die notwendige politische Wende angeführt. Joschka übersieht in seiner Analyse, daß die Schutzzonen von Beginn an nicht als militärische Verteidigungsräume konzipiert waren. Der ehemalige deutsche Botschafter in Jugoslawien, Horst Grabert, schreibt dazu im freitag vom 27.10.95:
"Am 2. Februar 1993 legte Boutros-Ghali dem Sicherheitsrat den Vance-Owen-Plan für Bosnien vor. Clinton hatte gerade das Präsidentenamt übernommen und beeilte sich, diesen Plan zu torpedieren. Gegen den Rat des UN- Generalsekretärs setzten die USA mit der Resolution Nr. 824 noch im gleichen Jahr die Ausdehnung des in Kroatien erfolgreichen Konzepts der Sicherheitszonen für andere schutzbedürftige Städte durch, um im ganzen Land Frieden und Stabilität zu gewährleisten und sofort in den Städten Sarajevo, Tuzla, Zepa, Gorazde, Bihac sowie Srebrenica zu erreichen. Die für dieses Konzept notwendige Zahl an Blauhelmen wurde allerdings nicht bewilligt. Soviel wollte man denn doch nicht anlegen. Der Vance-Owen-Plan aber war damit vom Tisch."

Grund für den amerikanischen Strategiewechsel war nach Grabert nur der innenpolitische Umstand, daß Clinton im Wahlkampf den von Bush favorisierten Vance-Owen-Plan angefeindet hatte, nun eine Alternative brauchte und diese wegen innenpolitischer Mißerfolge als außenpolitische Glanzleistung seinem Konto für die Wiederwahl gutbuchen wollte.

In den Diskussionen über Joschkas Brief wurde bereits angemerkt, daß seine Analyse genau zu dem Zeitpunkt abbricht, wo der Westen schnelle Eingreiftruppen zum Schutz der Blauhelme entsandte. Damals hatten viele Beobachter prophezeit, daß dies einen Abzug statt einer Verstärkung von Blauhelmen aus den ostbosnischen Schutzzonen Srebrenica und Zepa und damit deren Fall bedeuten würde, da die wenigen Blauhelme nur Schutz finden könnten, wenn sie sich aus aussichtslosen Positionen in stärkere Stellungen zurückzögen. Gemunkelt wurde damals auch viel über das gleichzeitig stattfindende Treffen der angeblichen Feinde Tudjman und Milosevic. Wir erlebten dann fast zeitgleich den Fall der ostbosnischen Schutzzonen, ohne daß jemand den Serben entgegengetreten wäre und den von amerikanischen Ausbildern mit vorbereiteten Angriff Kroatiens auf die Krajina, ohne daß die Serben organisierte Gegenwehr geleistet hätten. Sollte es hier einen von den mächtigsten Konfliktparteien ausgehandelten, mit den Amerikanern abgestimmten Gebietsaustausch gegeben haben? Das Gemetzel in der Schutzzone durch die Mördermilizen des Belgrad- (!), nicht Pale-Serben Arkan wäre dann zwar ebenso verabscheuungswürdig, im Prinzip aber eine Folge eines verabredeten Kalküls zu Lasten der bosnischen Muslime gewesen. Wenn diese Spekulation Wahrheitsgehalt hätte, dann hätte es gar keine Adressaten für einen grünen Wunsch nach Intervention gegeben, weil die Hauptakteure ein anderes Spiel spielten.

Wir sollten Indizien und Spekulationen nicht als Wahrheit ausgeben. Aber interessant ist in diesem Zusammenhang eine Meldung der FAZ vom 13.10.95. Sie beruft sich auf einen taz- Artikel, der behauptet, daß die USA ihre Kenntnis von Massenmorden an der Bevölkerung von Srebrenica verschwiegen hätten. Während die taz diese Meldung so gestylt hat, daß daraus nachträglich noch einmal die moralische Verpflichtung zu einer Intervention folgen könnte, kann man aus den weiteren Informationen aber auch ganz andere Schlüsse ziehen. Denn die Eroberung von Srebrenica soll von Belgrad unter dem Oberbefehl des serbischen Generalstabschefs Pericic gesteuert worden sein. Von den Plänen, von den Absprachen mit dem bosnisch-serbischen General Mladic und vom Aufmarsch entsprechender Panzer- und Artillerieeinheiten sollen die USA mindestens drei Wochen vorher durch Abhören des Funkverkehrs und durch detaillierte Luftaufnahmen ziemlich genaue Kenntnis gehabt haben, ohne aber der UNO oder den NATO-Partnern davon zu berichten.

Bedeuten diese Informationen, daß Groß- mächte, die unter dem Begriff der Intervention für Menschenrechte in den Konflikt gezogen sind, den Krieg dadurch zu beenden versuchten, daß sie die Herstellung "ethnisch reiner Gebiete" tolerierten? Die Süddeutsche Zeitung meldete mit Bezug auf die taz am 20.10.95, daß entgegen früheren Annahmen auch der Bundesnachrichtendienst vorab von der serbischen Offensive auf die Schutzzonen informiert war. Ist dies die Quelle, die einzelnen Bonner Journalisten ermöglichte, den möglichen Fall Srebrenicas eine Woche vorher anzudeuten? Und überlegen wir: Welche Chance hätte der Holbrooke-Plan, der auf der Basis eines Teilungsplans für Bosnien den Waffenstillstand herbeiführte, gehabt, wenn nicht die Krajina- und die Enklavenfrage so "geregelt" worden wäre wie geschehen?

Auch diese Überlegungen werden uns nicht dazu verleiten, nun eine harte Behauptung aufzustellen. Denn auch dies wird nur ein Teil der Wahrheit sein. Um so unverständlicher empfinden wir aber die Sicherheit, mit der Joschka meint, Srebrenica zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Wende grüner Friedenspolitik und der Anpassung an die herrschende Außenpolitik bestimmen zu können. Wahrscheinlich werden wir die Wahrheit über den Fall erst aus späteren Enthüllungsgeschichten erfahren - wenn überhaupt.

Zur Zeit gibt es die öffentliche Auseinandersetzung darüber, ob die traditionelle Politik es schafft, den Antimilitaristen ein Ja zum Militär abzuzwingen oder ob die aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Kräfte stark genug sind, die historisch einmalige Chance für eine umfassende Abrüstung und Zivilisierung der internationalen Politik im Gespräch zu halten. Wer, wenn nicht wir, Bündnis 90/Die Grünen, kann und muß denn eigentlich in der offiziellen Politik noch die antimilitaristische und pazifistische Denktradition aufrechterhalten und in Handlungsoptionen umsetzen? Friedensforschung und institutionalisierte Friedensbewegung hätten keinen Ansprechpartner mehr, wenn nun auch wir der traditionellen Militärpolitik die Legitimation zusprechen würden.

Auf dem Perspektiv-Kongreß hat Joschka bei der Erläuterung seiner Position unsere Beschlußlage mit falschen Begriffen wie "Austritt aus der NATO" beschrieben. Damit wird er zum Kronzeugen der konservativen Politik. Während die inhaltliche Debatte trotz aller Differenzen ansonsten sehr sachlich war, ist dies ein echtes Ärgernis. Denn nachdem Joschka diese Chimäre aufgebaut hatte, zerschlug er nicht nur sie selber, sondern auch unsere gesamte differenzierte Politik. Wir wollen, daß die ehemaligen feindlichen Militärblöcke unter dem gemeinsamen Dach einer kooperativen Sicherheitsstruktur zusammengeführt und die Militärapparate schrittweise aufgelöst werden. Die OSZE sollte den politischen Rahmen bilden, mit den nötigen Kompetenzen und Mitteln zur frühzeitigen Konflikterkennung und -schlichtung und mit harten, aber nichtmilitärischen Erzwingungsmitteln für den Fall der Kooperationsverweigerung ausgestattet werden. Wir sind uns nur nicht sicher, ob Joschka unsere eigentliche Politik nicht kennt oder nicht will. Der Unterschied des Interventions-Diskurses zum Mainstream der Außenpolitik in CDU, SPD und FDP wird immer undeutlicher. Eine gründliche Kurskorrektur, um mit der SPD koalitionsfähig zu werden, halten wir nicht für notwendig. Wir befürchten aber, daß die vage und allgemeine Forderung nach militärischen Interventionspflichten die militärische Kategorie zu einer ganz normalen Kategorie grüner Politik macht, wenn die aufgeworfenen Fragen nicht in einer Art und Weise beantwortet werden, daß der praktische Unterschied zur konservativen Politik deutlich wird.

Ganz problematisch aber wird es, wenn auf dem Perspektiv-Kongreß vor breiter Öffentlichkeit erklärt wird, daß eine wie geartete Beschlußfassung auf dem Bremer Parteitag auf jeden Fall nur ein Zwischenschritt sei, der im weiteren Prozeß in die Richtung größeren militärischen Engagements zu überwinden sei. Damit werden innerparteiliche Übereinkünfte aufgekündigt. Es ist in der Tat nicht sehr schwierig, sich irgendwo zwischen der grünen Programmauffassung und dem gesellschaftlichen Mainstream zu positionieren und zu prophezeien, daß der allgemeine Anpassungsdruck die Partei schon "in die richtige Richtung" treiben wird. Unserer Meinung nach ist es dagegen angebracht, die authentischen grünen Positionen gegen den Anpassungsdruck des Mainstreams offensiv zu vertreten. Dies heißt nicht Beharrung auf überholten Standpunkten, sondern erfordert die ständige Weiterqualifizierung des eigenen Ansatzes. Wir sehen aber einen entscheidenden Unterschied zwischen einer programmatischen Fortentwicklung, die auf Verbesserung zielt, und einer Programmrevision, die die Umkehrung grundsätzlicher Wertentscheidungen vielleicht nicht beabsichtigt, aber zwangsläufig zur Folge hat.

Wir bitten die AnhängerInnen der Interventionspflicht herzlich, möglichst bald nachvollziehbar zu klären, wohin für sie die Reise geht. Wir selbst sind mit anderen dabei, für die Bremer Bundesversammlung einen Antrag zu entwickeln, der dem Ziel der Programmverbesserung auf der Grundlage der alten Aussagen folgt.

Bonn, den 31. Oktober 1995


Zurück zur Hauptseite der Dokumentation / Zurück zur Kommune Willkommen-Seite

Kommune / Webmaster

Kommune Dezember 1995