Wie Phönix aus der Asche ist
im Finanzcrash der Staat wieder da: Bis weit in die wirtschaftsnahe Publizistik
wird die neoliberale Richtschnur der Selbstregulierung der Märkte als
gescheitert, ja desaströs verworfen. Die Publizistik in keynesianischer oder
linker Tradition kann sich bestätigt fühlen in ihrer skeptischen Grundhaltung.
Man hört, der
Neoliberalismus habe unsere Gesellschaft ökologisch und sozial destabilisiert –
man könnte meinen, sie sei stabil gewesen. Man hört, die Krise werde sich erst
noch zuspitzen – man könnte meinen, dass wir nur abzuwarten bräuchten. Man
hört, der Staat müsse gezielt den Umbau in Richtung ökologischen Wirtschaftens
fördern oder auch, der Staat müsse den Absatz der Autoindustrie als der deutschen
Schlüsselindustrie fördern – man könnte meinen, dass nur das Ruder des
steuernden Staates ergriffen und herumgeworfen werden müsse. Politische Traditionen
mit ihren typischen Reaktionsmustern lassen sich ebenso ablesen wie traditionelle
Begriffskonstellationen. Quer durch die Beiträge in der Debatte zieht sich allerdings
der Eindruck, dass es in der heutigen Krise des Neoliberalismus um das »Ganze«
gehe, das in einem historischen Einschnitt in Frage stehe. Auch wenn die einzelnen
Debattenstränge gemäß ihrer politischen Tradition meist unverbunden bleiben, so
eint sie zumindest dieses Bewusstsein einer grundlegenden Krise. Genau weil es
ums Ganze geht, ist die sorgfältige Klärung unseres Denkens, das sorgfältige
Abwägen politischer Projekte über die Grenzen politischer Traditionen hinweg
unverzichtbar.
Das Begriffsfeld, mit dem
gesellschaftliche Bewahrung und Veränderung gefasst wird, ist jedoch heftig
umkämpft. Vielleicht hilft der Versuch einer »naiven« Annäherung. Diderot und
andere Aufklärer zum Beispiel liebten es, ihre kritischen Überlegungen in
Erzählungen über fiktive »persische« Fürstentümer zu klären; wir tun vielleicht
in unserer global vernetzten Welt gut daran, zu versuchen »das Ganze«, um das
es gehen soll, am Beispiel realer afrikanischer Staaten, sagen wir Kenias,(1)
zu betrachten. Diese Sichtweise ist befremdend genug.
Rotich ist ein typisches Beispiel für eine
Grundhaltung vieler Kenianer, alle
Chancen für eine Verbesserung der sozialen Lage zu suchen und sie entschlossen
zu nutzen: als Straßenhändler, mit Straßenküchen, als Handwerker, als
Transporter mit Fahrrad, Dreirad, Taxi oder Kleinbus, aber auch als
Spitzensportler oder Wissenschaftler. Der gelernte Wildhüter lässt seine
Familie in Nairobi zurück. Er hat sich Geld zusammengeliehen und damit Flug und
Visum für Dubai gekauft. Dort arbeitet er mit Menschen aus aller Herren Länder
in einer Hotelküche. Viel Freizeit hat er nicht, allerdings sieht er so gut aus
wie noch nie: Er hat zugenommen und trainiert im hoteleigenen Fitnesscenter.
Seiner Frau und den Kindern schickt er so viel Geld, dass deren Lebenshaltung,
insbesondere der Schulbesuch der Kinder, gesichert ist. Sie machen sich
Hoffnungen auf den Besuch einer weiterführenden Schule, die beim landesweiten
Ranking besonders gut abgeschnitten hat. Denn Bildung wird in Kenia hoch geschätzt
als Einstieg in ein chancenreicheres Leben. Und auch den Rest der Familie kann
er unterstützen, so dass die eine vielleicht ein kleines Geschäft aufmachen
oder der andere eine Krankheit behandeln lassen kann.
Alle hängen allerdings an
diesem Job: Das bedeutet, daran, wie viele Touristen Dubai besuchen, noch mehr
jedoch, wie viele Ingenieure an einem der vielen Bauvorhaben beteiligt sind,
letztlich also, wie die Öl- und Zinseinnahmen in Dubai sich entwickeln – und ob
der Emir von Dubai weiter an seiner Vorstellung von Modernisierung festhält,
einer sehr spezifischen Entwicklungsstrategie im globalisierten Netzwerk der
Finanzindustrie (Saskia Sassen). Rotich ist wie die
Touristen und die Ingenieure ein Nutznießer, in gewissem Sinn ein Verbündeter
einer seit den 1980er-Jahren entwickelten Globalisierung, die immer mehr von
der transnational verankerten Vorherrschaft bestimmter Finanzgruppen geprägt
wurde. Man kann ihn bewundern oder bemitleiden, seine Chancen auf Dauer
diskutieren – man muss jedoch die Fragerichtung umkehren: Kann er mit seiner
Sorge für die Familie deren Leben, vielleicht auch das der kleinen und großen
Gemeinschaften um sie herum, ein Stück sicherer machen? Steckt in seinem
Verhalten ein Stück Utopie für Kenia? Kann sein Schritt ein Beitrag zu einer
neuen gesellschaftlichen Logik in Kenia sein?
Saskia Sassens
Buch Das Paradox des Nationalen(2)
ist vor der gegenwärtigen Krise erschienen und analysiert genau diese
unterschiedlichen Ebenen der Globalisierung. Sie strukturiert eine Fülle
eigener und fremder Untersuchungen aus unterschiedlichen Wissenschaften zur
heutigen Staatlichkeit gemäß ihrem Forschungsinteresse. Dabei verwendet sie
Methoden und Kategorien, die von vornherein klar machen, dass sie ihre
theoretische Aufgabe in die Perspektive einer grundlegenden Umgestaltung
unserer Gesellschaft einordnet. Schwerpunktmäßig analysiert sie den Umschwung
in den ökonomischen und staatlichen Strukturen, der zu der gegenwärtigen Phase
des finanzdominierten Kapitalismus führt. Dabei arbeitet sie jedoch mit einem
überhistorischen Analyseraster, nämlich den Komponenten Territorium, Autorität
und Rechte, deren historisch unterschiedliche Assemblage
in spezifischen Organisationslogiken sie untersucht. Immer wieder geht sie
anhand von exemplarischen Problemen zurück zum Übergang
Mittelalter-Kapitalismus, um methodisch analog den Übergang vom national
organisierten Bretton-Woods-Kapitalismus zum globalisierten
Finanzkapitalismus zu analysieren. Dabei entfaltet sie ihre Grundthese, wie
Gesellschaften sich entwickeln: Der Übergang von einer Gesellschaftsform zu
einer neuen ist nicht als Bruch zu verstehen, sondern als die Etablierung einer
neuen Organisationslogik der zentralen Bestandteile einer Gesellschaft.
Bestimmte Institutionen, Verfahrensweisen, Diskurse der mittelalterlichen
Gesellschaft werden in sich unverändert wesentlicher Teil der völlig neuen
Gesamtlogik der Industrialisierung. Entsprechend sieht sie heute Institutionen,
die möglicherweise Teil der neuen Logik einer postkapitalistischen Gesellschaft
werden könnten.
Ihre politische Kernthese:
Der klassische Nationalstaat ist einerseits einer der Hauptakteure der
Globalisierung seit den Achtzigerjahren, er schafft sich zur Bewältigung seiner
Aufgaben internationale und transnationale Gremien, hat also nicht grundsätzlich
an Bedeutung verloren. Seine aktive Rolle in der Globalisierung ist jedoch mit
seinem Umbau verbunden: Die Exekutive gewinnt trotz aller national unterschiedlichen
Traditionen überall an Macht gegenüber der Legislative. Dies geschieht in der
strategischen Neuausrichtung des Staates zusammen mit neuen herrschenden kapitalistischen
Gruppierungen, bei denen das Finanzsystem mit einer Flut von spekulativen, aggressiven
Innovationen hegemonial ist. In der konkreten Form der Globalisierung sieht sie
jedoch Tendenzen entstehen, die die Bindung der Bürger an den Nationalstaat
lockern. In den vielfältigen, von nationalen Exekutiven eingerichteten Gremien,
die dem Handel und den Börsen Rahmen geben, ökologische oder Arbeitsnormen
vereinheitlichen, sich mit der weltweiten Umsetzung der allgemeinen
Menschenrechte beschäftigen und andere transnationale Vereinheitlichungen anstreben,
entstehe ein soziales Milieu der herrschenden Klassen, das von anderen
Gesichtspunkten als nationalstaatlichen geprägt werde. Dieser Sachverhalt ist
historisch vielleicht weniger neu als eine ähnliche Tendenz in den beherrschten
Klassen: Auch internationale Menschenrechts- oder ökologische Organisationen
schaffen – auf das Internet gestützt – transnationale Netzwerke, lokale
Organisationen erreichen auf diesem Weg weltweit Öffentlichkeit. Diese
Tendenzen einer neuen transnationalen Form der Demokratie sieht sie als
mögliche Bausteine einer neuen nachkapitalistischen Logik – über deren Inhalte
oder Ziele sie allerdings nicht spricht.
Kehren wir zu Rotich
zurück: Er nutzt Wohlstands- und Kaufkraftgefälle – vielleicht intuitiv – genauso systematisch wie die
Akteure der Finanzindustrie, die auf fallende Währungskurse, steigende
Ölpreise, fallende oder steigende Indices für irgendetwas setzten und damit von
Anfang an ganze Volkswirtschaften destabilisierten. Die Spekulanten hatten
allerdings auch andere Optionen, sie hätten zum Beispiel in die Realwirtschaft
gehen können und dort mit tendenziell geringeren Gewinnspannen zufrieden sein
können; sie hätten Stiftungen gründen können und so ihre Gewinne in die
Realwirtschaft zurückführen können. Menschen wie Rotich
leben als Profiteure in der Peripherie der neuen transnationalen Milieus – ohne
attraktive Alternativen. Auch die Struktur der über das Internet vernetzten
internationalen Öffentlichkeit ist ähnlich asymmetrisch: Über die deutsche
Öffentlichkeit kann von Organisationen in Asien oder Afrika gegebenenfalls
Druck auf deutsche Unternehmen oder Politik gemacht werden, aber nicht umgekehrt.
Die Grundsituation des
Handelns der Erfolgreichen unter den Machtlosen bleibt immer gekennzeichnet
dadurch, dass sie von einer ökonomischen und politischen Struktur der ständig
erweiterten Konkurrenz profitieren, über deren Existenz und Alternativen sie
nur schwer diskutieren können. Damit haben wir im Umkehrschluss eine erste
grobe inhaltliche Annäherung an eine neue gesellschaftliche Organisationslogik:
Menschen müssen in ihren Gemeinschaften über die grundsätzliche Ausrichtung
ihrer Gesellschaft in der Perspektive der Sicherung der Lebensgrundlagen diskutieren
und entscheiden können und brauchen dafür die entsprechenden politischen und
rechtlichen Institutionen.(3) Es fällt uns leicht zu sehen, dass die
Bedingungen für Alternativen jedenfalls in den afrikanischen Staaten, die als failing states
bezeichnet werden, nicht gegeben sind. Offensichtlich braucht es für die
Bewältigung der Unsicherheit eine in gesellschaftliche Regeln eingebettete
Marktwirtschaft und eine Sicherheit schaffende Staatlichkeit.
Das Grundgefühl der
Hilflosigkeit angesichts eines gesellschaftlichen Desasters, in dem vielleicht
noch persönliche Spielräume, aber keine gesellschaftlichen Chancen mehr zu
erkennen sind, ist allerdings gerade in Deutschland nicht neu. Das, was als
Finanzkrise bezeichnet wird, wird in den global führenden Gesellschaften
vielleicht nicht mehr bewirken, als ein Blitz über einer nächtlichen Landschaft:
für alle sehbar gemacht zu haben, dass auch die Grundlage unseres Lebens
strukturell gefährdet ist – prinzipiell genauso wie in den afrikanischen
Ländern, die wir in der Globalisierung zum Inbegriff des politischen Unvermögens,
ja des Versagens bei der Bewältigung von existentieller Unsicherheit gemacht
haben. Daraus könnte sich dann die Frage ergeben, was in den traditionellen
Kernländern des Kapitalismus trotz stabiler Marktwirtschaften und
funktionierender Staatlichkeit fehlt: Wir sehen keine gesellschaftliche
Struktur, die es uns ermöglichen würde, im Hinblick auf gesellschaftliche
Risiken über die grundsätzliche Ausrichtung unserer Gesellschaft zu diskutieren
und zu entscheiden, ebenso fehlen uns die entsprechenden politischen und
rechtlichen Institutionen – auf den ersten Blick jedenfalls.
Sassen arbeitet die Dimension des ökonomischen
Risikos heraus, das der globalisierte
Finanzkapitalismus erzeugt hat: einerseits den Umfang der hochspekulativen
Geschäfte ohne jeden Bezug zu realwirtschaftlichen Größen, andererseits die Gestalt
dieser Finanzprodukte, die – von einer neuen Generation an den Universitäten
erfunden – so komplex sind, dass sie von vornherein mit der entsprechenden
Software an die Banken, Fondsgesellschaften und Finanzabteilungen der Industrieunternehmen
verkauft werden, weil sie niemandem erklärt werden können. Allein die Menge der
Transaktionen und ihre Geschwindigkeit hebelt alle Versuche der staatlichen
Außenkontrolle aus, weshalb die beteiligten Unternehmen nur zu einem internen
Risikomanagementsystem, wiederum per eingekaufter Software, verpflichtet werden
können, deren Verlässlichkeit wesentlich von ihren Modellannahmen abhängt.(4)
Erst nach dem Crash in den Kernländern des Finanzkapitalismus wird eine an sich
selbstverständliche Grundsatzkritik breit aufgenommen wie die, dass man Risiken
nicht nach ihrer Wahrscheinlichkeit bewerten dürfe, sondern danach, wie
schwerwiegend ihr Auftreten wäre. Und die Risiken, von denen man wisse, dass
sie schwerwiegende Folgen haben würden, müssten unbedingt vermieden werden.
Wenn ein Interview dieses Inhalts betitelt ist mit »Banker weg, wir brauchen
eine Revolution!«,(5) dann zeigt dies, dass diese Form
des Finanzkapitalismus vorherrschend ist, also Machtpositionen innehat – aber
nicht unumstritten ist. Und Sassens politische
Grundaussage erweist sich als richtig: Die Rede von der Globalisierung verdeckt
die Paradoxie des Nationalen, der transnationale Finanzkapitalismus ist auch
nationalstaatlich organisiert – und wird in seiner Krise nationalstaatlich
gestützt oder verändert.
Um das Ausmaß des Problems
klarzumachen, muss man die Verästelungen dieser ökonomischen, politischen und
kulturellen Vorherrschaft deutlich machen: Wenn sich die Vorstellung
durchgesetzt hat, Unternehmen müssten durchgehend hohe Gewinne für die Anteilseigner
liefern, die Direktionen der Konzerne deshalb nicht nur realwirtschaftlich,
sondern als Absicherung dieser Geschäfte auch finanzwirtschaftlich immer
stärker engagiert sind, wenn sich die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der
Finanzprodukte gehandhabt werden können, ständig erhöht, dann wird hervorragend
verdient und ohne jede Grenze ein immer größeres Rad gedreht. Die Orientierung
an einer ständig hohen Verzinsung hat aber keinen Stein auf dem anderen gelassen
im Bereich der Arbeitsintensivierung, der Entlassung ganzer Hierarchieebenen,
des »out-sourcing«, der Zerstörung »betrieblicher
Kulturen«, der Förderung des Niedriglohnsektors et cetera.
Und weiter: Dieses betriebliche Leitbild wurde, egal ob das sinnvoll war oder
nicht, auch auf die Bereitstellung öffentlicher Leistungen übertragen, ja prägt
im vollen Sinn das Bild vom Menschen und seiner Umwelt, von wissenschaftlichen
Diskursen bis hin zu dem, was man als Sozialisierungsziele von Kindergärten,
Schule und Hochschulen definiert.(6) Und in dieser Verbetriebswirtschaftlichung,
in der »Politik der Notwendigkeit« mit ihrer Orientierung an Kennziffern, Indices
und Output-Kontrolle vollzog sich eine »Entpolitisierung« der öffentlichen Debatte,
eine Stärkung von Institutionen der Beratung außerhalb des Staatsapparates im
engen Sinn, das Eingreifen von wirtschaftsnahen Stiftungen auf der politischen
Bühne und – am demonstrativsten – die Privatisierung von öffentlichen
Dienstleistungen, also ein Umbau der politischen Institutionen, der im Ergebnis
– wie Sassen herausarbeitet – eine Stärkung der Exekutive bewirkte.
Auf diesen Staat der
bürokratisch gesteuerten Anpassung an vorgebliche Notwendigkeiten, zum Beispiel
durch den existenziellen Druck der Sozialgesetzgebung, den Staat der
institutionalisierten Ziellosigkeit, der die Bürger wie die öffentlich Bediensteten
fit machen will für den Wettbewerb, der Sicherheit durch geheimdienstliche Kontrollmöglichkeiten
über alle anstrebt, der im Geflecht der europäischen Exekutiven strukturell auf
die Zuarbeit der Lobbyisten setzt, auf diesen Staat
kann man keine Hoffnungen setzen. Eine »Verstaatlichung« von Banksystem oder
Autoindustrie, vielleicht Zug um Zug für die staatlichen Beihilfen, führte erst
recht keinen Schritt weiter, wenn man versuchen möchte, über die grundsätzliche
Ausrichtung unserer Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden. In diesem
Sinn muss der Staat gegen gesellschaftliche Machtstrukturen verändert,
tatsächlich »erobert« werden.
Wenn der Staat so grundsätzlich kritisiert wird, dann ist eine der Denkmöglichkeiten, dass von
staatlichen Strukturen grundsätzlich nicht viel zu erwarten sei, oder positiv
gewendet, dass eine Lockerung der Fesselung der Bürger durch den Staat deren Eigeninitiative
freilasse. Diese Grundrichtung wurzelt in bestimmten liberalen und linken
Traditionen. Sie wird nach meinem Eindruck auch von Sassen vertreten. Selbst
wenn man eine abnehmende organisatorische Bedeutung des Nationalstaates akzeptieren
würde, sollte jedoch gerade dann klar sein, dass das heutige Verhalten und
heutige Einschätzungen nicht ohne die Vergangenheit verstehbar sind, in Europa
eben nicht ohne den Hintergrund der nationalstaatlichen Traditionen. Sassen
stellt in historischen Rückblenden die Kontingenz der europäischen Entwicklung
sehr informativ dar, von christlichen Quellen des Souveränitätsgedankens, den
national unterschiedlichen Verhältnissen von freien Städten und feudalem Land,
der national unterschiedlichen Weise der Formung der beherrschten Klasse bis
zur Herausbildung von Nationalstaaten auch über internationale Vereinbarungen.
Dies bedeutet insbesondere, dass die je nationalstaatliche Tradition von der
institutionellen Ausgestaltung bis hin zum alltäglichen Bewusstsein grundlegend
prägt – und zwar in Deutschland anders als in Frankreich, Großbritannien oder
den USA.
Dass die Kenianer diese
Traditionen nicht haben, sich also ohne diesen Ballast einer
nationalstaatlichen Tradition, allerdings mit dem der postkolonialen Tradition
demokratisieren, ermöglicht eben deswegen auch für uns produktive Fragen. Deren
allgegenwärtiges Streben nach sicheren Lebensgrundlagen ist überall
konfrontiert mit Vertretern der Staatsorgane, die ihre Position wiederum als
materielle Ressource einsetzen, in allen Behörden und auf allen Ebenen bis in
die Spitze des Staates, was teilweise die Beherrschten zu Nutznießern der
herrschenden Oligarchie macht. Mwai Kibaki löste den langjährigen »Präsidenten« Daniel Arap Moi mit dem Versprechen ab, etwas gegen die Korruption
zu unternehmen. In jeder Behörde hängt jetzt zwar an der Wand ein Täfelchen »Don’t give a pribe«
mit einer Handynummer für Beschwerden, wesentlich gewirkt hat dies aber nicht –
und Kibaki hat inzwischen seine Claims neben denen
von Moi abgesteckt.
Es ist alles andere als
naiv, dass der britisch-sudanesiche Unternehmer
Mohammed Ibrahim, der mit einem der beiden Handynetze in Kenia reich geworden
ist und es inzwischen an kuwaitische Investoren verkauft hat, mit seinem
Vermögen eine Stiftung gegründet hat, die denjenigen afrikanischen Staatschefs,
die ohne sich zu bereichern nach ihrer Amtszeit einfach wieder in ihr normales
Leben gehen, eine großzügige monatliche Unterstützung bezahlt: Der staatliche
Apparat ist faktisch ein Teil der grundsätzlichen Unsicherheit des Lebens und
kein Beitrag zur Lösung dieses Problems.
Die kenianischen Wahlen im
Dezember 2007 fanden statt, nachdem eine vom Staatspräsidenten 2006
vorgeschlagene Verfassungsreform, die seine formale wie inhaltliche Position
gestärkt hätte, nach einer breiten Diskussion in den Städten und Dörfern abgelehnt
worden war. Die Diskussion wurde als demokratischer Aufbruch mit riesigen
Hoffnungen empfunden, als Aufbruch insbesondere gegen die Korruption mit
Debatten über zentrale Probleme wie das des Eigentums an Land, das zum Beispiel
in den Slums zu riesigen Mieteinnahmen für die Eliten führt, oder das der
zunehmenden Wasserknappheit durch die Export-Monokulturen, Probleme also, von
deren Klärung in einem agrarisch geprägten Land die tägliche Sicherheit des
Lebens abhängt. Für Rechtsstaatlichkeit, gegen Willkür und Gewalt, für
Pressefreiheit als Grundbedingung der Möglichkeit, die Oligarchien zu
kontrollieren – Demokratisierung in Reinform, getragen vom Optimismus der
Theoretiker des 18. Jahrhunderts gewissermaßen, geeint allerdings durch Ziele,
die eine Verbesserung der Lebensverhältnisse versprechen.
Für diesen demokratischen
Prozess gibt es unabdingbare Voraussetzungen, der elementarste ist die Sprache
der Kommunikation. In Kenia sind dies Suaheli und Englisch als die
Schulsprachen, die alle Bürgerinnen und Bürger neben den Sprachen, die sie als
kleine Kinder in der Familie lernen, mehr oder weniger gut beherrschen. Eine
weitere unabdingbare Voraussetzung ist ein territorial abgegrenzter
institutioneller Rahmen der Gemeinschaft, die Bestimmung des Staatsgebiets
insbesondere. In Tansania, Uganda oder Somalia wurde eben nicht über die Verfassung
abgestimmt, auch wenn dort ebenfalls Luo-, Massai-, Kalenjin- oder
Suaheli-Traditionen wichtig sind. Anders formuliert: In der
Verfassungsdiskussion, in diesem Versuch der Eroberung des korrupten Staates,
schafften es die kenianischen Intellektuellen, das, was den Kenianern und
Kenianerinnen, den Bauern und Städtern, den Umweltschützern, Feministinnen,
Gewerkschaftern und so weiter an Fragen gemeinsam ist, in einem breiten
Diskussionsprozess zu artikulieren, nämlich die Hoffnung auf ein Leben, das
zukünftig sicherer wird, dadurch, dass die ungerechten Strukturen der
permanenten Schaffung von Unsicherheit angegangen werden. Das vielfach bewährte
Mittel, einen solchen Prozess der Eroberung gesellschaftlicher Machtpositionen
zu zerstören, ist die Spaltung, zum Beispiel die Guten wie die Bösen als Ethnie
zu definieren; im Zusammenhang mit den Staatspräsidenten-Wahlen im Dezember
2007 wurde es kalt eingesetzt ... Und ein halbes Jahr später konnte sich Mois
Familie (und noch mehr Vodafone) bei der
Privatisierung des zweiten, halbstaatlichen Handynetzes einen erheblichen
Anteil der Aktien sichern.
Das kenianische Beispiel macht deutlich, dass ein
Gemeinsames, das in der Diskussion
realisiert wird, in keiner Weise selbstverständlich ist – aber auch, dass es
nicht nur in den klassischen Nationalstaaten organisierbar ist. Und: Eine
Lockerung der Bindungen der Bürger an den Nationalstaat ist nicht an sich ein
Schritt zur neuen gesellschaftlichen Organisationslogik. Es braucht das
Gemeinsame und seine institutionelle Umsetzung, einen Staat in genau diesem
Sinn als Feld der neuen gesellschaftlichen Logik.
Dieses Gemeinsame erscheint
zunächst als schwammig oder beliebig, von Fall zu Fall unterschiedlich, also
nicht besonders hilfreich. Ohne Zweifel kann es in Kenia nur anders als in
Deutschland sein. Für seine allgemeine Kennzeichnung gibt es jedoch eine lange
Tradition, die eindeutig ist: In der philosophischen Diskussion ist mit der
Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit durch ein singuläres Ereignis
(wie die atomare Zerstörung, Günther Anders) oder als Struktur der Moderne (wie
die des archimedischen Selbstverständnisses der Moderne, Hannah Arendt) der
systematische Schlusspunkt hinter den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung
gesetzt. Diese prinzipielle, existenzielle, aus der Struktur dieser Gesellschaft
und ihrer Art des Wirtschaftens entstandene Verunsicherung kann nicht mehr
zurückgenommen werden. Die Umkehrung dieses Arguments zeigt jedoch die
allgemeine Bestimmung des Gemeinsamen, den Kern der Logik der neuen
Gesellschaft: Institutionelle Möglichkeiten zu schaffen zur Sicherung der Grundlagen
des Lebens, mit den Chancen, die der demokratische Diskurs bietet – aber
letztlich durch nichts gewährleistbar.(7)
Sassens Denkmodell dafür, wie das Neue im Alten entsteht,
ermöglicht uns dann zu sehen, dass die neue Logik schon auf dem Weg ist,
hegemonial zu werden: Die ökologische Bewegung hat klar gemacht, dass alles
Wirtschaften nur Sinn macht, wenn es sich dem Ziel der ökologischen
Nachhaltigkeit, letztlich als globale Aufgabe gedacht, unterordnet. Dieser grundsätzlich
neue Gedanke hat sich in kurzer Zeit global durchgesetzt, in vielen Netzwerken
viele Ideen hervorgebracht und Perspektiven geschaffen. Mit dem Programm der
Agenda 21 zum Beispiel ist er auch staatliche Politik – aber eben nicht
vorherrschend, staatliche Strukturen prägend. Diese Herrschaftsstrukturen
konnten im Finanzcrash gesehen werden, in dem deutlich wurde, dass das
Zerstörungspotenzial der unbeschränkten Konkurrenz-Logik nicht nur in ihren »Externalitäten«, in ihrer ökologischen und sozialen Umwelt
systemisch ist, sondern in ihrem eigensten Bereich (von Finanzindustrie über
Geldsystem und Autoindustrie zur Rezession…). Wenn Frank Schirrmacher im
Leitartikel »Was wird morgen sein?« (FAZ,
11.10.08) schreibt, der Neoliberalismus unserer Gesellschaft habe nach der
ökologischen Umwelt auch die soziale zerstört und dies sei eine »paradigmatische
Katastrophe«, dann ist dies ein Beitrag zu einer Selbstklärung unter deutschen
Intellektuellen, die zu einer breiten Diskussion der Fragen führen könnte, die
gemeinsame Fragen sind in dem Sinn, dass ihre Klärung unser zukünftiges Leben
sicherer und gerechter machen könnte. Und seine Bemerkung gibt zwei unverzichtbare
Inhaltsachsen dieser Debatte für die Diskussion an, die soziale und die ökologische
Achse.
Vielfach wird in diesem Sinn
von einer Wiederbelebung der »Sozialen Marktwirtschaft« und ihres
traditionellen Maßstabs des »Gemeinwohls« gesprochen. Dabei bleibt jedoch das
Problem der inhaltlichen Definition dessen, was unter »sozial« und »Gemeinwohl«
verstanden wird, ebenso unausgesprochen wie die Struktur der Umsetzung. Auch
für diejenigen, die, wie oben beschrieben, schon eine Ent-Staatlichung
als hinreichende Bedingung für die Entstehung des Neuen sehen, erübrigt sich
die Frage nach rechtlichen und institutionellen Veränderungen(8) – genauso wie
die daran anschließende Frage, ob die Möglichkeit einer neuen hegemonialen
Struktur der Staatlichkeit nicht einfach nur Wunschdenken sei.
Einer linken Tradition
zufolge kann man im Alten nach den Akteuren suchen, die das Neue zu vertreten
in der Lage sind, nach einem »revolutionärem Subjekt« in einer klassischen
Formulierung. Besonders bekannt ist der aktuelle Versuch von Michael Hardt und
Antonio Negri, die Multitude(9) als dieses
revolutionäre Subjekt zu sehen. Entgegen traditionellen linken Vorstellungen
halten sie dabei die Armen, nämlich die in den ärmsten Regionen der südlichen
Hemisphäre, die Afroamerikaner, die Migranten, die (zeitweise) Erwerbslosen mit
ihrem Wissen und ihrem Erfindungsreichtum für die gesellschaftliche Produktion
für zentral. Denn diese finde unter den heutigen Bedingungen ebenso innerhalb
wie außerhalb der Werkstore, Büros oder Ställe statt. Die gefährlichen Klassen,
also insbesondere die Armen, seien für den Widerstand paradigmatisch, dessen
Form die Vernetzung der Einzelnen sei.
Interessanterweise grenzen
auch Hardt und Negri nur Akteure für die
postkapitalistische Gesellschaft ab, ohne deren neue Logik zu thematisieren;
insbesondere ökologische Fragen spielen keine theoretische Rolle. Dies ist aber
auch nicht notwendig, weil die Autoren nach der Identifizierung des
revolutionären Subjekts und der Feststellung seiner Übermacht das Weitere
abwarten können. Um ein eher empirisches Argument gegen diesen Optimismus zu
nennen: Der gesellschaftliche Zusammenbruch ergibt unter den Armen der
afrikanischen failing states
nicht den wölfischen Kampf jedes gegen jeden, der den hobbesschen Leviathan zur
Befriedung bräuchte, ebenso nichts, was einem Automatismus zur neuen Logik des
Gemeinsamen ähnelte, sondern den mühsamen, zeitraubenden Versuch,
Überlebensstrukturen aufzubauen gegen die – allerdings globalen –
Machtverhältnisse. Eine neue Logik des Gemeinsamen kann natürlich auch im Slum
entstehen, und sie entsteht auch dort, aber dann wird diese neue Logik, die der
der grenzenlosen Konkurrenz entgegengesetzt ist, vorgeschlagen und konstruiert
– wie sich zum Beispiel in Kenia gezeigt hat.
Die Vorstellung, ein
revolutionäres Subjekt entstehe im Schoß der alten Gesellschaft, trägt ferner,
was wesentlicher ist, grundsätzlich die Gefahr in sich, das volle Gewicht der
Verantwortung derjenigen, die die neue Logik tragen, zu verdecken: Der historische
Optimismus des 18. Jahrhunderts, mit den geeigneten Institutionen das Glück auf
Erden erreichen zu können, hat ebenso seine historische Unschuld verloren wie
der Optimismus des 19. Jahrhunderts, jemand könne auf der Seite der Geschichte
stehen.
Die Entstehung eines »revolutionären Subjekts« kann man sich dagegen in mehrfacher Hinsicht nur als
eine »Revolutionierung der Gesellschaft« vorstellen, insbesondere, weil die
herrschende Logik viele Stützpunkte hat, zum Beispiel die gesellschaftliche
»Autokrankheit«. Ein zufällig gewähltes Symptom: Nach 40 Jahren ökologischer
Bewegung soll ein ganzer Wald von alten Buchen gefällt werden, damit Sportler ihren
Parkplatz direkt vor der Tür der Halle bekommen. Dass alle sich neue schadstoffarme
Autos kaufen sollten, wiederholt abgedroschene Antworten auf falsch gestellte
Fragen – die beherrschten Subjekte werden immer wieder neu zu Verbündeten der
hegemonialen industriellen Struktur. Die Frage, die die »revolutionäre Wende«
enthält: Wollen denn alle neue Autos oder wollen nicht viele, vielleicht Mehrheiten,
menschlichere Siedlungsstrukturen, kürzere Wege zur Arbeit und zum Einkauf,
flächendeckend ausgebaute, bequeme Systeme des öffentlichen Nahverkehrs? Diese
Frage und die Diskussion über ihre institutionelle Umsetzung stellt ein Gemeinsames
durch die Perspektive der Überlebensgrundlagen erst her: Wie kann der Lebensunterhalt
der Beschäftigten in der Autoindustrie gesichert werden? Durch den Ausbau des
öffentlichen Nahverkehrssystems? Wird dieses öffentliche Nahverkehrssystem
privatwirtschaftlich betrieben, vielleicht genossenschaftlich oder besser in öffentlicher
Hand? Damit verbunden: Woher kommen die Investitionssummen, die notwendig sind?
Mit welchem gesetzlichen Rahmen kann dieser Wandel marktwirtschaftlich
ablaufen? Welche Erschütterungen werden sich aus der politischen Konfrontation
mit der kulturell tief verankerten »Autokrankheit« ergeben? Lässt sich absehen,
in welchen neuen Kulturen dieser Konflikt münden könnte? Erfordert die Perspektive
eines grundlegenden Wandels für die Beschäftigten eine zusätzliche Absicherung,
vielleicht in Form eines voraussetzungslosen Grundeinkommens für alle? Welche
Maßnahmen können erreichen, dass die Anteilseigner unternehmerisch im Rahmen
der gesellschaftlichen Richtungsentscheidungen bleiben? Reicht dafür die
Debatte selbst, die klarer als jede Marktforschung Megatrends feststellt?
Braucht man darüber hinaus noch gesetzlich vorgegebene Anreizsysteme?
Vor allem aber: Wie lassen
sich unternehmerisches Handeln und dessen Entlohnung trennen vom Zwang zu immer
erweiterter Reproduktion? Braucht man in diesem Zusammenhang ein System der
sicheren Wertaufbewahrung ohne hohe Verzinsung? Wäre dies für staatliche
Anlagefonds aus den Ölländern oder China ebenso interessant wie für deutsche
Besitzerfamilien? Welche gesetzlichen Maßnahmen sind denkbar gegenüber den
Eigentümern, die sich aktiv gegen bestimmte grundlegende Vorgaben stemmen?
Welche Konsequenzen ergeben sich für die deutsche Exportstruktur? Will man sich
mit der Erwartung begnügen, dass mit umweltschonenden öffentlichen
Verkehrssystemen auf dem Weltmarkt ebenso Gewinne gemacht werden können? Oder
sind auch auf der inter- und transnationalen Ebene neue Rahmenwerke notwendig,
die internationalen Wettbewerb mit der Perspektive der Wertaufbewahrung
ermöglichen statt der des Zwangs zu immer erweiterter Reproduktion des
Gesamtvolumens, die mit dem Kampf um Anteile (für China, Indien, aber auch Kenia)
verbunden ist? Dieser Fragenkomplex bedarf der intensiven Diskussion und mittelfristig
der Bündelung in konkreten politischen Entscheidungsfragen.
Die Perspektive, um die sich das »revolutionäre
Subjekt« gruppiert, ist jedenfalls
in keiner Weise zufällig oder beliebig, sondern strukturell vorgegeben und eindeutig.
Es ist nichts als der Bezug auf die neue gesellschaftliche Organisationslogik,
deren Grundaussage klar ist: »Revolutionäre Subjekte« sind die, die angesichts
der historisch neuen, strukturellen und existenziellen Gefährdung des Lebens
durch unser Gesellschaftssystem die Möglichkeit der gesellschaftlichen
Zielsetzung des Wirtschaftens in demokratischer Diskussion und in
institutionalisierter Entscheidung anstreben. Gerade weil es keine
Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Neuen aus dem Alten gibt, ist seine
Begründung aus dem elementaren gemeinsamen Interesse der Sicherung der
Lebensmöglichkeit und seine Fokussierung auf die Herstellung des entsprechenden
institutionellen Rahmens unabdingbar. Die objektive Aufgabe verbindet die
Vertreter des Neuen, keine sonstige objektive Struktur. Dass man diese Aufgabe
dem alten Staat in Kooperation mit einer vermachteten
Wirtschaft nicht überlassen kann, ist offensichtlich. Erst recht, wenn dieser
versuchen wollte, die Wirtschaft zu kommandieren.
Genauso offensichtlich ist,
dass das »revolutionäre Subjekt« strukturell nicht denkbar ist, ohne dass sich
konservative, liberale, sozialistische, kirchliche und ökologische
Diskussionsstränge zusammenfügen. Die 2008 erschienene Studie des
Wuppertal-Instituts über ein Zukunftsfähiges Deutschland in einer
globalisierten Welt verweist in einer Fülle von handfesten Detailanalysen
immer wieder auf die Illusion des gesellschaftlich hegemonialen Denkens, das
ständig erweitertes Wachstum für wünschbar und machbar hält. Ebenso weisen die
Autoren auf eine Fülle konkreter Alternativen hin. Die Studie kann genauso wie
ihre Vorgängerin von 1996 als ein Manifest dieses »revolutionären Subjekts«
gelesen werden. Ihre politische Umsetzung braucht unabdingbar ein
gesellschaftliches Netzwerk, allerdings eben auch eine intensive Diskussion um
neue staatliche Strukturen, weil es um verbindliche, regional spezifizierte,
revidierbare, juristisch überprüfbare Entscheidungen gehen muss. In diesem
Prozess kann sich die Logik des Gemeinsamen gegenüber der des unendlichen
Wettbewerbs durchsetzen und die Gesellschaft revolutionieren.
Dieser
Text ist JeMa-PaJa gewidmet.
1
Dass man
als Deutscher die Möglichkeit hat überall hin zu reisen, in jede Ecke jeder
Wildnis mit zuverlässigen Reiseführern, lässt die fremde, beunruhigende und verunsichernde
Situation vergessen. Schon in den Diskursen der »Globalisierung« schwingt
zentral der Aspekt der Tendenz der realen Einebnung aller Unterschiede mit. Die
Art, wie »Globalisierung« gesehen wird, verführt also zur systematischen
Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, andere Länder und ihre Kulturen zu
verstehen. Allerdings nehmen wir auch die »feinen Unterschiede« in unserer
deutschen Kultur nicht unbedingt wahr.
2
Saskia
Sassen: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im
globalen Zeitalter. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Gramm, Frankfurt am
Main, (Suhrkamp Verlag) 2008 (Orig. 2006).
3
Hier geht
es um gesellschaftlich erzeugte Unsicherheit, in Kenia zum Beispiel um akuten
Wassermangel aufgrund der Rodung für die Exportfarmen und wegen deren hohem
Wasserverbrauch, oder weil für Slum-Hütten Miete an die Grundbesitzer bezahlt
werden muss und so weiter. Zwei Schlaglichter auf den deutschen Teil der Welt
derer, die der hegemonialen Logik ausgeliefert und deshalb darauf angewiesen
sind, alle Chancen, seien sie auch noch so unsicher, zu nutzen: Im Baugewerbe
hängen Arbeitsplätze im Handwerk nicht nur von Aufträgen ab, sondern auch
davon, ob die Auftraggeber vertragsgemäß zahlen. Die öffentlichen Auftraggeber
zum Beispiel fragen europaweit nach, um den Wettbewerb jedes gegen jeden zu
fördern und weil sie im Standortwettbewerb immer weniger einnehmen. Die
Anbieter nutzen dann, um günstige Angebote machen zu können, häufig ein System
von Subunternehmern. Dies ist die gesellschaftliche Organisationslogik, in der
ein Fliesenleger, der die attraktive Verfliesung an den Außenmauern der
Hackeschen Höfe in Berlin verlegte, niemals bezahlt wurde und keinerlei
Lebensperspektiven mehr für sich sah – während anderswo ein Landschaftsgärtner einen
Auftrag über 900.000 Euro für die Gestaltung eines privaten Gartens erhielt. …
Alle Bedingungen, unter denen die beiden, wie auch Rotich
aus Kenia, ihr Leben gestalten müssen, haben sich aus historisch eindeutig
nachvollziehbaren Wurzeln zu einem Ensemble von Institutionen verfestigt. Es
sind eben gesellschaftlich hergestellte Strukturen der Unsicherheit.
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Man muss
sich erinnern, dass es Jahre gab, in denen große Industrieunternehmen wie
Siemens oder Daimler mehr Gewinne aus ihren Finanzgeschäften verbuchen konnten
als aus ihren realwirtschaftlichen. Das aus heutiger Sicht hochspannende
Kapitel, in dem Sassen sehr kompakt und anschaulich die entsprechenden
Entwicklungen beschreibt, leitet sie entschuldigend ein, sie müsse nun »technisch«
werden (S. 557 ff).
5
So der
frühere Börsenhändler Nassim Nicholas Taleb unter dem Titel »Banker weg, wir brauchen eine
Revolution!« im Interview mit der FAZ
(13.11.08). Das Interview bezieht sich auf sein Buch Der Schwarze Schwan
(München 2008), das am 15.12.08 zurückhaltender besprochen wurde. Siehe auch Kommune
1/09, S. 12.
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Was hier
nur skizziert ist, habe ich in einer Reihe von Artikeln in der Kommune
(2/04; 5/04; 6/05; 1/07; 1/08) versucht zusammenhängend zu klären.
7
Gianni Vattimos Vorschlag eines »Postmodernen Kommunismus« gibt
eine ähnliche Suchrichtung an (in: Blätter für deutsche und internationale
Politik 3/09, S. 60 ff): Es gehe um einen antistalinistischen,
antireformistischen Kommunismus als Ideal einer »fundamental andere(n)
Ökonomie, die einer wachsenden Bevölkerung ein ›gutes‹ Leben sichern könnte«.
Für den freiheitlichen, »hermeneutisch« konzipierten Kommunismus sei »der
Konflikt der Interpretationen eine normale Funktionsweise, die im Kampf
zwischen unterschiedlichen Interpretationen, die sich als solche präsentieren,
bestehen muss«.
8
Zum
Beispiel für Sassen, einerseits weil sie eben auf der Ebene der Form bleibt,
also Entstaatlichung als hinreichende Bedingung für die Entstehung des Neuen
sieht, vielleicht aber andererseits auch aus einer typisch amerikanischen
Tradition des Republikanismus, des Vertrauens in den Bürger heraus.
9
Hardt/Negri (Frankfurt/M. 2004; orig.2004) sehen die gegenwärtige
Phase des globalen Kapitalismus von »immateriellen Produkten« wie Wissen,
Information, Kommunikation, Beziehungen oder Gefühlsregungen geprägt, was
letztlich auf die Produktion des gesellschaftlichen Lebens überhaupt hinausläuft,
weshalb Hardt und Negri diese Produktionsweise als
»biopolitische« bezeichnen. Die Produktion sei durch die Aufhebung ihrer
zeitlichen und räumlichen Grenzen, Arbeit im Netzwerk ohne eindeutige
Zurechenbarkeit zu einzelnen Arbeitern, durch flexible, mobile und prekäre
Arbeitsstellen geprägt. Mit dieser ökonomischen Form entstehe auch die Form der
Bewegung gegen sie, der aus ihr entstehende Typ des Arbeiters werde prägend. In
seiner Arbeit entstehe jedoch notwendigerweise ein Überschuss an Kreativität
und Kommunikation, der die Quelle des Widerstands gegen die gewaltsame
Inkorporierung in den herrschenden Körper, die in dieser Phase die Voraussetzung
der kapitalistischen Gesellschaft sei: »Die ständige und abgestimmte
Gewaltanwendung wird … zur notwendigen Bedingung des Funktionierens von
Disziplin und Kontrolle.« Die Beherrschten nähmen
jedoch zunehmend eine Vorrangstellung vor den Herrschenden ein, das
Gleichgewicht verschiebe sich zu ihren Gunsten, weil die ökonomischen Formen,
die die Multitude der Einzelnen notwendig erzeugen, ihre Vernetzung unter
Beibehaltung aller Differenzen zum Ziele der Produktion der Gesellschaft nahelegten. Sie »unterbrechen ständig die ontologische
Konstitution des Empire: Wo immer die schöpferischen Vektoren oder Fluchtlinien
einander kreuzen, werden die gesellschaftlichen Subjektivitäten hybrider,
vermischen sich und entziehen sich so den vereinigenden Mächten der Kontrolle.
Sie hören auf, Identitäten zu sein, und werden Singularitäten.«
Singularitäten, deren im vernetzten Austausch festgestellte Gemeinsamkeiten
sich zur Multitude fügen können.