Jörg-Michael Vogl

»Banker weg, wir brauchen eine Revolution

Spurensuche für eine gesellschaftliche Logik des »Gemeinsamen«

In der globalen Krise ist der Staat wieder da, umgebaut, mit erstarkter Exekutive und tätig in einem Netzwerk transnationaler Institutionen. Ein Staat freilich, der die »Verbetriebswirtschaftlichung der Gesellschaft« mitbetrieben hat, der nach dem Desaster der Ökonomie nur die allgemeine Unsicherheit verwaltet und keine Perspektiven mehr zu bieten hat. Ausgehend von Saskia Sassens »Paradoxie des Nationalen« setzt unser Autor an deren Suche nach einer Logik einer postkapitalistischen Gesellschaft an: Wo ist die »neue gesellschaftliche Organisationslogik«, wo das »revolutionäre Subjekt«, dessen Konstituierung mit einstigem linkem Aufklärungsoptimismus freilich nicht mehr viel gemein haben kann?

 

Wie Phönix aus der Asche ist im Finanzcrash der Staat wieder da: Bis weit in die wirtschaftsnahe Publizistik wird die neoliberale Richtschnur der Selbstregulierung der Märkte als gescheitert, ja desaströs verworfen. Die Publizistik in keynesianischer oder linker Tradition kann sich bestätigt fühlen in ihrer skeptischen Grundhaltung.

Man hört, der Neoliberalismus habe unsere Gesellschaft ökologisch und sozial destabilisiert – man könnte meinen, sie sei stabil gewesen. Man hört, die Krise werde sich erst noch zuspitzen – man könnte meinen, dass wir nur abzuwarten bräuchten. Man hört, der Staat müsse gezielt den Umbau in Richtung ökologischen Wirtschaftens fördern oder auch, der Staat müsse den Absatz der Autoindustrie als der deutschen Schlüsselindustrie fördern – man könnte meinen, dass nur das Ruder des steuernden Staates ergriffen und herumgeworfen werden müsse. Politische Traditionen mit ihren typischen Reaktionsmustern lassen sich ebenso ablesen wie traditionelle Begriffskonstellationen. Quer durch die Beiträge in der Debatte zieht sich allerdings der Eindruck, dass es in der heutigen Krise des Neoliberalismus um das »Ganze« gehe, das in einem historischen Einschnitt in Frage stehe. Auch wenn die einzelnen Debattenstränge gemäß ihrer politischen Tradition meist unverbunden bleiben, so eint sie zumindest dieses Bewusstsein einer grundlegenden Krise. Genau weil es ums Ganze geht, ist die sorgfältige Klärung unseres Denkens, das sorgfältige Abwägen politischer Projekte über die Grenzen politischer Traditionen hinweg unverzichtbar.

Das Begriffsfeld, mit dem gesellschaftliche Bewahrung und Veränderung gefasst wird, ist jedoch heftig umkämpft. Vielleicht hilft der Versuch einer »naiven« Annäherung. Diderot und andere Aufklärer zum Beispiel liebten es, ihre kritischen Überlegungen in Erzählungen über fiktive »persische« Fürstentümer zu klären; wir tun vielleicht in unserer global vernetzten Welt gut daran, zu versuchen »das Ganze«, um das es gehen soll, am Beispiel realer afrikanischer Staaten, sagen wir Kenias,(1) zu betrachten. Diese Sichtweise ist befremdend genug.

 

Rotich ist ein typisches Beispiel für eine Grundhaltung vieler Kenianer, alle Chancen für eine Verbesserung der sozialen Lage zu suchen und sie entschlossen zu nutzen: als Straßenhändler, mit Straßenküchen, als Handwerker, als Transporter mit Fahrrad, Dreirad, Taxi oder Kleinbus, aber auch als Spitzensportler oder Wissenschaftler. Der gelernte Wildhüter lässt seine Familie in Nairobi zurück. Er hat sich Geld zusammengeliehen und damit Flug und Visum für Dubai gekauft. Dort arbeitet er mit Menschen aus aller Herren Länder in einer Hotelküche. Viel Freizeit hat er nicht, allerdings sieht er so gut aus wie noch nie: Er hat zugenommen und trainiert im hoteleigenen Fitnesscenter. Seiner Frau und den Kindern schickt er so viel Geld, dass deren Lebenshaltung, insbesondere der Schulbesuch der Kinder, gesichert ist. Sie machen sich Hoffnungen auf den Besuch einer weiterführenden Schule, die beim landesweiten Ranking besonders gut abgeschnitten hat. Denn Bildung wird in Kenia hoch geschätzt als Einstieg in ein chancenreicheres Leben. Und auch den Rest der Familie kann er unterstützen, so dass die eine vielleicht ein kleines Geschäft aufmachen oder der andere eine Krankheit behandeln lassen kann.

Alle hängen allerdings an diesem Job: Das bedeutet, daran, wie viele Touristen Dubai besuchen, noch mehr jedoch, wie viele Ingenieure an einem der vielen Bauvorhaben beteiligt sind, letztlich also, wie die Öl- und Zinseinnahmen in Dubai sich entwickeln – und ob der Emir von Dubai weiter an seiner Vorstellung von Modernisierung festhält, einer sehr spezifischen Entwicklungsstrategie im globalisierten Netzwerk der Finanzindustrie (Saskia Sassen). Rotich ist wie die Touristen und die Ingenieure ein Nutznießer, in gewissem Sinn ein Verbündeter einer seit den 1980er-Jahren entwickelten Globalisierung, die immer mehr von der transnational verankerten Vorherrschaft bestimmter Finanzgruppen geprägt wurde. Man kann ihn bewundern oder bemitleiden, seine Chancen auf Dauer diskutieren – man muss jedoch die Fragerichtung umkehren: Kann er mit seiner Sorge für die Familie deren Leben, vielleicht auch das der kleinen und großen Gemeinschaften um sie herum, ein Stück sicherer machen? Steckt in seinem Verhalten ein Stück Utopie für Kenia? Kann sein Schritt ein Beitrag zu einer neuen gesellschaftlichen Logik in Kenia sein?

Saskia Sassens Buch Das Paradox des Nationalen(2) ist vor der gegenwärtigen Krise erschienen und analysiert genau diese unterschiedlichen Ebenen der Globalisierung. Sie strukturiert eine Fülle eigener und fremder Untersuchungen aus unterschiedlichen Wissenschaften zur heutigen Staatlichkeit gemäß ihrem Forschungsinteresse. Dabei verwendet sie Methoden und Kategorien, die von vornherein klar machen, dass sie ihre theoretische Aufgabe in die Perspektive einer grundlegenden Umgestaltung unserer Gesellschaft einordnet. Schwerpunktmäßig analysiert sie den Umschwung in den ökonomischen und staatlichen Strukturen, der zu der gegenwärtigen Phase des finanzdominierten Kapitalismus führt. Dabei arbeitet sie jedoch mit einem überhistorischen Analyseraster, nämlich den Komponenten Territorium, Autorität und Rechte, deren historisch unterschiedliche Assemblage in spezifischen Organisationslogiken sie untersucht. Immer wieder geht sie anhand von exemplarischen Problemen zurück zum Übergang Mittelalter-Kapitalismus, um methodisch analog den Übergang vom national organisierten Bretton-Woods-Kapitalismus zum globalisierten Finanzkapitalismus zu analysieren. Dabei entfaltet sie ihre Grundthese, wie Gesellschaften sich entwickeln: Der Übergang von einer Gesellschaftsform zu einer neuen ist nicht als Bruch zu verstehen, sondern als die Etablierung einer neuen Organisationslogik der zentralen Bestandteile einer Gesellschaft. Bestimmte Institutionen, Verfahrensweisen, Diskurse der mittelalterlichen Gesellschaft werden in sich unverändert wesentlicher Teil der völlig neuen Gesamtlogik der Industrialisierung. Entsprechend sieht sie heute Institutionen, die möglicherweise Teil der neuen Logik einer postkapitalistischen Gesellschaft werden könnten.

Ihre politische Kernthese: Der klassische Nationalstaat ist einerseits einer der Hauptakteure der Globalisierung seit den Achtzigerjahren, er schafft sich zur Bewältigung seiner Aufgaben internationale und transnationale Gremien, hat also nicht grundsätzlich an Bedeutung verloren. Seine aktive Rolle in der Globalisierung ist jedoch mit seinem Umbau verbunden: Die Exekutive gewinnt trotz aller national unterschiedlichen Traditionen überall an Macht gegenüber der Legislative. Dies geschieht in der strategischen Neuausrichtung des Staates zusammen mit neuen herrschenden kapitalistischen Gruppierungen, bei denen das Finanzsystem mit einer Flut von spekulativen, aggressiven Innovationen hegemonial ist. In der konkreten Form der Globalisierung sieht sie jedoch Tendenzen entstehen, die die Bindung der Bürger an den Nationalstaat lockern. In den vielfältigen, von nationalen Exekutiven eingerichteten Gremien, die dem Handel und den Börsen Rahmen geben, ökologische oder Arbeitsnormen vereinheitlichen, sich mit der weltweiten Umsetzung der allgemeinen Menschenrechte beschäftigen und andere transnationale Vereinheitlichungen anstreben, entstehe ein soziales Milieu der herrschenden Klassen, das von anderen Gesichtspunkten als nationalstaatlichen geprägt werde. Dieser Sachverhalt ist historisch vielleicht weniger neu als eine ähnliche Tendenz in den beherrschten Klassen: Auch internationale Menschenrechts- oder ökologische Organisationen schaffen – auf das Internet gestützt – transnationale Netzwerke, lokale Organisationen erreichen auf diesem Weg weltweit Öffentlichkeit. Diese Tendenzen einer neuen transnationalen Form der Demokratie sieht sie als mögliche Bausteine einer neuen nachkapitalistischen Logik – über deren Inhalte oder Ziele sie allerdings nicht spricht.

 

Kehren wir zu Rotich zurück: Er nutzt Wohlstands- und Kaufkraftgefälle – vielleicht intuitiv – genauso systematisch wie die Akteure der Finanzindustrie, die auf fallende Währungskurse, steigende Ölpreise, fallende oder steigende Indices für irgendetwas setzten und damit von Anfang an ganze Volkswirtschaften destabilisierten. Die Spekulanten hatten allerdings auch andere Optionen, sie hätten zum Beispiel in die Realwirtschaft gehen können und dort mit tendenziell geringeren Gewinnspannen zufrieden sein können; sie hätten Stiftungen gründen können und so ihre Gewinne in die Realwirtschaft zurückführen können. Menschen wie Rotich leben als Profiteure in der Peripherie der neuen transnationalen Milieus – ohne attraktive Alternativen. Auch die Struktur der über das Internet vernetzten internationalen Öffentlichkeit ist ähnlich asymmetrisch: Über die deutsche Öffentlichkeit kann von Organisationen in Asien oder Afrika gegebenenfalls Druck auf deutsche Unternehmen oder Politik gemacht werden, aber nicht umgekehrt.

Die Grundsituation des Handelns der Erfolgreichen unter den Machtlosen bleibt immer gekennzeichnet dadurch, dass sie von einer ökonomischen und politischen Struktur der ständig erweiterten Konkurrenz profitieren, über deren Existenz und Alternativen sie nur schwer diskutieren können. Damit haben wir im Umkehrschluss eine erste grobe inhaltliche Annäherung an eine neue gesellschaftliche Organisationslogik: Menschen müssen in ihren Gemeinschaften über die grundsätzliche Ausrichtung ihrer Gesellschaft in der Perspektive der Sicherung der Lebensgrundlagen diskutieren und entscheiden können und brauchen dafür die entsprechenden politischen und rechtlichen Institutionen.(3) Es fällt uns leicht zu sehen, dass die Bedingungen für Alternativen jedenfalls in den afrikanischen Staaten, die als failing states bezeichnet werden, nicht gegeben sind. Offensichtlich braucht es für die Bewältigung der Unsicherheit eine in gesellschaftliche Regeln eingebettete Marktwirtschaft und eine Sicherheit schaffende Staatlichkeit.

Das Grundgefühl der Hilflosigkeit angesichts eines gesellschaftlichen Desasters, in dem vielleicht noch persönliche Spielräume, aber keine gesellschaftlichen Chancen mehr zu erkennen sind, ist allerdings gerade in Deutschland nicht neu. Das, was als Finanzkrise bezeichnet wird, wird in den global führenden Gesellschaften vielleicht nicht mehr bewirken, als ein Blitz über einer nächtlichen Landschaft: für alle sehbar gemacht zu haben, dass auch die Grundlage unseres Lebens strukturell gefährdet ist – prinzipiell genauso wie in den afrikanischen Ländern, die wir in der Globalisierung zum Inbegriff des politischen Unvermögens, ja des Versagens bei der Bewältigung von existentieller Unsicherheit gemacht haben. Daraus könnte sich dann die Frage ergeben, was in den traditionellen Kernländern des Kapitalismus trotz stabiler Marktwirtschaften und funktionierender Staatlichkeit fehlt: Wir sehen keine gesellschaftliche Struktur, die es uns ermöglichen würde, im Hinblick auf gesellschaftliche Risiken über die grundsätzliche Ausrichtung unserer Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden, ebenso fehlen uns die entsprechenden politischen und rechtlichen Institutionen – auf den ersten Blick jedenfalls.

 

Sassen arbeitet die Dimension des ökonomischen Risikos heraus, das der globalisierte Finanzkapitalismus erzeugt hat: einerseits den Umfang der hochspekulativen Geschäfte ohne jeden Bezug zu realwirtschaftlichen Größen, andererseits die Gestalt dieser Finanzprodukte, die – von einer neuen Generation an den Universitäten erfunden – so komplex sind, dass sie von vornherein mit der entsprechenden Software an die Banken, Fondsgesellschaften und Finanzabteilungen der Industrieunternehmen verkauft werden, weil sie niemandem erklärt werden können. Allein die Menge der Transaktionen und ihre Geschwindigkeit hebelt alle Versuche der staatlichen Außenkontrolle aus, weshalb die beteiligten Unternehmen nur zu einem internen Risikomanagementsystem, wiederum per eingekaufter Software, verpflichtet werden können, deren Verlässlichkeit wesentlich von ihren Modellannahmen abhängt.(4) Erst nach dem Crash in den Kernländern des Finanzkapitalismus wird eine an sich selbstverständliche Grundsatzkritik breit aufgenommen wie die, dass man Risiken nicht nach ihrer Wahrscheinlichkeit bewerten dürfe, sondern danach, wie schwerwiegend ihr Auftreten wäre. Und die Risiken, von denen man wisse, dass sie schwerwiegende Folgen haben würden, müssten unbedingt vermieden werden. Wenn ein Interview dieses Inhalts betitelt ist mit »Banker weg, wir brauchen eine Revolution,(5) dann zeigt dies, dass diese Form des Finanzkapitalismus vorherrschend ist, also Machtpositionen innehat – aber nicht unumstritten ist. Und Sassens politische Grundaussage erweist sich als richtig: Die Rede von der Globalisierung verdeckt die Paradoxie des Nationalen, der transnationale Finanzkapitalismus ist auch nationalstaatlich organisiert – und wird in seiner Krise nationalstaatlich gestützt oder verändert.

Um das Ausmaß des Problems klarzumachen, muss man die Verästelungen dieser ökonomischen, politischen und kulturellen Vorherrschaft deutlich machen: Wenn sich die Vorstellung durchgesetzt hat, Unternehmen müssten durchgehend hohe Gewinne für die Anteilseigner liefern, die Direktionen der Konzerne deshalb nicht nur realwirtschaftlich, sondern als Absicherung dieser Geschäfte auch finanzwirtschaftlich immer stärker engagiert sind, wenn sich die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der Finanzprodukte gehandhabt werden können, ständig erhöht, dann wird hervorragend verdient und ohne jede Grenze ein immer größeres Rad gedreht. Die Orientierung an einer ständig hohen Verzinsung hat aber keinen Stein auf dem anderen gelassen im Bereich der Arbeitsintensivierung, der Entlassung ganzer Hierarchieebenen, des »out-sourcing«, der Zerstörung »betrieblicher Kulturen«, der Förderung des Niedriglohnsektors et cetera. Und weiter: Dieses betriebliche Leitbild wurde, egal ob das sinnvoll war oder nicht, auch auf die Bereitstellung öffentlicher Leistungen übertragen, ja prägt im vollen Sinn das Bild vom Menschen und seiner Umwelt, von wissenschaftlichen Diskursen bis hin zu dem, was man als Sozialisierungsziele von Kindergärten, Schule und Hochschulen definiert.(6) Und in dieser Verbetriebswirtschaftlichung, in der »Politik der Notwendigkeit« mit ihrer Orientierung an Kennziffern, Indices und Output-Kontrolle vollzog sich eine »Entpolitisierung« der öffentlichen Debatte, eine Stärkung von Institutionen der Beratung außerhalb des Staatsapparates im engen Sinn, das Eingreifen von wirtschaftsnahen Stiftungen auf der politischen Bühne und – am demonstrativsten – die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, also ein Umbau der politischen Institutionen, der im Ergebnis – wie Sassen herausarbeitet – eine Stärkung der Exekutive bewirkte.

Auf diesen Staat der bürokratisch gesteuerten Anpassung an vorgebliche Notwendigkeiten, zum Beispiel durch den existenziellen Druck der Sozialgesetzgebung, den Staat der institutionalisierten Ziellosigkeit, der die Bürger wie die öffentlich Bediensteten fit machen will für den Wettbewerb, der Sicherheit durch geheimdienstliche Kontrollmöglichkeiten über alle anstrebt, der im Geflecht der europäischen Exekutiven strukturell auf die Zuarbeit der Lobbyisten setzt, auf diesen Staat kann man keine Hoffnungen setzen. Eine »Verstaatlichung« von Banksystem oder Autoindustrie, vielleicht Zug um Zug für die staatlichen Beihilfen, führte erst recht keinen Schritt weiter, wenn man versuchen möchte, über die grundsätzliche Ausrichtung unserer Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden. In diesem Sinn muss der Staat gegen gesellschaftliche Machtstrukturen verändert, tatsächlich »erobert« werden.

 

Wenn der Staat so grundsätzlich kritisiert wird, dann ist eine der Denkmöglichkeiten, dass von staatlichen Strukturen grundsätzlich nicht viel zu erwarten sei, oder positiv gewendet, dass eine Lockerung der Fesselung der Bürger durch den Staat deren Eigeninitiative freilasse. Diese Grundrichtung wurzelt in bestimmten liberalen und linken Traditionen. Sie wird nach meinem Eindruck auch von Sassen vertreten. Selbst wenn man eine abnehmende organisatorische Bedeutung des Nationalstaates akzeptieren würde, sollte jedoch gerade dann klar sein, dass das heutige Verhalten und heutige Einschätzungen nicht ohne die Vergangenheit verstehbar sind, in Europa eben nicht ohne den Hintergrund der nationalstaatlichen Traditionen. Sassen stellt in historischen Rückblenden die Kontingenz der europäischen Entwicklung sehr informativ dar, von christlichen Quellen des Souveränitätsgedankens, den national unterschiedlichen Verhältnissen von freien Städten und feudalem Land, der national unterschiedlichen Weise der Formung der beherrschten Klasse bis zur Herausbildung von Nationalstaaten auch über internationale Vereinbarungen. Dies bedeutet insbesondere, dass die je nationalstaatliche Tradition von der institutionellen Ausgestaltung bis hin zum alltäglichen Bewusstsein grundlegend prägt – und zwar in Deutschland anders als in Frankreich, Großbritannien oder den USA.

Dass die Kenianer diese Traditionen nicht haben, sich also ohne diesen Ballast einer nationalstaatlichen Tradition, allerdings mit dem der postkolonialen Tradition demokratisieren, ermöglicht eben deswegen auch für uns produktive Fragen. Deren allgegenwärtiges Streben nach sicheren Lebensgrundlagen ist überall konfrontiert mit Vertretern der Staatsorgane, die ihre Position wiederum als materielle Ressource einsetzen, in allen Behörden und auf allen Ebenen bis in die Spitze des Staates, was teilweise die Beherrschten zu Nutznießern der herrschenden Oligarchie macht. Mwai Kibaki löste den langjährigen »Präsidenten« Daniel Arap Moi mit dem Versprechen ab, etwas gegen die Korruption zu unternehmen. In jeder Behörde hängt jetzt zwar an der Wand ein Täfelchen »Don’t give a pribe« mit einer Handynummer für Beschwerden, wesentlich gewirkt hat dies aber nicht – und Kibaki hat inzwischen seine Claims neben denen von Moi abgesteckt.

Es ist alles andere als naiv, dass der britisch-sudanesiche Unternehmer Mohammed Ibrahim, der mit einem der beiden Handynetze in Kenia reich geworden ist und es inzwischen an kuwaitische Investoren verkauft hat, mit seinem Vermögen eine Stiftung gegründet hat, die denjenigen afrikanischen Staatschefs, die ohne sich zu bereichern nach ihrer Amtszeit einfach wieder in ihr normales Leben gehen, eine großzügige monatliche Unterstützung bezahlt: Der staatliche Apparat ist faktisch ein Teil der grundsätzlichen Unsicherheit des Lebens und kein Beitrag zur Lösung dieses Problems.

Die kenianischen Wahlen im Dezember 2007 fanden statt, nachdem eine vom Staatspräsidenten 2006 vorgeschlagene Verfassungsreform, die seine formale wie inhaltliche Position gestärkt hätte, nach einer breiten Diskussion in den Städten und Dörfern abgelehnt worden war. Die Diskussion wurde als demokratischer Aufbruch mit riesigen Hoffnungen empfunden, als Aufbruch insbesondere gegen die Korruption mit Debatten über zentrale Probleme wie das des Eigentums an Land, das zum Beispiel in den Slums zu riesigen Mieteinnahmen für die Eliten führt, oder das der zunehmenden Wasserknappheit durch die Export-Monokulturen, Probleme also, von deren Klärung in einem agrarisch geprägten Land die tägliche Sicherheit des Lebens abhängt. Für Rechtsstaatlichkeit, gegen Willkür und Gewalt, für Pressefreiheit als Grundbedingung der Möglichkeit, die Oligarchien zu kontrollieren – Demokratisierung in Reinform, getragen vom Optimismus der Theoretiker des 18. Jahrhunderts gewissermaßen, geeint allerdings durch Ziele, die eine Verbesserung der Lebensverhältnisse versprechen.

Für diesen demokratischen Prozess gibt es unabdingbare Voraussetzungen, der elementarste ist die Sprache der Kommunikation. In Kenia sind dies Suaheli und Englisch als die Schulsprachen, die alle Bürgerinnen und Bürger neben den Sprachen, die sie als kleine Kinder in der Familie lernen, mehr oder weniger gut beherrschen. Eine weitere unabdingbare Voraussetzung ist ein territorial abgegrenzter institutioneller Rahmen der Gemeinschaft, die Bestimmung des Staatsgebiets insbesondere. In Tansania, Uganda oder Somalia wurde eben nicht über die Verfassung abgestimmt, auch wenn dort ebenfalls Luo-, Massai-, Kalenjin- oder Suaheli-Traditionen wichtig sind. Anders formuliert: In der Verfassungsdiskussion, in diesem Versuch der Eroberung des korrupten Staates, schafften es die kenianischen Intellektuellen, das, was den Kenianern und Kenianerinnen, den Bauern und Städtern, den Umweltschützern, Feministinnen, Gewerkschaftern und so weiter an Fragen gemeinsam ist, in einem breiten Diskussionsprozess zu artikulieren, nämlich die Hoffnung auf ein Leben, das zukünftig sicherer wird, dadurch, dass die ungerechten Strukturen der permanenten Schaffung von Unsicherheit angegangen werden. Das vielfach bewährte Mittel, einen solchen Prozess der Eroberung gesellschaftlicher Machtpositionen zu zerstören, ist die Spaltung, zum Beispiel die Guten wie die Bösen als Ethnie zu definieren; im Zusammenhang mit den Staatspräsidenten-Wahlen im Dezember 2007 wurde es kalt eingesetzt ... Und ein halbes Jahr später konnte sich Mois Familie (und noch mehr Vodafone) bei der Privatisierung des zweiten, halbstaatlichen Handynetzes einen erheblichen Anteil der Aktien sichern.

 

Das kenianische Beispiel macht deutlich, dass ein Gemeinsames, das in der Diskussion realisiert wird, in keiner Weise selbstverständlich ist – aber auch, dass es nicht nur in den klassischen Nationalstaaten organisierbar ist. Und: Eine Lockerung der Bindungen der Bürger an den Nationalstaat ist nicht an sich ein Schritt zur neuen gesellschaftlichen Organisationslogik. Es braucht das Gemeinsame und seine institutionelle Umsetzung, einen Staat in genau diesem Sinn als Feld der neuen gesellschaftlichen Logik.

Dieses Gemeinsame erscheint zunächst als schwammig oder beliebig, von Fall zu Fall unterschiedlich, also nicht besonders hilfreich. Ohne Zweifel kann es in Kenia nur anders als in Deutschland sein. Für seine allgemeine Kennzeichnung gibt es jedoch eine lange Tradition, die eindeutig ist: In der philosophischen Diskussion ist mit der Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit durch ein singuläres Ereignis (wie die atomare Zerstörung, Günther Anders) oder als Struktur der Moderne (wie die des archimedischen Selbstverständnisses der Moderne, Hannah Arendt) der systematische Schlusspunkt hinter den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung gesetzt. Diese prinzipielle, existenzielle, aus der Struktur dieser Gesellschaft und ihrer Art des Wirtschaftens entstandene Verunsicherung kann nicht mehr zurückgenommen werden. Die Umkehrung dieses Arguments zeigt jedoch die allgemeine Bestimmung des Gemeinsamen, den Kern der Logik der neuen Gesellschaft: Institutionelle Möglichkeiten zu schaffen zur Sicherung der Grundlagen des Lebens, mit den Chancen, die der demokratische Diskurs bietet – aber letztlich durch nichts gewährleistbar.(7)

Sassens Denkmodell dafür, wie das Neue im Alten entsteht, ermöglicht uns dann zu sehen, dass die neue Logik schon auf dem Weg ist, hegemonial zu werden: Die ökologische Bewegung hat klar gemacht, dass alles Wirtschaften nur Sinn macht, wenn es sich dem Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit, letztlich als globale Aufgabe gedacht, unterordnet. Dieser grundsätzlich neue Gedanke hat sich in kurzer Zeit global durchgesetzt, in vielen Netzwerken viele Ideen hervorgebracht und Perspektiven geschaffen. Mit dem Programm der Agenda 21 zum Beispiel ist er auch staatliche Politik – aber eben nicht vorherrschend, staatliche Strukturen prägend. Diese Herrschaftsstrukturen konnten im Finanzcrash gesehen werden, in dem deutlich wurde, dass das Zerstörungspotenzial der unbeschränkten Konkurrenz-Logik nicht nur in ihren »Externalitäten«, in ihrer ökologischen und sozialen Umwelt systemisch ist, sondern in ihrem eigensten Bereich (von Finanzindustrie über Geldsystem und Autoindustrie zur Rezession…). Wenn Frank Schirrmacher im Leitartikel »Was wird morgen sein (FAZ, 11.10.08) schreibt, der Neoliberalismus unserer Gesellschaft habe nach der ökologischen Umwelt auch die soziale zerstört und dies sei eine »paradigmatische Katastrophe«, dann ist dies ein Beitrag zu einer Selbstklärung unter deutschen Intellektuellen, die zu einer breiten Diskussion der Fragen führen könnte, die gemeinsame Fragen sind in dem Sinn, dass ihre Klärung unser zukünftiges Leben sicherer und gerechter machen könnte. Und seine Bemerkung gibt zwei unverzichtbare Inhaltsachsen dieser Debatte für die Diskussion an, die soziale und die ökologische Achse.

Vielfach wird in diesem Sinn von einer Wiederbelebung der »Sozialen Marktwirtschaft« und ihres traditionellen Maßstabs des »Gemeinwohls« gesprochen. Dabei bleibt jedoch das Problem der inhaltlichen Definition dessen, was unter »sozial« und »Gemeinwohl« verstanden wird, ebenso unausgesprochen wie die Struktur der Umsetzung. Auch für diejenigen, die, wie oben beschrieben, schon eine Ent-Staatlichung als hinreichende Bedingung für die Entstehung des Neuen sehen, erübrigt sich die Frage nach rechtlichen und institutionellen Veränderungen(8) – genauso wie die daran anschließende Frage, ob die Möglichkeit einer neuen hegemonialen Struktur der Staatlichkeit nicht einfach nur Wunschdenken sei.

Einer linken Tradition zufolge kann man im Alten nach den Akteuren suchen, die das Neue zu vertreten in der Lage sind, nach einem »revolutionärem Subjekt« in einer klassischen Formulierung. Besonders bekannt ist der aktuelle Versuch von Michael Hardt und Antonio Negri, die Multitude(9) als dieses revolutionäre Subjekt zu sehen. Entgegen traditionellen linken Vorstellungen halten sie dabei die Armen, nämlich die in den ärmsten Regionen der südlichen Hemisphäre, die Afroamerikaner, die Migranten, die (zeitweise) Erwerbslosen mit ihrem Wissen und ihrem Erfindungsreichtum für die gesellschaftliche Produktion für zentral. Denn diese finde unter den heutigen Bedingungen ebenso innerhalb wie außerhalb der Werkstore, Büros oder Ställe statt. Die gefährlichen Klassen, also insbesondere die Armen, seien für den Widerstand paradigmatisch, dessen Form die Vernetzung der Einzelnen sei.

Interessanterweise grenzen auch Hardt und Negri nur Akteure für die postkapitalistische Gesellschaft ab, ohne deren neue Logik zu thematisieren; insbesondere ökologische Fragen spielen keine theoretische Rolle. Dies ist aber auch nicht notwendig, weil die Autoren nach der Identifizierung des revolutionären Subjekts und der Feststellung seiner Übermacht das Weitere abwarten können. Um ein eher empirisches Argument gegen diesen Optimismus zu nennen: Der gesellschaftliche Zusammenbruch ergibt unter den Armen der afrikanischen failing states nicht den wölfischen Kampf jedes gegen jeden, der den hobbesschen Leviathan zur Befriedung bräuchte, ebenso nichts, was einem Automatismus zur neuen Logik des Gemeinsamen ähnelte, sondern den mühsamen, zeitraubenden Versuch, Überlebensstrukturen aufzubauen gegen die – allerdings globalen – Machtverhältnisse. Eine neue Logik des Gemeinsamen kann natürlich auch im Slum entstehen, und sie entsteht auch dort, aber dann wird diese neue Logik, die der der grenzenlosen Konkurrenz entgegengesetzt ist, vorgeschlagen und konstruiert – wie sich zum Beispiel in Kenia gezeigt hat.

Die Vorstellung, ein revolutionäres Subjekt entstehe im Schoß der alten Gesellschaft, trägt ferner, was wesentlicher ist, grundsätzlich die Gefahr in sich, das volle Gewicht der Verantwortung derjenigen, die die neue Logik tragen, zu verdecken: Der historische Optimismus des 18. Jahrhunderts, mit den geeigneten Institutionen das Glück auf Erden erreichen zu können, hat ebenso seine historische Unschuld verloren wie der Optimismus des 19. Jahrhunderts, jemand könne auf der Seite der Geschichte stehen.

 

Die Entstehung eines »revolutionären Subjekts« kann man sich dagegen in mehrfacher Hinsicht nur als eine »Revolutionierung der Gesellschaft« vorstellen, insbesondere, weil die herrschende Logik viele Stützpunkte hat, zum Beispiel die gesellschaftliche »Autokrankheit«. Ein zufällig gewähltes Symptom: Nach 40 Jahren ökologischer Bewegung soll ein ganzer Wald von alten Buchen gefällt werden, damit Sportler ihren Parkplatz direkt vor der Tür der Halle bekommen. Dass alle sich neue schadstoffarme Autos kaufen sollten, wiederholt abgedroschene Antworten auf falsch gestellte Fragen – die beherrschten Subjekte werden immer wieder neu zu Verbündeten der hegemonialen industriellen Struktur. Die Frage, die die »revolutionäre Wende« enthält: Wollen denn alle neue Autos oder wollen nicht viele, vielleicht Mehrheiten, menschlichere Siedlungsstrukturen, kürzere Wege zur Arbeit und zum Einkauf, flächendeckend ausgebaute, bequeme Systeme des öffentlichen Nahverkehrs? Diese Frage und die Diskussion über ihre institutionelle Umsetzung stellt ein Gemeinsames durch die Perspektive der Überlebensgrundlagen erst her: Wie kann der Lebensunterhalt der Beschäftigten in der Autoindustrie gesichert werden? Durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrssystems? Wird dieses öffentliche Nahverkehrssystem privatwirtschaftlich betrieben, vielleicht genossenschaftlich oder besser in öffentlicher Hand? Damit verbunden: Woher kommen die Investitionssummen, die notwendig sind? Mit welchem gesetzlichen Rahmen kann dieser Wandel marktwirtschaftlich ablaufen? Welche Erschütterungen werden sich aus der politischen Konfrontation mit der kulturell tief verankerten »Autokrankheit« ergeben? Lässt sich absehen, in welchen neuen Kulturen dieser Konflikt münden könnte? Erfordert die Perspektive eines grundlegenden Wandels für die Beschäftigten eine zusätzliche Absicherung, vielleicht in Form eines voraussetzungslosen Grundeinkommens für alle? Welche Maßnahmen können erreichen, dass die Anteilseigner unternehmerisch im Rahmen der gesellschaftlichen Richtungsentscheidungen bleiben? Reicht dafür die Debatte selbst, die klarer als jede Marktforschung Megatrends feststellt? Braucht man darüber hinaus noch gesetzlich vorgegebene Anreizsysteme?

Vor allem aber: Wie lassen sich unternehmerisches Handeln und dessen Entlohnung trennen vom Zwang zu immer erweiterter Reproduktion? Braucht man in diesem Zusammenhang ein System der sicheren Wertaufbewahrung ohne hohe Verzinsung? Wäre dies für staatliche Anlagefonds aus den Ölländern oder China ebenso interessant wie für deutsche Besitzerfamilien? Welche gesetzlichen Maßnahmen sind denkbar gegenüber den Eigentümern, die sich aktiv gegen bestimmte grundlegende Vorgaben stemmen? Welche Konsequenzen ergeben sich für die deutsche Exportstruktur? Will man sich mit der Erwartung begnügen, dass mit umweltschonenden öffentlichen Verkehrssystemen auf dem Weltmarkt ebenso Gewinne gemacht werden können? Oder sind auch auf der inter- und transnationalen Ebene neue Rahmenwerke notwendig, die internationalen Wettbewerb mit der Perspektive der Wertaufbewahrung ermöglichen statt der des Zwangs zu immer erweiterter Reproduktion des Gesamtvolumens, die mit dem Kampf um Anteile (für China, Indien, aber auch Kenia) verbunden ist? Dieser Fragenkomplex bedarf der intensiven Diskussion und mittelfristig der Bündelung in konkreten politischen Entscheidungsfragen.

 

Die Perspektive, um die sich das »revolutionäre Subjekt« gruppiert, ist jedenfalls in keiner Weise zufällig oder beliebig, sondern strukturell vorgegeben und eindeutig. Es ist nichts als der Bezug auf die neue gesellschaftliche Organisationslogik, deren Grundaussage klar ist: »Revolutionäre Subjekte« sind die, die angesichts der historisch neuen, strukturellen und existenziellen Gefährdung des Lebens durch unser Gesellschaftssystem die Möglichkeit der gesellschaftlichen Zielsetzung des Wirtschaftens in demokratischer Diskussion und in institutionalisierter Entscheidung anstreben. Gerade weil es keine Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Neuen aus dem Alten gibt, ist seine Begründung aus dem elementaren gemeinsamen Interesse der Sicherung der Lebensmöglichkeit und seine Fokussierung auf die Herstellung des entsprechenden institutionellen Rahmens unabdingbar. Die objektive Aufgabe verbindet die Vertreter des Neuen, keine sonstige objektive Struktur. Dass man diese Aufgabe dem alten Staat in Kooperation mit einer vermachteten Wirtschaft nicht überlassen kann, ist offensichtlich. Erst recht, wenn dieser versuchen wollte, die Wirtschaft zu kommandieren.

Genauso offensichtlich ist, dass das »revolutionäre Subjekt« strukturell nicht denkbar ist, ohne dass sich konservative, liberale, sozialistische, kirchliche und ökologische Diskussionsstränge zusammenfügen. Die 2008 erschienene Studie des Wuppertal-Instituts über ein Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt verweist in einer Fülle von handfesten Detailanalysen immer wieder auf die Illusion des gesellschaftlich hegemonialen Denkens, das ständig erweitertes Wachstum für wünschbar und machbar hält. Ebenso weisen die Autoren auf eine Fülle konkreter Alternativen hin. Die Studie kann genauso wie ihre Vorgängerin von 1996 als ein Manifest dieses »revolutionären Subjekts« gelesen werden. Ihre politische Umsetzung braucht unabdingbar ein gesellschaftliches Netzwerk, allerdings eben auch eine intensive Diskussion um neue staatliche Strukturen, weil es um verbindliche, regional spezifizierte, revidierbare, juristisch überprüfbare Entscheidungen gehen muss. In diesem Prozess kann sich die Logik des Gemeinsamen gegenüber der des unendlichen Wettbewerbs durchsetzen und die Gesellschaft revolutionieren.

 

Dieser Text ist JeMa-PaJa gewidmet.

 

1

Dass man als Deutscher die Möglichkeit hat überall hin zu reisen, in jede Ecke jeder Wildnis mit zuverlässigen Reiseführern, lässt die fremde, beunruhigende und verunsichernde Situation vergessen. Schon in den Diskursen der »Globalisierung« schwingt zentral der Aspekt der Tendenz der realen Einebnung aller Unterschiede mit. Die Art, wie »Globalisierung« gesehen wird, verführt also zur systematischen Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, andere Länder und ihre Kulturen zu verstehen. Allerdings nehmen wir auch die »feinen Unterschiede« in unserer deutschen Kultur nicht unbedingt wahr.

2

Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Gramm, Frankfurt am Main, (Suhrkamp Verlag) 2008 (Orig. 2006).

3

Hier geht es um gesellschaftlich erzeugte Unsicherheit, in Kenia zum Beispiel um akuten Wassermangel aufgrund der Rodung für die Exportfarmen und wegen deren hohem Wasserverbrauch, oder weil für Slum-Hütten Miete an die Grundbesitzer bezahlt werden muss und so weiter. Zwei Schlaglichter auf den deutschen Teil der Welt derer, die der hegemonialen Logik ausgeliefert und deshalb darauf angewiesen sind, alle Chancen, seien sie auch noch so unsicher, zu nutzen: Im Baugewerbe hängen Arbeitsplätze im Handwerk nicht nur von Aufträgen ab, sondern auch davon, ob die Auftraggeber vertragsgemäß zahlen. Die öffentlichen Auftraggeber zum Beispiel fragen europaweit nach, um den Wettbewerb jedes gegen jeden zu fördern und weil sie im Standortwettbewerb immer weniger einnehmen. Die Anbieter nutzen dann, um günstige Angebote machen zu können, häufig ein System von Subunternehmern. Dies ist die gesellschaftliche Organisationslogik, in der ein Fliesenleger, der die attraktive Verfliesung an den Außenmauern der Hackeschen Höfe in Berlin verlegte, niemals bezahlt wurde und keinerlei Lebensperspektiven mehr für sich sah – während anderswo ein Landschaftsgärtner einen Auftrag über 900.000 Euro für die Gestaltung eines privaten Gartens erhielt. … Alle Bedingungen, unter denen die beiden, wie auch Rotich aus Kenia, ihr Leben gestalten müssen, haben sich aus historisch eindeutig nachvollziehbaren Wurzeln zu einem Ensemble von Institutionen verfestigt. Es sind eben gesellschaftlich hergestellte Strukturen der Unsicherheit.

4

Man muss sich erinnern, dass es Jahre gab, in denen große Industrieunternehmen wie Siemens oder Daimler mehr Gewinne aus ihren Finanzgeschäften verbuchen konnten als aus ihren realwirtschaftlichen. Das aus heutiger Sicht hochspannende Kapitel, in dem Sassen sehr kompakt und anschaulich die entsprechenden Entwicklungen beschreibt, leitet sie entschuldigend ein, sie müsse nun »technisch« werden (S. 557 ff).

5

So der frühere Börsenhändler Nassim Nicholas Taleb unter dem Titel »Banker weg, wir brauchen eine Revolution im Interview mit der FAZ (13.11.08). Das Interview bezieht sich auf sein Buch Der Schwarze Schwan (München 2008), das am 15.12.08 zurückhaltender besprochen wurde. Siehe auch Kommune 1/09, S. 12.

6

Was hier nur skizziert ist, habe ich in einer Reihe von Artikeln in der Kommune (2/04; 5/04; 6/05; 1/07; 1/08) versucht zusammenhängend zu klären.

7

Gianni Vattimos Vorschlag eines »Postmodernen Kommunismus« gibt eine ähnliche Suchrichtung an (in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/09, S. 60 ff): Es gehe um einen antistalinistischen, antireformistischen Kommunismus als Ideal einer »fundamental andere(n) Ökonomie, die einer wachsenden Bevölkerung ein ›gutes‹ Leben sichern könnte«. Für den freiheitlichen, »hermeneutisch« konzipierten Kommunismus sei »der Konflikt der Interpretationen eine normale Funktionsweise, die im Kampf zwischen unterschiedlichen Interpretationen, die sich als solche präsentieren, bestehen muss«.

8

Zum Beispiel für Sassen, einerseits weil sie eben auf der Ebene der Form bleibt, also Entstaatlichung als hinreichende Bedingung für die Entstehung des Neuen sieht, vielleicht aber andererseits auch aus einer typisch amerikanischen Tradition des Republikanismus, des Vertrauens in den Bürger heraus.

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Hardt/Negri (Frankfurt/M. 2004; orig.2004) sehen die gegenwärtige Phase des globalen Kapitalismus von »immateriellen Produkten« wie Wissen, Information, Kommunikation, Beziehungen oder Gefühlsregungen geprägt, was letztlich auf die Produktion des gesellschaftlichen Lebens überhaupt hinausläuft, weshalb Hardt und Negri diese Produktionsweise als »biopolitische« bezeichnen. Die Produktion sei durch die Aufhebung ihrer zeitlichen und räumlichen Grenzen, Arbeit im Netzwerk ohne eindeutige Zurechenbarkeit zu einzelnen Arbeitern, durch flexible, mobile und prekäre Arbeitsstellen geprägt. Mit dieser ökonomischen Form entstehe auch die Form der Bewegung gegen sie, der aus ihr entstehende Typ des Arbeiters werde prägend. In seiner Arbeit entstehe jedoch notwendigerweise ein Überschuss an Kreativität und Kommunikation, der die Quelle des Widerstands gegen die gewaltsame Inkorporierung in den herrschenden Körper, die in dieser Phase die Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft sei: »Die ständige und abgestimmte Gewaltanwendung wird … zur notwendigen Bedingung des Funktionierens von Disziplin und Kontrolle Die Beherrschten nähmen jedoch zunehmend eine Vorrangstellung vor den Herrschenden ein, das Gleichgewicht verschiebe sich zu ihren Gunsten, weil die ökonomischen Formen, die die Multitude der Einzelnen notwendig erzeugen, ihre Vernetzung unter Beibehaltung aller Differenzen zum Ziele der Produktion der Gesellschaft nahelegten. Sie »unterbrechen ständig die ontologische Konstitution des Empire: Wo immer die schöpferischen Vektoren oder Fluchtlinien einander kreuzen, werden die gesellschaftlichen Subjektivitäten hybrider, vermischen sich und entziehen sich so den vereinigenden Mächten der Kontrolle. Sie hören auf, Identitäten zu sein, und werden Singularitäten Singularitäten, deren im vernetzten Austausch festgestellte Gemeinsamkeiten sich zur Multitude fügen können.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2009