Christoph Deutschmann

 

Ende des Wachstums?

 

Über die Probleme des Kapitalismus mit seinem eigenen Erfolg

 

Die historische Entwicklung der Warenproduktion hat als Kapitalismus über gut zwei Jahrhunderte eine ungeheure Dynamik nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft hervorgebracht. Zugleich hat der Prozess der Verwandlung von Geld in Ware und mehr Geld zu einer unerhörten Aufwertung des Geldes selbst geführt. Das Geld ist zum Träger gesellschaftlicher Privatmacht geworden. Damit zieht jedoch, wie erneut die Krise zeigt, die Dynamik vom produktiven Sektor in den Vermögenssektor. Das überschüssige Kapital untergräbt die Anreize zur Arbeit und zur unternehmerischen Aktivität, wird zu einem Hemmschuh der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Markt argumentiert unser Autor für einen Rückbau des Warencharakters der Arbeitskraft, der Natur und des Bodens. Der »sanfte Tod des Rentiers« sowie eine neue Ebene zwischenstaatlicher Ordnungspolitik und globaler sozialer Integration ergäben die Möglichkeit, sich auf eine reproduktionsorientierte Lebensweise umzustellen.

 

I

Der Begriff »Kapitalismus« hat eine sehr wechselvolle Geschichte. Ich vermeide eine langwierige Erörterung und beschränke mich auf die letzten vierzig Jahre. In den 1970er-Jahren war »Kapitalismus« noch ein Schlüsselbegriff marxistischer Gesellschaftskritik. Er wurde damals vor allem durch die außerparlamentarische Linke benutzt, die damit auf Probleme wie Ausbeutung, soziale Ungleichheit und die Aushöhlung der Demokratie durch die Macht des Kapitals aufmerksam machen wollte. Von den parlamentarischen Parteien, den Medien und den akademischen Wirtschaftswissenschaften wurde der Begriff sorgfältig vermieden; man sprach stattdessen von »sozialer Marktwirtschaft«. In den 1980er-Jahren und vor allem nach dem Ende des sozialistischen Systems Anfang der 1990er-Jahre geriet der Begriff Kapitalismus dann weitgehend in Vergessenheit. Wer ihn dennoch benutzte, geriet in den Geruch des intellektuellen Hinterwäldlertums oder der politischen Sektiererei. Dann allerdings wurde er wieder entdeckt, allerdings von einer ganz anderen Seite her, nämlich von den neoliberalen Wortführern der finanzkapitalistischen Revolution, denen die Deregulierung und Entfesselung der Marktkräfte gar nicht schnell genug gehen konnte. Man hatte genug vom »Konsensgesülze« (Olaf Henkel) der sozialen Marktwirtschaft, man strebte nach der Zerschlagung der alten »Deutschland AG« und brauchte dafür eine zugkräftige Parole. »Mehr Kapitalismus wagen« ? das forderte ein Wirtschaftsexperte der CDU noch 2008 in einer damals veröffentlichten Streitschrift.

Aber im Herbst 2008 hat sich der Wind erneut und sehr unerwartet gedreht. Mit dem Wort Kapitalismus verknüpfen sich nun düstere Krisenszenarien und Ängste vor Massenarbeitslosigkeit. Steht uns das »Ende des Kapitalismus« bevor ? so wird sogar in den Medien immer häufiger gefragt. Niemand kann diese Frage beantworten, und zwar nicht in erster Line deshalb, weil niemand in der Lage ist, die Folgen der Krise halbwegs zuverlässig vorauszusagen ? sie ist ja noch keineswegs zu Ende. Selbst wenn eine solche Voraussage möglich wäre, wüsste niemand, wie es denn nach einem möglichen Zusammenbruch des Kapitalismus weitergehen soll. Seit dem Ende des realen Sozialismus erscheint der globale Kapitalismus als das schlechthin alternativlose Gesellschaftssystem. Wir alle, auch die Sozialwissenschaftler, haben es deshalb verlernt, über die Grundfragen unserer Gesellschaftsordnung nachzudenken. In welcher Gesellschaft wir leben, interessiert niemanden mehr. Und so werden wir nun durch die Krise quasi auf dem falschen Fuß erwischt und tappen, was die möglichen politischen und gesellschaftspolitischen Auswege aus der Krise betrifft, weitgehend im Dunkeln.

Es ist deshalb wichtig, zunächst die Begriffe zu klären. Was ist »Kapitalismus« eigentlich, und worin unterscheiden sich Kapitalismus und Marktwirtschaft? Märkte sind soziale Institutionen, die den Gütertausch ? genauer: den Kauf und Verkauf von Gütern gegen Geld ? vermitteln. Es gab sie schon im alten China und Mesopotamien, also seit mindestens 5000 Jahren. Sie sind eine Einrichtung, die aus der menschlichen Zivilisation schlechterdings nicht wegzudenken ist. Den Kapitalismus dagegen gibt es, obwohl gewisse kapitalistische Tendenzen sich in Westeuropa schon seit dem späten Mittelalter zeigen, erst seit rund 200 Jahren. Kapitalismus ist zwar auch Marktwirtschaft, aber er ist doch etwas grundlegend Anderes, und es ist wichtig, diesen Unterschied genau zu verstehen.

Was ist vor 200 Jahren geschehen? Üblicherweise fällt an diesem Punkt das Stichwort »Industrielle Revolution«. Das ist richtig, aber nur vordergründig. Hinter der industriellen Revolution standen zahlreiche andere Entwicklungen, die in der Literatur zur Entstehung des Kapitalismus breit erörtert worden sind: Von den Fortschritten der Naturwissenschaft und Technik, den demokratischen Revolutionen bis hin zu Max Webers »Protestantischer Ethik« und Werner Sombarts »Kapitalistischem Geist«. Aber wenn man fragt, warum die Transformation genau gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann, ist eine Veränderung von zentraler Bedeutung: die Ausdehnung der Marktwirtschaft von den Märkten für Güter und Dienstleistungen auf die Produktionsbedingungen, den Boden, die produzierten Produktionsmittel und vor allem die Arbeit. Schon der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts hatte zwar die Entwicklung der Märkte in seinem Herrschaftsbereich gefördert: durch die Förderung der Manufakturen und den Abbau lokaler Zollschranken. Aber er tat alles, um den adligen Grundbesitz, den Boden und die an ihn gebundenen Bauern gegen den Markt abzuschirmen. Nun entstanden mit der Befreiung und Freisetzung der Bauern und der Abschaffung der Zunftbeschränkungen auch Märkte für Boden und für Arbeit ? für freie Lohnarbeit, nicht Sklavenmärkte, die es auch schon immer gegeben hatte. Erst dadurch wurde ja auch die industrielle Revolution möglich. Die Bedeutung dieser Transformation bestand darin, dass der Markt jetzt nicht mehr nur einen Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens regelte. Vielmehr wurde nun der gesamte Reproduktionszusammenhang der Gesellschaft durch den Markt vermittelt und durch seine Gesetze bestimmt. Geld war jetzt nicht mehr nur ein Tauschmittel zum Kauf und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen, sondern verwandelte sich in ein privates Eigentumsrecht auch auf die menschliche Arbeitskraft, darüber hinaus auf den Boden und die Natur. Der Sozialanthropologe Karl Polanyi spricht in diesem Zusammenhang von der »Großen Transformation«, die den früheren Zustand institutioneller Einbettung der Märkte beendet und die ganze Gesellschaft in ein Anhängsel des Marktes verwandelt habe.

Geld, mit dem man nicht nur Güter, sondern auch freie Arbeitskräfte und Produktionsmittel kaufen kann, ist mehr als nur Geld, nämlich Kapital. Was bedeutet das? Es bedeutet erstens, dass Geld nicht mehr nur den Austausch, sondern auch die Produktion vermittelt. Zweitens wird es nicht länger nur ausgegeben, um damit Güter oder Dienstleistungen zu kaufen, sondern es wird in Arbeitskräfte und Produktionsmittel investiert, mit dem Ziel, Waren zu produzieren, die dann mit Gewinn verkauft werden. Das Ziel der Transaktion liegt jetzt, wie schon Marx betont hat, nicht mehr in dem Nutzen beziehungsweise Gebrauchswert der Waren, die man für Geld kaufen kann, sondern in dem Geld selbst, das heißt in seiner Vermehrung. Die Devise ist nicht länger: Verkaufen, um zu kaufen, sondern kaufen, um zu produzieren und dann mit Gewinn zu verkaufen. Geld ? Ware ? mehr Geld: das ist das Grundgesetz des Kapitalismus.

Es handelt sich hier nicht nur um ökonomische Selbstverständlichkeiten, sondern um Sachverhalte von sehr viel weiter reichender gesellschaftlicher Bedeutung, wie ich im Folgenden genauer ausführen möchte. Denn einmal bedeutet die Verwandlung des Geldes in Kapital eine unerhörte Aufwertung des Geldes selbst. Geld ist nicht länger ein harmloses Tauschmittel, sondern wird zum Träger gesellschaftlicher Privatmacht (II). Zum anderen hat die Kontrolle des Geldes über die freie menschliche Arbeitskraft eine historisch beispiellose dynamische Entwicklung nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft ermöglicht. Diese Dynamik bestimmt nun schon seit rund 200 Jahren unser gesellschaftliches Schicksal (III). Schließlich möchte ich auf die sozialstrukturellen Ursachen der aktuellen Krise (IV) und ihre möglichen Folgen eingehen: Unter welchen Bedingungen wäre ein Rückbau der »Großen Transformation« und eine Rückkehr zu einem stationären Reproduktionsmodus von Wirtschaft und Gesellschaft möglich? (V).

 

II

Was bedeutet es, wenn Geld aus den ständischen Einhegungen und institutionellen Einbettungen heraustritt und zu einem privaten Eigentumsrecht mit universaler Reichweite wird? Im liberalen Weltbild erscheint Geld als etwas gänzlich Harmloses. Für die freien, privaten Marktakteure ist es nur ein Medium zur Vermittlung des ökonomischen Austauschs. Die Freiheit der Akteure selbst wird im Kern als etwas Juristisches und Politisches, das heißt in den Institutionen des Privatrechts und des liberalen Staates Verankertes begriffen. Ich meine, dass mit dieser Betrachtungsweise die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes bei Weitem unterschätzt wird. Denn das Geld ist nicht etwas, mit dem die Marktakteure ihre juristisch und politisch ermöglichte Freiheit nur ausleben. Im Gegenteil wird diese Freiheit, wie sich mit Karl Marx und Georg Simmel zeigen lässt, in einem konkreten und praktischen Sinn durch das Geld erst ermöglicht.

Auch Geld kommt zwar nicht ganz ohne Institutionen aus. Aber es funktioniert in den denkbar unterschiedlichsten institutionellen Kontexten; selbst auf den Schwarzmärkten der früheren sozialistischen Länder, in denen das Privateigentum ja weitgehend abgeschafft war, hat es funktioniert. Denn es ist ja selbst ein transportables, interpersonal übertragbares Eigentumsrecht, das nichts rein Egoistisches ist, sondern durchaus gewisse zivilisierende Wirkungen hat: Wer tauscht, der schlägt den anderen nicht tot oder nimmt ihm sein Eigentum einfach weg. Aber die Moral des Geldes reduziert sich auf die Respektierung der gegenseitigen Rechte auf Leben und Eigentum; alle weiteren Gerechtigkeitsforderungen, insbesondere die Forderung nach »gerechten« Preisen, werden ausgeklammert. Genau wegen dieser moralischen Anspruchslosigkeit, weil es soziale Ansprüche auf ihren denkbar kleinsten Nenner bringt, ist Geld heute das schlechthin universale und globale Medium: Sein langer Arm reicht bis in die letzten Winkel der Welt, weiter als die noch immer national verankerte Politik und das Recht, als die Wissenschaft, weiter auch als die sogenannten Weltreligionen. Niemand kann ihm entrinnen, kann aus dem Geldnexus aussteigen; man mache nur die Probe aufs Exempel. Und ein Zusammenbruch des Geldflusses, wie er sich heute als Möglichkeit abzeichnet, gilt mit Recht als eine der größten denkbaren sozialen Katastrophen.

Georg Simmel hat in seiner berühmten, vor hundert Jahren erschienenen Philosophie des Geldes die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes genauer analysiert. Die Tauschmitteltheorie des Geldes, die seinen Wert allein aus dem Nutzen der kaufbaren Gütern ableitet, ist, wie Simmel betont hat, zwar nicht falsch, aber sie sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Kaufkraft des Geldes ist, wie er zeigt, nur die Embryonalform eines in ihm angelegten, viel größeren Potenzials. Geld ermöglicht nämlich »individuelle Freiheit« ? nicht die Freiheit des einsamen Siedlers im Walde, sondern die Freiheit des Individuums mitten in der Gesellschaft. Dank des Geldes können die Menschen sich gerade in einer Gesellschaft, die sie in einer unvorstellbaren Weise voneinander abhängig gemacht hat, individuell frei bewegen. Diese Freiheit erstreckt sich auf alle Seiten der menschlichen Existenz: auf die Welt der Sachen ebenso wie auf die soziale Welt, auf die Zeit wie den Raum. Ich kann nicht nur frei wählen, was ich kaufe, sondern auch bei wem, wann, wo ich kaufe. Dank des Geldes werde ich zwar von meinen Mitmenschen insgesamt nicht unabhängig ? im Gegenteil ?, aber ich werde unabhängig von jedem einzelnen meiner Mitmenschen, weil ich ja gegebenenfalls immer auch woanders hingehen kann. Die viel zitierte »Individualisierung« von Männern wie von Frauen wäre ohne je eigenes Geld schlechterdings nicht denkbar.

Geld ist nicht nur ein ökonomisches Tauschmittel, sondern verkörpert ein viel umfassenderes Potenzial gesellschaftlicher Privatmacht, das alle Weltbezüge der menschlichen Existenz umschließt, die Sachdimension ebenso wie die Sozial-, Zeit- und Raumdimension. Es ist, wie die Alltagssprache sagt, »Vermögen«, also »Können schlechthin«. Ein Mittel, das so vieles vermittelt, kann nicht so harmlos sein, wie die ökonomische Theorie unterstellt. Weil es ein allgemeines Mittel ist, ist es unvermeidlich mehr als ein Mittel, sondern setzt sich selbst an die Stelle des Vermittelten. Er wird zum Endzweck, dem alles Handeln nolens volens zustrebt und gewinnt damit eine »substanzielle« Bedeutung. Was immer wir mittels des Geldes tun oder erwerben, gewinnt eine implizite oder explizite Bewertung im Hinblick auf seine Rekonvertierbarkeit in Geld. Schon weil es in dieser Weise Einheit in der Mannigfaltigkeit der Welt stiftet, gerät Geld unwillkürlich in eine Nähe zur Religion; Simmel spielt hier absichtsvoll auf das Verständnis von Gott als der »coincidentia oppositorum« bei Nikolaus von Kues an, er zitiert Hans Sachs mit seinem Satz vom Geld als dem irdischen Gott.

Das Problem beim Geld ist freilich immer: Man muss es haben. Der Arme, der nichts oder wenig davon hat, hat auch von der im Geld angelegten Wahlfreiheit nichts: Sein Budget ist vollständig durch seine Lebensnotwendigkeiten vorherbestimmt. Der eigentliche »Nutzen« des Geldes, das heißt: sein Vermögenscharakter, fängt erst dort an, wo man es zur freien Verfügung hat. Es ist dann nicht mehr nur die Option auf dieses oder jenes Gut, sondern eine Option höherer Ordnung, eine Option auf Optionen. Geld wird deshalb um seiner selbst willen begehrt, obwohl es längst keinen durch Metall gedeckten »inneren« Wert mehr hat. Es kommt nicht nur darauf an, was ich mit meinem Geld wirklich tue oder erwerbe, es kommt vor allem darauf an, was ich tun könnte. In dieser Aura nicht genutzter Möglichkeiten, die das Geldvermögen wie einen »Astralleib« (Simmel) umgeben, liegt sein Eigenwert. Geldvermögen ist Träger einer diesseitigen Utopie, einer Verheißung, wie sie stärker nicht sein könnte: Wenn ich nur genug Geld habe ? allerdings habe ich nie genug ?, kann ich alles, was die Menschheit kann; ich kann alle Güter der Welt und noch dazu Schönheit, Gesundheit, Intelligenz, Bildung kaufen, eines Tages sogar vielleicht persönliche Unsterblichkeit, wie uns die Biotechnologie-Propheten versprechen. Alles könnte anders werden, die Frage ist nur noch, mit welchen Kosten und welchen Gewinnen. Das erklärt, warum gerade die Reichen vom Geld oft nicht genug bekommen können. Nicht selten kommt es zu einer rauschhaften Übersteigerung des Selbstwertgefühls des Vermögensbesitzers, die ihn den Unterschied zwischen seinen durchaus begrenzten persönlichen Fähigkeiten und dem grenzenlosen Potenzial des Geldes vergessen lässt. Was mein Geld kann, das kann und bin ich ? so lautet das Motto dieser Inszenierungen.

Nun ist die Vermögenseigenschaft keine dem Geld selbst innewohnende mysteriöse Qualität. Sie ist auch nichts Psychologisches, sondern etwas Gesellschaftliches. Sie wurzelt, auch wenn es den Akteuren oft nicht bewusst ist, in einer sozialen Beziehung, der Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern. Geld entsteht aus Kontrakten zwischen Gläubigern und Schuldnern. Stünden den Geldvermögen nicht Schuldner gegenüber, die bereit und in der Lage sind, ihre Schulden abzuarbeiten und einzulösen, so wären die Vermögen nichts als ein Stück Papier, eine pure Illusion. Und obwohl es die Gier nach dem Gelde zu allen Zeiten gegeben hat, hat sich die Vermögenseigenschaft des Geldes, die dieser Gier ja zugrunde liegt, erst in der modernen Gesellschaft in ganzer Breite und Tiefe entwickelt. Den Grund dafür hatte ich schon genannt: Er liegt in der Verallgemeinerung der Ware-Geld-Beziehungen, in der Ausdehnung des Geldnexus auch auf die Produktionsbedingungen, insbesondere die lebendige Arbeitskraft. Der Wert des Geldes hängt davon ab, was man dafür kaufen kann. Je vielfältiger und lebenswichtiger das für Geld zu Erwerbende ist, desto mehr wächst auch sein Eigenwert, das heißt die Wertschätzung der mit dem Geld verknüpften Dispositionschancen selbst. Diese Steigerung erreicht mit dem Zugriff des Geldes auf das freie, das heißt: selbst in den Geldnexus einbezogene und also auch selbst an seiner eigenen Vermarktung interessierte Arbeitsvermögen ihre denkbar höchste Stufe. Die menschliche Arbeitskraft ist ja nicht eine x-beliebige Ressource, sie ist nicht ein bloßer »Produktionsfaktor«, den man mit Maschinen oder Boden einfach auf die gleiche Stufe stellen kann, wie es in den Wirtschaftswissenschaften heute noch immer üblich ist. Wenn wir über Arbeit reden, dann meinen wir nicht nur den Blaumann an der Werkbank, nicht nur manuelle Arbeit, sondern auch dispositive und geistige Arbeit, die Arbeit des Ingenieurs, der Erfinderin, des Intellektuellen, Dienstleistungs- und soziale Beziehungsarbeit, nicht zu vergessen die Arbeit des Soldaten ? die Reihe könnte ohne Ende fortgesetzt werden. Anders als Maschinen und Computer führen Arbeiter und Arbeiterinnen nicht nur Programme aus, sondern können sich selbst programmieren. Sie sind »kreativ«, sie können Neues erfinden und entwickeln. Wenn wir einen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wieder zum Leben erwecken und ihm zeigen könnten, wozu wir heute in der Lage sind ? in wenigen Stunden um die Welt fliegen, telefonieren, per Email kommunizieren ?, er würde an natürliche Kräfte nicht glauben können. Aber es waren keine übernatürlichen Kräfte, sondern gesellschaftliche Arbeit, die alles ermöglicht hat. Arbeit ist nicht nur etwas »Ökonomisches«, sondern das, was die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen ? vielleicht nicht die ganze Wirklichkeit, aber doch wesentliche Momente von ihr ? erst hervorbringt.

Was bedeutet es, wenn dieses Vermögen zur Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit unter die Kontrolle des Geldes gerät? Es bedeutet zum einen, dass der Eigenwert des Geldes in unerhörter Weise gesteigert wird. Durch die Verbindung mit dem Arbeitsvermögen verwandelt sich Geld, wie Marx gezeigt hat, selbst in ein »Vermögen«: in Kapital, das seinen Zweck letztlich in sich selbst, der eigenen Verwertung und Vermehrung hat. Die von Simmel und anderen Autoren unternommenen Vergleiche zwischen Geld und Religion sind keineswegs abwegig. Denn wenn Religion der Versuch ist, das Ganze unserer Existenz zu vergegenwärtigen, indem wir uns in die Perspektive eines überweltlichen Beobachters dieses Ganzen versetzen, dann gewinnt Geld, wenn es die Reproduktion der Gesellschaft als Totalität vermittelt und widerspiegelt, in der Tat so etwas wie eine »religiöse« Funktion. Die andere Konsequenz aber ist ein Imperativ der Dynamik, der dauernden Entwicklung der Potenziale menschlicher Arbeit. Und auch hier handelt es sich nicht nur um einen ökonomischen, sondern um einen gesellschaftlichen Imperativ von geradezu religiöser Unbedingtheit, denn vom Geld hängt ja nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft ab. Hier komme ich zu dem dritten Punkt meiner Überlegungen.

 

III

Was hat der Arbeitsvertrag mit dem dynamischen Charakter des Kapitalismus zu tun? Der Arbeitsvertrag ist im Gegensatz zu Verträgen über den Kauf von Gütern und Dienstleistungen »offen«, das heißt, er begründet einen Anspruch des Arbeitgebers auf die Disposition über die Fähigkeiten des Arbeitnehmers. Aber während diese Potenziale und der komplementäre Anspruch auf der Ebene des individuellen Vertrages natürlich zeitlich, sachlich, räumlich begrenzt sind, sind sie auf kollektiver Ebene, das heißt auf der Ebene der Gesamtarbeit, unbestimmbar. Denn wegen der schon erwähnten kreativen Eigenschaften menschlicher Arbeit ist eine abschließende Definition dessen, was sie leisten kann, unmöglich: Sie müsste nicht nur alle früheren und gegenwärtigen, sondern auch alle zukünftigen Erfindungen einschließen. Das aber würde auf einen Selbstwiderspruch hinauslaufen. Die Potenziale der Arbeit sind durch keine Summe Geldes je einlösbar und als Totalität niemals zu beobachten, geschweige denn privat zu besitzen. Hier eröffnet sich in der Tat ein Reich unbegrenzt erscheinender Möglichkeiten. Die Einlösung des Eigentumsanspruchs auf die lebendige Arbeit ist deshalb denkbar nur als unendlicher Prozess, das heißt durch die Verwandlung des Geldes in »Kapital« und die komplementäre kontinuierliche Entwicklung der Potenziale der Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozess. Der Widerspruch zwischen dem quantitativ fixierten Charakter jeder Geldsumme und der Unbestimmbarkeit der kreativen Potenziale der Arbeit kann nur dynamisch aufgelöst werden: nicht durch den einzelnen Gewinn, sondern nur durch die »rastlose Bewegung des Gewinnens«, wie Marx es formuliert hat. Und so kommt es im Kapitalismus zu immer neuen Erfindungen, zu technischen und industriellen Revolutionen, immer neuen Konsummoden, immer neuen Umwälzungen auch der Organisationsstrukturen und der sozialen Institutionen. Der Kapitalismus kennt kein Gleichgewicht, er kann sich nicht einfach auf dem gleichen Niveau reproduzieren. Dynamik und Wachstum sind seine obersten Imperative. Und wenn das Wachstum nicht zustande kommt, dann folgt die Krise auf dem Fuße.

Aber wie kann diese Dynamik konkret funktionieren? Sie kann ? um es so knapp wie möglich zu formulieren ? unter drei Bedingungen funktionieren, die sich nicht leicht miteinander vereinbaren lassen. Die erste Bedingung ist, dass es einen Klassenunterschied zwischen Vermögenden und Vermögenslosen, das heißt auf den Arbeitsmarkt Angewiesenen geben muss. Und diesen Unterschied gibt es ja, wie wir wissen: Die sozial extrem ungleiche Verteilung der privaten Geld- und Sachvermögen ist bis heute ein beherrschendes Merkmal der Sozialstruktur gerade der fortgeschrittenen Industrieländer. Die zweite Bedingung ist, dass der Klassenunterschied nicht ständisch, ethnisch oder religiös verriegelt sein darf. Die Vermögenslosen müssen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für sich wenigstens eine gewisse Chance sehen, durch harte Arbeit sozial nach oben zu kommen und auf die andere Seite zu wechseln, auch wenn diese Chance objektiv verschwindend gering sein mag. Die Utopie individueller Freiheit, die Hoffnung auf Reichtum oder wenigstens eine bescheidene bürgerliche Existenz treibt auch die Vermögenslosen zu außerordentlichen, mehr als nur routinemäßigen Arbeitsleistungen, und die Konkurrenz zwingt sie auch dazu. Das gilt nicht nur für die häufig aus dem Kleinbürgertum stammenden selbstständigen Unternehmer (Beispiele: James Watt, Alfred Krupp, Gottlieb Daimler, Henry Ford, Max Grundig), sondern auch für Teile der Arbeiterschaft. Wie stark das Aufstiegsmotiv gerade in der Industriearbeiterschaft während der wohlfahrtsstaatlichen Epoche des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, ist durch damalige industriesoziologische Untersuchungen aufgezeigt worden. Auch heute noch verschulden sich viele, um den erhofften sozialen Aufstieg gleichsam vorwegzunehmen und setzen sich damit selbst unter Druck. Es ist die durch das Aufstiegsmotiv genährte Arbeits- und Verschuldungsbereitschaft der Vermögenslosen, die ihrerseits die Verwertung des Kapitals der Vermögenden sicherstellt. Und drittens muss die Bevölkerung wachsen und ? salopp formuliert ? möglichst jugendlich sein. Der Kapitalismus setzt eine zukunftsorientierte Lebensweise der breiten Masse voraus, die nun einmal das Privileg der Jüngeren ist. Die demografische Struktur ist deshalb eine weitere wichtige Randbedingung. Die kapitalistische »Wachstumsexplosion« seit dem 19. Jahrhundert war nicht zufällig auch eine »Bevölkerungsexplosion«.

Die ideale Konstellation für einen florierenden Kapitalismus ist also ein ausgeprägter Klassenunterschied mit wenigen reichen Vermögensbesitzern an der Spitze mit einer wachsenden, armen, aber zugleich aufstiegswilligen Bevölkerung an der Basis. Das Streben nach Aufstieg und Reichtum motiviert außerordentliche Arbeitsleistungen der Vermögenslosen, die für hohe Renditen des Kapitals der Vermögenden sorgen. Unter diesen Bedingungen, wie sie in der Zeit der industriellen Revolution gegeben waren, in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit ihren immer neuen Einwanderungswellen und geradezu beispielhaft im westdeutschen »Wirtschaftswunder« der ersten beiden Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, kann sich ein sich selbst verstärkender positiver Wachstumsprozess entwickeln.

 

IV

Nun haben sich aber die Zeiten geändert, wie wir wissen. Dank der Wirtschaftsprosperität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vielen Menschen in Westeuropa, in den USA und auch in Japan der soziale Aufstieg gelungen; die Mittelschichten sind gewachsen, die Arbeiterschichten dagegen sind zurückgegangen. Obwohl die Ungleichheit der Vermögensverteilung sogar noch zugenommen hat, haben sich auch in den oberen Mittelschichten ansehnliche Finanzvermögen gebildet, die ihren Besitzern ein arbeitsunabhängiges Einkommen beziehungsweise Zusatzeinkommen in Form von Zinsen, Dividenden und Mieten ermöglichen (insgesamt belaufen sich die privaten Finanzvermögen in Deutschland heute auf rund drei Billionen Euro netto). Viele dieser Gutverdienenden sind akademisch gebildet und haben sich vergleichsweise komfortable und prestigeträchtige berufliche Positionen ? überwiegend als höhere Angestellte und Beamte, nicht als Selbstständige ? erarbeitet. All dies lässt den Drang nach weiterem sozialem Aufstieg schwächer werden. Die »Karriere« mag zwar weiterhin begehrt sein, nicht aber die unternehmerische Karriere mit ihren Härten und Risiken. Auch Geld bleibt mehr denn je gefragt, die unternehmerische Arbeit als sein notwendiges Gegenstück jedoch nicht. Auch die Nachkommen dieser Arrivierten wachsen in einem gut gepolsterten Nest auf und müssen um ihren sozialen Erfolg nicht mehr kämpfen. Ungleichheiten des Vermögensbesitzes werden ebenso wie Bildungsungleichheiten in hohem Maße »vererbt«, mit der Folge, dass die Aufstiegswege sozial geschlossen und die ungleiche Verteilung der sozialen Chancen auf Dauer gestellt werden. Die unteren, potenziell stark aufstiegsorientierten Schichten dagegen werden relativ geringer und der Aufstieg wird für sie schwerer.

Die Folge ist, dass sich die Marktkonstellation an den Vermögensmärkten verschiebt: Die anlagesuchenden Finanzvermögen nehmen stark zu, nicht nur als Folge der fortschreitenden Vermögensakkumulation bei den kapitalbesitzenden Eliten, sondern auch des wachsenden Reichtums der Mittelschichten. Die potenziellen Schuldner dagegen, die ? gleichgültig ob Arbeitnehmer oder Selbstständige ? nur aus den vermögenslosen unteren Schichten kommen können, werden dagegen weniger zahlreich, überdies sinken ihre sozialen Chancen. Vor allem die Chancen der Geringqualifizierten sind heute offenbar so schlecht geworden, dass sie auch kaum mehr auf den sozialen Erfolg zu hoffen scheinen. Es hat sich hier ein Teufelskreis zwischen der objektiven Verschlechterung sozialer Chancen und subjektiver Resignation entwickelt, der in der sozialwissenschaftlichen Literatur unter dem Begriff »soziale Exklusion« diskutiert wird. Unter dem Blickwinkel der Vermögensmärkte heißt das: Die »Rentier«schichten und -interessen gewinnen an gesellschaftlichem Gewicht. Das »unternehmerische« Element dagegen geht sowohl wegen der relativen und absoluten Verkleinerung des sozialen Reservoirs potenzieller Unternehmer zurück, als auch wegen der Entmutigung des Aufstiegsmotivs in den unteren Schichten. Die gesellschaftliche Dominanz der Rentierinteressen wird durch die wachsende Rolle »institutioneller Investoren«, also Pensions-, Investment-, Private-Equity- und Hedgefonds, bei der Verwaltung der Vermögen und der Kontrolle der Unternehmen noch verstärkt. Dazu kommen schließlich die immer deutlicheren Auswirkungen der demografischen Entwicklung: Die Bevölkerung wächst nicht mehr, sondern sie schrumpft und altert, und auch mit der Alterung sinkt der Anteil der wirtschaftlich Aktiven und wächst der Anteil der Rentiers.

Die Folge der skizzierten sozialen Strukturverschiebungen ist ein wachsendes Ungleichgewicht an den Vermögensmärkten, eine Tendenz zur Überliquidität, die zum Abfluss des Kapitals in die globalen Finanzmärkte führt und spekulative Blasen entstehen lässt. Die Fondsmanager haben, getrieben auch durch die Renditeerwartungen der Kunden und die dadurch ausgelöste Konkurrenz, das eigentlich »überflüssige« Kapital zu spekulativen Pyramiden aufgetürmt und dadurch eine gigantische Blase aufgebaut, die im Herbst 2008 geplatzt ist. Die massenhafte Entwertung und Vernichtung der Finanzvermögen hat staatliche »Rettungsaktionen« erzwungen, die die schon vor der Krise als kaum tragbar geltende öffentliche Verschuldung explodieren und die Zahlungsunfähigkeit ganzer Staaten zur realen Gefahr werden lassen.

Hier sollte nur gezeigt werden: Es ist verkürzt, wenn, wie dies gegenwärtig meist geschieht, die Krise nur auf die Gier der Bankmanager zurückgeführt wird, oder auch auf die Korruption der Aufsichtsgremien, das Versagen der politischen Regulierungsinstanzen. Alle diese Exzesse und Verfehlungen hat es gegeben, und der Kritik an ihnen ist völlig zuzustimmen. Aber man darf auch den strukturellen Hintergrund nicht vergessen, der sie erst ermöglicht und hervorgebracht hat: den chronischen Überfluss anlagesuchender Finanzvermögen im Verhältnis zu den realen Anlagemöglichkeiten, das heißt den »guten«, also zahlungsfähigen Schuldnern in der Gesellschaft. Solange sich an diesen strukturellen Ungleichgewichten nichts ändert, wird die Krise zu einem chronischen Zustand werden, und auch neue »Regulierungen« des Finanzsektors werden daran nichts ändern können.

 

V

Was folgt aus dieser Diagnose für die Zukunft des Kapitalismus? Es folgt zunächst, dass die Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, nicht aus dem Versagen, sondern gerade aus dem Erfolg des Kapitalismus entstanden sind. Der Kapitalismus ? und das ist heute in China nicht anders als in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ? mobilisiert die Individuen und ihre unternehmerischen Energien durch das Versprechen auf sozialen Aufstieg und »Wohlstand für alle«. Aber sollte dieses Versprechen wirklich für relevante Teile der Bevölkerung eingelöst werden ? was dann? Der Kapitalismus lebt von der Klassenpolarisierung zwischen Reich und Arm, von ihrer immer neuen Herstellung und dynamischen Überwindung. Lässt die Spannung nach, dann wird Kapital weniger knapp, die Rendite sinkt und mit ihr lässt die Dynamik nach. Das aber bedeutet Krise und Armut mitten im Überfluss. Die stationäre Reproduktion eines gehobenen, nur mäßig differenzierten Wohlstandsniveaus ist unter kapitalistischen Voraussetzungen unmöglich.

Anders ausgedrückt: Der Kapitalismus fordert Menschen, die auf die Zukunft, auf den individuellen Erfolg und Aufstieg hin leben; die Knappheit und die Rendite des Kapitals sind nichts anderes als der Ausdruck der Zukunftsorientierung der Gesellschaft. Wenn es aber mehr Menschen gibt, die eher in der Gegenwart statt in der Zukunft leben möchten oder müssen, wie das in den entwickelten Ländern zunehmend der Fall ist, dann heißt das, dass Kapital weniger knapp wird, vielleicht seinen Knappheitswert gänzlich einbüßen wird. Das bedeutet eine permanente Krise. Zentralbank-Zinssätze in der Nähe von Null, wie sie gegenwärtig vorherrschen, zeigen, dass dies keineswegs eine aus der Luft gegriffene Vorstellung ist. John Maynard Keynes hat eine solche Überwindung der Knappheit schon im Jahr 1930, also zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, vorausgesagt. In einem Aufsatz mit dem Titel »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder« wendet er sich gegen allzu großen Pessimismus angesichts der aktuellen Krise: So schmerzhaft die aktuellen Probleme auch seien, seien sie doch nur ein Zwischenstadium einer Entwicklung, die am Ende zur Überwindung des Problems der Knappheit führen würde. Und so sieht Keynes für die Enkelkinder, das heißt für unsere Gegenwart, eine Ära der Muße und des Überflusses heraufkommen.

Dass es schon heute so weit ist, kann man trotz der aktuellen Krise mit guten Gründen bezweifeln. Der überwiegende Teil der Menschheit ? China, Indien, Lateinamerika ? befindet sich noch in der Phase des wirtschaftlichen Aufbruchs, und in großen Teilen Afrikas scheint der Aufbruch noch gar nicht begonnen zu haben. Die anstehende Energiewende, der notwendige Übergang zu postfossilen Energiequellen und der dadurch bedingte Umbau der Infrastruktur werden einen so großen Kapitalbedarf erzeugen, dass es auch auf mittlere Sicht vielleicht noch nicht zu einer Überwindung der Kapitalknappheit kommen muss. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus könnte allein durch die Notwendigkeit eines Rückbaus der durch ihn selbst angerichteten ökologischen Verheerungen eine Überlebensfrist gewinnen, auch wenn ein solcher Rückbau massive, international koordinierte politische Interventionen voraussetzen würde, die gegenwärtig wenig realistisch erscheinen. Dennoch erscheint es mir angebracht, die Keynes?sche Idee einer Überwindung des Knappheitsproblems aufzunehmen und als Gedankenexperiment durchzuspielen. Was wären die Merkmale einer nicht länger durch Knappheit regierten Ökonomie, die eben deshalb auch nicht mehr wachsen müsste? Muss das Wachstum immer weitergehen? ?, so fragt heute selbst ein sozialistischer Neigungen ganz unverdächtiger Autor wie Meinhard Miegel. Eine fundierte Antwort auf die Frage setzt freilich eine sorgfältige Analyse der Wachstumsdynamik selbst, insbesondere der zentralen Rolle des Nexus von Geld und Arbeit für diese Dynamik, voraus, die bei Miegel fehlt.

Niemand wird ernsthaft »den Markt« abschaffen wollen, erst recht nicht nach den Erfahrungen mit den »sozialistischen« Planwirtschaften, die nicht einmal selbst ohne marktförmige Elemente auskamen. Was aber sehr wohl politisch und gesellschaftlich zur Disposition stehen könnte, ist ? hier komme ich zum Anfang meiner Überlegungen zurück ? die seit dem späten 18. Jahrhundert entstandene kapitalistische Marktwirtschaft mit ihrem zirkulär geschlossenen, nicht nur Produkte und Dienstleistungen, sondern auch die Produktionsbedingungen selbst einbeziehenden Marktsystem. Der Schlüssel einer Rückkehr aus der kapitalistischen Wachstumsexplosion in den Zustand einer institutionell eingebetteten Wirtschaft läge ? dies folgt als einfacher Umkehrschluss aus der oben erwähnten Analyse Polanyis ? in einem Rückbau des Warencharakters der Arbeitskraft und auch des Bodens. Es kann dabei natürlich nicht darum gehen, die Arbeitenden erneut an den Boden zu binden, wohl aber darum, die Nutzung des Bodens, den Umgang mit der Natur, die Reproduktion der Arbeitskraft nicht mehr über den Markt zu regulieren, sondern der bewussten Kontrolle der Gesellschaft zu unterwerfen. Arbeits- und Kapitalmärkte müssten deshalb nicht in toto abgeschafft werden. Aber die Sicherung der Subsistenz der Bevölkerung wäre, ebenso wie die Nutzung der natürlichen Ressourcen, eine öffentliche Aufgabe und nicht länger eine Funktion des Marktes. Eine solche institutionelle Ordnung der grundlegenden Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion müsste über einen demokratischen Prozess hergestellt werden.

Eine Reihe von Entwicklungen in der Gegenwart deuten darauf hin, dass wir uns schon in diese Richtung bewegen: Die Herausnahme der Natur und des Bodens aus dem Marktprozess wird bereits heute durch die Ökologiebewegung, teils auch durch die Agrarpolitik vorangetrieben. Auch die Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft wurde durch den modernen Wohlfahrtsstaat schon begonnen. Die seit den 1970er-Jahren sowohl von liberaler wie von grün-alternativer Seite in die Diskussion gebrachten Modelle einer »negativen Einkommenssteuer« oder eines »garantierten Grundeinkommens« wären weitere Schritte auf diesem Weg einer institutionellen Absicherung sozialer Bürgerrechte. Ginge man diesen Weg, so müsste dies zwar nicht auf die völlige Abschaffung der Lohnform hinauslaufen. Aber der Lohn wäre dann nur noch eine Art »Zulage« über das gesellschaftlich garantierte Subsistenzniveau hinaus. Die Chance auch niedrig oder nur durchschnittlich qualifizierter Anbieter von Arbeitskraft, Stellenangebote auch abzulehnen, würde damit zweifellos zunehmen. Arbeit würde dann insgesamt teurer, der Anteil der Steuern und Löhne am Sozialprodukt würde steigen, der der Gewinne sinken. Aber in einer Situation, in der Kapital nicht mehr knapp ist, wäre eine Umverteilung zugunsten der Arbeitseinkommen ökonomisch nur folgerichtig.

Kapital, das weniger knapp ist, bringt auch kaum mehr Zinsen oder Profite ein; es müsste folglich dazu kommen, was Keynes als die »Euthanasie des Rentiers«, also den sanften Tod des Rentiers bezeichnet hat. Die Eigentümer und Vermögensrentiers selbst werden das natürlich nicht einsehen, denn sie glauben ja, so etwas wie ein Naturrecht auf Rendite zu haben. Politisch wäre die Euthanasie des Rentiers also alles andere als ein Spaziergang, denn es würde sich unvermeidlich die Frage der Eigentumsrechte stellen ? hier bleibt Marx unverändert aktuell. Es müssten Wege gefunden werden, die Produktion auch dann weiterzuführen, wenn sie keine oder nur noch geringe Profite erbringt. Banken, Industrie- und Dienstleistungskonzerne, die zu groß geworden sind, um bankrott gehen zu können und daher den Staat zur Geisel zu nehmen drohen, müssten aufgeteilt oder verstaatlicht werden. Die globalen Produkt- und Finanzmärkte müssten einer wirksamen politischen Regulierung unterworfen werden. Jenseits der Märkte müsste eine neue Ebene zwischenstaatlicher Ordnungspolitik und globaler sozialer Integration gefunden werden.

So aussichtslos das gegenwärtig erscheint, nehmen wir einfach einmal an, es gelänge. Geld würde dann seine Kapitaleigenschaft einbüßen und nicht mehr den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als Ganzes kontrollieren. Es könnte sich in ein einfaches Tauschmittel im Sinne der ökonomischen Lehrbücher zurückverwandeln. Mit den Einschränkungen des Zugriffs auf die Arbeitskraft würde es seine mythische Aura als Schlüssel zu absolutem Reichtum verlieren. Es würde keinen Anspruch mehr auf Reichtum überhaupt (wirklichen und möglichen) repräsentieren, sondern nur auf einen bestimmten Anteil an der gegebenen, für alle ausreichenden und auch als ausreichend empfundenen Gütermenge. Komplementär dazu würde Arbeit den Charakter einer mehr oder weniger routinemäßigen Dienstleistung annehmen. Die Wirtschaft müsste dann nicht länger immer neue Revolutionen veranstalten, sondern könnte zu ihrem originären Zweck der Befriedigung profaner Bedürfnisse zurückfinden. Die Gesellschaft könnte sich auf eine mehr auf die Gegenwart, also auf die Reproduktion des Gegebenen als auf die Zukunft orientierte Lebensweise umstellen. Was so entstünde, wäre ein System, das nicht mehr wachsen und keinen Mehrwert mehr erbringen müsste, zugleich aber auch der Gefahr der Krise enthoben wäre. Es könnte sich auf einem gegebenen Aktivitätsniveau einrichten oder nur geringfügig um dieses Niveau pendeln. Auch bei fortbestehenden sozialen Unterschieden und Einkommensdifferenzen könnte Existenzsicherheit auf einem komfortablen Mindestniveau für alle garantiert werden. Die Weltwirtschaft würde, wenn auch auf höherem technischem und ökonomischem Niveau als in der Vergangenheit, zu jenem Zustand quasi-stationärer Reproduktion zurückkehren, der in langfristiger historischer Perspektive ohnehin das Normale war.

Aber es wäre keine offene, dynamische Wirtschaft und Gesellschaft mehr. Das von Francis Fukuyama nach dem Sturz des »realen Sozialismus« voreilig ausgerufene »Ende der Geschichte« könnte wirklich auf der Tagesordnung stehen. Möglicherweise wäre dies nicht für alle Menschen leicht erträglich. Könnten sie die erforderliche Selbstbeschränkung akzeptieren, könnte verhindert werden, dass Kreativität wieder territoriale, gewaltsame und kriegerische Formen annimmt? Könnten die nach wie vor nicht auszuschließenden Verteilungskonflikte unter Kontrolle gehalten werden, für die »Wachstum« ja nicht mehr als Ventil offen stünde? Ich belasse es bei der Formulierung dieser offenen Fragen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2010