Ende des Wachstums?
Die historische Entwicklung der Warenproduktion hat als Kapitalismus über gut zwei Jahrhunderte eine ungeheure Dynamik nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft hervorgebracht. Zugleich hat der Prozess der Verwandlung von Geld in Ware und mehr Geld zu einer unerhörten Aufwertung des Geldes selbst geführt. Das Geld ist zum Träger gesellschaftlicher Privatmacht geworden. Damit zieht jedoch, wie erneut die Krise zeigt, die Dynamik vom produktiven Sektor in den Vermögenssektor. Das überschüssige Kapital untergräbt die Anreize zur Arbeit und zur unternehmerischen Aktivität, wird zu einem Hemmschuh der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Markt argumentiert unser Autor für einen Rückbau des Warencharakters der Arbeitskraft, der Natur und des Bodens. Der »sanfte Tod des Rentiers« sowie eine neue Ebene zwischenstaatlicher Ordnungspolitik und globaler sozialer Integration ergäben die Möglichkeit, sich auf eine reproduktionsorientierte Lebensweise umzustellen.
Der Begriff »Kapitalismus«
hat eine sehr wechselvolle Geschichte. Ich vermeide eine langwierige Erörterung
und beschränke mich auf die letzten vierzig Jahre. In den 1970er-Jahren war
»Kapitalismus« noch ein Schlüsselbegriff marxistischer Gesellschaftskritik. Er
wurde damals vor allem durch die außerparlamentarische Linke benutzt, die damit
auf Probleme wie Ausbeutung, soziale Ungleichheit und die Aushöhlung der
Demokratie durch die Macht des Kapitals aufmerksam machen wollte. Von den
parlamentarischen Parteien, den Medien und den akademischen
Wirtschaftswissenschaften wurde der Begriff sorgfältig vermieden; man sprach
stattdessen von »sozialer Marktwirtschaft«. In den 1980er-Jahren und vor allem
nach dem Ende des sozialistischen Systems Anfang der 1990er-Jahre geriet der
Begriff Kapitalismus dann weitgehend in Vergessenheit. Wer ihn dennoch
benutzte, geriet in den Geruch des intellektuellen Hinterwäldlertums oder der
politischen Sektiererei. Dann allerdings wurde er wieder entdeckt, allerdings
von einer ganz anderen Seite her, nämlich von den neoliberalen Wortführern der
finanzkapitalistischen Revolution, denen die Deregulierung und Entfesselung der
Marktkräfte gar nicht schnell genug gehen konnte. Man hatte genug vom
»Konsensgesülze« (Olaf Henkel) der sozialen Marktwirtschaft, man strebte nach
der Zerschlagung der alten »Deutschland AG« und brauchte dafür eine zugkräftige
Parole. »Mehr Kapitalismus wagen« ? das forderte ein Wirtschaftsexperte der CDU
noch 2008 in einer damals veröffentlichten Streitschrift.
Aber im Herbst 2008 hat sich
der Wind erneut und sehr unerwartet gedreht. Mit dem Wort Kapitalismus
verknüpfen sich nun düstere Krisenszenarien und Ängste vor Massenarbeitslosigkeit.
Steht uns das »Ende des Kapitalismus« bevor ? so wird sogar in den Medien immer
häufiger gefragt. Niemand kann diese Frage beantworten, und zwar nicht in
erster Line deshalb, weil niemand in der Lage ist, die Folgen der Krise
halbwegs zuverlässig vorauszusagen ? sie ist ja noch keineswegs zu Ende. Selbst
wenn eine solche Voraussage möglich wäre, wüsste niemand, wie es denn nach
einem möglichen Zusammenbruch des Kapitalismus weitergehen soll. Seit dem Ende
des realen Sozialismus erscheint der globale Kapitalismus als das schlechthin
alternativlose Gesellschaftssystem. Wir alle, auch die Sozialwissenschaftler,
haben es deshalb verlernt, über die Grundfragen unserer Gesellschaftsordnung
nachzudenken. In welcher Gesellschaft wir leben, interessiert niemanden mehr.
Und so werden wir nun durch die Krise quasi auf dem falschen Fuß erwischt und
tappen, was die möglichen politischen und gesellschaftspolitischen Auswege aus
der Krise betrifft, weitgehend im Dunkeln.
Es ist deshalb wichtig,
zunächst die Begriffe zu klären. Was ist »Kapitalismus« eigentlich, und worin
unterscheiden sich Kapitalismus und Marktwirtschaft? Märkte sind soziale
Institutionen, die den Gütertausch ? genauer: den Kauf und Verkauf von Gütern
gegen Geld ? vermitteln. Es gab sie schon im alten China und Mesopotamien, also
seit mindestens 5000 Jahren. Sie sind eine Einrichtung, die aus der
menschlichen Zivilisation schlechterdings nicht wegzudenken ist. Den
Kapitalismus dagegen gibt es, obwohl gewisse kapitalistische Tendenzen sich in
Westeuropa schon seit dem späten Mittelalter zeigen, erst seit rund 200 Jahren.
Kapitalismus ist zwar auch Marktwirtschaft, aber er ist doch etwas
grundlegend Anderes, und es ist wichtig, diesen Unterschied genau zu verstehen.
Was ist vor 200 Jahren
geschehen? Üblicherweise fällt an diesem Punkt das Stichwort »Industrielle
Revolution«. Das ist richtig, aber nur vordergründig. Hinter der industriellen
Revolution standen zahlreiche andere Entwicklungen, die in der Literatur zur
Entstehung des Kapitalismus breit erörtert worden sind: Von den Fortschritten
der Naturwissenschaft und Technik, den demokratischen Revolutionen bis hin zu
Max Webers »Protestantischer Ethik« und Werner Sombarts »Kapitalistischem
Geist«. Aber wenn man fragt, warum die Transformation genau gegen Ende des 18.
Jahrhunderts begann, ist eine Veränderung von zentraler Bedeutung: die
Ausdehnung der Marktwirtschaft von den Märkten für Güter und Dienstleistungen
auf die Produktionsbedingungen, den Boden, die produzierten Produktionsmittel
und vor allem die Arbeit. Schon der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts
hatte zwar die Entwicklung der Märkte in seinem Herrschaftsbereich gefördert:
durch die Förderung der Manufakturen und den Abbau lokaler Zollschranken. Aber
er tat alles, um den adligen Grundbesitz, den Boden und die an ihn gebundenen
Bauern gegen den Markt abzuschirmen. Nun entstanden mit der Befreiung und
Freisetzung der Bauern und der Abschaffung der Zunftbeschränkungen auch Märkte
für Boden und für Arbeit ? für freie Lohnarbeit, nicht Sklavenmärkte, die es
auch schon immer gegeben hatte. Erst dadurch wurde ja auch die industrielle
Revolution möglich. Die Bedeutung dieser Transformation bestand darin, dass der
Markt jetzt nicht mehr nur einen Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens regelte.
Vielmehr wurde nun der gesamte Reproduktionszusammenhang der Gesellschaft durch
den Markt vermittelt und durch seine Gesetze bestimmt. Geld war jetzt nicht
mehr nur ein Tauschmittel zum Kauf und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen,
sondern verwandelte sich in ein privates Eigentumsrecht auch auf die
menschliche Arbeitskraft, darüber hinaus auf den Boden und die Natur. Der
Sozialanthropologe Karl Polanyi spricht in diesem Zusammenhang von der »Großen
Transformation«, die den früheren Zustand institutioneller Einbettung der
Märkte beendet und die ganze Gesellschaft in ein Anhängsel des Marktes
verwandelt habe.
Geld, mit dem man nicht nur
Güter, sondern auch freie Arbeitskräfte und Produktionsmittel kaufen kann, ist
mehr als nur Geld, nämlich Kapital. Was bedeutet das? Es bedeutet erstens,
dass Geld nicht mehr nur den Austausch, sondern auch die Produktion vermittelt.
Zweitens wird es nicht länger nur ausgegeben, um damit Güter oder
Dienstleistungen zu kaufen, sondern es wird in Arbeitskräfte und Produktionsmittel
investiert, mit dem Ziel, Waren zu produzieren, die dann mit Gewinn verkauft
werden. Das Ziel der Transaktion liegt jetzt, wie schon Marx betont hat, nicht
mehr in dem Nutzen beziehungsweise Gebrauchswert der Waren, die man für Geld
kaufen kann, sondern in dem Geld selbst, das heißt in seiner Vermehrung. Die
Devise ist nicht länger: Verkaufen, um zu kaufen, sondern kaufen, um zu
produzieren und dann mit Gewinn zu verkaufen. Geld ? Ware ? mehr Geld:
das ist das Grundgesetz des Kapitalismus.
Es handelt sich hier nicht
nur um ökonomische Selbstverständlichkeiten, sondern um Sachverhalte von sehr
viel weiter reichender gesellschaftlicher Bedeutung, wie ich im Folgenden
genauer ausführen möchte. Denn einmal bedeutet die Verwandlung des Geldes in Kapital
eine unerhörte Aufwertung des Geldes selbst. Geld ist nicht länger ein
harmloses Tauschmittel, sondern wird zum Träger gesellschaftlicher Privatmacht
(II). Zum anderen hat die Kontrolle des Geldes über die freie menschliche
Arbeitskraft eine historisch beispiellose dynamische Entwicklung nicht nur der
Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft ermöglicht. Diese Dynamik
bestimmt nun schon seit rund 200 Jahren unser gesellschaftliches Schicksal
(III). Schließlich möchte ich auf die sozialstrukturellen Ursachen der
aktuellen Krise (IV) und ihre möglichen Folgen eingehen: Unter welchen
Bedingungen wäre ein Rückbau der »Großen Transformation« und eine Rückkehr zu
einem stationären Reproduktionsmodus von Wirtschaft und Gesellschaft möglich? (V).
Was bedeutet es, wenn Geld
aus den ständischen Einhegungen und institutionellen Einbettungen heraustritt
und zu einem privaten Eigentumsrecht mit universaler Reichweite wird? Im
liberalen Weltbild erscheint Geld als etwas gänzlich Harmloses. Für die freien,
privaten Marktakteure ist es nur ein Medium zur Vermittlung des ökonomischen
Austauschs. Die Freiheit der Akteure selbst wird im Kern als etwas Juristisches
und Politisches, das heißt in den Institutionen des Privatrechts und des
liberalen Staates Verankertes begriffen. Ich meine, dass mit dieser
Betrachtungsweise die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes bei Weitem
unterschätzt wird. Denn das Geld ist nicht etwas, mit dem die Marktakteure ihre
juristisch und politisch ermöglichte Freiheit nur ausleben. Im Gegenteil wird
diese Freiheit, wie sich mit Karl Marx und Georg Simmel zeigen lässt, in einem
konkreten und praktischen Sinn durch das Geld erst ermöglicht.
Auch Geld kommt zwar nicht
ganz ohne Institutionen aus. Aber es funktioniert in den denkbar unterschiedlichsten
institutionellen Kontexten; selbst auf den Schwarzmärkten der früheren
sozialistischen Länder, in denen das Privateigentum ja weitgehend abgeschafft
war, hat es funktioniert. Denn es ist ja selbst ein transportables,
interpersonal übertragbares Eigentumsrecht, das nichts rein Egoistisches ist,
sondern durchaus gewisse zivilisierende Wirkungen hat: Wer tauscht, der schlägt
den anderen nicht tot oder nimmt ihm sein Eigentum einfach weg. Aber die Moral
des Geldes reduziert sich auf die Respektierung der gegenseitigen Rechte auf
Leben und Eigentum; alle weiteren Gerechtigkeitsforderungen, insbesondere die
Forderung nach »gerechten« Preisen, werden ausgeklammert. Genau wegen dieser
moralischen Anspruchslosigkeit, weil es soziale Ansprüche auf ihren denkbar
kleinsten Nenner bringt, ist Geld heute das schlechthin universale und globale
Medium: Sein langer Arm reicht bis in die letzten Winkel der Welt, weiter als
die noch immer national verankerte Politik und das Recht, als die Wissenschaft,
weiter auch als die sogenannten Weltreligionen. Niemand kann ihm entrinnen,
kann aus dem Geldnexus aussteigen; man mache nur die Probe aufs Exempel. Und
ein Zusammenbruch des Geldflusses, wie er sich heute als Möglichkeit
abzeichnet, gilt mit Recht als eine der größten denkbaren sozialen
Katastrophen.
Georg Simmel hat in seiner
berühmten, vor hundert Jahren erschienenen Philosophie des Geldes die
gesellschaftliche Bedeutung des Geldes genauer analysiert. Die
Tauschmitteltheorie des Geldes, die seinen Wert allein aus dem Nutzen der
kaufbaren Gütern ableitet, ist, wie Simmel betont hat, zwar nicht falsch, aber
sie sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Kaufkraft des Geldes ist, wie
er zeigt, nur die Embryonalform eines in ihm angelegten, viel größeren
Potenzials. Geld ermöglicht nämlich »individuelle Freiheit« ? nicht die
Freiheit des einsamen Siedlers im Walde, sondern die Freiheit des Individuums
mitten in der Gesellschaft. Dank des Geldes können die Menschen sich gerade in
einer Gesellschaft, die sie in einer unvorstellbaren Weise voneinander abhängig
gemacht hat, individuell frei bewegen. Diese Freiheit erstreckt sich auf alle
Seiten der menschlichen Existenz: auf die Welt der Sachen ebenso wie auf die
soziale Welt, auf die Zeit wie den Raum. Ich kann nicht nur frei wählen, was
ich kaufe, sondern auch bei wem, wann, wo ich kaufe. Dank des Geldes werde ich
zwar von meinen Mitmenschen insgesamt nicht unabhängig ? im Gegenteil ?, aber
ich werde unabhängig von jedem einzelnen meiner Mitmenschen, weil ich ja
gegebenenfalls immer auch woanders hingehen kann. Die viel zitierte
»Individualisierung« von Männern wie von Frauen wäre ohne je eigenes Geld
schlechterdings nicht denkbar.
Geld ist nicht nur ein
ökonomisches Tauschmittel, sondern verkörpert ein viel umfassenderes Potenzial gesellschaftlicher
Privatmacht, das alle Weltbezüge der menschlichen Existenz umschließt, die
Sachdimension ebenso wie die Sozial-, Zeit- und Raumdimension. Es ist, wie die
Alltagssprache sagt, »Vermögen«, also »Können schlechthin«. Ein Mittel, das so
vieles vermittelt, kann nicht so harmlos sein, wie die ökonomische Theorie
unterstellt. Weil es ein allgemeines Mittel ist, ist es unvermeidlich
mehr als ein Mittel, sondern setzt sich selbst an die Stelle des
Vermittelten. Er wird zum Endzweck, dem alles Handeln nolens volens zustrebt
und gewinnt damit eine »substanzielle« Bedeutung. Was immer wir mittels des
Geldes tun oder erwerben, gewinnt eine implizite oder explizite Bewertung im
Hinblick auf seine Rekonvertierbarkeit in Geld. Schon weil es in dieser Weise
Einheit in der Mannigfaltigkeit der Welt stiftet, gerät Geld unwillkürlich in
eine Nähe zur Religion; Simmel spielt hier absichtsvoll auf das Verständnis von
Gott als der »coincidentia oppositorum« bei Nikolaus von Kues an, er zitiert
Hans Sachs mit seinem Satz vom Geld als dem irdischen Gott.
Das Problem beim Geld ist
freilich immer: Man muss es haben. Der Arme, der nichts oder wenig davon hat,
hat auch von der im Geld angelegten Wahlfreiheit nichts: Sein Budget ist
vollständig durch seine Lebensnotwendigkeiten vorherbestimmt. Der eigentliche
»Nutzen« des Geldes, das heißt: sein Vermögenscharakter, fängt erst dort an, wo
man es zur freien Verfügung hat. Es ist dann nicht mehr nur die Option auf
dieses oder jenes Gut, sondern eine Option höherer Ordnung, eine Option auf
Optionen. Geld wird deshalb um seiner selbst willen begehrt, obwohl es
längst keinen durch Metall gedeckten »inneren« Wert mehr hat. Es kommt nicht
nur darauf an, was ich mit meinem Geld wirklich tue oder erwerbe, es kommt vor
allem darauf an, was ich tun könnte. In dieser Aura nicht genutzter
Möglichkeiten, die das Geldvermögen wie einen »Astralleib« (Simmel) umgeben,
liegt sein Eigenwert. Geldvermögen ist Träger einer diesseitigen Utopie, einer
Verheißung, wie sie stärker nicht sein könnte: Wenn ich nur genug Geld habe ?
allerdings habe ich nie genug ?, kann ich alles, was die Menschheit
kann; ich kann alle Güter der Welt und noch dazu Schönheit, Gesundheit,
Intelligenz, Bildung kaufen, eines Tages sogar vielleicht persönliche
Unsterblichkeit, wie uns die Biotechnologie-Propheten versprechen. Alles könnte
anders werden, die Frage ist nur noch, mit welchen Kosten und welchen Gewinnen.
Das erklärt, warum gerade die Reichen vom Geld oft nicht genug bekommen können.
Nicht selten kommt es zu einer rauschhaften Übersteigerung des
Selbstwertgefühls des Vermögensbesitzers, die ihn den Unterschied zwischen
seinen durchaus begrenzten persönlichen Fähigkeiten und dem grenzenlosen
Potenzial des Geldes vergessen lässt. Was mein Geld kann, das kann und bin ich
? so lautet das Motto dieser Inszenierungen.
Nun ist die
Vermögenseigenschaft keine dem Geld selbst innewohnende mysteriöse Qualität.
Sie ist auch nichts Psychologisches, sondern etwas Gesellschaftliches. Sie
wurzelt, auch wenn es den Akteuren oft nicht bewusst ist, in einer sozialen
Beziehung, der Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern. Geld entsteht aus
Kontrakten zwischen Gläubigern und Schuldnern. Stünden den Geldvermögen nicht
Schuldner gegenüber, die bereit und in der Lage sind, ihre Schulden
abzuarbeiten und einzulösen, so wären die Vermögen nichts als ein Stück Papier,
eine pure Illusion. Und obwohl es die Gier nach dem Gelde zu allen Zeiten
gegeben hat, hat sich die Vermögenseigenschaft des Geldes, die dieser Gier ja
zugrunde liegt, erst in der modernen Gesellschaft in ganzer Breite und Tiefe
entwickelt. Den Grund dafür hatte ich schon genannt: Er liegt in der
Verallgemeinerung der Ware-Geld-Beziehungen, in der Ausdehnung des Geldnexus
auch auf die Produktionsbedingungen, insbesondere die lebendige Arbeitskraft.
Der Wert des Geldes hängt davon ab, was man dafür kaufen kann. Je vielfältiger
und lebenswichtiger das für Geld zu Erwerbende ist, desto mehr wächst auch sein
Eigenwert, das heißt die Wertschätzung der mit dem Geld verknüpften Dispositionschancen
selbst. Diese Steigerung erreicht mit dem Zugriff des Geldes auf das freie, das
heißt: selbst in den Geldnexus einbezogene und also auch selbst an seiner
eigenen Vermarktung interessierte Arbeitsvermögen ihre denkbar höchste Stufe.
Die menschliche Arbeitskraft ist ja nicht eine x-beliebige Ressource, sie ist
nicht ein bloßer »Produktionsfaktor«, den man mit Maschinen oder Boden einfach
auf die gleiche Stufe stellen kann, wie es in den Wirtschaftswissenschaften
heute noch immer üblich ist. Wenn wir über Arbeit reden, dann meinen wir nicht
nur den Blaumann an der Werkbank, nicht nur manuelle Arbeit, sondern auch
dispositive und geistige Arbeit, die Arbeit des Ingenieurs, der Erfinderin, des
Intellektuellen, Dienstleistungs- und soziale Beziehungsarbeit, nicht zu
vergessen die Arbeit des Soldaten ? die Reihe könnte ohne Ende fortgesetzt
werden. Anders als Maschinen und Computer führen Arbeiter und Arbeiterinnen
nicht nur Programme aus, sondern können sich selbst programmieren. Sie sind
»kreativ«, sie können Neues erfinden und entwickeln. Wenn wir einen
Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wieder zum Leben erwecken und ihm zeigen
könnten, wozu wir heute in der Lage sind ? in wenigen Stunden um die Welt
fliegen, telefonieren, per Email kommunizieren ?, er würde an natürliche Kräfte
nicht glauben können. Aber es waren keine übernatürlichen Kräfte, sondern
gesellschaftliche Arbeit, die alles ermöglicht hat. Arbeit ist nicht nur etwas
»Ökonomisches«, sondern das, was die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit
des Menschen ? vielleicht nicht die ganze Wirklichkeit, aber doch wesentliche
Momente von ihr ? erst hervorbringt.
Was bedeutet es, wenn dieses
Vermögen zur Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit unter die Kontrolle des
Geldes gerät? Es bedeutet zum einen, dass der Eigenwert des Geldes in
unerhörter Weise gesteigert wird. Durch die Verbindung mit dem Arbeitsvermögen
verwandelt sich Geld, wie Marx gezeigt hat, selbst in ein »Vermögen«: in
Kapital, das seinen Zweck letztlich in sich selbst, der eigenen Verwertung und
Vermehrung hat. Die von Simmel und anderen Autoren unternommenen Vergleiche
zwischen Geld und Religion sind keineswegs abwegig. Denn wenn Religion der
Versuch ist, das Ganze unserer Existenz zu vergegenwärtigen, indem wir uns in
die Perspektive eines überweltlichen Beobachters dieses Ganzen versetzen, dann
gewinnt Geld, wenn es die Reproduktion der Gesellschaft als Totalität
vermittelt und widerspiegelt, in der Tat so etwas wie eine »religiöse«
Funktion. Die andere Konsequenz aber ist ein Imperativ der Dynamik, der
dauernden Entwicklung der Potenziale menschlicher Arbeit. Und auch hier handelt
es sich nicht nur um einen ökonomischen, sondern um einen gesellschaftlichen
Imperativ von geradezu religiöser Unbedingtheit, denn vom Geld hängt ja nicht
nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft ab. Hier komme ich zu dem
dritten Punkt meiner Überlegungen.
Was hat der Arbeitsvertrag
mit dem dynamischen Charakter des Kapitalismus zu tun? Der Arbeitsvertrag ist
im Gegensatz zu Verträgen über den Kauf von Gütern und Dienstleistungen
»offen«, das heißt, er begründet einen Anspruch des Arbeitgebers auf die
Disposition über die Fähigkeiten des Arbeitnehmers. Aber während diese
Potenziale und der komplementäre Anspruch auf der Ebene des individuellen
Vertrages natürlich zeitlich, sachlich, räumlich begrenzt sind, sind sie auf
kollektiver Ebene, das heißt auf der Ebene der Gesamtarbeit, unbestimmbar. Denn
wegen der schon erwähnten kreativen Eigenschaften menschlicher Arbeit ist eine
abschließende Definition dessen, was sie leisten kann, unmöglich: Sie müsste
nicht nur alle früheren und gegenwärtigen, sondern auch alle zukünftigen
Erfindungen einschließen. Das aber würde auf einen Selbstwiderspruch
hinauslaufen. Die Potenziale der Arbeit sind durch keine Summe Geldes je
einlösbar und als Totalität niemals zu beobachten, geschweige denn privat zu
besitzen. Hier eröffnet sich in der Tat ein Reich unbegrenzt erscheinender
Möglichkeiten. Die Einlösung des Eigentumsanspruchs auf die lebendige Arbeit ist
deshalb denkbar nur als unendlicher Prozess, das heißt durch die
Verwandlung des Geldes in »Kapital« und die komplementäre kontinuierliche
Entwicklung der Potenziale der Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozess.
Der Widerspruch zwischen dem quantitativ fixierten Charakter jeder Geldsumme
und der Unbestimmbarkeit der kreativen Potenziale der Arbeit kann nur dynamisch
aufgelöst werden: nicht durch den einzelnen Gewinn, sondern nur durch die
»rastlose Bewegung des Gewinnens«, wie Marx es formuliert hat. Und so kommt es
im Kapitalismus zu immer neuen Erfindungen, zu technischen und industriellen
Revolutionen, immer neuen Konsummoden, immer neuen Umwälzungen auch der
Organisationsstrukturen und der sozialen Institutionen. Der Kapitalismus kennt
kein Gleichgewicht, er kann sich nicht einfach auf dem gleichen Niveau
reproduzieren. Dynamik und Wachstum sind seine obersten Imperative. Und wenn
das Wachstum nicht zustande kommt, dann folgt die Krise auf dem Fuße.
Aber wie kann diese Dynamik konkret
funktionieren? Sie kann ? um es so knapp wie möglich zu formulieren ? unter
drei Bedingungen funktionieren, die sich nicht leicht miteinander vereinbaren
lassen. Die erste Bedingung ist, dass es einen Klassenunterschied
zwischen Vermögenden und Vermögenslosen, das heißt auf den Arbeitsmarkt
Angewiesenen geben muss. Und diesen Unterschied gibt es ja, wie wir wissen: Die
sozial extrem ungleiche Verteilung der privaten Geld- und Sachvermögen ist bis
heute ein beherrschendes Merkmal der Sozialstruktur gerade der
fortgeschrittenen Industrieländer. Die zweite Bedingung ist, dass der
Klassenunterschied nicht ständisch, ethnisch oder religiös verriegelt sein
darf. Die Vermögenslosen müssen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für sich
wenigstens eine gewisse Chance sehen, durch harte Arbeit sozial nach oben zu
kommen und auf die andere Seite zu wechseln, auch wenn diese Chance objektiv
verschwindend gering sein mag. Die Utopie individueller Freiheit, die Hoffnung
auf Reichtum oder wenigstens eine bescheidene bürgerliche Existenz treibt auch
die Vermögenslosen zu außerordentlichen, mehr als nur routinemäßigen
Arbeitsleistungen, und die Konkurrenz zwingt sie auch dazu. Das gilt nicht nur
für die häufig aus dem Kleinbürgertum stammenden selbstständigen Unternehmer
(Beispiele: James Watt, Alfred Krupp, Gottlieb Daimler, Henry Ford, Max
Grundig), sondern auch für Teile der Arbeiterschaft. Wie stark das
Aufstiegsmotiv gerade in der Industriearbeiterschaft während der
wohlfahrtsstaatlichen Epoche des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts war, ist durch damalige industriesoziologische Untersuchungen
aufgezeigt worden. Auch heute noch verschulden sich viele, um den erhofften
sozialen Aufstieg gleichsam vorwegzunehmen und setzen sich damit selbst unter
Druck. Es ist die durch das Aufstiegsmotiv genährte Arbeits- und
Verschuldungsbereitschaft der Vermögenslosen, die ihrerseits die Verwertung des
Kapitals der Vermögenden sicherstellt. Und drittens muss die Bevölkerung
wachsen und ? salopp formuliert ? möglichst jugendlich sein. Der Kapitalismus
setzt eine zukunftsorientierte Lebensweise der breiten Masse voraus, die nun
einmal das Privileg der Jüngeren ist. Die demografische Struktur ist deshalb
eine weitere wichtige Randbedingung. Die kapitalistische »Wachstumsexplosion«
seit dem 19. Jahrhundert war nicht zufällig auch eine »Bevölkerungsexplosion«.
Die ideale Konstellation für
einen florierenden Kapitalismus ist also ein ausgeprägter Klassenunterschied
mit wenigen reichen Vermögensbesitzern an der Spitze mit einer wachsenden,
armen, aber zugleich aufstiegswilligen Bevölkerung an der Basis. Das Streben
nach Aufstieg und Reichtum motiviert außerordentliche Arbeitsleistungen der
Vermögenslosen, die für hohe Renditen des Kapitals der Vermögenden sorgen.
Unter diesen Bedingungen, wie sie in der Zeit der industriellen Revolution
gegeben waren, in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit ihren immer
neuen Einwanderungswellen und geradezu beispielhaft im westdeutschen
»Wirtschaftswunder« der ersten beiden Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg,
kann sich ein sich selbst verstärkender positiver Wachstumsprozess entwickeln.
Nun haben sich aber die
Zeiten geändert, wie wir wissen. Dank der Wirtschaftsprosperität in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vielen Menschen in Westeuropa, in den USA und
auch in Japan der soziale Aufstieg gelungen; die Mittelschichten sind
gewachsen, die Arbeiterschichten dagegen sind zurückgegangen. Obwohl die
Ungleichheit der Vermögensverteilung sogar noch zugenommen hat, haben sich auch
in den oberen Mittelschichten ansehnliche Finanzvermögen gebildet, die ihren
Besitzern ein arbeitsunabhängiges Einkommen beziehungsweise Zusatzeinkommen in
Form von Zinsen, Dividenden und Mieten ermöglichen (insgesamt belaufen sich die
privaten Finanzvermögen in Deutschland heute auf rund drei Billionen Euro
netto). Viele dieser Gutverdienenden sind akademisch gebildet und haben sich
vergleichsweise komfortable und prestigeträchtige berufliche Positionen ?
überwiegend als höhere Angestellte und Beamte, nicht als Selbstständige ?
erarbeitet. All dies lässt den Drang nach weiterem sozialem Aufstieg schwächer
werden. Die »Karriere« mag zwar weiterhin begehrt sein, nicht aber die unternehmerische
Karriere mit ihren Härten und Risiken. Auch Geld bleibt mehr denn je gefragt,
die unternehmerische Arbeit als sein notwendiges Gegenstück jedoch nicht. Auch
die Nachkommen dieser Arrivierten wachsen in einem gut gepolsterten Nest auf
und müssen um ihren sozialen Erfolg nicht mehr kämpfen. Ungleichheiten des Vermögensbesitzes
werden ebenso wie Bildungsungleichheiten in hohem Maße »vererbt«, mit der
Folge, dass die Aufstiegswege sozial geschlossen und die ungleiche Verteilung
der sozialen Chancen auf Dauer gestellt werden. Die unteren, potenziell stark
aufstiegsorientierten Schichten dagegen werden relativ geringer und der
Aufstieg wird für sie schwerer.
Die Folge ist, dass sich die
Marktkonstellation an den Vermögensmärkten verschiebt: Die anlagesuchenden
Finanzvermögen nehmen stark zu, nicht nur als Folge der fortschreitenden
Vermögensakkumulation bei den kapitalbesitzenden Eliten, sondern auch des
wachsenden Reichtums der Mittelschichten. Die potenziellen Schuldner dagegen,
die ? gleichgültig ob Arbeitnehmer oder Selbstständige ? nur aus den
vermögenslosen unteren Schichten kommen können, werden dagegen weniger
zahlreich, überdies sinken ihre sozialen Chancen. Vor allem die Chancen der
Geringqualifizierten sind heute offenbar so schlecht geworden, dass sie auch
kaum mehr auf den sozialen Erfolg zu hoffen scheinen. Es hat sich hier ein
Teufelskreis zwischen der objektiven Verschlechterung sozialer Chancen und
subjektiver Resignation entwickelt, der in der sozialwissenschaftlichen
Literatur unter dem Begriff »soziale Exklusion« diskutiert wird. Unter dem
Blickwinkel der Vermögensmärkte heißt das: Die »Rentier«schichten und
-interessen gewinnen an gesellschaftlichem Gewicht. Das »unternehmerische«
Element dagegen geht sowohl wegen der relativen und absoluten Verkleinerung des
sozialen Reservoirs potenzieller Unternehmer zurück, als auch wegen der
Entmutigung des Aufstiegsmotivs in den unteren Schichten. Die gesellschaftliche
Dominanz der Rentierinteressen wird durch die wachsende Rolle »institutioneller
Investoren«, also Pensions-, Investment-, Private-Equity- und Hedgefonds, bei
der Verwaltung der Vermögen und der Kontrolle der Unternehmen noch verstärkt.
Dazu kommen schließlich die immer deutlicheren Auswirkungen der demografischen
Entwicklung: Die Bevölkerung wächst nicht mehr, sondern sie schrumpft und
altert, und auch mit der Alterung sinkt der Anteil der wirtschaftlich Aktiven
und wächst der Anteil der Rentiers.
Die Folge der skizzierten
sozialen Strukturverschiebungen ist ein wachsendes Ungleichgewicht an den
Vermögensmärkten, eine Tendenz zur Überliquidität, die zum Abfluss des Kapitals
in die globalen Finanzmärkte führt und spekulative Blasen entstehen lässt. Die
Fondsmanager haben, getrieben auch durch die Renditeerwartungen der Kunden und
die dadurch ausgelöste Konkurrenz, das eigentlich »überflüssige« Kapital zu
spekulativen Pyramiden aufgetürmt und dadurch eine gigantische Blase aufgebaut,
die im Herbst 2008 geplatzt ist. Die massenhafte Entwertung und Vernichtung der
Finanzvermögen hat staatliche »Rettungsaktionen« erzwungen, die die schon vor
der Krise als kaum tragbar geltende öffentliche Verschuldung explodieren und
die Zahlungsunfähigkeit ganzer Staaten zur realen Gefahr werden lassen.
Hier sollte nur gezeigt
werden: Es ist verkürzt, wenn, wie dies gegenwärtig meist geschieht, die Krise
nur auf die Gier der Bankmanager zurückgeführt wird, oder auch auf die
Korruption der Aufsichtsgremien, das Versagen der politischen
Regulierungsinstanzen. Alle diese Exzesse und Verfehlungen hat es gegeben, und
der Kritik an ihnen ist völlig zuzustimmen. Aber man darf auch den
strukturellen Hintergrund nicht vergessen, der sie erst ermöglicht und
hervorgebracht hat: den chronischen Überfluss anlagesuchender Finanzvermögen im
Verhältnis zu den realen Anlagemöglichkeiten, das heißt den »guten«, also
zahlungsfähigen Schuldnern in der Gesellschaft. Solange sich an diesen
strukturellen Ungleichgewichten nichts ändert, wird die Krise zu einem
chronischen Zustand werden, und auch neue »Regulierungen« des Finanzsektors
werden daran nichts ändern können.
V
Was folgt aus dieser Diagnose
für die Zukunft des Kapitalismus? Es folgt zunächst, dass die Probleme, mit
denen wir es heute zu tun haben, nicht aus dem Versagen, sondern gerade aus dem
Erfolg des Kapitalismus entstanden sind. Der Kapitalismus ? und das ist heute
in China nicht anders als in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ?
mobilisiert die Individuen und ihre unternehmerischen Energien durch das
Versprechen auf sozialen Aufstieg und »Wohlstand für alle«. Aber sollte dieses
Versprechen wirklich für relevante Teile der Bevölkerung eingelöst werden ? was
dann? Der Kapitalismus lebt von der Klassenpolarisierung zwischen Reich und
Arm, von ihrer immer neuen Herstellung und dynamischen Überwindung. Lässt die
Spannung nach, dann wird Kapital weniger knapp, die Rendite sinkt und mit ihr
lässt die Dynamik nach. Das aber bedeutet Krise und Armut mitten im Überfluss.
Die stationäre Reproduktion eines gehobenen, nur mäßig differenzierten
Wohlstandsniveaus ist unter kapitalistischen Voraussetzungen unmöglich.
Anders ausgedrückt: Der
Kapitalismus fordert Menschen, die auf die Zukunft, auf den individuellen
Erfolg und Aufstieg hin leben; die Knappheit und die Rendite des Kapitals sind
nichts anderes als der Ausdruck der Zukunftsorientierung der Gesellschaft. Wenn
es aber mehr Menschen gibt, die eher in der Gegenwart statt in der Zukunft
leben möchten oder müssen, wie das in den entwickelten Ländern zunehmend der
Fall ist, dann heißt das, dass Kapital weniger knapp wird, vielleicht seinen
Knappheitswert gänzlich einbüßen wird. Das bedeutet eine permanente Krise.
Zentralbank-Zinssätze in der Nähe von Null, wie sie gegenwärtig vorherrschen,
zeigen, dass dies keineswegs eine aus der Luft gegriffene Vorstellung ist. John
Maynard Keynes hat eine solche Überwindung der Knappheit schon im Jahr 1930, also
zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, vorausgesagt. In einem Aufsatz mit dem
Titel »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder« wendet er sich
gegen allzu großen Pessimismus angesichts der aktuellen Krise: So schmerzhaft
die aktuellen Probleme auch seien, seien sie doch nur ein Zwischenstadium einer
Entwicklung, die am Ende zur Überwindung des Problems der Knappheit führen
würde. Und so sieht Keynes für die Enkelkinder, das heißt für unsere Gegenwart,
eine Ära der Muße und des Überflusses heraufkommen.
Dass es schon heute so weit
ist, kann man trotz der aktuellen Krise mit guten Gründen bezweifeln. Der
überwiegende Teil der Menschheit ? China, Indien, Lateinamerika ? befindet sich
noch in der Phase des wirtschaftlichen Aufbruchs, und in großen Teilen Afrikas
scheint der Aufbruch noch gar nicht begonnen zu haben. Die anstehende
Energiewende, der notwendige Übergang zu postfossilen Energiequellen und der
dadurch bedingte Umbau der Infrastruktur werden einen so großen Kapitalbedarf
erzeugen, dass es auch auf mittlere Sicht vielleicht noch nicht zu einer
Überwindung der Kapitalknappheit kommen muss. Mit anderen Worten: Der
Kapitalismus könnte allein durch die Notwendigkeit eines Rückbaus der durch ihn
selbst angerichteten ökologischen Verheerungen eine Überlebensfrist gewinnen,
auch wenn ein solcher Rückbau massive, international koordinierte politische
Interventionen voraussetzen würde, die gegenwärtig wenig realistisch
erscheinen. Dennoch erscheint es mir angebracht, die Keynes?sche Idee einer
Überwindung des Knappheitsproblems aufzunehmen und als Gedankenexperiment
durchzuspielen. Was wären die Merkmale einer nicht länger durch Knappheit
regierten Ökonomie, die eben deshalb auch nicht mehr wachsen müsste? Muss das
Wachstum immer weitergehen? ?, so fragt heute selbst ein sozialistischer
Neigungen ganz unverdächtiger Autor wie Meinhard Miegel. Eine fundierte Antwort
auf die Frage setzt freilich eine sorgfältige Analyse der Wachstumsdynamik
selbst, insbesondere der zentralen Rolle des Nexus von Geld und Arbeit für
diese Dynamik, voraus, die bei Miegel fehlt.
Niemand wird ernsthaft »den
Markt« abschaffen wollen, erst recht nicht nach den Erfahrungen mit den
»sozialistischen« Planwirtschaften, die nicht einmal selbst ohne marktförmige
Elemente auskamen. Was aber sehr wohl politisch und gesellschaftlich zur
Disposition stehen könnte, ist ? hier komme ich zum Anfang meiner Überlegungen
zurück ? die seit dem späten 18. Jahrhundert entstandene kapitalistische
Marktwirtschaft mit ihrem zirkulär geschlossenen, nicht nur Produkte und
Dienstleistungen, sondern auch die Produktionsbedingungen selbst einbeziehenden
Marktsystem. Der Schlüssel einer Rückkehr aus der kapitalistischen
Wachstumsexplosion in den Zustand einer institutionell eingebetteten Wirtschaft
läge ? dies folgt als einfacher Umkehrschluss aus der oben erwähnten Analyse
Polanyis ? in einem Rückbau des Warencharakters der Arbeitskraft und auch des
Bodens. Es kann dabei natürlich nicht darum gehen, die Arbeitenden erneut an
den Boden zu binden, wohl aber darum, die Nutzung des Bodens, den Umgang mit
der Natur, die Reproduktion der Arbeitskraft nicht mehr über den Markt zu
regulieren, sondern der bewussten Kontrolle der Gesellschaft zu unterwerfen.
Arbeits- und Kapitalmärkte müssten deshalb nicht in toto abgeschafft werden.
Aber die Sicherung der Subsistenz der Bevölkerung wäre, ebenso wie die Nutzung
der natürlichen Ressourcen, eine öffentliche Aufgabe und nicht länger eine
Funktion des Marktes. Eine solche institutionelle Ordnung der grundlegenden
Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion müsste über einen demokratischen
Prozess hergestellt werden.
Eine Reihe von Entwicklungen
in der Gegenwart deuten darauf hin, dass wir uns schon in diese Richtung
bewegen: Die Herausnahme der Natur und des Bodens aus dem Marktprozess wird
bereits heute durch die Ökologiebewegung, teils auch durch die Agrarpolitik
vorangetrieben. Auch die Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft
wurde durch den modernen Wohlfahrtsstaat schon begonnen. Die seit den
1970er-Jahren sowohl von liberaler wie von grün-alternativer Seite in die
Diskussion gebrachten Modelle einer »negativen Einkommenssteuer« oder eines
»garantierten Grundeinkommens« wären weitere Schritte auf diesem Weg einer
institutionellen Absicherung sozialer Bürgerrechte. Ginge man diesen Weg, so
müsste dies zwar nicht auf die völlige Abschaffung der Lohnform hinauslaufen.
Aber der Lohn wäre dann nur noch eine Art »Zulage« über das gesellschaftlich
garantierte Subsistenzniveau hinaus. Die Chance auch niedrig oder nur durchschnittlich
qualifizierter Anbieter von Arbeitskraft, Stellenangebote auch abzulehnen,
würde damit zweifellos zunehmen. Arbeit würde dann insgesamt teurer, der Anteil
der Steuern und Löhne am Sozialprodukt würde steigen, der der Gewinne sinken.
Aber in einer Situation, in der Kapital nicht mehr knapp ist, wäre eine
Umverteilung zugunsten der Arbeitseinkommen ökonomisch nur folgerichtig.
Kapital, das weniger knapp
ist, bringt auch kaum mehr Zinsen oder Profite ein; es müsste folglich dazu
kommen, was Keynes als die »Euthanasie des Rentiers«, also den sanften Tod des
Rentiers bezeichnet hat. Die Eigentümer und Vermögensrentiers selbst werden das
natürlich nicht einsehen, denn sie glauben ja, so etwas wie ein Naturrecht auf
Rendite zu haben. Politisch wäre die Euthanasie des Rentiers also alles andere
als ein Spaziergang, denn es würde sich unvermeidlich die Frage der
Eigentumsrechte stellen ? hier bleibt Marx unverändert aktuell. Es müssten Wege
gefunden werden, die Produktion auch dann weiterzuführen, wenn sie keine oder
nur noch geringe Profite erbringt. Banken, Industrie- und
Dienstleistungskonzerne, die zu groß geworden sind, um bankrott gehen zu können
und daher den Staat zur Geisel zu nehmen drohen, müssten aufgeteilt oder
verstaatlicht werden. Die globalen Produkt- und Finanzmärkte müssten einer
wirksamen politischen Regulierung unterworfen werden. Jenseits der Märkte
müsste eine neue Ebene zwischenstaatlicher Ordnungspolitik und globaler
sozialer Integration gefunden werden.
So aussichtslos das
gegenwärtig erscheint, nehmen wir einfach einmal an, es gelänge. Geld würde
dann seine Kapitaleigenschaft einbüßen und nicht mehr den gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess als Ganzes kontrollieren. Es könnte sich in ein einfaches
Tauschmittel im Sinne der ökonomischen Lehrbücher zurückverwandeln. Mit den
Einschränkungen des Zugriffs auf die Arbeitskraft würde es seine mythische Aura
als Schlüssel zu absolutem Reichtum verlieren. Es würde keinen Anspruch mehr
auf Reichtum überhaupt (wirklichen und möglichen) repräsentieren, sondern nur
auf einen bestimmten Anteil an der gegebenen, für alle ausreichenden und auch
als ausreichend empfundenen Gütermenge. Komplementär dazu würde Arbeit den
Charakter einer mehr oder weniger routinemäßigen Dienstleistung annehmen. Die
Wirtschaft müsste dann nicht länger immer neue Revolutionen veranstalten,
sondern könnte zu ihrem originären Zweck der Befriedigung profaner Bedürfnisse
zurückfinden. Die Gesellschaft könnte sich auf eine mehr auf die Gegenwart,
also auf die Reproduktion des Gegebenen als auf die Zukunft orientierte
Lebensweise umstellen. Was so entstünde, wäre ein System, das nicht mehr
wachsen und keinen Mehrwert mehr erbringen müsste, zugleich aber auch der
Gefahr der Krise enthoben wäre. Es könnte sich auf einem gegebenen Aktivitätsniveau
einrichten oder nur geringfügig um dieses Niveau pendeln. Auch bei
fortbestehenden sozialen Unterschieden und Einkommensdifferenzen könnte
Existenzsicherheit auf einem komfortablen Mindestniveau für alle garantiert
werden. Die Weltwirtschaft würde, wenn auch auf höherem technischem und
ökonomischem Niveau als in der Vergangenheit, zu jenem Zustand
quasi-stationärer Reproduktion zurückkehren, der in langfristiger historischer
Perspektive ohnehin das Normale war.
Aber es wäre keine offene,
dynamische Wirtschaft und Gesellschaft mehr. Das von Francis Fukuyama nach dem
Sturz des »realen Sozialismus« voreilig ausgerufene »Ende der Geschichte«
könnte wirklich auf der Tagesordnung stehen. Möglicherweise wäre dies nicht für
alle Menschen leicht erträglich. Könnten sie die erforderliche
Selbstbeschränkung akzeptieren, könnte verhindert werden, dass Kreativität
wieder territoriale, gewaltsame und kriegerische Formen annimmt? Könnten die
nach wie vor nicht auszuschließenden Verteilungskonflikte unter Kontrolle
gehalten werden, für die »Wachstum« ja nicht mehr als Ventil offen stünde? Ich
belasse es bei der Formulierung dieser offenen Fragen.