Petra Dobner
Staat, ganz unphilosophisch
Garret
Hardin veröffentlichte 1968 mit dem Aufsatz »Die Tragik der Allmende« eine
überaus einflussreiche Schrift über den Umgang mit kollektiven Gütern. Am
Beispiel von Hirten auf Gemeindeland zeigt er, dass die individuelle
Nutzenlogik der Hirten unausweichlich zur Zerstörung der Allmende führt. »Jeder
einzelne ist in einem System gefangen, das ihn zwingt, seine Herde grenzenlos
zu vermehren ? in einer Welt, die begrenzt ist. In einer Gesellschaft, die an
die Freiheit der Allmende glaubt, eilen daher alle Menschen auf das Verderben
zu, indem jeder seinen wohlverstandenen Interessen folgt.«(1) Hierin, so
Hardin, liege die »Tragik der Allmende«, die nur durch eine eiserne Verwaltung
der kollektiven Güter oder besser noch durch ihre Privatisierung abzuwenden
sei.
Hardins
Logik schien so zwingend zu sein, dass sie vielfach aufgegriffen und auf
verschiedene kollektive Güter übertragen wurde. Erst viel später nahm Elinor
Ostrom(2) Hardin den Wind aus den Segeln ? mit einer genial einfachen
Korrektur. Das Argument sei schlüssig, doch beruhe es auf der unzutreffenden
Annahme, dass die Hirten nicht miteinander sprächen. Nur ihre unterstellte
Sprachlosigkeit mache sie zu Gefangenen ihrer Rationalität egoistischer
Nutzenmaximierung. Diese alles fundierende Vermutung, so wies Ostrom an einer
Vielzahl empirischer Beispiele nach, trifft die Wirklichkeit nicht. Weil
Menschen miteinander sprechen, sind sie in der Lage, komplexe Gefüge,
Verfassungs- und Kommunikationsregeln in der Bewirtschaftung kollektiver Güter
hervorzubringen, die es ihnen ermöglichen, den eigenen Nutzen zu verfolgen,
ohne dem kollektiven zu schaden.
Im
Oktober 2009 erhielt Elinor Ostrom den Nobelpreis für Wirtschaft. Die
öffentliche Würdigung hat eine zentrale Botschaft ihres Lebenswerks in
Erinnerung gerufen: Um Theorien zu produzieren, die der Wirklichkeit helfen,
ist es nötig, Theorie und Empirie permanent gegeneinander abzuwägen, aus der
Theorie für die Wirklichkeit zu lernen und an der Wirklichkeit die Theorie zu
messen. Die knappe Warnung, Theorien zu verteidigen, die der Wirklichkeit nicht
standhalten, hätte die im Sommer 2009 begonnene Philosophenschlacht zwischen
Peter Sloterdijk und Axel Honneth erden und vielleicht auch beenden können.
Doch wer wollte das schon? Zu dramatisch waren die erst wechsel-, dann
allseitigen Vorwürfe, weit über die Landesgrenzen hinaus verfolgte man den
Schlagabtausch, und endlich hatte die Republik wieder eine Diskussion, die den
Namen »Debatte« zu verdienen schien. Nicht weniger als die Zukunft des
Kapitalismus stand auf dem Spiel und, als reiche das nicht, die des Staates
gleich dazu. Angesichts der Reichweite der konträren Positionen wie der
Bedeutsamkeit der Kontrahenten war eine Plausibilitätsprüfung am realen Staat
und seinem Kapitalismus nicht gefragt.
Philosophen mit der Wirklichkeit zu kommen ist irgendwie unanständig, aber es lohnt sich. Ein
Blick in die realen Untiefen des (kommunalen) Staates kann zur Aufklärung
unserer Zukunft durchaus beitragen. Um bei Peter Sloterdijk zu beginnen:
Bekanntlich kam er zu dem Schluss, dass eine »Revolution der gebenden Hand«
vonnöten sei, denn diese »führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren
Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit ? ohne dass der öffentliche
Bereich deswegen verarmen müsste«.(3) Sechs- bis achttausend behauptete Seiten
Lektürevorsprung vor Axel Honneth haben Sloterdijk nicht davor bewahrt, sein
Plädoyer auf drei empirisch falsche Annahmen zu gründen.
Erstens
kann der öffentliche Bereich gar nicht verarmen, sondern er ist bereits
hoffnungslos arm. Im März 2010 betrug der deutsche Schuldenstand knapp 1700
Milliarden Euro und das Schuldenwachstum 4481 Euro pro Sekunde. Wem die nackten
Zahlen zu prosaisch sind, kann sich einen praktischen Eindruck der Konsequenzen
öffentlicher Schulden verschaffen, indem er sich zum Beispiel den
Maßnahmenkatalog einer beliebigen deutschen Kommune im
Haushaltskonsolidierungsprozess vornimmt. Die Liste verzweifelter
Anstrengungen, der desolaten Finanzlage Herr zu werden, ist lang. Sie
beinhaltet unter anderem Kürzungen für Orchester, Sportvereine,
Stadtbibliotheken, Volkshochschulen; Schließungen von Theatern, Badeanstalten
und Museen; Energiesparmaßnahmen durch Temperatursenkungen in Büros,
Sporthallen und Schwimmbädern und das nächtliche Abschalten von
Straßenlaternen; alle möglichen Versuche, die kommunalen Einnahmen durch
Hunde-, Gewerbe-, Grund-, Zweitwohnsitz-, Pferdesteuer, Gebühren, Abgaben und
Entgelte oder durch verstärkte Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zu erhöhen
sowie Leistungen ganz oder teilweise abzuschaffen, um die Ausgaben zu senken.
Die Liste ist endlos, und sie ist furchtbar, zuweilen auch komisch. In Berlin
wurde 2002 eine »Rutschgebühr« in drei Schwimmbädern eingeführt; als ein
Sponsor die Kosten übernahm, zeigte sich der Sportsenator »hocherfreut«, dass
»die Berliner Kinder sich ? wieder ohne zusätzliche Kosten auf den Rutschen
vergnügen können. Baden ohne Rutschen ist für Kinder wie Sommer ohne Ferien. Da
fehlt einfach was.«(4) Doch nicht nur Rutschen kostet Geld: Dem Sparzwang
fallen Jugendheime, Schuldnerberatungen und Frauennotrufe ebenso zum Opfer wie
Blumenampeln, Abfalleimer und Grünanlagen. »Unsere Stadt soll schöner werden«,
das war gestern. Heute geht es nur noch darum, sie nicht völlig dem Verfall zu
überlassen.
Zweitens
stellt der reale Niedergang (kommunal-)staatlich finanzierter, sozialer
Institutionen eine weitere Annahme Sloterdijks infrage. »Würde man nicht erst
nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer Zivilgesellschaft
sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen durch eine permanente
Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung des Etwas-übrig-Habens fürs
Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind?«(5) Schöne Idee. Man gibt das letzte
Hemd freiwillig, und jeder wird zum St. Martin. Doch um als Zivilgesellschaft
tätig werden zu können, reicht der individuelle Sinn fürs Allgemeine und
Gemeinsame nicht aus; es bedarf auch der Orte und Institutionen, damit die
zivilen Individuen zur Gesellschaft werden können. Die Nachbarschaft muss mehr
als eine Parkbank zur Verfügung haben, um sich als Zivilgesellschaft
zusammenzufinden; kann sie das nicht, bleiben Nachbarn einfach nur Tür an Tür
wohnende Individuen. Die von der öffentlichen Finanznot induzierte, wenn auch
vom Staat kaum intendierte Zerschlagung der Zivilgesellschaft zeigt sich in der
Schließung öffentlicher Räume, für deren weitere Unterstützung schon die
erzwungenen Einnahmen nicht mehr ausreichen.
Drittens
zeigt die Empirie, dass Sloterdijk die Seligkeit des freiwilligen Gebens
überschätzt. Die Stadt Trier hat, wie andere Städte auch, 2009 einen
Bürgerhaushalt eingerichtet, mit dem städtische Finanzen und kommunalpolitische
Entscheidungen gerade in Zeiten knapper Kassen nachvollziehbarer werden sollen.
In zwei Phasen gingen zahlreiche Vorschläge ein, engagiert diskutierten und
kommentierten die Bürger im Forum die Vorschläge.(6) Sucht man am Trierer
Beispiel nach Anzeichen freiwilliger Spendenbereitschaft, so zeigt sich, dass
tatsächlich zwei ganz anders gelagerte Vorschlagstypen vorherrschen. Dominiert
wird die Vorschlagsliste von Wünschen nach mehr öffentlichem Engagement
? mehr Grünanlagen, mehr Radwege, Kinderspiel- und Sportplätze, Bibliotheken.
Der zweite Typus, der eine finanzielle Entlastung im Blick hat, richtet sich
vor allem auf schmerzfreie Einsparungen, die von Verbesserungen im
Energiemanagement erwartet werden, und die vermehrte Belastung anderer. So
schlägt ein Bürger eine Citymaut vor, von der Trierer Bürger freilich
auszunehmen wären. Unter den 512 Vorschlägen insgesamt findet sich ein
einziger, der in die Richtung freiwilliger Abgaben zu gehen scheint: Der Autor
fordert dazu auf, projektbezogene Spenden und Bürgerkredite zu erleichtern. Er
fügt aber hinzu, dass die zu gründenden Vereine gemeinnützig sein sollen, »um
die Steuervorteile mitzunehmen«. Auch über Trier hinaus sind Beispiele
individueller Spendenbereitschaft zur Stützung des Gemeinwesens so rar, dass
sie gleich die Runde machen. So fand das jüngste Beispiel des Poseritzer Bürgermeisters,
der bis zum Ende seiner Amtszeit für jedes neugeborene Kind in seiner
1100-Seelen-Gemeinde 500 Euro aus eigener Tasche bezahlen möchte (wenn das Kind
seinen Hauptwohnsitz in Poseritz behält und den heimatlichen Kindergarten
besucht), weite publizistische Beachtung als Ausnahmeerscheinung. Warum, wurde
er gefragt, warum machen Sie das?
Hätte
Sloterdijk ein Interesse an der Wirklichkeit, könnte er entgegenhalten, dass
die Spendenbereitschaft unter dem kleptokratischen Enteignungssystem des
Steuerstaates sich eben nicht entwickeln kann, sondern sich erst entfalten
würde, wenn man den Zwang abschaffte. Theoretisch könnte das so sein. Praktisch
zeigte in diesem schneereichen Winter der zaghafte Griff des Bürgers ? nicht
einmal in den Geldbeutel, sondern nur zur Schaufel ? eher, dass der Bürger es
immer noch als größere Freiheit interpretiert, etwas zu unterlassen, als es zu
tun.
Jeder kommunale Haushälter könnte den Philosophen Sloterdijk auf den Boden der
Tatsachen zurückholen. Axel Honneth aber ist eben kein Haushälter, sondern auch
Philosoph. Insofern richtet sich sein berechtigter Zorn auf die Widerlegung
seines Gegners auf dem gemeinsamen Terrain. Diese Auseinandersetzung ist
intellektuell spannend; ihr praktischer Ertrag aber steht und fällt mit ihrer
Realitätstauglichkeit. So muss auch Honneths moralisch begründetes Eintreten in
die Verantwortung für das »Leben da unten«(7), wenn es einen Beitrag zur Wirklichkeit leisten soll,
sich die Frage gefallen lassen: Wie? Und: Reicht Moral noch?
Die
knappen Kassen jedenfalls begrenzen erst die Möglichkeiten, dann die Moral,
nicht umgekehrt: Der Bereich sozialer Hilfen ist in den Kommunal-Haushalten
einer der größten Posten. Entsprechend fragen die Kommunen inzwischen vermehrt
danach, wo eigentlich die Grenzen des rechtlich Möglichen einer
Leistungsreduktion im Sozialbereich liegen beziehungsweise forcieren eine neue
rechtliche Fixierung dieser Grenzen an der Abwägung zwischen öffentlicher
Pflicht und öffentlicher Armut. Es geht um viel Geld, das nicht da ist: Die
Stadt Bonn etwa hofft im Rahmen ihres Konsolidierungsprogramms mit der
»Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten bei der Begrenzung der Gruppe der
Leistungsempfänger«(8) in der Eingliederungshilfe für Behinderte 1,2 Millionen
Euro in drei Jahren sparen zu können. Es geht nicht mehr einfach nur um
moralisches Wollen, sondern um fiskalisches Vermögen. Die öffentliche Armut
verschärft die private, auch wider den Willen der haushälterisch
Verantwortlichen.
In
der sozialpolitischen Restriktion kommt zudem nur besonders deutlich zum
Vorschein, was inzwischen weit über das Feld des sozialen Staates hinausreicht:
die Armut des öffentlichen Bereichs insgesamt. Angesichts der drückenden Last
kommunaler Schulden operieren Gemeinden und Städte vielfach bereits an den
Grenzen des gesetzlich Gebotenen. Dank mehrerer Konsolidierungswellen, die die
Kommunen bereits durchlaufen haben, fehlt es inzwischen nicht selten an
Personal, um nur die gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erledigen. Doch selbst
diese Beschränkung reicht in der Regel nicht mehr aus, um die Finanzlage in den
Griff zu bekommen. Unter dem Diktat des Sparzwangs aber wird auch die vom Staat
gesteuerte Umverteilung zu einer abhängigen Variablen in der Bewältigung des
öffentlichen Finanznotstandes. Für die künftigen Antworten auf die soziale
Frage ist diese Tatsache fatal, denn das Problem beschränkt sich nicht länger
darauf, mittels des Staates eine moralisch gerechte und philosophisch
begründete Umverteilung zwischen Reichen und Armen herbeizuführen. Vor Ort stellt
sich vielmehr die Frage: Kindergärten oder Grünanlagen? Weniger Schulen oder
weniger Sozialhilfe? Frauennotruf oder Jugendfreizeitheim? Im Staat ohne Geld
wird Gerechtigkeit eine immer schwerer zu lösende Aufgabe, selbst für die, die
gerne gerecht sein wollen. Sachdienliche Hinweise der Philosophie stehen nach
meinem Lektürestand aus.
Von
der Autorin ist 2009 erschienen »Bald Phoenix ? bald Asche. Ambivalenzen des
Staates«, Berlin, Wagenbach Verlag.
1
Garrett Hardin: »The Tragedy of the Commons«, in: Science
162 (3859), 1968, S. 1243?1248, hier: S. 1244.
2
Elinor
Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt,
Tübingen: Mohr Siebeck 1999.
3
Peter
Sloterdijk: »Die Revolution der gebenden Hand«, in: FAZ, 13.6.09.
4
Land
Berlin: »Klaus Böger begrüßt Wegfall der ?Rutschgebühr?«, in: Pressemitteilungen
des Landes Berlin, 20.6.02.
5
Peter
Sloterdijk: »Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer«, in: FAZ,
27.9.09.
6
Bürgerhaushalt
Trier 2009: http://www.buergerhaushalt-trier.de/2/
7
Axel
Honneth: »Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe. Zum neuesten Schrifttum des Peter
Sloterdijk«, in: Die Zeit, 25.9.09.
8
Ludger Sander: Konzeption zur Haushaltskonsolidierung, 2006, http://www2.bonn.de/bo_ris/daten/O/pdf/06/0611778ED4.pdf