Balduin Winter

 

Griechischer Strudel 

Von »Scharmützeln der letzten Monate« spricht Hans-Dietrich Genscher im Tagesspiegel (12.3.) und meint die mediale Kakophonie zur griechischen Krise, die Psychotherapeuten einigen Stoff zur Seelenverfasstheit des Landes bietet. Aber Genscher weicht aus ins diplomatisch Ungefähre (»Stunde der Eurogegner ...«) und global Allgemeine (»Die neue Weltordnung muss gestaltet werden ...«), ohne strukturelle wie demokratiepolitische Schwachstellen der EU zu benennen. Aber sogar dem freien Markt strikt verpflichteten Konservativen beginnt es inzwischen vor der ungezügelten Macht der deregulierten Finanzwirtschaft zu grausen. Griechenland hat sich bekanntlich »bei der EU kräftig bedient«, schreiben zwar auch schon linke Blätter wie die Zürcher WoZ (17.12.09). Um die griechische Staatsschuld geht es aber nur vordergründig, denn diese, so die taz am 16.2., »ist niedriger als in Italien und das aktuelle Finanzloch ist nicht tiefer als in Spanien oder Irland«. Hinter dem medialen Trommelfeuer mit teilweise erschreckend nationalistischen Tönen ortet das US-Magazin Fortune (18.2.) vielmehr eine Spekulationskrise großen Ausmaßes, die es als »the Greek maelstrom« bezeichnet. Schon länger waren griechische Staatsanleihen ein bevorzugtes Anlageobjekt großer Hedgefonds. Zur Jahreswende meldete Bloomberg einen Rekordstand an Leergeschäften, Ende Januar kam es zu einem regelrechten Run mit Wettgeschäften in der Höhe von mehreren Hunderten Milliarden Euro. Für den Euromarkt zwar keine bedeutende Größe, bedrohlich waren jedoch der Mix und der »Casino-Effekt«, mit denen einige Spieler in kurzer Zeit einen Staat aufmischen konnten. Selbst ein IWF-Ökonom wie Barry Eichengreen spricht von einem »Bluthund-Problem«, das seit der globalen Finanzkrise auf der Tagesordnung steht. Das Casino muss reguliert werden und benötigt eine Exekutive (Europe?s World, 2009).

Nun erwägen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble wenigstens die Brüsseler Idee eines »Europäischen Währungsfonds«, damit Krisenländer wie Griechenland nicht unter die Fittiche des von den USA dominierten IWF kriechen müssen (so auch Genschers und vieler Kommentatoren Schreckensszenario). Sie erwägen weiter als überhaupt erste, dauerhaft regulierende Maßnahme eine, so Financial Times Deutschland (8.3.), »präventive Bankenabgabe« ? nicht als »Strafsteuer«, sondern als »Vorsorge«, damit »der Staat das Risiko künftiger Krisen verringern und sich gleichzeitig für deren Bekämpfung finanziell rüsten« kann. Britische Banken wollen diese, laut Umfrage der Londoner Financial Times (23.1.), gleich wieder »absorbieren«. Immerhin gibt es endlich politökonomisches Handeln, inspiriert von dieser Steuer-Idee Barack Obamas, der darin nur einen Reformschritt sieht und jenen Sektor, der seit der Wall-Street-Krise von 1914 als »too big to fail« bezeichnet wird, überhaupt segmentieren möchte. Darüber wird derzeit in den USA kontrovers debattiert.

 

Für Holger Steltzner, Wirtschaftschef und Herausgeber der FAZ, ist »Europa in Gefahr« (13.3.). Das »Blatt für kluge Köpfe« schlägt Alarm. »Sorge« nimmt er für sich in Anspruch. Über den Charakter dieser »Sorge« besteht kein Zweifel. Es ist die Sorge der Finanzwirtschaft, die sich bisher im Wesentlichen einig wusste mit der Politik in Gestalt der großen ebenso wie der christlichliberalen Koalition. Das spiegelte die Wirtschaftsberichterstattung der FAZ sehr gut wider, gerade auch bei der griechischen Krise. Dagegen machten sich das Handelsblatt oder das Manager Magazin etwas andere Sorgen, und in der Financial Times Deutschland war in Teilen eine kritische Debatte sowohl über die Rolle der Fonds als auch über das deutsch-griechische Verhältnis wie über die globale Krise insgesamt zu finden.

Früh wurde dort auf die »deutsche Haltung« hingewiesen: »Wer Hilfe benötigt, muss etwas falsch gemacht haben.« (FTD, 11.12.09) Die EU-Kommission, EZB, zahlreiche Regierungen, darunter die deutsche ? standen der Krisenwucht zunächst unvorbereitet gegenüber und haben finanz- und wirtschaftspolitisch bis heute kein Instrumentarium gefunden (Financial Times, 3.12.09). Und, wie selbstverständlich, auf dem Hintergrund und im Zusammenhang mit den griechischen Kalamitäten: Die unregulierten langjährigen Disproportionalitäten in der Eurozone wurden durch die globale Finanzkrise auf einen kritischen Punkt getrieben. Das »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten«, ökonomisch gemeint, wurde von Heiner Flassbeck (FTD, 18.2.) radikal und auf seine Weise einseitig zugespitzt unter die Lupe genommen. Denn Deutschland spielt in der Eurozone eine schwierige und zwiespältige Rolle als Stabilitätsapostel: »Die EWU hat nämlich ein Inflationsziel von jährlich leicht unter zwei Prozent. Zu einem solchen Inflationsziel passen zweifellos Lohnstückkostenzuwächse von leicht unter zwei Prozent, sagen wir 1,9 Prozent. Kumuliert man die über zehn Jahre, kommt man auf knapp 21 Prozent Zuwachs. 21 Prozent sind also die Norm, an die sich alle hätten halten sollen. Griechenland landet bei 26, Deutschland bei acht; die EWU ohne Deutschland erreicht fast 27 Prozent. Wer hat stärker gegen die Regeln des Vertrags verstoßen, derjenige, der fünf Prozentpunkte über seinen Verhältnissen gelebt hat, oder der, der 13 Prozentpunkte unter seinen Verhältnissen gelebt hat?« (FTD, 11.12.09)

Nichts davon in der FAZ. Dort wurde nach der globalen Finanzkrise bald die Staatsfinanzkrise zum Super-GAU. Der Staat ist fast so etwas Schlimmes wie der Sozialismus. Denn zum Profilieren braucht es einen Feind. Schon vor einem Jahr schrieb Rainer Hank im Zuge der Telecom-Krise: »Eines ist jetzt schon klar: Der Respekt der Regierungen vor dem Eigentum ihrer Bürger nimmt ab. Wer Steueroasen austrocknet, schreckt auch vor Enteignungsgesetzen nicht zurück.« (FAS, 15.3.09) Was aber, wenn »das Eigentum« die Demokratie verachtet? Wenn zügellose Casinofreiheit einiger und ihre Pleiten die Teilenteignung von Millionen nach sich zieht?

Für die Freiheit des Finanzmarktes ist der Staat, der demokratische, eine Grundvoraussetzung. Den mag man in der FAZ nicht besonders. Da ist der Staathaushalt der »Krake« (FAZ, 25.2.) oder ein finanzpolitischer »Graubereich« (FAZ, 17.2.). Wobei dasselbe Geschäft, getätigt von einem privaten Finanzinstitut (konkret: Goldman Sachs, BNP Parisbas, Deutsche Bank), als »völlig legal« und als »tägliches Brot der Banken« behandelt, seitens des Staates (Griechenland, Italien) in die Betrugsecke gestellt wird, obwohl es spätestens seit 2003 allgemein bekannt war (FAZ, 16.2., FAS, 22.2.). Kein kritisches Wort für die Wirtschaftsakteure, so als ob die FAZ-Autoren die vierte Erkenntnis Charles P. Kindlebergers und Robert Alibers aus deren großer Krisenstudie bestätigen wollten, nämlich »die Lernunfähigkeit der Akteure«. Erst recht keines zu den Bilanzfälschungen der Banken, wie sie im Zuge der Bail-outs 2008/9 offenkundig wurden. Nur der Staat betrügt: »Griechenland, das seinen Beitritt zur Währungsunion seinerzeit nur mit frisierten Daten erreicht hat, ist zum Menetekel geworden: für die Beschädigung des Stabilitätsversprechens, für verantwortungslose, die eigene Wettbewerbsfähigkeit fahrlässig untergrabende Politik, aber auch für die Grenzen der Solidarität.« So Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ, 1.3.), der seinen Kommentar unter das Motto »die ewige Führungsfrage« stellt; da ist Angela Merkel noch die letzte Galionsfigur mit der Maastricht-Stafette. Die zehn Tage später, so Steltzner, »riskiert, dass sich Deutschland übernimmt« (13.3.), weil Schäuble und Merkel mit dem »Euro-Schuldenfond« (er heißt: Währungsfond) einen Akt der Regulierung gegen das Milliardencasino vornehmen, also einen Akt gegen die eigentlichen »Kraken«. Empört geißelt der FAZ-Wirtschaftsmensch den Rechtsbruch: »Ein konservativer deutscher Finanzminister stellt den Bruch des Maastrichter Vertrags in Aussicht ...«

Dagegen wirkt die Financial Times mit Kritik und Selbstkritik geradezu wie ein weltoffenes progressives Blatt, in dem auch unterschiedliche theoretische Positionen und internationale Fachleute zu lesen sind. Hier können sich Citoyens informieren. Die FAZ hingegen ist etwas für Börsenköpfe. Geworden: Informationen fürs bourgeoise Casino.

 

Griechenland ist nur »die Spitze eines globalen Eisbergs«, meint Nouriel Roubini (Project Syndicate, 15.2.) und stellt »eine frühe Warnung für die Eurozone dar, in der alle PIIGS-Volkswirtschaften (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien) an dem Doppelproblem der Tragfähigkeit von Staatsverschuldung und Auslandsverschuldung leiden«. Zur Krisendämpfung mussten sich die Staatshaushalte überheben, es gibt die übermäßig straffe Geldpolitik der EZB als »der letzte Nagel im Sarg der Wettbewerbsfähigkeit«, es gibt jeweils bestimmte nationale Schwachpunkte, etwa der spanische Immobilienmarkt oder die Divergenzen der Wettbewerbsfähigkeit, die auch Flassbeck ausführt, und schließlich der Verlust von Exportmärkten an Asien. Lösungen à la Argentinien oder Japan schließt er für Europa aus. Bleibt nur die kleine Lösung der Kreditaufnahme beim IWF mit einem kontrollierten Sparprogramm in mehreren Tranchen, denn für deutsche oder EU-Kreditbürgschaften lassen sich Konditionalitäten sehr schwer aushandeln; sie bleiben freilich im Bereich der Möglichkeiten im Falle einer griechischen Zahlungsunfähigkeit, was allerdings mit ernsten Folgen für die Währungsunion verbunden wäre.

Beides scheint der Mehrzahl der EU-Politiker unzumutbar: US-Abhängigkeit das eine, Maastricht-Vertragsbruch das andere. Hier taucht die Idee des Europäischen Währungsfonds auf, angesiedelt bei der EZB und gekoppelt mit einer eigenen Rating-Agentur. Der Weg dieser Idee führt über einige Stationen zu einem Policy Brief des Brüsseler Center for European Policy Studies (CEPS), »Krise in der Eurozone und wie sie zu managen ist«, verfasst vom Leuvener Ökonomieprofessor Paul De Grauwe. Es ist eine der aktuell profundesten Positionen zur Finanzpolitik der EU.

De Grauwe streift nur kurz die griechische Krise und kommt gleich zu den anderen wesentlichen Akteuren, den Finanzmärkten, den Rating-Agenturen, der Europäischen Zentralbank (EZB) und den EU-Regierungen. Staatsschulden haben die Welt gerettet, davon profitieren die Finanzmärkte, die jetzt eine »dramatisch destabilisierende Rolle« spielen, ähnlich auch die (US-)Rating-Agenturen. Diesen beiden Akteuren spricht er ein tieferes Krisenverständnis ab. Banken wie Ratingfirmen haben im neuerlichen Spiel der Wetten auf Anleihen die Krise gefördert und die Entstabilisierung vorangetrieben auf Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien, die sogenannten PIIGS-Länder. De Grauwe nennt ein Versagen sowohl der Eurobehörden (EZB und Kommission) als auch Widersprüche unter den Regierungen als entscheidenden Grund für die Aufblähung der griechischen Krise. Niemand kann nun Griechenland hindern, beim IWF als Mitglied Kredit aufzunehmen.

Der Fall Griechenland verdeutliche das strukturelle Problem der Eurozone. »Es ist das völlige Ungleichgewicht zwischen der Zentralisierung der Geld- und Kreditpolitik und der Bewahrung fast aller wirtschaftspolitischen Instrumente (Budget-, Lohnpolitik, etc.) auf der nationalen Ebene.« Er belegt dies anhand sich unterschiedlich entwickelnder Wettbewerbspositionen der einzelnen Länder von den Arbeitskosten bis zu den Steuersätzen. Insgesamt ist im Krisenfall diese Eurozone zu wenig politisch integriert, und es mangelt ihr an Kriseninstrumentarien und kollektiver politischer Handlungsfähigkeit. Ein altes Problem.

Rainer Hank und Winand von Petersdorff wittern Gefahr (FAS, 28.2.): »Man will uns die deutschen Tugenden madig machen. Wir sind fleißig, legen sparsam, wie wir sind, viel Geld zurück und konsumieren nur das Nötigste. Das soll jetzt schlecht sein?« Aber darum geht es eben nicht. Selbst Neoliberale wie Marco Annunziata, Chefökonom bei Unicredit, kritisieren, »dass der derzeitige institutionelle Aufbau der Euro-Zone nicht ausreicht« (FTD, 4.3.). Der Blick durch die internationale Publikationslandschaft zeigt, dass rundherum durch die Krise und ihre jüngste Ausformung die Bereitschaft zu weiteren Integrationsschritten wächst. De Grauwe macht Vorschläge für eine EZB-Reform, eine EZB-eigene Ratingfirma, für einen Europäischen Währungsfond, dem sich auch Thomas Mayer, Chefökonom der Deutschen Bank, angeschlossen hat (FTD, 4.3.). Sogar Angela Merkel und Wolfgang Schäuble sind schon ein wenig in Bewegung geraten. Wie werden weitere Schritte aussehen? Newsweek kommentiert bereits etwas ungeduldig (15.3.), mit »Merkels Schneckenbewegung« sei Deutschland längst nicht mehr »die Lokomotive, die den Kontinent zur Gesundung führen könne«.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2010