Wette verloren?
Die Sache mit dem Euro
Der Euro muss gehütet werden. Vor Spekulationswellen ebenso wie vor einer medialen Panikmache, die in kritischen Zeiten leicht den Kopf verliert und die Dinge durcheinanderwirft. Die Währungsunion war und ist ein großer Fortschritt der EU ? in der Finanzkrise naturgemäß auch mit Problemen. Mit dem »Fall Griechenland« können die Mitgliedsländer vor allem eines: lernen. Lernen, den politischen Charakter der Euro-Ökonomie zu verstehen und in der politischen Praxis einen gemeinsamen Rahmen zu entwickeln.
Parallel zu den
Spekulationswellen verlaufen die Verbalattacken: Zuerst gegen die Griechen als
Trickser und Betrüger, dann direkt gegen den Euro. Das eine ist vor allem Angelegenheit
von BILD, das andere ist mehr die der Blätter für die gehoben Stände.
Dort zeigt man eine gewisse Zurückhaltung in der Hetze auf den südlichen
Nachbarn und konzentriert sich auf die Bürokratie und die EU.
Der Beifall ist umso
sicherer, als man den Vorwurf, Ausdruck nationalistischer Ressentiments zu
sein, nicht fürchten muss, wenn man gleich auf die ganze Union losgeht. So ist
Hans Magnus Enzensberger unlängst in Kopenhagen sicher heftig beklatscht worden.
In einer Dankesrede für den x-ten Kulturpreis las er den abwesenden 40000 Brüssler
Bürokraten die Leviten. Diesen Angehörigen der »Eurokratie« falle es wie denen
»jeder politischen Klasse« natürlich schwer einzusehen, »dass sie nicht unsere
Herren, sondern unsere Diener sind. Lieber hält man sich in diesem Milieu nicht
nur die Augen, sondern auch beide Ohren zu. Deshalb wäre es vielleicht an der
Zeit, eine paneuropäische Spende ins Leben zu rufen. Vierzigtausend Hörgeräte
wären eine gute Investition, um unseren schwerhörigen Vormündern in Brüssel,
Straßburg und Luxemburg zu helfen und sie aus ihrer selbst verschuldeten
Isolation zu befreien.« Schließlich warteten etwa vierhundertfünfundneunzig
Millionen von der Bürokratie als Nörgler, gar als Europafeinde verschriene
Störenfriede nur darauf, dass man endlich zur Kenntnis nehme, dass sie an dem
Einigungswerk einiges auszusetzen hätten, für das sich Brüssel laufend selbst
gratuliere. In den wenig originellen Scherz mündet ein Sammelsurium der
geläufigsten Stammtischbanalitäten über die EU. Die FAZ druckte den
Sermon unter der Überschrift »Wehrt euch gegen die Bananenbürokratie!« mit
Begeisterung ab und machte sich den Aufruf durch Verzicht auf Anführungszeichen
gleich selbst zu eigen (3.2.10).
Auf gehobenes Ressentiment
setzt auch der Spiegel. Anfang März kam er mit dem Titel Die Eurolüge
(10/2010) heraus. In Großbuchstaben natürlich und mit einer Ein-Euro-Münze
darunter, deren südlicher Goldrand in den Umrissen der »PIGS«, so der Goldman
Sachs zugeschriebene Sammelname für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien,
dahinschmilzt. Im Inneren heißt es dann im Vorspann zum Artikel: »Der Euro ist
unter Beschuss wie nie zuvor, er ist angreifbar geworden, weil sich die Versprechen,
auf denen er gegründet wurde, als Lügen erwiesen.« Der Euro stand bekanntlich
schon einmal bei 0,80 Dollar und bewegt sich jetzt zwischen 1,30 und 1,40
Dollar, nachdem er kurze Zeit auf 1,52 geschnellt war. Wer sich gelegentlich
das eine oder andere amerikanische Buch über die internationale Finanzkrise
kauft, kommt immer noch sehr gut weg beim geltenden Wechselkurs.
Dramatisch sind die
griechischen Refinanzierungsprobleme. Die Kursentwicklung des Euro ist es
nicht. Die deutsche Exportindustrie hätte den Kurs gern noch ein bisschen
tiefer. Aus Sicht manches amerikanischen Exporteurs mag der Euro dagegen unterbewertet
aussehen. Auf dem Binnenmarkt hält sich die Inflation trotz der geringen Zentralbankzinsen
in immer noch engen Grenzen.
Man hat sich daran gewöhnt,
dass die Meinungen der Finanzexperten und der Wirtschaftsjournalisten die
Volatilität der Märkte, die sie bewerten, oft noch übertreffen. Nachdem das
Nahen der Weltfinanzkrise den Auguren weitgehend verborgen blieb, wird jetzt
das Zerbrechen der Währungsunion gleich bei den ersten größeren Schwierigkeiten
drohend an die Wand gemalt. Falls jene Recht behalten sollten, die immer schon
gegen die Währungsunion klagten, möchte man rechtzeitig Zeter und Mordio
geschrieen haben. Der verstorbene Herausgeber des Spiegel, Rudolf
Augstein, hatte seinerzeit in vielen Kolumnen das Leitmotiv variiert: »Eine
EU-Währungsunion wäre wünschbar, wenn sie machbar wäre. Das ist sie derzeit
nicht«. Nun bleibt die Frage, ist sie haltbar?
Im Artikel heißt es, jetzt
räche sich, »dass die europäische Gemeinschaftswährung auf nichts anderem
gegründet ist als auf einer Reihe von Lügen«. Auf »nichts anderem« als Lügen
gegründet hat sich der Euro zehn Jahre lang und nicht zuletzt in der weltweiten
Finanzkrise erstaunlich gut gehalten.
Allen Euro-Gründern war
bewusst, fährt der Artikel fort: »Die neue Währung wird nur stabil sein, wenn
alle Mitgliedsländer sich zu einer soliden Haushaltspolitik verpflichten und
auf die Dauer nur so viel ausgeben, wie sie einnehmen. Viele hielten sich von Anfang
an nicht daran.« Die Währungsunion hätte sich, kaum war der Euro eingeführt,
zur »Schuldengemeinschaft« entwickelt. Sei das Versprechen, die
»Stabilitätskriterien« einzuhalten, die erste Lüge gewesen, so sei ihr die
zweite bald gefolgt: »Versprochen hatten die europäischen Regierungen, die
gemeinsame Währung mit einer gemeinsamen Politik zu unterfüttern.« Dazu seien
die Regierungen nicht bereit. »Stattdessen handelt jedes der 16 Euroländer so,
als verfügte es weiter über eigenes Geld. Im Alleingang werden Steuern gesenkt
oder erhöht, Schulden gemacht oder Einsparungen beschlossen, ganz so, als gälte
es keine Rücksicht zu nehmen.« Da aber ? und das ist ja ein Sinn der
Währungsunion ? die Wechselkurse innerhalb der Währungsunion nicht länger mit
unterschiedlichen Entwicklungen schwankten, fehle der frühere Anpassungsmechanismus.
»Hat sich ein Land hoch verschuldet, kann die Regierung nicht mehr den sanften
Weg der Abwertung gehen. Es muss den Lebensstandard seiner Bürger unmittelbar
beschneiden, so wie derzeit Griechenland: Löhne senken, Renten kürzen,
staatliche Ausgaben streichen.« Also sind nicht die bis dahin betrügenden
Regierungen, sondern ist der verlogene Euro schuld. Fragt sich nur, warum er
mit einiger Anstrengung verteidigt wird und auch Griechenland gewillt scheint,
ihn sich zu erhalten. Noch steht der Euro gut da, auch wenn ihm der angeblich
sanfte Weg der Abwertung, der den einzelnen Mitgliedsstaaten verschlossen
bleibt, soeben mit teils nicht ganz so sanften Methoden aufgezwungen werden
soll. Der eine oder andere Großspekulant spricht ja ganz offen die Parität zum
Dollar als Ziel des eigenen Einsatzes an. Die gegenwärtigen Ängste entspringen
gerade dieser eher befürchteten als drohenden Abwertung des Euro, die obendrein
mit Inflation im Inneren unmittelbar in eins gesetzt wird.
Die Währungsunion verlangt,
das ist unbestritten, ein höheres Maß an politischer Verantwortung nicht nur
gegenüber den Partnern, sondern vor allem gegenüber der eigenen Gesellschaft.
Wer mit Geschenken seine Wahlbevölkerung zu bestechen versucht und die Lage
schönt, landet früher oder später unsanft auf dem Boden der Tatsachen und muss
sich einer wütenden und empörten Gesellschaft, die sich zuvor nur allzu gern
betrügen ließ, stellen. Im Allgemeinen wird die öffentliche Einsicht in die
wirkliche Lage einen Regierungswechsel voraussetzen oder nach sich ziehen. In
Griechenland fand erst die neue Regierung den Mut, der griechischen und der
europäischen Öffentlichkeit die Augen zu öffnen.
Die Währungsunion rechnet
mit verantwortungsvoller und transparenter Regierung und setzt auf Demokratie,
um diese herbeizuführen. Es wäre blauäugig anzunehmen, dass mit Ersterer von
Anfang an und immer zu rechnen wäre und die pure Geltung demokratischer
Wahlverfahren sie ohne Weiteres sichere. Partnerschaft schließt hier gegenseitige
Kontrolle ein und verlangt eine kritische europäische Öffentlichkeit. Im
Inneren sind demokratische Wachsamkeit und republikanische Tugenden Bestandteil
einer funktionierenden Währungsunion, wie sie vor der Währungsunion auch schon
Voraussetzung guten Regierens in den einzelnen Ländern waren. Diese politischen
»Stabilitätskriterien« haben in den Diskussionen um die Einführung des Euro
kaum eine Rolle gespielt. Sie wurden als gegeben vorausgesetzt. Das war keine Lüge,
sondern politische Blindheit.
In Griechenland hat es ja
nicht nur in den letzten Jahren an ehrlicher Rechnungslegung gemangelt. Dort
wird schon lange hingenommen, dass der Staat zur Beute der regierenden Clique
wird, wenn sie Teile der Gesellschaft an den Pfründen ausreichend teilhaben
lässt. Der amerikanische Historiker und Finanzwissenschaftler Barry Eichengreen
sagte kürzlich in einem Interview (Capital), die griechische Krise sei
ein lokales Problem. »Ich war einer der wenigen Amerikaner, die für den Euro
waren. Jetzt fragen mich meine Freunde: War der Euro nicht ein Fehler. Meine
Antwort ist noch immer: Der Euro war eine gute Idee ? aber die Griechen hereinzulassen
war eine schlechte.« Die Überschuldung ist freilich kein lokales Problem, aber
auch kein europäisches allein. Die Kreditblase wird fast überall zuletzt von
der öffentlichen Hand in der Schwebe gehalten. Aber Griechenland ist ein spezifisches
Problem, in erster Linie ein Problem schwacher (Rechts-)Staatlichkeit. Dass
Griechenland in die EWU hineingelassen wurde, lässt es nun nicht länger zu, vor
diesem Problem die Augen zu verschließen. Dem jetzigen Regierungschef scheint
das klar zu sein. Vielleicht ist eine gründliche Wende möglich. Nach den
gegenwärtigen Umfragen teilen die meisten Griechen die Einsicht in deren
Notwendigkeit.
Unter Druck bleibt die
Refinanzierung der griechischen Staatsschuld. Einerseits steigen die
Zinsforderungen an griechische Staatsanleihen, andererseits ist ihr
Sicherheits-Rating gefährdet. Da viele europäische Banken griechische
Staatsanleihen halten und sie unter Umständen bei der EZB nicht mehr als
Sicherheiten für eigene Kredite hinterlegen können, sind die
Refinanzierungsprobleme Griechenlands ein Problem der Währungsunion. Obwohl die
Finanzprobleme Griechenlands nicht der Währungsunion entspringen, hat sie ein
dringendes Interesse an ihrer Lösung. Unverantwortlich wäre es also, Griechenland
mit seinen Refinanzierungsproblemen allein zu lassen und sich keine Gedanken zu
machen, wie ihnen beizukommen sein könnte.
Die jetzigen Schwierigkeiten
öffnen die Augen. Die Währungsunion ist ein Lernprozess, und der Euro macht ihn
unumgänglich. Der Euro selbst ist bisher noch kaum direkt unter Druck gekommen.
Dafür ist der Dollar zu schwach. Wenn es bei den Wechselkursen nur um die
Schuldenlast ginge, müsste er sich im Sinkflug befinden. Weil aber den USA als
mächtigem Staat im Zweifel mehr zugetraut wird als der europäischen
Gemeinschaft von kleineren und mittleren Staaten, bleibt er begehrte Reservewährung.
Die potenziell dritte Leitwährung auf dem Weltfinanzmarkt, der Renminbi, bleibt
immer noch an den Dollar gekoppelt, also wohl etwas unterbewertet. Nicht sicher
ist, wie sich China im Fall einer Dollarspekulation gegen den Euro verhielte.
Mit ihren gewaltigen Dollarreserven wäre die chinesische Zentralbank mehr als
das Zünglein an der Waage. Diese starke, aber nicht kalkulierbare chinesische
Position müsste Spekulanten gegen den Euro eigentlich vorsichtig machen.
Verkauft China Dollars und kauft es Euros, kann es jede Spekulation gegen den
Euro schnell zunichtemachen. Um zu sehen, was der Euro auch gebeutelten
Euroländern in der Krise bringt, lohnt es sich, nach den baltischen
EU-Mitgliedern zu schauen, die bei wegbrechenden Wechselkursen ihre Schulden in
fremden Währungen bedienen müssen.
Dass die Regierungen der
Euroländer und die EU-Kommission sich Gedanken machen, wie verhindert werden
kann, dass die Refinanzierungsprobleme Griechenlands Spekulationen auf die Festigkeit
des Euro und die Haltbarkeit der Währungsunion ermutigen, ist das Mindeste, was
man von ihnen erwarten kann. Doch da sieht der Spiegel die »definitive
Euro-Lüge« in Vorbereitung. Die Bestimmung, die seiner Meinung nach durch Lüge
unterlaufen werden soll, hat er schon auf die Titelseite unter DIE EURO-LÜGE
gesetzt: »Ein Mitgliedsstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen
Mitgliedsstaats«, wird der EU-Vertrag von Lissabon, Artikel 125 (1) zitiert.
Absatz 2 von Artikel 100, in dem die Möglichkeit eingeräumt wird, einem
Mitgliedsstaat in besonderen Notsituationen beizuspringen, war wahrscheinlich
zu lang, um ihn auch noch auf der Titelseite unterzubringen. Der Haftungsausschluss
ist die Sicherung eines Mitgliedsstaates gegen äußeren Zugriff aufgrund von
Versäumnissen eines anderen Mitgliedsstaates, aber kein Verbot, aus eigenem Gutdünken
anderen zu helfen, um Gefahren von der gemeinsamen Währung fernzuhalten und
damit eigene Interessen zu schützen. Der Spiegel bricht hier eine Lanze
für die Federfuchserei, die es innerhalb der EU so schwer macht, offensichtlich
gemeinsame Interessen auch gemeinsam wahrzunehmen.
Nachdem die »Eurolüge« bis
zur »definitiven« durchbuchstabiert ist, kommt der Spiegel schließlich
zum Ergebnis: »Längst wird diskutiert, ob Griechenland nicht aus der Währungsunion
geworfen werden müsste oder das Land den Euro freiwillig abgibt. Ganz Wagemutige
machen sogar den Vorschlag, Deutschland solle, um nicht für fremde Schulden geradezustehen,
die Mark wieder einführen. Doch solche Überlegungen sind naiv. Möglicherweise
ist der Euro tatsächlich zu früh eingeführt worden. Doch das ist noch lange
kein Argument, ihn genauso voreilig wieder abzuschaffen. Klar ist: Ein Bruch
der Währungsunion wäre nicht nur eine politische Schmach, es wäre auch eine
ökonomische Katastrophe. Zehn Jahre lang haben sich Europas Unternehmen und
Banken an eine einheitliche europäische Kalkulationsgrundlage gewöhnt. Das
wieder rückgängig zu machen, würde wirtschaftliche Verwerfungen auslösen, gegen
die sich die Griechenlandkrise wie ein Kindergeburtstag ausnimmt. Europa
braucht keine neue Währung. Europa braucht endlich jene Kultur von Stabilität,
Transparenz und Glaubwürdigkeit, die seine Regierungen den Bürgern zwar
versprochen, aber nie geschaffen haben. Zwar gibt es in der Euro-Zone eine gemeinsame
Geldpolitik, doch es fehlt an gemeinsamer Finanz- und Wirtschaftspolitik.«
Damit argumentiert der Artikel für die Bemühungen der Regierungen der
Währungsunion und der Kommission, mit der Krise zurechtzukommen. Kurzfristig
und unmittelbar müssen denkbare zwischenstaatliche Lösungen für die griechischen
Refinanzierungsschwierigkeiten gefunden werden, wenn sie im Mai erneut akut
werden. Mittelfristig geht es um weitere Integrationsschritte, wie sie mit der
Bildung eines Europäischen Währungsfonds zur Debatte stehen. Die wichtigste
Lehre, die aus der griechischen Krise zu ziehen sei, ist, wie Währungskommissar
Olli Rehn meint, »dass wir unsere Wirtschaftspolitik eng abstimmen und
überwachen müssen.« Um mit diesem Vorsatz Ernst zu machen, ist mehr notwendig
als abstrakte Einsicht. Die konnte man schon in den Neunzigerjahren haben und
hatte sie auch. Wäre aber eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik zur
Voraussetzung der Gründung der Währungsunion erklärt worden, hätte man sie auf
den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Diese gemeinsamen Politiken zu entwickeln,
ist eine Frage der politischen Praxis in einem gemeinsamen Rahmen und nicht
durch das Hinschreiben von zwei Prozentzahlen zu lösen. Umgekehrt wird ein
Schuh draus: Die Währungsunion lehrt die Notwendigkeit weiterer
Integrationsschritte. Ihre entscheidende Voraussetzung waren Demokratie und
Republik. In diesen politischen Formen lernen Gesellschaften. Um sie war es bei
Gründung der Währungsunion nicht gut bestellt. Heute sind sie umso mehr
gefordert.
Unter dem Spiegel-Artikel
stehen sieben Verfasser und man merkt es dem Artikel an, dass sie ihre
Auffassungen nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner brachten. Wird einerseits
das Ressentiment bedient, so darf es sich doch nicht uneingeschränkt austoben.
Wenn es schon sieben Artikelschreibern einer Redaktion nicht erspart bleibt,
sich auseinanderzusetzen, ohne doch einen glatten Kompromiss zu finden, wie
sollten da die Regierungen der Währungsunion und die Instanzen der EU um die
notwendigen Auseinandersetzungen für einen praktikablen Weg aus der Krise
herumkommen? Die Gründung der Europäischen Zentralbank und die Einführung des
Euro waren ein Eröffnungszug, kein Endergebnis.
Originell ist der Spiegel-Titel
Die Euro-Lüge nicht. Er zitiert, sicher unbewusst, einen Buchtitel aus
den Neunzigerjahren, den Zeiten der heftigen Debatten um die Währungsunion.
Verfasser war Peter Vanderbrüggen. Die Übersetzung von De Europese leugen
aus dem Niederländischen als Die Euro-Lüge erschien 1997 im Rotbuch
Verlag und hatte den Untertitel Vom Unsinn der Europäischen Währungsunion.
Es lohnt sich, die beiden Texte gleichen Titels, getrennt durch fast 15 Jahre
ihres Erscheinens, gegeneinanderzuhalten. Die Kritik des Spiegel-Artikels
konzentriert sich ganz auf politisches Versagen der beteiligten Staaten und
ihrer Regierungen. Vanderbrüggen sah hingegen im Vorrang der Politik das
eigentliche Problem: »Die Mär, dass die europäische Einigung vor allem ein
wirtschaftliches Projekt ist, ist zweifellos die größte aller europäischen Lügen.«
Die Währungsunion sei »ein rein politisches Projekt« und eben deshalb zum
Scheitern verurteilt.
Als entschiedener Wirtschaftsliberaler
sah Vanderbrüggen im politischen Charakter des »wirtschaftlich sinnlosen«
Projekts der Währungsunion frei nach Friedrich Hayek die Gefahr des totalitären
Staates lauern. Seine Hoffnung, dass das gefährliche Projekt bereits im
vorbereitenden Stadium scheitere, stützte sich auf den Währungsmarkt,
»zweifellos das deutlichste Beispiel für das, was die Volkswirte meinen, wenn
sie von einem effizienten Markt reden« und auf die Arbeiter, damals speziell
die französischen: »Nur die trading rooms der Währungsspekulanten und die
Straßen von Paris können noch die Rettung bringen. ? Entweder wird die EWU
durch die Gesetze des Arbeitsmarktes gesprengt und werden wütende französische
und belgische Arbeiter das Ungeheuer von Maastricht erledigen oder die Milliarden
D-Mark und Francs, die auf dem Währungsmarkt zirkulieren ?«
Ein solches Bündnis rüttelt,
wenn man Vanderbrüggen folgen wollte, auch heute an den Fesseln der
Währungsunion so wie die Hedgefonds von der Karibik aus und die Angestellten
des öffentlichen Dienstes in Griechenland. Wer immer die Währungsunion für die
gegenwärtigen Schwierigkeiten verantwortlich macht, muss sich an Vanderbrüggens
Lob für Großbritannien reiben. An den Briten sollte man sich seiner Meinung
nach öfter ein Beispiel nehmen. Ganz klar beabsichtigten sie nicht, »ihre eigene
Art und Weise, Dinge anzupacken, für Europa zu opfern«. Jetzt opfern sie dem Währungsmarkt,
der sich das Pfund direkt vornehmen kann und vornimmt, während die Spekulation
gegen Griechenland immerhin den Umweg über die Staatsanleihen gehen muss.
Vanderbrüggen argumentierte
vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 1992 und 1993, als die Europäische
Währungsschlange durch die Spekulation gegen das britische Pfund erfolgreich
angegriffen wurde und öffentlich Bedienstete in Frankreich Plakate hochhielten,
sie streikten gegen Maastricht.
Werden die damaligen
dramatischen Ereignisse von Großbritannien und Frankreich jetzt in Griechenland
zusammengezogen und gedoppelt, sei es als Tragödie oder als Farce? Einerseits
ist die Situation heute viel gefährlicher als in den Neunzigerjahren. Noch ist
ziemlich unklar, ob die Weltwirtschaftskrise wie nach 1929 in eine länger
anhaltende Stagnation mit kleineren Ausschlägen nach oben und unten mündet oder
ob sich Welthandel und Weltwirtschaft erholen. Zunächst einmal hat sich die
Kreditblase von großen und kleinen Privaten nur zu den Staaten verschoben.
Andererseits sichern der Europäische Binnenmarkt und die Währungsunion gegen
protektionistische Abwertungswettläufe und andere Handelshemmnisse im Inneren,
ohne die EU nach außen abzuschotten. Auch die anderen Wirtschaftsmächte ziehen
im Großen und Ganzen Kooperation bisher der Abschottung und Konfrontation vor.
Noch scheint die Neigung zur Kooperation gegenüber der Neigung zur Panik des
»Rette sich, wer kann, egal wie« vorherrschend. Das Verhalten der EU und die
Sicherung der EWU können dazu beitragen, dass diese Neigung anhält und sich
festigt.
Ein spekulativer Angriff
kann auch dann Erfolg haben, wenn die Währung, ohne dass ein Angriff vorliegt,
unbegrenzt hätte gestützt werden können und gestützt worden wäre, schließt
Eichengreen aus seiner empirischen Analyse der Währungsturbulenzen von 1992 und
1993. Er folgert: »Das steht im Gegensatz zu den gängigen Modellen von
Zahlungsbilanzkrisen, wo Spekulanten, die durch inkonsequente und unhaltbare Maßnahmen
zum Handeln veranlasst werden, lediglich das Unvermeidbare vorwegnehmen und vor
einer Abwertung handeln, die auch so kommen muss«.(1) Wenn es tatsächlich zu
einer groß angelegten Spekulationen gegen den Euro kommen sollte, von deren Planung
gerüchteweise die Rede ist, dann weil die Spekulanten die Chance für eine
solche »self-fullfilling attack« gegeben sehen. Die Gerüchte wären dann erstes
Vorgeplänkel.
Die Geld- und die
Währungspolitik bewegen sich in einer Grauzone zwischen Staat und Wirtschaft.
Deshalb ist die Unabhängigkeit der EZB so wichtig. Und deshalb ist es möglich,
unter dem gleichen Titel völlig entgegengesetzte Thesen zu vertreten: Die EWU
hätte nie ein politisches Projekt sein dürfen, so Vanderbrüggen 1997 ? oder so
der Spiegel 2010, die beteiligten Staaten setzen die EWU in den Sand, weil sie
sie als politisches Projekt nicht wirklich ernst nehmen. Die EWU bleibt eine
politische Wette mit ökonomischem Einsatz,(2) nicht ganz einfach durchzuhalten
also. Weil der Euro der Sache nach eine politische Wette ist, können die
Politiker auf ihren Ausgang Einfluss nehmen. Weil ihr Ausgang nicht zuletzt von
der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt, unterliegen ihre Erfolgsbedingungen
nur teilweise der politischen Kontrolle. Nichts für schwache Nerven und
mangelndes Fingerspitzengefühl. Noch nicht mal vor dem Versuch von self-fullfilling
attacks ist der Euro sicher. Er muss gehütet werden.
1
Barry Eichengreen: Vom Goldstandard zum Euro. Die
Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000, S. 234.
2
»Politische Wette mit ökonomischem Einsatz. Über einige
Aspekte der Euro-Debatte« war der Titel meines Essays in Kommune 5/97
(S. 29?35). Er schloss an einen ersten Debattenbeitrag an: »Die Sache mit dem
?Euro?«, in Kommune 12/95 (S. 6?15).