Joscha Schmierer

 Wette verloren?

 Die Sache mit dem Euro

Der Euro muss gehütet werden. Vor Spekulationswellen ebenso wie vor einer medialen Panikmache, die in kritischen Zeiten leicht den Kopf verliert und die Dinge durcheinanderwirft. Die Währungsunion war und ist ein großer Fortschritt der EU ? in der Finanzkrise naturgemäß auch mit Problemen. Mit dem »Fall Griechenland« können die Mitgliedsländer vor allem eines: lernen. Lernen, den politischen Charakter der Euro-Ökonomie zu verstehen und in der politischen Praxis einen gemeinsamen Rahmen zu entwickeln.

 

Parallel zu den Spekulationswellen verlaufen die Verbalattacken: Zuerst gegen die Griechen als Trickser und Betrüger, dann direkt gegen den Euro. Das eine ist vor allem Angelegenheit von BILD, das andere ist mehr die der Blätter für die gehoben Stände. Dort zeigt man eine gewisse Zurückhaltung in der Hetze auf den südlichen Nachbarn und konzentriert sich auf die Bürokratie und die EU.

Der Beifall ist umso sicherer, als man den Vorwurf, Ausdruck nationalistischer Ressentiments zu sein, nicht fürchten muss, wenn man gleich auf die ganze Union losgeht. So ist Hans Magnus Enzensberger unlängst in Kopenhagen sicher heftig beklatscht worden. In einer Dankesrede für den x-ten Kulturpreis las er den abwesenden 40000 Brüssler Bürokraten die Leviten. Diesen Angehörigen der »Eurokratie« falle es wie denen »jeder politischen Klasse« natürlich schwer einzusehen, »dass sie nicht unsere Herren, sondern unsere Diener sind. Lieber hält man sich in diesem Milieu nicht nur die Augen, sondern auch beide Ohren zu. Deshalb wäre es vielleicht an der Zeit, eine paneuropäische Spende ins Leben zu rufen. Vierzigtausend Hörgeräte wären eine gute Investition, um unseren schwerhörigen Vormündern in Brüssel, Straßburg und Luxemburg zu helfen und sie aus ihrer selbst verschuldeten Isolation zu befreien.« Schließlich warteten etwa vierhundertfünfundneunzig Millionen von der Bürokratie als Nörgler, gar als Europafeinde verschriene Störenfriede nur darauf, dass man endlich zur Kenntnis nehme, dass sie an dem Einigungswerk einiges auszusetzen hätten, für das sich Brüssel laufend selbst gratuliere. In den wenig originellen Scherz mündet ein Sammelsurium der geläufigsten Stammtischbanalitäten über die EU. Die FAZ druckte den Sermon unter der Überschrift »Wehrt euch gegen die Bananenbürokratie!« mit Begeisterung ab und machte sich den Aufruf durch Verzicht auf Anführungszeichen gleich selbst zu eigen (3.2.10).

 

Das gehobene Ressentiment bedienen

Auf gehobenes Ressentiment setzt auch der Spiegel. Anfang März kam er mit dem Titel Die Eurolüge (10/2010) heraus. In Großbuchstaben natürlich und mit einer Ein-Euro-Münze darunter, deren südlicher Goldrand in den Umrissen der »PIGS«, so der Goldman Sachs zugeschriebene Sammelname für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien, dahinschmilzt. Im Inneren heißt es dann im Vorspann zum Artikel: »Der Euro ist unter Beschuss wie nie zuvor, er ist angreifbar geworden, weil sich die Versprechen, auf denen er gegründet wurde, als Lügen erwiesen.« Der Euro stand bekanntlich schon einmal bei 0,80 Dollar und bewegt sich jetzt zwischen 1,30 und 1,40 Dollar, nachdem er kurze Zeit auf 1,52 geschnellt war. Wer sich gelegentlich das eine oder andere amerikanische Buch über die internationale Finanzkrise kauft, kommt immer noch sehr gut weg beim geltenden Wechselkurs.

Dramatisch sind die griechischen Refinanzierungsprobleme. Die Kursentwicklung des Euro ist es nicht. Die deutsche Exportindustrie hätte den Kurs gern noch ein bisschen tiefer. Aus Sicht manches amerikanischen Exporteurs mag der Euro dagegen unterbewertet aussehen. Auf dem Binnenmarkt hält sich die Inflation trotz der geringen Zentralbankzinsen in immer noch engen Grenzen.

Man hat sich daran gewöhnt, dass die Meinungen der Finanzexperten und der Wirtschaftsjournalisten die Volatilität der Märkte, die sie bewerten, oft noch übertreffen. Nachdem das Nahen der Weltfinanzkrise den Auguren weitgehend verborgen blieb, wird jetzt das Zerbrechen der Währungsunion gleich bei den ersten größeren Schwierigkeiten drohend an die Wand gemalt. Falls jene Recht behalten sollten, die immer schon gegen die Währungsunion klagten, möchte man rechtzeitig Zeter und Mordio geschrieen haben. Der verstorbene Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, hatte seinerzeit in vielen Kolumnen das Leitmotiv variiert: »Eine EU-Währungsunion wäre wünschbar, wenn sie machbar wäre. Das ist sie derzeit nicht«. Nun bleibt die Frage, ist sie haltbar?

 

Nichts als Lügen?

Im Artikel heißt es, jetzt räche sich, »dass die europäische Gemeinschaftswährung auf nichts anderem gegründet ist als auf einer Reihe von Lügen«. Auf »nichts anderem« als Lügen gegründet hat sich der Euro zehn Jahre lang und nicht zuletzt in der weltweiten Finanzkrise erstaunlich gut gehalten.

Allen Euro-Gründern war bewusst, fährt der Artikel fort: »Die neue Währung wird nur stabil sein, wenn alle Mitgliedsländer sich zu einer soliden Haushaltspolitik verpflichten und auf die Dauer nur so viel ausgeben, wie sie einnehmen. Viele hielten sich von Anfang an nicht daran.« Die Währungsunion hätte sich, kaum war der Euro eingeführt, zur »Schuldengemeinschaft« entwickelt. Sei das Versprechen, die »Stabilitätskriterien« einzuhalten, die erste Lüge gewesen, so sei ihr die zweite bald gefolgt: »Versprochen hatten die europäischen Regierungen, die gemeinsame Währung mit einer gemeinsamen Politik zu unterfüttern.« Dazu seien die Regierungen nicht bereit. »Stattdessen handelt jedes der 16 Euroländer so, als verfügte es weiter über eigenes Geld. Im Alleingang werden Steuern gesenkt oder erhöht, Schulden gemacht oder Einsparungen beschlossen, ganz so, als gälte es keine Rücksicht zu nehmen.« Da aber ? und das ist ja ein Sinn der Währungsunion ? die Wechselkurse innerhalb der Währungsunion nicht länger mit unterschiedlichen Entwicklungen schwankten, fehle der frühere Anpassungsmechanismus. »Hat sich ein Land hoch verschuldet, kann die Regierung nicht mehr den sanften Weg der Abwertung gehen. Es muss den Lebensstandard seiner Bürger unmittelbar beschneiden, so wie derzeit Griechenland: Löhne senken, Renten kürzen, staatliche Ausgaben streichen.« Also sind nicht die bis dahin betrügenden Regierungen, sondern ist der verlogene Euro schuld. Fragt sich nur, warum er mit einiger Anstrengung verteidigt wird und auch Griechenland gewillt scheint, ihn sich zu erhalten. Noch steht der Euro gut da, auch wenn ihm der angeblich sanfte Weg der Abwertung, der den einzelnen Mitgliedsstaaten verschlossen bleibt, soeben mit teils nicht ganz so sanften Methoden aufgezwungen werden soll. Der eine oder andere Großspekulant spricht ja ganz offen die Parität zum Dollar als Ziel des eigenen Einsatzes an. Die gegenwärtigen Ängste entspringen gerade dieser eher befürchteten als drohenden Abwertung des Euro, die obendrein mit Inflation im Inneren unmittelbar in eins gesetzt wird.

 

Währungsunion baut auf Transparenz und Demokratie

Die Währungsunion verlangt, das ist unbestritten, ein höheres Maß an politischer Verantwortung nicht nur gegenüber den Partnern, sondern vor allem gegenüber der eigenen Gesellschaft. Wer mit Geschenken seine Wahlbevölkerung zu bestechen versucht und die Lage schönt, landet früher oder später unsanft auf dem Boden der Tatsachen und muss sich einer wütenden und empörten Gesellschaft, die sich zuvor nur allzu gern betrügen ließ, stellen. Im Allgemeinen wird die öffentliche Einsicht in die wirkliche Lage einen Regierungswechsel voraussetzen oder nach sich ziehen. In Griechenland fand erst die neue Regierung den Mut, der griechischen und der europäischen Öffentlichkeit die Augen zu öffnen.

Die Währungsunion rechnet mit verantwortungsvoller und transparenter Regierung und setzt auf Demokratie, um diese herbeizuführen. Es wäre blauäugig anzunehmen, dass mit Ersterer von Anfang an und immer zu rechnen wäre und die pure Geltung demokratischer Wahlverfahren sie ohne Weiteres sichere. Partnerschaft schließt hier gegenseitige Kontrolle ein und verlangt eine kritische europäische Öffentlichkeit. Im Inneren sind demokratische Wachsamkeit und republikanische Tugenden Bestandteil einer funktionierenden Währungsunion, wie sie vor der Währungsunion auch schon Voraussetzung guten Regierens in den einzelnen Ländern waren. Diese politischen »Stabilitätskriterien« haben in den Diskussionen um die Einführung des Euro kaum eine Rolle gespielt. Sie wurden als gegeben vorausgesetzt. Das war keine Lüge, sondern politische Blindheit.

 

Der Fall Griechenland

In Griechenland hat es ja nicht nur in den letzten Jahren an ehrlicher Rechnungslegung gemangelt. Dort wird schon lange hingenommen, dass der Staat zur Beute der regierenden Clique wird, wenn sie Teile der Gesellschaft an den Pfründen ausreichend teilhaben lässt. Der amerikanische Historiker und Finanzwissenschaftler Barry Eichengreen sagte kürzlich in einem Interview (Capital), die griechische Krise sei ein lokales Problem. »Ich war einer der wenigen Amerikaner, die für den Euro waren. Jetzt fragen mich meine Freunde: War der Euro nicht ein Fehler. Meine Antwort ist noch immer: Der Euro war eine gute Idee ? aber die Griechen hereinzulassen war eine schlechte.« Die Überschuldung ist freilich kein lokales Problem, aber auch kein europäisches allein. Die Kreditblase wird fast überall zuletzt von der öffentlichen Hand in der Schwebe gehalten. Aber Griechenland ist ein spezifisches Problem, in erster Linie ein Problem schwacher (Rechts-)Staatlichkeit. Dass Griechenland in die EWU hineingelassen wurde, lässt es nun nicht länger zu, vor diesem Problem die Augen zu verschließen. Dem jetzigen Regierungschef scheint das klar zu sein. Vielleicht ist eine gründliche Wende möglich. Nach den gegenwärtigen Umfragen teilen die meisten Griechen die Einsicht in deren Notwendigkeit.

Unter Druck bleibt die Refinanzierung der griechischen Staatsschuld. Einerseits steigen die Zinsforderungen an griechische Staatsanleihen, andererseits ist ihr Sicherheits-Rating gefährdet. Da viele europäische Banken griechische Staatsanleihen halten und sie unter Umständen bei der EZB nicht mehr als Sicherheiten für eigene Kredite hinterlegen können, sind die Refinanzierungsprobleme Griechenlands ein Problem der Währungsunion. Obwohl die Finanzprobleme Griechenlands nicht der Währungsunion entspringen, hat sie ein dringendes Interesse an ihrer Lösung. Unverantwortlich wäre es also, Griechenland mit seinen Refinanzierungsproblemen allein zu lassen und sich keine Gedanken zu machen, wie ihnen beizukommen sein könnte.

 

Die Währungsunion ist ein Lernprozess

Die jetzigen Schwierigkeiten öffnen die Augen. Die Währungsunion ist ein Lernprozess, und der Euro macht ihn unumgänglich. Der Euro selbst ist bisher noch kaum direkt unter Druck gekommen. Dafür ist der Dollar zu schwach. Wenn es bei den Wechselkursen nur um die Schuldenlast ginge, müsste er sich im Sinkflug befinden. Weil aber den USA als mächtigem Staat im Zweifel mehr zugetraut wird als der europäischen Gemeinschaft von kleineren und mittleren Staaten, bleibt er begehrte Reservewährung. Die potenziell dritte Leitwährung auf dem Weltfinanzmarkt, der Renminbi, bleibt immer noch an den Dollar gekoppelt, also wohl etwas unterbewertet. Nicht sicher ist, wie sich China im Fall einer Dollarspekulation gegen den Euro verhielte. Mit ihren gewaltigen Dollarreserven wäre die chinesische Zentralbank mehr als das Zünglein an der Waage. Diese starke, aber nicht kalkulierbare chinesische Position müsste Spekulanten gegen den Euro eigentlich vorsichtig machen. Verkauft China Dollars und kauft es Euros, kann es jede Spekulation gegen den Euro schnell zunichtemachen. Um zu sehen, was der Euro auch gebeutelten Euroländern in der Krise bringt, lohnt es sich, nach den baltischen EU-Mitgliedern zu schauen, die bei wegbrechenden Wechselkursen ihre Schulden in fremden Währungen bedienen müssen.

Dass die Regierungen der Euroländer und die EU-Kommission sich Gedanken machen, wie verhindert werden kann, dass die Refinanzierungsprobleme Griechenlands Spekulationen auf die Festigkeit des Euro und die Haltbarkeit der Währungsunion ermutigen, ist das Mindeste, was man von ihnen erwarten kann. Doch da sieht der Spiegel die »definitive Euro-Lüge« in Vorbereitung. Die Bestimmung, die seiner Meinung nach durch Lüge unterlaufen werden soll, hat er schon auf die Titelseite unter DIE EURO-LÜGE gesetzt: »Ein Mitgliedsstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedsstaats«, wird der EU-Vertrag von Lissabon, Artikel 125 (1) zitiert. Absatz 2 von Artikel 100, in dem die Möglichkeit eingeräumt wird, einem Mitgliedsstaat in besonderen Notsituationen beizuspringen, war wahrscheinlich zu lang, um ihn auch noch auf der Titelseite unterzubringen. Der Haftungsausschluss ist die Sicherung eines Mitgliedsstaates gegen äußeren Zugriff aufgrund von Versäumnissen eines anderen Mitgliedsstaates, aber kein Verbot, aus eigenem Gutdünken anderen zu helfen, um Gefahren von der gemeinsamen Währung fernzuhalten und damit eigene Interessen zu schützen. Der Spiegel bricht hier eine Lanze für die Federfuchserei, die es innerhalb der EU so schwer macht, offensichtlich gemeinsame Interessen auch gemeinsam wahrzunehmen.

 

Spieglein, Spieglein an der Wand

Nachdem die »Eurolüge« bis zur »definitiven« durchbuchstabiert ist, kommt der Spiegel schließlich zum Ergebnis: »Längst wird diskutiert, ob Griechenland nicht aus der Währungsunion geworfen werden müsste oder das Land den Euro freiwillig abgibt. Ganz Wagemutige machen sogar den Vorschlag, Deutschland solle, um nicht für fremde Schulden geradezustehen, die Mark wieder einführen. Doch solche Überlegungen sind naiv. Möglicherweise ist der Euro tatsächlich zu früh eingeführt worden. Doch das ist noch lange kein Argument, ihn genauso voreilig wieder abzuschaffen. Klar ist: Ein Bruch der Währungsunion wäre nicht nur eine politische Schmach, es wäre auch eine ökonomische Katastrophe. Zehn Jahre lang haben sich Europas Unternehmen und Banken an eine einheitliche europäische Kalkulationsgrundlage gewöhnt. Das wieder rückgängig zu machen, würde wirtschaftliche Verwerfungen auslösen, gegen die sich die Griechenlandkrise wie ein Kindergeburtstag ausnimmt. Europa braucht keine neue Währung. Europa braucht endlich jene Kultur von Stabilität, Transparenz und Glaubwürdigkeit, die seine Regierungen den Bürgern zwar versprochen, aber nie geschaffen haben. Zwar gibt es in der Euro-Zone eine gemeinsame Geldpolitik, doch es fehlt an gemeinsamer Finanz- und Wirtschaftspolitik.« Damit argumentiert der Artikel für die Bemühungen der Regierungen der Währungsunion und der Kommission, mit der Krise zurechtzukommen. Kurzfristig und unmittelbar müssen denkbare zwischenstaatliche Lösungen für die griechischen Refinanzierungsschwierigkeiten gefunden werden, wenn sie im Mai erneut akut werden. Mittelfristig geht es um weitere Integrationsschritte, wie sie mit der Bildung eines Europäischen Währungsfonds zur Debatte stehen. Die wichtigste Lehre, die aus der griechischen Krise zu ziehen sei, ist, wie Währungskommissar Olli Rehn meint, »dass wir unsere Wirtschaftspolitik eng abstimmen und überwachen müssen.« Um mit diesem Vorsatz Ernst zu machen, ist mehr notwendig als abstrakte Einsicht. Die konnte man schon in den Neunzigerjahren haben und hatte sie auch. Wäre aber eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik zur Voraussetzung der Gründung der Währungsunion erklärt worden, hätte man sie auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Diese gemeinsamen Politiken zu entwickeln, ist eine Frage der politischen Praxis in einem gemeinsamen Rahmen und nicht durch das Hinschreiben von zwei Prozentzahlen zu lösen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Währungsunion lehrt die Notwendigkeit weiterer Integrationsschritte. Ihre entscheidende Voraussetzung waren Demokratie und Republik. In diesen politischen Formen lernen Gesellschaften. Um sie war es bei Gründung der Währungsunion nicht gut bestellt. Heute sind sie umso mehr gefordert.

Unter dem Spiegel-Artikel stehen sieben Verfasser und man merkt es dem Artikel an, dass sie ihre Auffassungen nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner brachten. Wird einerseits das Ressentiment bedient, so darf es sich doch nicht uneingeschränkt austoben. Wenn es schon sieben Artikelschreibern einer Redaktion nicht erspart bleibt, sich auseinanderzusetzen, ohne doch einen glatten Kompromiss zu finden, wie sollten da die Regierungen der Währungsunion und die Instanzen der EU um die notwendigen Auseinandersetzungen für einen praktikablen Weg aus der Krise herumkommen? Die Gründung der Europäischen Zentralbank und die Einführung des Euro waren ein Eröffnungszug, kein Endergebnis.

 

Euro-Lüge ? ein alter Vorwurf

Originell ist der Spiegel-Titel Die Euro-Lüge nicht. Er zitiert, sicher unbewusst, einen Buchtitel aus den Neunzigerjahren, den Zeiten der heftigen Debatten um die Währungsunion. Verfasser war Peter Vanderbrüggen. Die Übersetzung von De Europese leugen aus dem Niederländischen als Die Euro-Lüge erschien 1997 im Rotbuch Verlag und hatte den Untertitel Vom Unsinn der Europäischen Währungsunion. Es lohnt sich, die beiden Texte gleichen Titels, getrennt durch fast 15 Jahre ihres Erscheinens, gegeneinanderzuhalten. Die Kritik des Spiegel-Artikels konzentriert sich ganz auf politisches Versagen der beteiligten Staaten und ihrer Regierungen. Vanderbrüggen sah hingegen im Vorrang der Politik das eigentliche Problem: »Die Mär, dass die europäische Einigung vor allem ein wirtschaftliches Projekt ist, ist zweifellos die größte aller europäischen Lügen.« Die Währungsunion sei »ein rein politisches Projekt« und eben deshalb zum Scheitern verurteilt.

Als entschiedener Wirtschaftsliberaler sah Vanderbrüggen im politischen Charakter des »wirtschaftlich sinnlosen« Projekts der Währungsunion frei nach Friedrich Hayek die Gefahr des totalitären Staates lauern. Seine Hoffnung, dass das gefährliche Projekt bereits im vorbereitenden Stadium scheitere, stützte sich auf den Währungsmarkt, »zweifellos das deutlichste Beispiel für das, was die Volkswirte meinen, wenn sie von einem effizienten Markt reden« und auf die Arbeiter, damals speziell die französischen: »Nur die trading rooms der Währungsspekulanten und die Straßen von Paris können noch die Rettung bringen. ? Entweder wird die EWU durch die Gesetze des Arbeitsmarktes gesprengt und werden wütende französische und belgische Arbeiter das Ungeheuer von Maastricht erledigen oder die Milliarden D-Mark und Francs, die auf dem Währungsmarkt zirkulieren ?«

Ein solches Bündnis rüttelt, wenn man Vanderbrüggen folgen wollte, auch heute an den Fesseln der Währungsunion so wie die Hedgefonds von der Karibik aus und die Angestellten des öffentlichen Dienstes in Griechenland. Wer immer die Währungsunion für die gegenwärtigen Schwierigkeiten verantwortlich macht, muss sich an Vanderbrüggens Lob für Großbritannien reiben. An den Briten sollte man sich seiner Meinung nach öfter ein Beispiel nehmen. Ganz klar beabsichtigten sie nicht, »ihre eigene Art und Weise, Dinge anzupacken, für Europa zu opfern«. Jetzt opfern sie dem Währungsmarkt, der sich das Pfund direkt vornehmen kann und vornimmt, während die Spekulation gegen Griechenland immerhin den Umweg über die Staatsanleihen gehen muss.

Vanderbrüggen argumentierte vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 1992 und 1993, als die Europäische Währungsschlange durch die Spekulation gegen das britische Pfund erfolgreich angegriffen wurde und öffentlich Bedienstete in Frankreich Plakate hochhielten, sie streikten gegen Maastricht.

Werden die damaligen dramatischen Ereignisse von Großbritannien und Frankreich jetzt in Griechenland zusammengezogen und gedoppelt, sei es als Tragödie oder als Farce? Einerseits ist die Situation heute viel gefährlicher als in den Neunzigerjahren. Noch ist ziemlich unklar, ob die Weltwirtschaftskrise wie nach 1929 in eine länger anhaltende Stagnation mit kleineren Ausschlägen nach oben und unten mündet oder ob sich Welthandel und Weltwirtschaft erholen. Zunächst einmal hat sich die Kreditblase von großen und kleinen Privaten nur zu den Staaten verschoben. Andererseits sichern der Europäische Binnenmarkt und die Währungsunion gegen protektionistische Abwertungswettläufe und andere Handelshemmnisse im Inneren, ohne die EU nach außen abzuschotten. Auch die anderen Wirtschaftsmächte ziehen im Großen und Ganzen Kooperation bisher der Abschottung und Konfrontation vor. Noch scheint die Neigung zur Kooperation gegenüber der Neigung zur Panik des »Rette sich, wer kann, egal wie« vorherrschend. Das Verhalten der EU und die Sicherung der EWU können dazu beitragen, dass diese Neigung anhält und sich festigt.

 

Self-fullfulling attacks?

Ein spekulativer Angriff kann auch dann Erfolg haben, wenn die Währung, ohne dass ein Angriff vorliegt, unbegrenzt hätte gestützt werden können und gestützt worden wäre, schließt Eichengreen aus seiner empirischen Analyse der Währungsturbulenzen von 1992 und 1993. Er folgert: »Das steht im Gegensatz zu den gängigen Modellen von Zahlungsbilanzkrisen, wo Spekulanten, die durch inkonsequente und unhaltbare Maßnahmen zum Handeln veranlasst werden, lediglich das Unvermeidbare vorwegnehmen und vor einer Abwertung handeln, die auch so kommen muss«.(1) Wenn es tatsächlich zu einer groß angelegten Spekulationen gegen den Euro kommen sollte, von deren Planung gerüchteweise die Rede ist, dann weil die Spekulanten die Chance für eine solche »self-fullfilling attack« gegeben sehen. Die Gerüchte wären dann erstes Vorgeplänkel.

Die Geld- und die Währungspolitik bewegen sich in einer Grauzone zwischen Staat und Wirtschaft. Deshalb ist die Unabhängigkeit der EZB so wichtig. Und deshalb ist es möglich, unter dem gleichen Titel völlig entgegengesetzte Thesen zu vertreten: Die EWU hätte nie ein politisches Projekt sein dürfen, so Vanderbrüggen 1997 ? oder so der Spiegel 2010, die beteiligten Staaten setzen die EWU in den Sand, weil sie sie als politisches Projekt nicht wirklich ernst nehmen. Die EWU bleibt eine politische Wette mit ökonomischem Einsatz,(2) nicht ganz einfach durchzuhalten also. Weil der Euro der Sache nach eine politische Wette ist, können die Politiker auf ihren Ausgang Einfluss nehmen. Weil ihr Ausgang nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt, unterliegen ihre Erfolgsbedingungen nur teilweise der politischen Kontrolle. Nichts für schwache Nerven und mangelndes Fingerspitzengefühl. Noch nicht mal vor dem Versuch von self-fullfilling attacks ist der Euro sicher. Er muss gehütet werden.

 

1

Barry Eichengreen: Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000, S. 234.

2

»Politische Wette mit ökonomischem Einsatz. Über einige Aspekte der Euro-Debatte« war der Titel meines Essays in Kommune 5/97 (S. 29?35). Er schloss an einen ersten Debattenbeitrag an: »Die Sache mit dem ?Euro?«, in Kommune 12/95 (S. 6?15).

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2010