Herbert Hönigsberger, Andreas Kolbe, Sven Osterberg, Dennis Räther
Selten und heute gar nicht mehr kann eine Partei so dominieren, dass sie alleine die Regierung stellt. Das liegt am gesellschaftlichen Wandel selbst und zwingt politische Gruppierungen zu komplizierten strategischen Überlegungen im politischen Machtkampf. Auf der Basis soziologischer Studien und politischer Kalküle aus der Geschichte der Bundesrepublik entwerfen unsere Autoren das Konzept der Bildung eines »demokratischen Lagers« als Umfeld eines progressiven Parteienbündnisses. Eine erneuerte SPD könnte eine neue Lagerintegration gegen die Konsolidierung eines »bürgerlichen Lagers« anführen.
Die SPD ist die
geschrumpfte Immer-noch-Leitpartei eines Lagers, das gegenüber dem »bürgerlichen« mehrheitsfähig sein
könnte, aber ohne den Nukleus eines handlungsfähigen Parteienbündnisses es
nicht ist.(1) Asymmetrisch verteilte Potenziale zur Lagerformierung sind einer
der wesentlichen Gründe für die strategische Defensive der SPD. Das ist nicht
nur vorläufiges Ergebnis der anlaufenden Lagerdebatte.(2) Sie erschließt auch
eine weitere Dimension des Konzeptes Leitpartei neben nationaler Diskurs-,
Koalitions- und Regierungsfähigkeit.(3) Eine Leitpartei ? eine Volkspartei
übrigens auch ? ist Leitpartei eines Lagers. Sie ist fähig zur Lagerbildung,
sie integriert ein Lager. Eine Leitpartei führt die Nation, weil sie ein
mehrheitsfähiges Lager führt, eine mehrheitsfähige Koalition bilden kann und
den Kanzler stellt. Die SPD ist davon sehr weit entfernt.
Die Bundesrepublik ist durch
politische Lager geprägt worden. Die gesellschaftlichen Spaltungen, Schichtungen
und Segmentierungen haben in sechzig Jahren nicht mehr als vier Lager
ausdifferenziert, zentriert und unterschiedlich konfiguriert um zwei Parteien:
konservativ pur, konservativ-liberal, sozial-liberal, rot-grün, geführt von
Union und SPD. Die Nachkriegsgeschichte lässt sich auch als Formierungsprozess
des konservativ-liberalen Lagers schreiben. Dessen Ablösung durch die erste
lagerübergreifende große Koalition bereitete den Lagerwechsel der FDP und den
Regierungsantritt des sozial-liberalen Lagers vor. Als politisches Projekt
wurde Sozial-Liberal durch die Rückkehr der FDP ins alte Lager beendet, das
erst nach 16 Jahren wieder durch ein neues abgelöst wurde: Rot-Grün. Aber
bereits nach sieben Jahren bereitete die anschließende zweite große Koalition
die Rückkehr zum erneuten Machtantritt von Konservativen und Liberalen vor. Die
Union ist die stabile Leitpartei eines Lagers, die SPD dagegen konnte bereits
zwei Lager formieren. Nur das konservative Lager war einmal allein
regierungsfähig und stand in der sozial-liberalen Regierungszeit allein einem
anderen Lager gegenüber. Nur ein einziges Mal hat ein Lager, Rot-Grün, ein
anderes, Konservativ-Liberal, unmittelbar abgelöst. Und nur eine der aktuell
drei »Kleinparteien« ? die FDP ? hat in der Bundesrepublik je einen Lagerwechsel
vollzogen, das aber gleich zweimal. Andererseits ist auch nur eine der
»Kleinparteien« ? die Linke ? auf unabsehbare Zeit in ein Lager eingemauert.
Mit der
konservativ-liberalen, sozial-liberalen und rot-grünen Ära lassen sich auch
Zeiträume mit jeweils spezifischer soziokultureller Prägung unterscheiden.
Sowohl der Wechsel zu Sozial-Liberal als auch zu Rot-Grün ist tief greifenden
mentalen und intellektuellen Umbrüchen zuschreiben.
Lager werden von Regierungen
formiert und von soziokulturellen Trends getragen. Soziokulturelle Trends
bringen Regierungen an die Macht. Informelle gesellschaftliche Lager mit mehr
oder weniger ausgeprägter und kohärenter soziokultureller und soziomoralischer Identität
verdichten sich in politischen Lagern, letztlich in formellen
Parteienbündnissen, Regierungskoalitionen.(4) Die sozial-liberale und die
rot-grüne Ära lassen sich als die zwei wesentlichen Reform- und
Modernisierungsphasen der Republik klassifizieren, die konservativ-liberalen Phasen
eher als restaurativ, als Backlash auf die sozialdemokratisch vorgetragenen
Demokratisierungsschübe und gesellschaftlichen Innovationen. An der
sozialliberalen Koalition lässt sich nachzeichnen, mit welcher Dynamik eine
Regierung zerbricht, weil sich die sozialen und politischen Bindekräfte des
Lagers erschöpft haben, die sie getragen haben. Das sozial-liberale Lager hat
eine Ära geprägt, die zu den wichtigsten der Geschichte der Bundesrepublik
zählt, ist aber eine, wenn auch längere, Episode geblieben. Das
konservativ-liberale Lager ist dagegen eine stabile Formation, die die
Bundesrepublik durchgängig zu prägen, Phasen des Machtverlustes und der inneren
Verunsicherung zu überstehen imstande ist. Es hält sogar den zeitweiligen
Lagerwechsel des liberalen Partners aus. Dies lässt auf belastbarere
Bindekräfte schließen als in den Lagern, die die Sozialdemokratie formieren
konnte. Es verfügt in höherem Maße über einen unerschütterlichen sozialen Kern,
der seine Kontinuität und seinen fortdauernden Einfluss auch in Zukunft garantiert.
Rot-Grün kommt diesem Typus näher als Sozial-Liberal. Es wird vor allem durch
die Affinitäten verschiedener Mittelklassenmilieus stabilisiert. Von einer
vergleichbaren Erschöpfung am Ende der Regierung Schröder wie am Ende der
Regierung Schmidt kann nicht die Rede sein.
Die bipolare
gesellschaftliche Lagerbildung zeichnet eine Grundkonstellation menschlichen Handelns nach, die
Entscheidungssituation. Die Bürger müssen sich zu einer Fülle von Einzelfragen
verhalten, die letztlich nur ein Entweder-oder zulassen und keine flaue Enthaltung.
Diese Einzelentscheidungen führen zur Single-Issue-Lagerbildung (Abtreibung,
Atomkraft, Mindestlohn, Nichtraucher, Steuersenkung) und scheinen individuell unendlich
kombinierbar. Die Zuordnung zu einem Lager und die Wahlentscheidung für seine
Parteien sind ein Aggregat, das dauerhafte Resümee dieser heterogenen und auch
widersprüchlichen Entscheidungen. Sie sind mit der eigenen Milieubindung und
der intuitiven sozialen Selbstverortung verwoben. Die Entscheidung, wohin man
gehört, wird im Lebenszyklus vergleichsweise früh getroffen, ja zunächst für
einen getroffen. Sie wird durch eine Serie von Ereignissen, Erlebnissen und
Einzelentscheidungen entweder stabilisiert oder aufgelöst und reformuliert.
Schließlich präformiert umgekehrt die Selbstzurechnung zu einem Lager die
politische Einzelentscheidung. Zu Zeiten stabiler sozialer Klassen und
Schichten war diese Lagerzuordnung ein quasi intuitiver Prozess: Katholische
Mädchen vom Lande und die Kinder gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer im
Ruhrbergbau wussten, wohin sie gehören, lange vor komplizierten Abwägungen. Die
selbstverständliche Selbstzurechnung zu einem Lager entlastet von
Reflexionsaufwand und Entscheidungsdruck. Die Auflösung traditioneller Milieus,
die naturwüchsig Lagerzugehörigkeit vorsehen, führt aber keineswegs zur
Auflösung von Lagerbindungen, sondern verändert lediglich die Mechanismen
dieser Selbstzurechnung. Intuitive Prozesse werden in Reflexionsschritte und
bewusste politische Entscheidungen transformiert, die nach wie vor in ? wenn
auch gelockerten ? soziokulturellen Bindungen gründen. Die Entlastungsfunktion
einer derartigen Generalentscheidung bleibt auch erhalten, wenn sie reflektiert
generiert wird. Im Kern dieser auf Dauer angelegten Positionierung stehen
fundamentale Wertorientierungen, Prägungen durch bedeutende historische
Ereignisse und eindrucksvolle Persönlichkeiten. In der Folge wird die
Richtigkeit dieser Positionierung immer wieder bestätigt.
Sich einem Lager zuzurechnen
ist die zeitgemäße Antwort auf Individualisierung und gesellschaftliche
Fragmentierung, ein Versuch, den eigenen Platz in der Welt zu finden, eine
progressive Variante politischer Bindung. Subjektiv wie gesellschaftlich
erscheint die weite Lagerbindung moderner, reifer, offener als die enge
Parteibindung. Lagerbildung auf allen Ebenen ist einer der
Integrationsmechanismen einer horizontal heterogenen und vertikal gespaltenen Gesellschaft.
Je fragmentierter die Gesellschaft, desto mehr verlangt sie immer wieder nach
Reintegration. Lagerbildung ist ein Mechanismus gesellschaftlicher
Defragmentierung. Modern ist die Zurechnung zu Lagern, weil es in hohem Maße
eine informelle, individuelle Entscheidung bleibt, zu welchem man gehört. Sie
existieren, weil Individuen sich einem sozialen, einem kulturellen Zusammenhang
zugehörig fühlen, einer politischen Strömung zuneigen. Die autonome Zurechnung
zu einem Lager ist eine Antwort auf die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse.
Fester umrissene Lager bilden sich in Phasen gesellschaftlicher Entwicklung, in
denen der Bedarf an bipolarer Verdichtung zahlreicher politischer
Einzelmeinungen zu den unterschiedlichsten Sachfragen höher ist als zu anderen
Zeiten. Krisenzeiten und Modernisierungsphasen sind solche Etappen, in denen
die eigene Zurechnung zu einem Lager zwingender erscheint. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse nötigen den Bürgern mehr Entschlossenheit und
dezidiertere Entscheidungen ab als in Phasen ruhiger Entwicklung. Zumindest
scheint das für die sozial-liberale und die rot-grüne Modernisierungsphase
evident. Der Geist der Zeit mobilisiert die Bürger zu höherer Entschiedenheit.
Und es scheint gerade ein Kennzeichen gesellschaftlicher Entwicklungsphasen mit
dezidierter Lagerbildung zu sein, dass sich die fragile Mitte ? selbst kein
Lager(5) ? zu größerer Entschiedenheit durchringt und sich einem Lager
zurechnet. So jedenfalls die Mitte in der sozialliberalen und die neue Mitte in
der rot-grünen Ära.
Der Theoriestreit und die
strategische Kontroverse drehen sich
um die Frage, ob aus den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen die
Unmöglichkeit oder die Notwendigkeit der Lagerbildung folgt. Gelegentlich wird
versucht, die strategische Option Lagerbildung durch Daten der Wahlforschung zu
Wechselwählern und Nicht-Wählern zu widerlegen. Beide Phänomene nehmen aufgrund
gesellschaftlicher Fragmentierung und Individualisierung zu. Die Daten aus
Momentaufnahmen einzelner Wahlen und von jeweils anderen Stichproben, also die
Wählerwanderungsanalyen nach einer Wahl, liefern aber weder verlässliche noch
hinlängliche Hinweise auf das, worauf es für eine Lagerstrategie ankommt: auf
Kenntnisse über die Quantitäten von Wählertypen über lange Zeiträume,
langfristige individuelle Wahlmuster, Wählerbiografien. 20 Prozent der Wähler
gelten also als Stammwähler. Doch gibt es kein objektivierbares Kriterium,
ob das sehr wenige oder noch sehr viele sind. Ebenso wenig wissen wir von jenen
Wählern, die an einem Punkt ihrer Wählerkarriere dauerhaft zur konkurrierenden
Leitpartei übergewechselt und nie mehr zur ersten Partei der Wahl zurückgekehrt
sind, also über die dauerhaften, entschiedenen Lagerwechsler. Ähnliche
Unsicherheiten herrschen bei der Quantität jener mehr oder minder ständigen
Wechselwähler, die okkasionell zwischen Leitparteien und damit Lagern wechseln
und wieder zurück, die langjährigen, notorischen Lagerhopper. Dazu
kommen die Wechselwähler, die zwar häufig von Leitparteien ins andere Lager
wechseln, aber nur zu den Begleitparteien der Leitparteien und wieder zurück,
die moderaten Lagerhopper, schließlich die langjährigen Wechselwähler,
die zwischen den Begleitparteien eines Lagers wechseln, aber nie zu den Leitparteien,
also die Wähler von »Kleinparteien«, vorsichtige Lagerhopper. Und immer
noch ist die Zahl der Wechselwähler, die zwischen Leit- und Begleitpartei
innerhalb eines Lagers wechseln, also vor allem auch der taktischen
Lagerwähler, größer als die der anderen Kategorien der Wechselwähler. Die
Wechselwähler aller Art haben sich ohnehin zu einer Art Kultfigur gemausert.
Sie gelten als Ausbund von Rationalität und Pragmatismus, als Personifizierung
einer neuen Offenheit und als wägende Individualisten, die sich von den
Parteien nicht dauerhaft vereinnahmen lassen.
Bei Lichte besehen ist der
Wechselwähler vor allem Seismograph, der als Erster die medialen Konjunkturen
nachzeichnet, der Resonanzboden medial erzeugter Wechselstimmungen. So manche
mediale Feier des Wechselwählers ist kaum mehr als eine Selbststilisierung von
Journalisten, die sich für die mobile Mitte halten. Die tatsächliche Palette
der Motive der heterogenen Masse von Wechselwählern ist bunt und
unübersichtlich. Dass der Wechselwähler allein der Gebildete, der Informierte
der Mitte und damit der gehobene Citoyen sei, ist ein Mythos, denn gerade auch
in den Mittelschichten finden sich erschreckende Anzeichen politischer Desorientierung.
Andererseits scheint der Wählertypus, der sich aufgrund jahrelanger Beschäftigung
mit Politik, also informiert, für ein politisches Lager oder gar eine Partei
entschieden hat, weil er deren Substanz auch in kritischen Zeiten für
tragfähiger als die der Konkurrenz hält, auf dem Rückzug zu sein. Ihn aber
deshalb zum antiquierten Auslaufmodell zu deklarieren, ist eher ein Zeichen für
den Niedergang politischer Kultur.
Schließlich wissen wir weder
Wesentliches über die Zahl der Nichtwähler, die zeit ihres Lebens nicht wählen,
die Unpolitischen, die Systemgegner, noch über jene Wähler, die ab einem
bestimmten Zeitpunkt nicht mehr wählen gehen, die Enttäuschten. Am meisten ist
noch über die zeitweiligen Nichtwähler, darunter viele Protestwähler, bekannt.
Insbesondere im sozialdemokratischen Milieu gibt es den Hang zur demonstrativen
Nichtwahl der SPD, ohne je eine andere Partei zu wählen, also die Aufkündigung
der Parteigefolgschaft ohne Lagerwechsel. Häufigkeit und Dauer dieser
verschiedenen Muster im langjährigen individuellen Wahlverhalten signalisieren
unterschiedliche Formen des Bruchs mit den eigenen bisherigen politischen
Optionen, respektive auch unterschiedliche Ambitionen, diesen Bruch weich und
reversibel zu gestalten. Zudem korrespondieren diese Muster jeweils auch mit
unterschiedlich intensiven Veränderungen des eigenen Normengefüges und der
eigenen Grundüberzeugungen, also des intellektuellen Unterfutters der
subjektiven Lagerzuschreibung. Irreversible Umorientierungen sind allenfalls
bei den entschiedenen, dauerhaften Lagerwechslern anzunehmen.
Von erheblichem Interesse
für die Fundierung der »Lagertheorie«
ist die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Gesellschaft im Reformprozess«.(6)
Sie ordnet Wertepräferenzen der Bevölkerung politischen Typen zu, die als
politische Milieus gedeutet werden können, quantifiziert diese, trifft Aussagen
zu deren Wahlverhalten und eröffnet damit unmittelbar strategische
Perspektiven.(7) Vier dieser politischen Typen ? Leistungsindividualisten,
etablierte Leistungsträger, selbstgenügsame Traditionalisten und zufriedene
Aufsteiger ? neigen in Wahlen mehrheitlich oder zu größeren Teilen der Union
und der FDP zu. Vier weitere ? kritische Bildungseliten, engagiertes Bürgertum,
bedrohte Arbeitnehmermitte, autoritätsorientierte Geringqualifizierte ? der SPD
und den Grünen. Der neunte Typus, das abgehängte Prekariat, wählt Linkspartei,
extreme Rechte oder überhaupt nicht. Die Mitte wird in dieser Studie nicht
mittels einer Rechts-links-Skala konstruiert, sondern in einer Oben-Unten-Skala
verortet, sozial, als Mittelklasse. Strategisch wird geschlussfolgert, die
solidarischen Gruppen im oberen Teil der Gesellschaft, die verunsicherte
Arbeitnehmermitte und die erreichbaren Gruppen im unteren Bereich politisch zu
integrieren, also eine entsprechende Lagerbildung anzustreben.
»Lagertheoretiker« und
Lagergegner rekurrieren auf dieselben Daten. Aggregiert man den Stoff, schält
sich zwar heraus, dass die Parteienbindungen abnehmen. Diverse Muster des
Wahlverhaltens artikulieren deutliche Parteienkritik. Lockerung der
Parteienbindung und Wählen als praktizierte Parteienkritik drücken aber
keineswegs in gleicher Intensität Brüche in der überwölbenden Lagerzuordnung
aus. Wenn die Wähler alle Wechseloptionen ausschöpfen, liegt die
Schlussfolgerung nahe, dass Lagergrenzen offener werden. Andererseits sind die
historischen Lager, gegenläufige Tendenzen im Wahlverhalten (Stammwähler,
Wechsel innerhalb eines Lagers) und existierende soziokulturelle Bindekräfte
hinlänglich evident, um an der Fortexistenz von Lagern respektive Potenzialen
zur Lagerbildung festzuhalten. Als strategischer Ausgangspunkt sind Zyklen der
Lockerung und Festigung von Lagern, also Konjunkturen der Lagerbildung
anzunehmen. Ob strategisch für oder gegen Lagerbildung optiert wird, ist eine
politische Entscheidung. Die Union verfolgt eine Strategie der
»Lagererweiterung«, die in der Gewissheit der strategischen Fesselung der FDP
ans »bürgerliche« Lager ungeniert auf die Grünen lossteuert. Umgekehrt kann die
Abwehrstrategie der FDP gegenüber der Union und den nachdrängenden Grünen nur
darin bestehen, das eigene Lager demonstrativ zu akzentuieren und dessen
Exklusivität zu betonen. Die Lage der Grünen ist spiegelbildlich. Ambitionen,
sich von der SPD zu emanzipieren, und der Wunsch, möglichst viele Regierungsämter
zu akkumulieren, legen nahe, ebenfalls eher die Auflösung von Lagern zu
postulieren. Die SPD wiederum steht vor der Aufgabe, offensiv ein Lager neu zu
integrieren respektive das gegnerische zu destabilisieren. Dies verlangt im
Gegensatz zur Union eher ein dezidiertes Bekenntnis zu einer Lagerstrategie,
die sich auch nicht scheut, zur Dissidenz aufzufordern.(8) Zustimmung oder
Ablehnung von Lagertheorien und die öffentliche Thematisierung von
Lagerstrategien folgen also politischen Ambitionen, haben selbst taktische
Funktion.
Den Leitparteien, die
absolute Mehrheiten nicht mehr erringen können, bleibt nichts anderes übrig, als auf Lagerbildung zu
setzen. Die SPD scheint derzeit nicht entschieden. Ihre Fähigkeit zur Lagerintegration
war auch während der rot-grünen Regierungszeit weitaus weniger ausgeprägt als
in der sozial-liberalen Ära. Die Distanz von Teilen des grünen Establishments
gegenüber der SPD ist Folge dieser strategischen Nachlässigkeit. Weder
gegenüber der Linken und erst recht nicht gegenüber dem alten Partner aus der
sozial-liberalen Zeit lässt die SPD eine Ambition zur Lagerbildung erkennen.
Joachim Raschke und Ralf Tils raten der SPD zu einer Strategie, die auf ein
Lager der »linken Mitte« abzielt.(9) Das kann aber nur die halbe Wahrheit sein.
Denn dies verengt die Optionen der SPD auf die Oppositionsparteien, schließt
aber aus, an ihre besten Zeiten in der sozial-liberalen Ära auch nur gedanklich
anknüpfen zu können. Von maßgeblicher Bedeutung ist, ob die SPD in die
Lagerkonkurrenz mit einem Etikett eintritt, das nicht nur Offenheit
signalisiert, sondern auch die offensive Ambition, das »bürgerliche« Lager
aufsprengen zu wollen. Die Mitte ist genau genommen nur ein Punkt, kein Raum,
und wenn, ist sie eben in der Mitte und nicht links. Da ist die Formel von
einem Mitte-links-Lager sprachlich präziser. Und die neue Mitte hatte größere
Mobilisierungskraft. Die Kombination »linke Mitte« entfaltet selbst in den
Milieus, auf die sie zielt, weniger eine Dialektik als Fliehkräfte. Wer sich in
der Mitte wähnt, will nicht links stehen. Die Linke sieht sich eben dort und
nicht in der Mitte. Das progressive Lager, das auf internationaler Ebene
diverse sozialdemokratische und liberale Strömungen umgreift, fasst immerhin
die Erben der französischen Revolution zusammen und stellt sie den
konservativen Nachfahren des Ancien Régime gegenüber. Es erlaubt selbst einer
Partei wie der FDP, sich einzuordnen.
Wir präferieren das Lager
der Demokratie oder das demokratischen Lager.(10) Ihm können sich soziale
Demokraten, freie Demokraten, Basisdemokraten, die sozialdemokratisierten
Nachlassverwalter einer deutschen demokratischen Republik und sonstige
Demokraten gleichermaßen zuordnen. Die Formel ist ungleich inklusiver als
»links« oder »die Linke«. Sie greift eine Differenz zwischen konservativ und
progressiv auf, nämlich die zwischen einer formalistisch entleerten und einer
partizipatorisch aufgewerteten Demokratie. Sie definiert das Lager mit einem
substanziellen politischen Begriff und nicht ? wie das »bürgerliche« ?
habituell und anhand von Accessoires der Lebensführung. Gleichwohl gibt die
Formel demokratisch den Blick auf das Zusammenleben gleicher, freier und
solidarischer Bürger frei, umschließt also auch soziokulturelle und
soziomoralische Dimensionen. Diese Selbstdefinition rekurriert schließlich auf
den Kern, aus dem das demokratische Lager seine politische Identität bezieht:
in der Epoche nach dem kalten Krieg und in der Globalisierung dem entfesselten
Kapitalismus mit den Mitteln der Demokratie als ordnender Gegenmacht
entgegenzutreten und die Demokratie als Subjekt zu behaupten, das den
fundamentalen Ordnungsrahmen setzt. Dem »bürgerlichen« Lager das demokratische
Lager gegenüberzustellen, hat auch einen gewissen Reiz. Denn diese
Konfrontation macht dem »bürgerlichen« Lager die demokratische Dimension auf
dieselbe Weise streitig, wie Union und FDP den Oppositionsparteien das
Bürgerliche. Allerdings mit weitaus mehr Recht und Berechtigung.
1
Langversion www.nautilus-politikberatung.de/main/page.php?375.
? Der Artikel knüpft an Hasenritter, Hönigsberger, Kolbe, Osterberg an: »Die
Haupttendenz ist Reformismus«, in: Kommune 2/08; Langversion: »Das
Konzept Leitpartei«, www.nautilus-politikberatung.de/main/page.php?300.
2
Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (FNSB)
widmet den Schwerpunkt seines Heftes 1/10 dem Thema »Strategien ohne Lager ?
Lager mit Strategie«, vgl. dort Hönigsberger, Kolbe, Osterberg: »Lager denken.
Nicht links, nicht rechts ? sondern demokratisch.« ? Vgl. auch Herbert
Hönigsberger: »Lagerdenken«, in: Kommune 6/09.
3
Vgl. ausführlich: »Das Konzept Leitpartei«, FN 1.
4
Im Folgenden unterscheiden wir in diesem Sinne informelle,
gesellschaftliche, soziokulturelle und soziomoralische Lager und politische
Lager, die politische Strömungen und ihre Parteien integrieren. Etiketten wie
»konservativ-liberal«, »sozial-liberal« etc. werden vor allem für diese
politischen Lager benutzt. Wird der Begriff Lager ohne Zusätze wie »gesellschaftlich«
oder »politisch« benutzt, sprechen wir den Gesamtzusammenhang der kulturellen,
normativen und politischen Faktoren an, die informelle, aber mehr oder weniger
ausgeprägte und wahrnehmbare Scheidelinien durch die Gesellschaft ziehen. Der
allgemeine, überwölbende Lagerbegriff bezieht gesellschaftliche und politische
Lager aufeinander. In diesem Sinne verwenden wir beispielsweise das
»bürgerliche« Lager.
5
E. Hennig: »Das Unbehagen in der Mitte«, in: Kommune
1/10. ? So sehr zuzustimmen ist, dass gerade die Mitte kein Lager sein kann,
sowenig lassen die aktuellen Befunde gesicherte Prognosen über Mitwirkung der
Mitte an künftiger Lagerbildung in herausfordernden gesellschaftlichen
Entwicklungsphasen mit attraktiven Politikangeboten zu.
6
R. Müller-Hilmer (2006): »Gesellschaft im Reformprozess«,
in: TNS Infratest Sozialforschung, http://www.fes.de/inhalt/Dokumente/061017_Gesellschaft_im_Reformprozess_komplett.pdf
(Stand 11.03.10); Neugebauer, G. (2007): »Politische Milieus in Deutschland«,
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
7
Um die Einflussfaktoren auf das Wahlverhalten zu ordnen,
greift die Studie auf makrosoziologische Modelle ? Arbeit/Kapital (Marx);
Cleavageansatz (Lipset/Rokkan), der ebenfalls Arbeit/Kapital, aber auch
Staat/Kirche und Stadt/Land unterscheidet ?, mikrosoziologische Modelle ?
Lazarsfeld; Werte-Ansatz: Materielle/postmaterielle Orientierung (Inglehart/Pappi)
?, ethnologische Ansätze (SINUS Lebensweltansatz) und integrierte Modelle, z. B.
das räumliche Modell der Parteienkonkurrenz (Flanagan, Kitschelt/Stöss) zurück.
Eike Hennig zieht in der Kommune 1/10 zur Begründung seiner Skepsis
gegenüber der Lagerbildung in der Mitte diverse Daten der Forschungsgruppe
Wahlen aus einer Momentaufnahme der Wählerwanderung in der letzten
Bundestagswahl heran und verkoppelt diesen Befund mit Daten über Wahlabsichten
2009, einer Allbus-Befragung aus 2008 zur Links-Rechts-Mitte-Selbstverortung
der Wähler und den Inglehart-Indizes zu Materialismus und Postmaterialismus.
8
Dohnanyi, K. v.: »Mut zur sozialliberalen Wende«, in: Die
Welt, 27.2.10.
9
»Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD und strategische
Optionen in der Lagerstruktur des deutschen Parteiensystems«, in: FNSB
1/10.
10
Vgl. Hönigsberger u. a. in FNSB 1/10.