Hans-Willi Weis

 

Manifest für unmögliche Unterbrechung

 

oder Arbeit am Begriff des Intellektuellen

Den »Dahingang« des herkömmlichen Intellektuellen, dessen letzte Exemplare Wolf Lepenies als Angehörige der »klagenden Klasse« bezeichnet hat, beklagt unser Autor ? und nennt die wesentlichen Umstände für das Aussterben der moralischen Autorität: Vernichtung der Gegenwart, durch die mediale Dauerbeanspruchung bleibt keine Zeit zum Denken mehr. Einfach weitermachen mit den neuen Medien kann kein Ausweg sein. Was aber sind dann die Chancen für eine neue Spezies von Intellektuellen?

 

Brecht schrieb, das wird man stets als Erstes über ihn sagen, »Stücke«, daneben auch Lyrik. Eins der weniger bekannten Gedichte geht in der ersten Strophe so: »Geh ich zeitig in die Leere/ Komm ich aus der Leere voll./ Wenn ich mit dem Nichts verkehre/ Weiß ich wieder, was ich soll«.

Den Versen ist zu entnehmen, dass dem Dichter, dem rastlosen Geist und viel beschäftigten Autor, möglich gewesen ist, was Unterbrechung in der positiven Wortbedeutung meint. Brecht nannte sich mit plebejischem Understatement einen »Stückeschreiber«. Ein »Intellektueller«, er versah den Ausdruck gewöhnlich mit dem Epitheton »bürgerlich«, wollte er nicht genannt werden. »Tuis« heißen sie in einem seiner Stücke, was ein wenig an Tunichtgut erinnert. Dennoch ist der, der kein solcher sein mochte, im Rückblick betrachtet, ein Intellektueller gewesen: Ein Kopfarbeiter, der mit den Erzeugnissen seines Denkens und seiner Einbildungskraft um humaner Zwecke willen gesellschaftlich oder politisch interveniert und aufgrund dessen allgemein anerkannte moralische Autorität genießt.

 

Wie ist es derzeit um diese Gattung bestellt, gibt es sie noch, die Intellektuellen? ? Sie sterben gerade aus. Die letzten Exemplare, im vorgerückten Seniorenalter zu Monumenten ihrer selbst geworden, kann man eben noch besichtigen. Hierzulande etwa Günther Grass oder Jürgen Habermas; linksrheinisch, im Land der glorreichen Geburtsstunde des Intellektuellen, Alfred Grosser beispielsweise, nachdem vor Dezennien schon die Prachtexemplare mit transnationaler Aura, die Sartres und Malrauxs, die irdische Bühne verlassen haben und seither im Pantheon die tote Zeit ihrer Unsterblichkeit absitzen. Mit den charismatischen Namen macht man das Phänomen an den Großintellektuellen fest, gewiss, aber steht und fällt mit deren Schicksal nicht das der gesamten Zunft? Das Aussterben der Großen markiert das Ende des Intellektuellen überhaupt; Lyotard setzte ihm noch vor der Jahrtausendwende mit dem »Grabmal des Intellektuellen« ein literarisches Denkmal.

Die so klagen, sind selber Intellektuelle. Angehörige der »klagenden Klasse«, als welche Wolf Lepenies, seinerseits ein Intellektueller, die vormals tintenklecksende Schar gruppensoziologisch wie funktionell beschrieben hat. Die also jetzt noch klagen, sind nicht mehr Großintellektuelle, sondern Durchschnittsintellektuelle, Fußvolk ohne Helm mit Federbusch und selten in Harnisch zu bringen. Die statt eines flammenden J?accuse heute nur noch durchschnittlich Klagenden sehen sich außerdem nicht erst seit gestern mit den objektiven Bedingungen einer sozialökonomischen und auch kulturellen Dynamik konfrontiert, die ganz allgemein dazu beiträgt, dass ihr Stern kontinuierlich im Sinken begriffen ist. Diese Faktoren seien, dezenter Hinweis auf den roten Faden, in aller Kürze rekapituliert, dann ein ebenso kurzer Blick auf fragwürdige Strategieversuche, sich gegen die wachsende Bedrängnis zur Wehr zu setzen, um danach ausführlicher das Rollenmodell des Intellektuellen in Augenschein zu nehmen und den wunden Punkt desselben anhand einer aktuellen Entwicklung zu verdeutlichen, bringt diese doch das soziale und politische Geschäft des Intellektuellen offenbar endgültig in die Bredouille.

Zunächst also zur Erinnerung: Mitte des vergangenen Jahrhunderts setzte in den entwickelten Ländern sozialökonomisch ein Prozess der Dynamisierung, Komplexifizierung und Diversifikation der Produktion wie der sozialen Stratifikation, der Klassen- und Schichtstrukturen ein, der den kategorisierenden Blick des intellektuellen Beobachters und Analytikers zunehmend unter Stress zu setzen begann, worauf seinerzeit Habermas? zum Schlagwort avancierte Formel von der »neuen Unübersichtlichkeit« aufmerksam gemacht hat. Seitdem sind auf sich ständig weiter ausdifferenzierenden Wissensfeldern immer kleinteiliger organisierte und spezialisierte Fachintelligenzen gefragt und gefordert, sobald es um halbwegs verlässliche Analysen und Prognosen geht; die intellektuellen Überflieger und Generalisten von einst mit dem gleichzeitig sachhaltigen und in moralisch-praktischer Hinsicht richtungsweisenden Durchblick werfen dagegen zuverlässig das Handtuch, wenn sie ehrlich sind und sich die Disproportionalität zwischen der rasant gestiegenen Komplexität der Verhältnisse und ihrer eigenen konstant gebliebenen Verarbeitungskapazität eingestehen.

Im kulturellen Begleitprozess der sozialökonomischen Transformation ereignet sich überdies die Demokratisierung der Zugänge zum Wissenserwerb sowie der Zirkulation der erworbenen Wissensgüter, deren vorläufiger Kulminationspunkt mit der im virtuellen Raum via Wikipedia et cetera vagabundierenden anonymen Intellektualität zu bestaunen ist. Sie gräbt der angestammten Funktion von Berufsdenkern und deren privilegierter Kompetenz einmal mehr das Wasser ab, auch wenn sie oft genug Metaqualitäten wie Bündelung, Orientierung und Gewichtung vermissen lässt. ? Sollte diese im planetarischen Maßstab operierende kollektive egalitäre Intelligenz die durch ihr Wachstum mit herbeigeführte realsoziologische Bedeutungslosigkeit des idealtypischen Intellektuellen nun nicht einfach verschmerzen lassen?

»Ich bin immer wieder verblüfft, was wir alles wissen und wie genau wir es wissen ... und trotzdem stecken wir in dieser Misere«, meinte unlängst der wie stets munter plaudernde Dirk Baecker in der Abmoderation einer intellektuellen Talkrunde in der Freiburger Jackson-Pollock-Bar. Was man gleichermaßen auf die frei flottierende Kollektivintelligenz wie auf die in den Intellektuellen noch professionalisierte beziehen könnte. Dass offensichtlich trotz eines beträchtlich gewachsenen Intelligenzpotenzials zurzeit in der Welt beinah alles schief läuft, was nur schief laufen kann, führt dort, wo es für Verblüffung sorgt, nicht in die Depression. Auch nicht bei denen innerhalb der gebeutelten Profession, die darüber hinaus mit Empörung auf die »Misere« reagieren. Liegt diese doch in ihren Augen vor allem in der Verletzung elementarer Standards von Humanität und sozialer Gerechtigkeit.

Die Empörung entzündet sich folgerichtig gar nicht an jenem auf die akkumulierte Intelligenz und das breit gestreute Wissen bezogenen Missverhältnis, vielmehr an dem himmelschreienden moralischen Skandal. Diese Ursache der Empörung aber steht im direkten Zusammenhang mit dem Schmerz und der Klage der Restintellektuellen in eigener Sache: Dass mit dem Abgang des klassischen Intellektuellen von der gesellschaftlichen und politischen Bühne auch die Utopie oder Idee von der humanen und sozial gerechten Gesellschaftsordnung ein für alle Mal aus dem Drehbuch gestrichen werde. War nicht gerade dieses Ideal mit seiner moralischen Richtschnur des Handelns in die Hand des Intellektuellen gelegt, in der Unbill der Zeitläufte dessen Obhut anempfohlen? Mit dem Verschwinden des Intellektuellen von der öffentlichen Bildfläche würde sie ein letztes Obdach verlieren. Kurz, mit dem Exit des einen wäre der Exit der anderen besiegelt, das Hinscheiden der Idee einer menschlicheren Gesellschaft.

Hier erreicht das Lamento der ihr Aussterben und die gesellschaftlichen Folgen beklagenden Klasse den Tiefpunkt der Melancholie. Wird an ihm eine Art Rückstoß erfolgen, sodass es danach wieder aufwärts geht? Wird es eine Auferstehung geben, ein intellektuelles Leben nach dem Tod der Intellektuellen? ? Die Defensivstrategie des zusammengeschmolzenen Häufleins der Linksintellektuellen gibt wenig Anlass zu Optimismus. Sie versuchen einen Restposten an humanen Standards vor der Abwicklung durchs ökonomische Realitätsprinzip zu retten. Im Feuilleton stemmen sie sich so gut es geht gegen den rechten Zeitgeist im »ideologischen Überbau«, der jede qualifizierte Idee von sozialer Gerechtigkeit für eine romantische Flause erklärt und die Rückkehr des Tragischen verkündet.

 

Was zeigt uns dies, was können wir an alledem ablesen? ? um an dieser Stelle in die erste Person Plural, ins Wir, zu wechseln und mich, den Autor dieser Zeilen, als Mitbetroffenen zu bekennen, als der klagenden Klasse Zugehörigen und Mitglied ihrer Trauergemeinde.

Bei genauem Hinsehen, meine ich, müsste ins Auge springen, wie noch im historischen Moment, wenn es denn einer ist, des faktischen Überflüssigwerdens der klagenden Klasse die mit ihr Untergehenden bei ihren verzweifelten Rettungsversuchen das wahrscheinlich unrettbar obsolet gewordene Muster ihres Sozialformats, gleichsam dessen DNA, getreulich reproduzieren. Worin nämlich besteht oder besser bestand die Matrix, die, emphatisch gesprochen, Raison d?être des Intellektuellen par excellence? Darin, dass er nicht im eigenen Namen spricht und überhaupt nicht im Namen irgendeines Sonderinteresses, vielmehr im Namen eines universellen Anliegens, dem der Menschheit und ihrer gerechten Ordnung hienieden; und eben darum prangert er das Unrecht an, erhebt seine Stimme für die Mühseligen und Beladenen, greift zur Feder im Namen der Erniedrigten und Beleidigten. Das, so die stillschweigende Prämisse, gelingt ihm desto eher und umso besser, je mehr er zum einen von der eigenen leidlich gesicherten Existenz abstrahiert, und je weniger er zum andern sich um sein spezifisches Produktionsmittel und dessen Funktionieren sorgen muss, seinen Verstand und das Denken. ? Der Intellektuelle ist demnach der gehorsamste und am weitesten fortgeschrittene Schüler Immanuel Kants, denn ohne eigens dazu ermutigt werden zu müssen bedient er sich derart vorbildlich seines eigenen Verstandes, dass jeder andere und mithin die Gesellschaft sich getrost nach ihm richten kann, ja zu ihrem Besten es tatsächlich tun sollte. Wobei das »Sich-nach-ihm-Richten« auf die Inhalte des Denkens und nicht auf das Formelle desselben sich bezieht, also auf die von ihm in Umlauf gesetzten Ideen, die es als praktisch zu beherzigende Rezepte durch gesellschaftlich und politisch handelnde Subjekte in die Tat umzusetzen gelte.

Ich finde, wir müssen dieses intellektuell-professionelle Betriebsgeheimnis, wie es bislang unausgesprochen gegolten hat, einmal so schlicht und entwaffnend freimütig aussprechen, um endlich Verdacht zu schöpfen, und zwar den Verdacht, dass mit ihm ? über die oben rekapitulierten sozioökonomischen Veränderungen und deren Folgen hinaus ? etwas nicht länger stimmt. Das unter Demokratiegesichtspunkten vielleicht Bedenkliche des Vordenkertums ist es nicht, das wäre schon immer problematisch gewesen. Was ist es dann, das mit dem Betriebssystem Intellektueller nicht mehr stimmt?

Noch eine Klage, es wird dann die letzte sein, sollten wir uns anhören, sie hilft bei der Antwortfindung. Diesmal kommt sie nicht aus der linken Ecke, sondern von der bürgerlichen Mitte her. Es handelt sich um das aktuelle Lamento des im gepflegten und stilsicheren Pamphletismus geübten FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, im Nebenberuf intellektueller Alarmist, als welchen ihn Intellektuelle im Hauptberuf gern abtun. Nach Das Methusalem-Komplott und Minimum, in dem es um den Geburtenrückgang geht und die bange Frage, ob wir bald alle und also nicht nur die Intellektuellen aussterben, wo sich die rührende Geschichte von den überlebenstüchtigen Wildwestfrauen am schneeverwehten Donnerpass in den Rocky Mountains findet, der Leser/die Leserin erinnert sich ? nach diesen beiden jetzt Payback, das Buch, das davon handelt, wie die schöne neue Medienwelt es dem Denken heimzahlt, das sie ersonnen hat.

Indem er vom Denken spricht, dem heimgezahlt wird, spricht der Intellektuelle Schirrmacher auf einmal auffallend viel von sich ? ungebührlich viel für einen politischen Intellektuellen, der nicht die eigenen, sondern Menschheitsanliegen im Blick haben sollte, wäre zu anderen Zeiten moniert worden. Jetzt wird man sagen, er muss es zwangsläufig, denn sobald er über das Denken redet und was diesem zustößt im digitalen Medienzeitalter, redet er automatisch auch über sein Produktionsmittel oder die Funktionsbedingung seines Metiers. Bloß in diesem Fall gerade nicht als von etwas Partikularem, denn, wir wechseln die Tonart, was in seiner Person dem Denken durch medialen Zugriff zustößt, passiert eben nicht nur den Intellektuellen qua Berufsausübung, sondern jedermann und jeder Frau. Was Schirrmachers jüngstem Traktat die besondere Note verleiht, ist also der Umstand, dass es sich, wo er als Intellektueller mit Blick auf das Denken unterm medialen Verhängnis von sich und seinen Erfahrungen spricht, immer schon, gut intellektuell, von einem Universellen handelt, etwas das im Interesse aller liegt; und dies genau besehen auch nicht stellvertretend, sondern exemplarisch, da Denken überhaupt und grundsätzlich stets nur in der ersten Person geschieht und nicht an Intellektuelle delegiert werden kann. Das Exemplarische indes und auch insofern ein Novum, wie gleich auszuführen ist, beinhaltet zum ersten Mal die Legitimation des Intellektuellen, als Intellektueller von sich oder in der »Ersten Person Singular« zu sprechen und gleichwohl Wesentliches oder Entscheidendes in der Sache mitzuteilen.

Wie nun aber lautet die persönliche und gleichwohl exemplarische Klage des Frank Schirrmacher? ? Er weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, salopp und sinngemäß zusammengefasst. 24 Stunden online: mailen, simsen, twittern, googeln, bloggen, und dein Verstand und Denken sind wie ausgewechselt oder nicht mehr vorhanden, klagt er. Für einen Zeitungsmacher, Publizisten, Autor, Intellektuellen der »Größte Anzunehmende Unfall«, die Kernschmelze. Sie steht jedoch der gesamten, im Spinnennetz von Multimedia gefangenen Menschheit, verharmlosend Web-Gemeinde genannt, bevor. Fest im Griff von Internet und I-Phone, Apps und Pads und dem ganzen digitalen Schnickschnack werden wir bald alle nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht und dass wir überhaupt einen haben; Schirrmacher hat es am eigenen Leib erfahren, am permanenten Überforderungszustand seines digital verhackstückten Hirns.

Malt hier einer im intellektuellen Übermut den Leibhaftigen an die Wand? Oder redet er, aus schierer Verzweiflung, endlich Klartext? Die einen winken ab, in Medienkritik verpackter Kulturpessimismus, zum x-ten Mal das alte Lied, erst »wir amüsieren uns zu Tode« und nun: wir informieren uns zu Tode, mit einem müden Lächeln erinnern sie daran, dass die digitalen Gerätschaften einen Ausschaltknopf besitzen. Das stimmt. Aber ebenso richtig ist und dies könnte sich als von ungleich größerem Gewicht erweisen, dass die elektronisch-mediale Vernetzung als systemische Infrastruktur, an deren Tropf wir hängen, sich keineswegs ein- und ausschalten lässt. Sodass die Folgen dieser Abhängigkeit, darunter die für das individuelle Hirn, also das Denken, auch durch individuellen Knopfdruck nicht zu regulieren sind.

 

Wir wollten uns nach den vorherigen Klagen als eine letzte noch diejenige des Intellektuellen Schirrmacher über die elektronischen Medien, das Netz und den »information overload« anhören, weil sie helfen könnte, die Antwort zu finden auf unsere Frage, was an der professionellen Betriebslogik des Intellektuellen nicht länger stimmt. Was ist es also, gibt uns Schirrmachers Klage einen Hinweis auf die Antwort? Ich glaube schon. Sagen wir es so: Das Betriebsmedium, der Brennstoff für intellektuelle Produktion und Rezeption geht aus; oder kürzer, es bleibt keine Zeit mehr zum Denken. Weshalb? »Die Medien« im Plural, die elektronischen Informations- und Kommunikationssysteme, jenes World-Wide-Web, dem die Gesellschaft als Ganze ins Netz geht, sie sind derart raumgreifend, dass »das Medium« im Singular, nennen wir es die »Denkzeit«, dass der Raum für dieses singuläre Medium eine so extreme Kompression erfährt, dass seine Ausdehnung gegen Null tendiert. ? »Die Medien« sind dafür nur eine Ursache, weil die zeitliche Verdichtung oder der Beschleunigungsprozess des individuellen und gesellschaftlichen Lebens genauso von der materiellen Ökonomie (Güterproduktion, Dienstleistungen und Finanzwirtschaft) vorangetrieben wird. Beide Ökonomien, die »stoffliche« wie die »Aufmerksamkeitsökonomie«, sind die großen Zeitfresser, die grassierenden Gegenwartsvernichter.

Wobei der hier interessierende Entzug von Denkzeit durch mediale Dauerbeanspruchung einen speziellen Tatbestand von Gegenwartsvernichtung erfüllt. Nämlich den der Vernichtung des denkenden Gegenwärtigseins, der verweilenden Präsenz bei einer Sache. Denken lässt sich, insbesondere in seinen anspruchsvolleren Varianten, dem Nachdenken, der intellektuellen Reflexion, dem abwägenden Urteil, erst recht der Kontemplation und Meditation, geradezu als ein solches Gegenwärtigsein definieren, ein unabgelenktes, konzentriertes Anwesendsein und Dabeibleiben ? jene Geistesgegenwart, die, das muss man mittlerweile hinzufügen, nicht mit der Reaktionsschnelligkeit des Formel-Eins-Piloten oder der Ego-Shooter im Internet zu verwechseln ist. Und mit Beschleunigung lässt sich in puncto Denken und Denkzeit gleich gar nichts machen, allenfalls kaputt machen.

Zurück zur Problematik der bisherigen Geschäftsgrundlage der Profession des Intellektuellen. Sie wird radikal infrage gestellt durch den digitalen Angriff auf eben die aparte Form von Gegenwart, Geistesgegenwart oder mentale Präsenz, wie sie das Denken darstellt, insbesondere in seinen elaborierten Ausdrucksgestalten: der kritischen Analyse, der Erkenntnis komplexer Zusammenhänge des sachlich sortierenden und normativ orientierenden Überblicks und nicht zuletzt des antizipatorischen Ausblicks, gar des utopischen Ideenentwurfs, mit dem bis heute die Figur des politisch engagierten Intellektuellen in Erinnerung an ihre charismatischen Vertreter assoziiert wird. Gegenwartsvernichtung als Vernichtung von Denkzeit durch digitales Trommelfeuer sowie elektronisch-medialen Dauerbeschuss führt nicht nur individuell zu Hirnerweichung, sie tangiert die soziale Relevanz der intellektuellen Denkformate, sie macht ihnen politisch, gesellschaftlich und kulturell den Garaus. Besonders Widerständige im Trupp der Restintellektuellen mögen an ihnen festhalten, vor dem elektronischen Sperrfeuer in Deckung gehen und sich durch die mediale Dampfwalze einstweilen nicht plattmachen lassen, wie man dies ja auch dem nach seinem Bekunden bereits in Mitleidenschaft gezogenen Frank Schirrmacher zutraut ? allein, die noch so fundierten Klagen und substanziellen Kritiken der Unbeirrbaren oder Unverdrossenen, von utopisch kühnen Entwürfen lassen sie wohlweislich die Finger, treffen kaum noch auf einen Adressaten.

Die Geschäftsgrundlage zur Ausübung der Profession des Intellektuellen bricht vor allem auf der Rezipientenseite weg. An der Stelle, wo man einst damit rechnen konnte, das anzutreffen, was damals politische oder diskutierende Öffentlichkeit hieß, intellektuell ansprechbare Milieus und Gruppierungen, hat heutzutage der Event- und Unterhaltungszirkus die Zelte aufgeschlagen; will sagen, aufseiten der für die intellektuell-professionelle Funktionslogik traditionell unterstellten Wechselseitigkeit oder Korrespondenz zwischen Sender und Empfänger, Produktions- und Rezeptionspol, hat die spezielle Gegenwartsvernichtung des Reflexionsentzugs, der Denkzeiteliminierung, allem Anschein nach erbarmungslos zugeschlagen. ? Wie soll man den Geistes- und Gemütszustand der im Strom der beiden Ökonomien, der konventionellen Wirtschaft und der Aufmerksamkeitsökonomie, scheinbar willenlos dahintreibenden Konsumentenpopulationen beschreiben, aus deren Masse früher mindestens Einzelne oder gewisse Milieus für durch Intellektuelle angestoßene öffentliche Diskurse interessiert und zu einem gesellschaftspolitischen Engagement motiviert werden konnten? Heute scheint es selbst diese intellektuell aufgeschlossenen und gesellschaftlich oder politisch aktivierbaren Minderheiten immer weniger zu geben; eine mal der Lethargie, mal blinder Betriebsamkeit anheimfallende Kopflosigkeit breitet sich aus, die die meisten nicht einmal an sich bemerken, geschweige denn, dass es sie stört. Andere registrieren ihre Verwirrung und dass sie nicht sehen, worauf es mit ihrem Leben, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Ökologie, dem Klima hinausläuft, und sie richten sich häuslich ein in ihrer Desorientiertheit, sogar ohne den geringsten Zynismus. Schicksalsergeben lassen sie die digitalen Bilder- und Datengewitter über sich ergehen und das Stimmengewirr der Medien pausenlos auf sich niederprasseln.

Der Gipfel der Kopflosigkeit, um nicht zu sagen der Hirnrissigkeit, wäre es nun, an sie alle die Aufforderung ergehen zu lassen: Habe Mut, dich deines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen! Aus dem Mund von Intellektuellen, von gewissermaßen berufsmäßigen Denkanleitern, klang dies schon immer ein bisschen paradox. Jetzt wäre es schlichtweg sinnlos, denn die autonomen Subjekte, die selbstständig denkenden Individuen, an welche die Aufforderung adressiert sein könnte, wird man unter den medialisierten Ichen und den digitalisierten Gehirnen suchen wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Fazit und These: Der nach den altaufklärerischen Prämissen einer Vernunfttradition gestrickten Matrix der Produktionsweise und gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen wurde die sozialpsychologische, präziser die sozialmentale Grundlage entzogen. Dies ist es, was mit ihr nicht länger stimmt.

Nimmt es da Wunder, dass vermutlich als intellektuelle Intervention gemeinte zaghafte Wortmeldungen aus der einen oder andern akademischen Nische öffentlich kein Gehör finden und buchstäblich ins Leere stoßen? Dass, was gelegentlich noch mit dem Namen einer intellektuellen Debatte versehen wird, sich aufs Feuilleton beschränkt und in der Resonanz auf einige thematisch verlinkte Blogs und Foren im Internet? Dass die nur als Signal für eine Öffentlichkeit, ein Publikum sinnmachenden intellektuellen Böller eines Zizek oder Dietmar Dath zum Rohrkrepierer geraten, dem lediglich ein paar versprengte Linksradikale Beifall spenden? Auf verlorenem Posten, das allein trifft ins Schwarze, Zizeks Buchtitel, wir erwähnten es bereits. Wobei »verloren« gar nicht so zu verstehen ist, dass auch dieses letzte Widerstandsnest in Kürze ausgehoben werde durch einen Feind, der realiter nicht existiert; vielmehr verloren im Meer der elektronisch-medial allesamt gleich-gültigen Meinungen, Stellungnahmen, Postings, Briefings, all jener Informationen, die aufgrund ihrer schieren Unzahl den Informationswert einbüßen, leeren Hülsen gleich »differences that make no longer any difference«, als Unterschiede verkleidete Indifferenzen. So jedenfalls kommt das Zeug in der Regel bei den Empfängern an, denen es die Mailbox und das Hirn zumüllt. Nochmals auf den aussichtslosen Posten eines Intellektuellen bezogen: Es kommt, mitgegangen mitgehangen, was der Absender als intellektuelle Vitamindosis aufgegeben, wenn überhaupt, als zerebrale Zermürbung beim Adressaten an.

Aber, die Frage darf gestellt werden, sehen wir die Dinge nicht zu schwarz? Es gibt, werden etliche einwenden, die demokratischen Basisinitiativen in der Netzcommunity, hellwach gegen Bevormundung oder Entmündigung. Auch trifft man im Netz, gibt selbst Schirrmacher zu bedenken, »einige der intelligentesten Menschen«. Dann ist da die kulturell kreative Szene, für welche die Bezeichnung »mediale Intelligenz« nicht schlecht gewählt erscheint (nicht zu verwechseln mit den »Medienintellektuellen«); ihre künstlerischen und dokumentarischen Arbeiten generieren ein eigenes Publikum, eine durchaus kritische Öffentlichkeit, und Filme wie Das weiße Band verdienen sehr wohl das Prädikat »intellektuell anspruchsvoll«. Nicht nur in Deutschland und Frankreich beispielsweise existiert eine Vielzahl politischer Magazine und Kulturzeitschriften, die es ohne eine entsprechende intellektuelle Leserschaft nicht gäbe. Und wenn sich auf den vorderen Plätzen der Spiegel-Bestenliste Sachbuch monatelang ein Titel wie Richard David Prechts Wer bin ich ? und wenn ja, wie viele? zu behaupten vermag, so beweist dies doch wohl, dass einer erklecklichen Anzahl von Leuten die Frage, wo ihnen der Kopf steht und ob sie noch einen haben, nicht völlig schnuppe ist.

Alles richtig, möchte ich erwidern. Doch wenig triftig als Einwand gegen den Befund, dass die bis dato unhinterfragten Prämissen der intellektuellen Existenz fragwürdig geworden sind, dass das, was noch stets als selbstverständlich vorausgesetzt worden ist bei dem, was ein Intellektueller tut und wozu er es gesellschaftlich tut, dass diese strukturellen Voraussetzungen nicht länger gegeben sind. ? Einerseits in der Sache nicht triftig stellt sich der Einwand andererseits in pragmatischer Hinsicht als nicht hilfreich heraus. Das heißt, er ist nicht dienlich bei der Frage, was denn in Zukunft am »Ort« des Intellektuellen sinnvollerweise zu geschehen hätte. Wie nach dem Tod des Intellektuellen oder um statt der etwas verbrauchten Rede dieser Pathosformel eine derzeit beliebte Wendung zu gebrauchen: wie nach dem Dahingang der Intellektuellen, wie wir sie bisher kannten ? und wir verstehen jetzt diesen Exitus immer in ursächlicher Verbindung mit der weggebrochenen Geschäftsgrundlage ?, wie nach dieser unhintergehbaren Zäsur eine zukünftige intellektuelle Praxis beschaffen sein müsste. Jedenfalls wenn ihr eine Perspektive beschieden sein soll, wenn sie vielleicht sogar denen, die sich als Intellektuelle und zwar diesmal in der positiven Konnotation selbst überlebt haben, eine neue gesellschaftliche Legitimation zu verschaffen imstande sein soll. Würden wir uns hinsichtlich der praktischen Seite der Angelegenheit an dem Einwand orientieren »alles halb so wild«, wäre mit einem Weitermachen wie bisher zu rechnen, einem Weiterwursteln wie gehabt.

Wie dieses Weiter-so ausschaut, liegt auf der Hand. Die noch nicht verstummten Linken und linksliberalen intellektuellen Kritiker und Klageführer spielen wie gewohnt den seriösen Anwalt der Schwachen, auch wenn die demoralisierte Klientel nichts davon mitbekommt und keine Realpolitik, keine Politiker-Politik sich die Plädoyers zu Herzen nimmt. Die bunten Vögel, solche wie Zizek und Alain Badiou ? der Letztere Theoretiker und Kommunist nach der Manier des Ersten und in seinen politisch-philosophischen Texten den prozedural-institutionellen Leerlauf der westlichen Demokratien beklagend ? geben sich weiterhin als wortgewaltige Möchtegern-Robin-Hoods zu Diensten der Enterbten, der Marginalisierten in den Pariser Banlieues oder den Slums von Sao Paulo ? und genießen, wie sollte es sich bei unserem wie geschmiert funktionierenden freiheitlich-demokratischen Meinungspluralismus anders verhalten, möchte man im Sinne Badious ergänzen, Narrenfreiheit. ? Und die noch vorhandenen Rechtsintellektuellen am entgegengesetzten Ende des traditionell linkslastigen Spektrums der klagenden Klasse machen auf ihre Weise weiter. Ein Martin Mosebach oder Botho Strauss zum Beispiel, maßnehmend an ihrem großen Vorbild Nicolás Gómez Dávila, um diesem kolumbianischen Urgestein des literarisch exquisiten Reaktionärs hier zumindest per Namedropping die intellektuelle Referenz nicht zu verweigern. Von diesen Rechtsintellektuellen war noch nicht die Rede und muss auch nicht weiter die Rede sein. Sie werden sich auch künftig über den Pulk der »Ähnlichen« in den Fußgängerzonen und Shopping-Malls mokieren, den massenmedial bei Laune gehaltenen und sozialstaatlich gepäppelten Pöbel perhorreszieren, den Machteliten angelegentlich ein Stichwort liefern und im Übrigen an ihren Aphorismen feilen oder fein ziselierte Prosa schreiben.

 

Intellektuell einfach so weitermachen, als sei nichts geschehen, gibt es dazu denn eine Alternative? Zunächst räume ich ein: Wir kommen nicht daran vorbei zu konstatieren, dass, was aufgrund der digitalen Revolution und ihrer elektronisch-medialen Umformatierung der Köpfe »aufmerksamkeitsökonomisch« und mentalitätsmäßig geschehen ist und seither geschieht, im intellektuellen Bewusstsein, das dieses Geschehen registriert, den Eindruck hinterlässt, man müsse eben weitermachen, solange es geht. Genauso wie wir als intellektuelle Beobachter der Menschen »draußen im Land« zur Kenntnis nehmen, dass das »gesellschaftlich durchschnittliche Bewusstsein« sowieso für sich keine Alternative sieht zum Realitätsverhängnis. Auch Schirrmacher, wir bemühen ihn ein letztes Mal für unsere Zwecke, nähert sich bei der Selbst- und Fremdbeobachtung diesem toten Punkt: dass ein Wegkommen vom Weitermachen nicht in Sicht ist. Wegkommen bedeutete als Erstes unterbrechen ? ein unverzeihlicher Fehler, weil Verstoß gegen das digitale Einmaleins, das sagt: dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben und jedes Mal noch einen Zahn zulegen. Weil Schirrmachers gesammelte Beobachtungen auf Schritt und Tritt die Alternativlosigkeit zu diesem Hexen-Einmaleins der Informations- und Mediengesellschaft förmlich dokumentieren, sind die Vorschläge im letzten Drittel seines Buches, wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen und wieder Herr im eigenen Kopf werden, alles andere als überzeugend. Adam Suboczynski schrieb dazu in der Zeit (48/09): »Der Argumentationsgang verstrickt sich ... in einen unschönen Selbstwiderspruch: Ausgerechnet der heillos vom digitalen Darwinismus getriebene vom Algorithmus überwältigte Mensch soll nun qua aufklärerischer Weitsicht und Exerzitien wieder zum Herrn über die Maschine werden ...«

Wichtiger als dass dieser Widerspruch, wie der Rezensent findet, ein »unschöner« ist, dürfte sein, dass es tatsächlich einer ist. Erst recht für den Nichtintellektuellen oder Normalbürger, der in der Abhängigkeit steckt und für den eben deshalb die Alternative der Unabhängigkeit und des unabhängigen Denkens ein Widerspruch ist. Er hat nicht die Wahl, ein Wegkommen, das zuerst einmal Unterbrechung hieße, kann er sich nicht leisten: Wer unterbricht, fliegt raus aus der Aufmerksamkeitsökonomie, so wie diejenigen, die in der gewöhnlichen Wirtschaft unterbrochen werden, also den Job verlieren, im Regelfall draußen sind. Wer drin bleiben möchte, unterbricht nicht und macht also weiter. Genau dazu rät mit seinen griffigen Sätzen der rechtsliberale Medienintellektuelle Norbert Bolz und man kann ihm diesbezüglich nicht vorwerfen, dass er den Leuten nicht reinen Wein einschenkt.

Unterbrechung ist unmöglich verkündet als quasi ehernes Gesetz der ununterbrochen tönende Generalbass des Mediensounds im globalen Dorf. Die Alternativlosigkeit zum Mit- und Weitermachen entpuppt sich nach einem halben Jahrhundert Inkubationszeit als die letztgültige Wahrheit von Marshall McLuhans »the medium is the message«. Müssen aber deswegen auch die noch übrig gebliebenen Intellektuellen in der Nachfolge des dem Aufklärungsimpetus verschriebenen politischen Intellektuellen alternativlos weitermachen? Wobei das »alternativlos« in ihrem Fall noch mit der perfiden Pointe versehen wäre, dass die von Hause aus für Alternativen Zuständigen anscheinend unbeirrbar Alternativen zu promoten versuchen, die wegen der gesellschaftlich sanktionierten und vom allgemeinen Bewusstsein akzeptierten Alternativlosigkeit nicht für solche gelten ? alternativlos Alternativen ventilieren, die keine sind, darauf liefe das intellektuelle Weitermachen hinaus.

Und was wäre die Alternative zu diesem alternativlosen So-tun-als-ob, zu diesem in der Tat kläglichen Verläppern der Reste der klagenden Klasse? ? Man müsste als Intellektueller, so stelle ich mir den Ausweg vor, die unmögliche Unterbrechung als professionelle Herausforderung begreifen, wie eine Provokation, einen Angriff auf das persönliche Berufsethos. Dann müsste ich mir als Intellektueller das zumuten, was ich, sofern ich bei Trost bin, dem Nichtintellektuellen respektive dem Mann und der Frau auf der Straße nie zumuten würde, weil es für sie die Katastrophe bedeuten könnte: die (unmögliche) Unterbrechung. Ich bin sogar so verwegen, mit dem Gedanken zu spielen, dass das Wagnis der Unterbrechung den Intellektuellen, die es eingehen und auf diesem Wege in nicht musealer, sondern höchst vitaler Art und Weise sich selbst überleben, die Chance eröffnet, gesellschaftliche Relevanz und kulturelle Legitimität wiederzuerlangen.

Wodurch geschähe dies? Dadurch, dass solche Intellektuelle ? wir könnten sie Unterbrecher nennen, wenn das Wort nicht so fatal einem andern ähnelte ? bei sich selber der Furie der Gegenwartsvernichtung Einhalt gebieten. Sobald sie dies tun, verhalten sie sich in einer die humane Substanz von Gesellschaften und Kulturen gefährdenden Angelegenheit sozial exemplarisch ? nicht stellvertretend wohlgemerkt, wie anlässlich ihres früheren Vordenkertums, als sie noch anstelle des gesellschaftlichen Kollektivs für dieses gedacht haben. Sie stoppen bei sich die gesellschaftsweit wütende Gegenwartsvernichtung exemplarisch an der Stelle, wo diese Vernichtung dem singulären Medium droht, das wir die »Denkzeit« nannten. Der unterbrechende Intellektuelle räumt sich Denkzeit ein und gewährt dieser damit den ihr gebührenden Raum. Und er engt diesen Raum nicht gleich dadurch wieder ein, dass er ihn auf der Stelle mit allerlei Gedankengerümpel füllt. Zur Geräumigkeit des Mediums Denkzeit gehört die vorübergehende Leere, das regelmäßige Schweigen und die Stille.

Die Unterbrechung nach Art des denkenden Innehaltens, falls es noch nötig ist, dies eigens hervorzuheben, hat einen anderen Charakter als die mit dem routinemäßigen intellektuellen Denken ohnehin stets verbundene »kleine Unterbrechung«. Andernfalls wären seit eh und je Intellektuelle da, wo das gerade angestellte Gedankenspiel sich vorstellt, das sie sein sollten, und es könnte tatsächlich weitergehen wie bisher. Im Unterschied zur kleinen Unterbrechung, die sich so ziemlich mit jeder gesellschaftlichen Normalität verträgt, kommt die große Unterbrechung nicht ohne das Einschneidende aus, das zu vorsintflutlicher Zeit »Metanoia« hieß, meist als Umkehr eingedeutscht. Eine Unterbrechung dieses Kalibers praktiziert sich naturgemäß nicht ohne Askese und Exerzitium, die damit auch nicht, dies nur nebenbei, Religion und Esoterik überlassen werden (und übrigens auch nicht Sloterdijks geistigen Turnübungen zu diversen Steigerungszwecken). Der einzige Schönheitsfehler, aber wirklich nur ein Schönheitsfehler: Die Unterbrechung in der Gestalt der anhaltenden Geistesgegenwart, des Anwesendseins und Dabeibleibens qua nicht ökonomisierter Aufmerksamkeit, hat keinen unverwechselbaren Namen, es fehlt dafür eine handliche Bezeichnung. In grauer Vorzeit muss wohl das griechische Wort »theoria« in die nämliche Richtung gezeigt haben, doch gehen mit diesem Begriff für heutige Ohren zu viele unterschiedliche und auch irreführende Assoziationen einher. Wenn wir von »Besinnung« und »zur Besinnung kommen« sprechen, rührt es wahrscheinlich am ehesten an das, was wir erleben, wenn wir den fürwahr besinnungslosen Vorwärtstaumel der Medientrance wie überhaupt der uns vor sich hertreibenden Weltzeit-ohne-Denkzeit im Selbstversuch und am individuellen Ort unterbrechen.

Das Desiderat der denkenden Unterbrechung beziehungsweise die Notwendigkeit der Besinnung im Blick sprach Heidegger davon, und man sollte dies nicht für eine schwäbisch-alemannische Zipfelmütze halten, dass »die Wissenschaft nicht denkt«. Es gibt auch eine intellektuelle Betriebsamkeit, die nicht denkt. Dieser gegenüber die denkende oder sich besinnende Unterbrechung einfordern, insinuiert indessen nicht, der intellektuelle Kopfarbeiter möge seine Routinetätigkeit an den Nagel hängen. Die neue Pfleglichkeit im Umgang mit seinem Produktionsmittel, die zuvor unübliche Sorge um das Denken ? überdies, wie schon gesagt, eine verdienstvolle, weil gesellschaftlich exemplarische Sorge ? hat unter Umständen den erfreulichen Nebeneffekt der Sensibilisierung für wider Erwarten sogar aussichtsreiche soziale oder politische Eingriffe ? sozusagen Zen in der Kunst der intellektuellen Intervention, zur rechten Zeit, am passenden Ort und in der geeigneten Sache.

Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott schildert in seinem Roman Endlich Stille den bedenklichen Fall eines Philosophieprofessors, eines Intellektuellen mithin, dem sich in Gestalt eines plötzlich auftauchenden Fremden, der nicht mehr von seiner Seite weicht, eine unaufhörlich schwatzende, schwafelnde, schwadronierende Zecke in den Pelz setzt. Der gute Mann weiß sich am Ende nicht anders zu helfen, als dass er sich den Quälgeist durch einen Mord vom Halse schafft: Danach war »endlich Stille«. Eine Parabel auf die mediale Zeckenplage, von der wir alle befallen sind? Von den restlichen Intellektuellen außerhalb dieser und anderer Romanwelten wird man füglich keine Mordtat verlangen und muss es auch nicht ? es genügt die (unmögliche) Unterbrechung. Dass sie nicht ganz einfach ist, versteht sich zum Ende dieser Überlegungen von selbst. »Soyez réaliste: demandez l?impossible!« sprühten die »enragés«, zu deutsch die Wütenden, des Pariser Mai 68 verschiedentlich auf Häuserwände. Unter den Bedingungen einer weltweiten Agenda 2010 wird man freilich Verständnis dafür aufbringen, dass das Unmögliche mit dem Realismusversprechen kein Beliebiges mehr sein kann, sondern exakt jenes, von dem zuvor die Rede gewesen ist.

 

 

Kasten:

Provokationsstrategien

Wie steht es mit der Offensivstrategie einiger Solitärs, die ansonsten den »Medienintellektuellen« zuzurechnen sind, jener künstlichen Spezies des gehobenen Infotainments, die sich seit einer Weile an der durch das Ausscheiden der Intellektuellen alten Schlags zurückgebliebenen Leerstelle tummelt? Slavoj Zizek for example? Wie zu den besten Zeiten der klagenden Klasse jammert er nicht, sondern klagt an. Offensiv polemisiert er gegen die neoliberalen Klassenverräter aus den eigenen Reihen, die das die Klasse der Intellektuellen ideell definierende sozialutopische Projekt an den »Marktfundamentalismus« verraten haben. Ein zweiter Verrat der Intellektuellen nach dem ersten, bereits 1927 durch Julien Benda aktenkundig gemachten, damals dem Verrat an die totalitären Geschichts- und Gesellschaftsideologien. Um öffentlich-medial durchzudringen, mimt Zizek den wilden Mann: »I feel the idea of communism still pertinent today, can still be used as a tool for the analysis and political practice«, so erst kürzlich in London. Damit möchte er die einen in Schreckstarre versetzen und die andern aus eben dieser herauskatapultieren, aus ihrer heillos defensiven sozialdemokratischen Schreckstarre. ? Aber wird hier nicht eher aus Ratlosigkeit denn mit Überzeugungskraft auf den Putz geklopft? Mit dem selbstironischen Titel seines jüngsten Buchs Auf verlorenem Posten räumt der Verfasser dies offenbar selber ein.

Zizeks Provokationsstrategie der gezielten Regelverletzung durch Gebrauch politisch mit Tabu belegter Begriffe und Topoi bemühte sich vor gut zwei Jahren der Science-Fiction-Autor Dietmar Dath mit seinem Essay Maschinenwinter zu kopieren. Um die abhängig und desolat gehaltenen Massen endlich in einen egalitär-gerechten Nutzen der Segnungen der Technik zu bringen, müssten die »Maschinen« aus ihrer kapitalistischen Winterstarre befreit werden. Dazu bedürfe es der Revolution, zu dieser »der politischen Organisation der Avantgarde« ? Lenin hatte Recht, sagt Dietmar Dath, und außerdem: demokratietheoretisch sei das Konzept »demokratischer Zentralismus« einwandfrei und absolut plausibel. ? Was als coole Provokation im hippen Geist eines junglinken Snobismus gedacht war, verpuffte indes resonanzlos auf dem Buchmarkt, und ihr Erfinder hat sich inzwischen wieder in die eigentlichen, sprich die belletristischen Welten von Fiktion und Phantasma zurückgezogen.

H.-W. W.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2010