oder Arbeit am Begriff
des Intellektuellen
Den »Dahingang« des herkömmlichen Intellektuellen, dessen letzte Exemplare Wolf Lepenies als Angehörige der »klagenden Klasse« bezeichnet hat, beklagt unser Autor ? und nennt die wesentlichen Umstände für das Aussterben der moralischen Autorität: Vernichtung der Gegenwart, durch die mediale Dauerbeanspruchung bleibt keine Zeit zum Denken mehr. Einfach weitermachen mit den neuen Medien kann kein Ausweg sein. Was aber sind dann die Chancen für eine neue Spezies von Intellektuellen?
Brecht schrieb, das wird
man stets als Erstes über ihn sagen, »Stücke«, daneben auch Lyrik. Eins der weniger bekannten
Gedichte geht in der ersten Strophe so: »Geh ich zeitig in die Leere/ Komm ich
aus der Leere voll./ Wenn ich mit dem Nichts verkehre/ Weiß ich wieder, was ich
soll«.
Den Versen ist zu entnehmen,
dass dem Dichter, dem rastlosen Geist und viel beschäftigten Autor, möglich
gewesen ist, was Unterbrechung in der positiven Wortbedeutung meint.
Brecht nannte sich mit plebejischem Understatement einen »Stückeschreiber«. Ein
»Intellektueller«, er versah den Ausdruck gewöhnlich mit dem Epitheton
»bürgerlich«, wollte er nicht genannt werden. »Tuis« heißen sie in einem seiner
Stücke, was ein wenig an Tunichtgut erinnert. Dennoch ist der, der kein solcher
sein mochte, im Rückblick betrachtet, ein Intellektueller gewesen: Ein
Kopfarbeiter, der mit den Erzeugnissen seines Denkens und seiner
Einbildungskraft um humaner Zwecke willen gesellschaftlich oder politisch
interveniert und aufgrund dessen allgemein anerkannte moralische Autorität
genießt.
Wie ist es derzeit um
diese Gattung bestellt, gibt es sie noch, die Intellektuellen? ? Sie sterben gerade aus. Die letzten Exemplare, im
vorgerückten Seniorenalter zu Monumenten ihrer selbst geworden, kann man eben
noch besichtigen. Hierzulande etwa Günther Grass oder Jürgen Habermas;
linksrheinisch, im Land der glorreichen Geburtsstunde des Intellektuellen,
Alfred Grosser beispielsweise, nachdem vor Dezennien schon die Prachtexemplare
mit transnationaler Aura, die Sartres und Malrauxs, die irdische Bühne
verlassen haben und seither im Pantheon die tote Zeit ihrer Unsterblichkeit
absitzen. Mit den charismatischen Namen macht man das Phänomen an den
Großintellektuellen fest, gewiss, aber steht und fällt mit deren Schicksal
nicht das der gesamten Zunft? Das Aussterben der Großen markiert das Ende des
Intellektuellen überhaupt; Lyotard setzte ihm noch vor der Jahrtausendwende mit
dem »Grabmal des Intellektuellen« ein literarisches Denkmal.
Die so klagen, sind selber
Intellektuelle. Angehörige der »klagenden Klasse«, als welche Wolf Lepenies,
seinerseits ein Intellektueller, die vormals tintenklecksende Schar gruppensoziologisch
wie funktionell beschrieben hat. Die also jetzt noch klagen, sind nicht mehr
Großintellektuelle, sondern Durchschnittsintellektuelle, Fußvolk ohne Helm mit
Federbusch und selten in Harnisch zu bringen. Die statt eines flammenden
J?accuse heute nur noch durchschnittlich Klagenden sehen sich außerdem nicht
erst seit gestern mit den objektiven Bedingungen einer sozialökonomischen und
auch kulturellen Dynamik konfrontiert, die ganz allgemein dazu beiträgt, dass
ihr Stern kontinuierlich im Sinken begriffen ist. Diese Faktoren seien,
dezenter Hinweis auf den roten Faden, in aller Kürze rekapituliert, dann ein
ebenso kurzer Blick auf fragwürdige Strategieversuche, sich gegen die wachsende
Bedrängnis zur Wehr zu setzen, um danach ausführlicher das Rollenmodell des
Intellektuellen in Augenschein zu nehmen und den wunden Punkt desselben anhand
einer aktuellen Entwicklung zu verdeutlichen, bringt diese doch das soziale und
politische Geschäft des Intellektuellen offenbar endgültig in die Bredouille.
Zunächst also zur
Erinnerung: Mitte des vergangenen Jahrhunderts setzte in den entwickelten
Ländern sozialökonomisch ein Prozess der Dynamisierung, Komplexifizierung und
Diversifikation der Produktion wie der sozialen Stratifikation, der Klassen-
und Schichtstrukturen ein, der den kategorisierenden Blick des intellektuellen
Beobachters und Analytikers zunehmend unter Stress zu setzen begann, worauf
seinerzeit Habermas? zum Schlagwort avancierte Formel von der »neuen
Unübersichtlichkeit« aufmerksam gemacht hat. Seitdem sind auf sich ständig
weiter ausdifferenzierenden Wissensfeldern immer kleinteiliger organisierte und
spezialisierte Fachintelligenzen gefragt und gefordert, sobald es um halbwegs
verlässliche Analysen und Prognosen geht; die intellektuellen Überflieger und
Generalisten von einst mit dem gleichzeitig sachhaltigen und in
moralisch-praktischer Hinsicht richtungsweisenden Durchblick werfen dagegen
zuverlässig das Handtuch, wenn sie ehrlich sind und sich die
Disproportionalität zwischen der rasant gestiegenen Komplexität der
Verhältnisse und ihrer eigenen konstant gebliebenen Verarbeitungskapazität
eingestehen.
Im kulturellen
Begleitprozess der sozialökonomischen Transformation ereignet sich überdies die
Demokratisierung der Zugänge zum Wissenserwerb sowie der Zirkulation der
erworbenen Wissensgüter, deren vorläufiger Kulminationspunkt mit der im
virtuellen Raum via Wikipedia et cetera vagabundierenden anonymen
Intellektualität zu bestaunen ist. Sie gräbt der angestammten Funktion von
Berufsdenkern und deren privilegierter Kompetenz einmal mehr das Wasser ab,
auch wenn sie oft genug Metaqualitäten wie Bündelung, Orientierung und Gewichtung
vermissen lässt. ? Sollte diese im planetarischen Maßstab operierende
kollektive egalitäre Intelligenz die durch ihr Wachstum mit herbeigeführte
realsoziologische Bedeutungslosigkeit des idealtypischen Intellektuellen nun
nicht einfach verschmerzen lassen?
»Ich bin immer wieder
verblüfft, was wir alles wissen und wie genau wir es wissen ... und trotzdem
stecken wir in dieser Misere«, meinte unlängst der wie stets munter plaudernde
Dirk Baecker in der Abmoderation einer intellektuellen Talkrunde in der
Freiburger Jackson-Pollock-Bar. Was man gleichermaßen auf die frei flottierende
Kollektivintelligenz wie auf die in den Intellektuellen noch professionalisierte
beziehen könnte. Dass offensichtlich trotz eines beträchtlich gewachsenen
Intelligenzpotenzials zurzeit in der Welt beinah alles schief läuft, was nur
schief laufen kann, führt dort, wo es für Verblüffung sorgt, nicht in die
Depression. Auch nicht bei denen innerhalb der gebeutelten Profession, die
darüber hinaus mit Empörung auf die »Misere« reagieren. Liegt diese doch in
ihren Augen vor allem in der Verletzung elementarer Standards von Humanität und
sozialer Gerechtigkeit.
Die Empörung entzündet sich
folgerichtig gar nicht an jenem auf die akkumulierte Intelligenz und das breit
gestreute Wissen bezogenen Missverhältnis, vielmehr an dem himmelschreienden
moralischen Skandal. Diese Ursache der Empörung aber steht im direkten Zusammenhang
mit dem Schmerz und der Klage der Restintellektuellen in eigener Sache: Dass
mit dem Abgang des klassischen Intellektuellen von der gesellschaftlichen und
politischen Bühne auch die Utopie oder Idee von der humanen und sozial
gerechten Gesellschaftsordnung ein für alle Mal aus dem Drehbuch gestrichen
werde. War nicht gerade dieses Ideal mit seiner moralischen Richtschnur des
Handelns in die Hand des Intellektuellen gelegt, in der Unbill der Zeitläufte
dessen Obhut anempfohlen? Mit dem Verschwinden des Intellektuellen von der
öffentlichen Bildfläche würde sie ein letztes Obdach verlieren. Kurz, mit dem
Exit des einen wäre der Exit der anderen besiegelt, das Hinscheiden der Idee
einer menschlicheren Gesellschaft.
Hier erreicht das Lamento
der ihr Aussterben und die gesellschaftlichen Folgen beklagenden Klasse den
Tiefpunkt der Melancholie. Wird an ihm eine Art Rückstoß erfolgen, sodass es
danach wieder aufwärts geht? Wird es eine Auferstehung geben, ein
intellektuelles Leben nach dem Tod der Intellektuellen? ? Die Defensivstrategie
des zusammengeschmolzenen Häufleins der Linksintellektuellen gibt wenig Anlass
zu Optimismus. Sie versuchen einen Restposten an humanen Standards vor der
Abwicklung durchs ökonomische Realitätsprinzip zu retten. Im Feuilleton stemmen
sie sich so gut es geht gegen den rechten Zeitgeist im »ideologischen Überbau«,
der jede qualifizierte Idee von sozialer Gerechtigkeit für eine romantische
Flause erklärt und die Rückkehr des Tragischen verkündet.
Was zeigt uns dies, was
können wir an alledem ablesen? ? um
an dieser Stelle in die erste Person Plural, ins Wir, zu wechseln und mich, den
Autor dieser Zeilen, als Mitbetroffenen zu bekennen, als der klagenden Klasse
Zugehörigen und Mitglied ihrer Trauergemeinde.
Bei genauem Hinsehen, meine
ich, müsste ins Auge springen, wie noch im historischen Moment, wenn es denn
einer ist, des faktischen Überflüssigwerdens der klagenden Klasse die mit ihr
Untergehenden bei ihren verzweifelten Rettungsversuchen das wahrscheinlich
unrettbar obsolet gewordene Muster ihres Sozialformats, gleichsam dessen DNA,
getreulich reproduzieren. Worin nämlich besteht oder besser bestand die Matrix,
die, emphatisch gesprochen, Raison d?être des Intellektuellen par excellence?
Darin, dass er nicht im eigenen Namen spricht und überhaupt nicht im Namen
irgendeines Sonderinteresses, vielmehr im Namen eines universellen Anliegens,
dem der Menschheit und ihrer gerechten Ordnung hienieden; und eben darum prangert
er das Unrecht an, erhebt seine Stimme für die Mühseligen und Beladenen, greift
zur Feder im Namen der Erniedrigten und Beleidigten. Das, so die
stillschweigende Prämisse, gelingt ihm desto eher und umso besser, je mehr er
zum einen von der eigenen leidlich gesicherten Existenz abstrahiert, und je
weniger er zum andern sich um sein spezifisches Produktionsmittel und dessen
Funktionieren sorgen muss, seinen Verstand und das Denken. ? Der Intellektuelle
ist demnach der gehorsamste und am weitesten fortgeschrittene Schüler Immanuel
Kants, denn ohne eigens dazu ermutigt werden zu müssen bedient er sich derart
vorbildlich seines eigenen Verstandes, dass jeder andere und mithin die
Gesellschaft sich getrost nach ihm richten kann, ja zu ihrem Besten es tatsächlich
tun sollte. Wobei das »Sich-nach-ihm-Richten« auf die Inhalte des
Denkens und nicht auf das Formelle desselben sich bezieht, also auf die von ihm
in Umlauf gesetzten Ideen, die es als praktisch zu beherzigende Rezepte durch
gesellschaftlich und politisch handelnde Subjekte in die Tat umzusetzen gelte.
Ich finde, wir müssen dieses
intellektuell-professionelle Betriebsgeheimnis, wie es bislang unausgesprochen
gegolten hat, einmal so schlicht und entwaffnend freimütig aussprechen, um
endlich Verdacht zu schöpfen, und zwar den Verdacht, dass mit ihm ? über die
oben rekapitulierten sozioökonomischen Veränderungen und deren Folgen hinaus ?
etwas nicht länger stimmt. Das unter Demokratiegesichtspunkten vielleicht
Bedenkliche des Vordenkertums ist es nicht, das wäre schon immer problematisch
gewesen. Was ist es dann, das mit dem Betriebssystem Intellektueller nicht mehr
stimmt?
Noch eine Klage, es wird
dann die letzte sein, sollten wir uns anhören, sie hilft bei der
Antwortfindung. Diesmal kommt sie nicht aus der linken Ecke, sondern von der
bürgerlichen Mitte her. Es handelt sich um das aktuelle Lamento des im gepflegten
und stilsicheren Pamphletismus geübten FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, im
Nebenberuf intellektueller Alarmist, als welchen ihn Intellektuelle im
Hauptberuf gern abtun. Nach Das Methusalem-Komplott und Minimum,
in dem es um den Geburtenrückgang geht und die bange Frage, ob wir bald alle
und also nicht nur die Intellektuellen aussterben, wo sich die rührende
Geschichte von den überlebenstüchtigen Wildwestfrauen am schneeverwehten
Donnerpass in den Rocky Mountains findet, der Leser/die Leserin erinnert sich ?
nach diesen beiden jetzt Payback, das Buch, das davon handelt, wie die
schöne neue Medienwelt es dem Denken heimzahlt, das sie ersonnen hat.
Indem er vom Denken spricht,
dem heimgezahlt wird, spricht der Intellektuelle Schirrmacher auf einmal
auffallend viel von sich ? ungebührlich viel für einen politischen Intellektuellen,
der nicht die eigenen, sondern Menschheitsanliegen im Blick haben sollte, wäre
zu anderen Zeiten moniert worden. Jetzt wird man sagen, er muss es
zwangsläufig, denn sobald er über das Denken redet und was diesem zustößt im
digitalen Medienzeitalter, redet er automatisch auch über sein
Produktionsmittel oder die Funktionsbedingung seines Metiers. Bloß in diesem
Fall gerade nicht als von etwas Partikularem, denn, wir wechseln die Tonart,
was in seiner Person dem Denken durch medialen Zugriff zustößt, passiert eben
nicht nur den Intellektuellen qua Berufsausübung, sondern jedermann und jeder
Frau. Was Schirrmachers jüngstem Traktat die besondere Note verleiht, ist also
der Umstand, dass es sich, wo er als Intellektueller mit Blick auf das Denken
unterm medialen Verhängnis von sich und seinen Erfahrungen spricht, immer
schon, gut intellektuell, von einem Universellen handelt, etwas das im
Interesse aller liegt; und dies genau besehen auch nicht stellvertretend,
sondern exemplarisch, da Denken überhaupt und grundsätzlich stets nur in
der ersten Person geschieht und nicht an Intellektuelle delegiert werden kann.
Das Exemplarische indes und auch insofern ein Novum, wie gleich auszuführen
ist, beinhaltet zum ersten Mal die Legitimation des Intellektuellen, als
Intellektueller von sich oder in der »Ersten Person Singular« zu sprechen und
gleichwohl Wesentliches oder Entscheidendes in der Sache mitzuteilen.
Wie nun aber lautet die
persönliche und gleichwohl exemplarische Klage des Frank Schirrmacher? ? Er
weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, salopp und sinngemäß zusammengefasst.
24 Stunden online: mailen, simsen, twittern, googeln, bloggen, und dein
Verstand und Denken sind wie ausgewechselt oder nicht mehr vorhanden, klagt er.
Für einen Zeitungsmacher, Publizisten, Autor, Intellektuellen der »Größte
Anzunehmende Unfall«, die Kernschmelze. Sie steht jedoch der gesamten, im
Spinnennetz von Multimedia gefangenen Menschheit, verharmlosend Web-Gemeinde
genannt, bevor. Fest im Griff von Internet und I-Phone, Apps und Pads und dem
ganzen digitalen Schnickschnack werden wir bald alle nicht mehr wissen, wo uns
der Kopf steht und dass wir überhaupt einen haben; Schirrmacher hat es am eigenen
Leib erfahren, am permanenten Überforderungszustand seines digital
verhackstückten Hirns.
Malt hier einer im
intellektuellen Übermut den Leibhaftigen an die Wand? Oder redet er, aus
schierer Verzweiflung, endlich Klartext? Die einen winken ab, in Medienkritik
verpackter Kulturpessimismus, zum x-ten Mal das alte Lied, erst »wir amüsieren
uns zu Tode« und nun: wir informieren uns zu Tode, mit einem müden Lächeln erinnern
sie daran, dass die digitalen Gerätschaften einen Ausschaltknopf besitzen. Das
stimmt. Aber ebenso richtig ist und dies könnte sich als von ungleich größerem
Gewicht erweisen, dass die elektronisch-mediale Vernetzung als systemische
Infrastruktur, an deren Tropf wir hängen, sich keineswegs ein- und ausschalten
lässt. Sodass die Folgen dieser Abhängigkeit, darunter die für das individuelle
Hirn, also das Denken, auch durch individuellen Knopfdruck nicht zu regulieren
sind.
Wir wollten uns nach den
vorherigen Klagen als eine letzte
noch diejenige des Intellektuellen Schirrmacher über die elektronischen Medien,
das Netz und den »information overload« anhören, weil sie helfen könnte, die
Antwort zu finden auf unsere Frage, was an der professionellen Betriebslogik
des Intellektuellen nicht länger stimmt. Was ist es also, gibt uns
Schirrmachers Klage einen Hinweis auf die Antwort? Ich glaube schon. Sagen wir
es so: Das Betriebsmedium, der Brennstoff für intellektuelle Produktion und
Rezeption geht aus; oder kürzer, es bleibt keine Zeit mehr zum Denken. Weshalb?
»Die Medien« im Plural, die elektronischen Informations- und Kommunikationssysteme,
jenes World-Wide-Web, dem die Gesellschaft als Ganze ins Netz geht, sie sind
derart raumgreifend, dass »das Medium« im Singular, nennen wir es die »Denkzeit«,
dass der Raum für dieses singuläre Medium eine so extreme Kompression erfährt,
dass seine Ausdehnung gegen Null tendiert. ? »Die Medien« sind dafür nur eine
Ursache, weil die zeitliche Verdichtung oder der Beschleunigungsprozess des
individuellen und gesellschaftlichen Lebens genauso von der materiellen
Ökonomie (Güterproduktion, Dienstleistungen und Finanzwirtschaft)
vorangetrieben wird. Beide Ökonomien, die »stoffliche« wie die »Aufmerksamkeitsökonomie«,
sind die großen Zeitfresser, die grassierenden Gegenwartsvernichter.
Wobei der hier
interessierende Entzug von Denkzeit durch mediale Dauerbeanspruchung einen
speziellen Tatbestand von Gegenwartsvernichtung erfüllt. Nämlich den der Vernichtung
des denkenden Gegenwärtigseins, der verweilenden Präsenz bei einer
Sache. Denken lässt sich, insbesondere in seinen anspruchsvolleren Varianten,
dem Nachdenken, der intellektuellen Reflexion, dem abwägenden Urteil, erst
recht der Kontemplation und Meditation, geradezu als ein solches
Gegenwärtigsein definieren, ein unabgelenktes, konzentriertes Anwesendsein und
Dabeibleiben ? jene Geistesgegenwart, die, das muss man mittlerweile
hinzufügen, nicht mit der Reaktionsschnelligkeit des Formel-Eins-Piloten oder
der Ego-Shooter im Internet zu verwechseln ist. Und mit Beschleunigung lässt
sich in puncto Denken und Denkzeit gleich gar nichts machen, allenfalls kaputt
machen.
Zurück zur Problematik der
bisherigen Geschäftsgrundlage der Profession des Intellektuellen. Sie wird
radikal infrage gestellt durch den digitalen Angriff auf eben die aparte Form
von Gegenwart, Geistesgegenwart oder mentale Präsenz, wie sie das Denken
darstellt, insbesondere in seinen elaborierten Ausdrucksgestalten: der kritischen
Analyse, der Erkenntnis komplexer Zusammenhänge des sachlich sortierenden und
normativ orientierenden Überblicks und nicht zuletzt des antizipatorischen Ausblicks,
gar des utopischen Ideenentwurfs, mit dem bis heute die Figur des politisch engagierten
Intellektuellen in Erinnerung an ihre charismatischen Vertreter assoziiert
wird. Gegenwartsvernichtung als Vernichtung von Denkzeit durch digitales
Trommelfeuer sowie elektronisch-medialen Dauerbeschuss führt nicht nur
individuell zu Hirnerweichung, sie tangiert die soziale Relevanz der
intellektuellen Denkformate, sie macht ihnen politisch, gesellschaftlich und
kulturell den Garaus. Besonders Widerständige im Trupp der Restintellektuellen
mögen an ihnen festhalten, vor dem elektronischen Sperrfeuer in Deckung gehen
und sich durch die mediale Dampfwalze einstweilen nicht plattmachen lassen, wie
man dies ja auch dem nach seinem Bekunden bereits in Mitleidenschaft gezogenen
Frank Schirrmacher zutraut ? allein, die noch so fundierten Klagen und substanziellen
Kritiken der Unbeirrbaren oder Unverdrossenen, von utopisch kühnen Entwürfen
lassen sie wohlweislich die Finger, treffen kaum noch auf einen Adressaten.
Die Geschäftsgrundlage zur
Ausübung der Profession des Intellektuellen bricht vor allem auf der
Rezipientenseite weg. An der Stelle, wo man einst damit rechnen konnte, das
anzutreffen, was damals politische oder diskutierende Öffentlichkeit hieß,
intellektuell ansprechbare Milieus und Gruppierungen, hat heutzutage der Event-
und Unterhaltungszirkus die Zelte aufgeschlagen; will sagen, aufseiten der für
die intellektuell-professionelle Funktionslogik traditionell unterstellten
Wechselseitigkeit oder Korrespondenz zwischen Sender und Empfänger,
Produktions- und Rezeptionspol, hat die spezielle Gegenwartsvernichtung des
Reflexionsentzugs, der Denkzeiteliminierung, allem Anschein nach erbarmungslos
zugeschlagen. ? Wie soll man den Geistes- und Gemütszustand der im Strom der
beiden Ökonomien, der konventionellen Wirtschaft und der
Aufmerksamkeitsökonomie, scheinbar willenlos dahintreibenden Konsumentenpopulationen
beschreiben, aus deren Masse früher mindestens Einzelne oder gewisse Milieus für
durch Intellektuelle angestoßene öffentliche Diskurse interessiert und zu einem
gesellschaftspolitischen Engagement motiviert werden konnten? Heute scheint es
selbst diese intellektuell aufgeschlossenen und gesellschaftlich oder politisch
aktivierbaren Minderheiten immer weniger zu geben; eine mal der Lethargie, mal
blinder Betriebsamkeit anheimfallende Kopflosigkeit breitet sich aus, die die
meisten nicht einmal an sich bemerken, geschweige denn, dass es sie stört. Andere
registrieren ihre Verwirrung und dass sie nicht sehen, worauf es mit ihrem
Leben, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Ökologie, dem Klima hinausläuft,
und sie richten sich häuslich ein in ihrer Desorientiertheit, sogar ohne den
geringsten Zynismus. Schicksalsergeben lassen sie die digitalen Bilder- und
Datengewitter über sich ergehen und das Stimmengewirr der Medien pausenlos auf
sich niederprasseln.
Der Gipfel der
Kopflosigkeit, um nicht zu sagen der Hirnrissigkeit, wäre es nun, an sie alle
die Aufforderung ergehen zu lassen: Habe Mut, dich deines Verstandes ohne die
Leitung eines anderen zu bedienen! Aus dem Mund von Intellektuellen, von
gewissermaßen berufsmäßigen Denkanleitern, klang dies schon immer ein bisschen
paradox. Jetzt wäre es schlichtweg sinnlos, denn die autonomen Subjekte, die
selbstständig denkenden Individuen, an welche die Aufforderung adressiert sein
könnte, wird man unter den medialisierten Ichen und den digitalisierten
Gehirnen suchen wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Fazit und These:
Der nach den altaufklärerischen Prämissen einer Vernunfttradition gestrickten
Matrix der Produktionsweise und gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen
wurde die sozialpsychologische, präziser die sozialmentale Grundlage entzogen.
Dies ist es, was mit ihr nicht länger stimmt.
Nimmt es da Wunder, dass
vermutlich als intellektuelle Intervention gemeinte zaghafte Wortmeldungen aus
der einen oder andern akademischen Nische öffentlich kein Gehör finden und
buchstäblich ins Leere stoßen? Dass, was gelegentlich noch mit dem Namen einer
intellektuellen Debatte versehen wird, sich aufs Feuilleton beschränkt und in
der Resonanz auf einige thematisch verlinkte Blogs und Foren im Internet? Dass
die nur als Signal für eine Öffentlichkeit, ein Publikum sinnmachenden intellektuellen
Böller eines Zizek oder Dietmar Dath zum Rohrkrepierer geraten, dem lediglich
ein paar versprengte Linksradikale Beifall spenden? Auf verlorenem Posten,
das allein trifft ins Schwarze, Zizeks Buchtitel, wir erwähnten es bereits.
Wobei »verloren« gar nicht so zu verstehen ist, dass auch dieses letzte
Widerstandsnest in Kürze ausgehoben werde durch einen Feind, der realiter nicht
existiert; vielmehr verloren im Meer der elektronisch-medial allesamt
gleich-gültigen Meinungen, Stellungnahmen, Postings, Briefings, all jener
Informationen, die aufgrund ihrer schieren Unzahl den Informationswert
einbüßen, leeren Hülsen gleich »differences that make no longer any
difference«, als Unterschiede verkleidete Indifferenzen. So jedenfalls kommt
das Zeug in der Regel bei den Empfängern an, denen es die Mailbox und das Hirn
zumüllt. Nochmals auf den aussichtslosen Posten eines Intellektuellen bezogen:
Es kommt, mitgegangen mitgehangen, was der Absender als intellektuelle
Vitamindosis aufgegeben, wenn überhaupt, als zerebrale Zermürbung beim
Adressaten an.
Aber, die Frage darf
gestellt werden, sehen wir die Dinge nicht zu schwarz? Es gibt, werden etliche
einwenden, die demokratischen Basisinitiativen in der Netzcommunity, hellwach
gegen Bevormundung oder Entmündigung. Auch trifft man im Netz, gibt selbst
Schirrmacher zu bedenken, »einige der intelligentesten Menschen«. Dann ist da
die kulturell kreative Szene, für welche die Bezeichnung »mediale Intelligenz«
nicht schlecht gewählt erscheint (nicht zu verwechseln mit den »Medienintellektuellen«);
ihre künstlerischen und dokumentarischen Arbeiten generieren ein eigenes Publikum,
eine durchaus kritische Öffentlichkeit, und Filme wie Das weiße Band
verdienen sehr wohl das Prädikat »intellektuell anspruchsvoll«. Nicht nur in
Deutschland und Frankreich beispielsweise existiert eine Vielzahl politischer
Magazine und Kulturzeitschriften, die es ohne eine entsprechende intellektuelle
Leserschaft nicht gäbe. Und wenn sich auf den vorderen Plätzen der Spiegel-Bestenliste
Sachbuch monatelang ein Titel wie Richard David Prechts Wer bin ich ? und
wenn ja, wie viele? zu behaupten vermag, so beweist dies doch wohl, dass
einer erklecklichen Anzahl von Leuten die Frage, wo ihnen der Kopf steht und ob
sie noch einen haben, nicht völlig schnuppe ist.
Alles richtig, möchte ich
erwidern. Doch wenig triftig als Einwand gegen den Befund, dass die bis dato
unhinterfragten Prämissen der intellektuellen Existenz fragwürdig geworden
sind, dass das, was noch stets als selbstverständlich vorausgesetzt worden ist
bei dem, was ein Intellektueller tut und wozu er es gesellschaftlich tut, dass
diese strukturellen Voraussetzungen nicht länger gegeben sind. ? Einerseits in
der Sache nicht triftig stellt sich der Einwand andererseits in pragmatischer
Hinsicht als nicht hilfreich heraus. Das heißt, er ist nicht dienlich bei der
Frage, was denn in Zukunft am »Ort« des Intellektuellen sinnvollerweise zu
geschehen hätte. Wie nach dem Tod des Intellektuellen oder um statt der etwas
verbrauchten Rede dieser Pathosformel eine derzeit beliebte Wendung zu
gebrauchen: wie nach dem Dahingang der Intellektuellen, wie wir sie bisher
kannten ? und wir verstehen jetzt diesen Exitus immer in ursächlicher Verbindung
mit der weggebrochenen Geschäftsgrundlage ?, wie nach dieser unhintergehbaren
Zäsur eine zukünftige intellektuelle Praxis beschaffen sein müsste. Jedenfalls
wenn ihr eine Perspektive beschieden sein soll, wenn sie vielleicht sogar
denen, die sich als Intellektuelle und zwar diesmal in der positiven
Konnotation selbst überlebt haben, eine neue gesellschaftliche
Legitimation zu verschaffen imstande sein soll. Würden wir uns hinsichtlich der
praktischen Seite der Angelegenheit an dem Einwand orientieren »alles halb so
wild«, wäre mit einem Weitermachen wie bisher zu rechnen, einem Weiterwursteln
wie gehabt.
Wie dieses Weiter-so
ausschaut, liegt auf der Hand. Die noch nicht verstummten Linken und
linksliberalen intellektuellen Kritiker und Klageführer spielen wie gewohnt den
seriösen Anwalt der Schwachen, auch wenn die demoralisierte Klientel nichts
davon mitbekommt und keine Realpolitik, keine Politiker-Politik sich die
Plädoyers zu Herzen nimmt. Die bunten Vögel, solche wie Zizek und Alain Badiou
? der Letztere Theoretiker und Kommunist nach der Manier des Ersten und in
seinen politisch-philosophischen Texten den prozedural-institutionellen
Leerlauf der westlichen Demokratien beklagend ? geben sich weiterhin als
wortgewaltige Möchtegern-Robin-Hoods zu Diensten der Enterbten, der
Marginalisierten in den Pariser Banlieues oder den Slums von Sao Paulo ? und
genießen, wie sollte es sich bei unserem wie geschmiert funktionierenden
freiheitlich-demokratischen Meinungspluralismus anders verhalten, möchte man im
Sinne Badious ergänzen, Narrenfreiheit. ? Und die noch vorhandenen Rechtsintellektuellen
am entgegengesetzten Ende des traditionell linkslastigen Spektrums der
klagenden Klasse machen auf ihre Weise weiter. Ein Martin Mosebach oder Botho
Strauss zum Beispiel, maßnehmend an ihrem großen Vorbild Nicolás Gómez Dávila,
um diesem kolumbianischen Urgestein des literarisch exquisiten Reaktionärs hier
zumindest per Namedropping die intellektuelle Referenz nicht zu verweigern. Von
diesen Rechtsintellektuellen war noch nicht die Rede und muss auch nicht weiter
die Rede sein. Sie werden sich auch künftig über den Pulk der »Ähnlichen« in
den Fußgängerzonen und Shopping-Malls mokieren, den massenmedial bei Laune
gehaltenen und sozialstaatlich gepäppelten Pöbel perhorreszieren, den
Machteliten angelegentlich ein Stichwort liefern und im Übrigen an ihren
Aphorismen feilen oder fein ziselierte Prosa schreiben.
Intellektuell einfach so
weitermachen, als sei nichts geschehen, gibt es dazu denn eine Alternative? Zunächst räume ich ein: Wir kommen
nicht daran vorbei zu konstatieren, dass, was aufgrund der digitalen Revolution
und ihrer elektronisch-medialen Umformatierung der Köpfe
»aufmerksamkeitsökonomisch« und mentalitätsmäßig geschehen ist und seither
geschieht, im intellektuellen Bewusstsein, das dieses Geschehen registriert,
den Eindruck hinterlässt, man müsse eben weitermachen, solange es geht. Genauso
wie wir als intellektuelle Beobachter der Menschen »draußen im Land« zur
Kenntnis nehmen, dass das »gesellschaftlich durchschnittliche Bewusstsein«
sowieso für sich keine Alternative sieht zum Realitätsverhängnis. Auch Schirrmacher,
wir bemühen ihn ein letztes Mal für unsere Zwecke, nähert sich bei der Selbst-
und Fremdbeobachtung diesem toten Punkt: dass ein Wegkommen vom Weitermachen
nicht in Sicht ist. Wegkommen bedeutete als Erstes unterbrechen ? ein unverzeihlicher
Fehler, weil Verstoß gegen das digitale Einmaleins, das sagt: dranbleiben,
dranbleiben, dranbleiben und jedes Mal noch einen Zahn zulegen. Weil
Schirrmachers gesammelte Beobachtungen auf Schritt und Tritt die Alternativlosigkeit
zu diesem Hexen-Einmaleins der Informations- und Mediengesellschaft förmlich
dokumentieren, sind die Vorschläge im letzten Drittel seines Buches, wie wir
die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen und wieder Herr im eigenen Kopf
werden, alles andere als überzeugend. Adam Suboczynski schrieb dazu in der Zeit
(48/09): »Der Argumentationsgang verstrickt sich ... in einen unschönen
Selbstwiderspruch: Ausgerechnet der heillos vom digitalen Darwinismus
getriebene vom Algorithmus überwältigte Mensch soll nun qua aufklärerischer
Weitsicht und Exerzitien wieder zum Herrn über die Maschine werden ...«
Wichtiger als dass dieser
Widerspruch, wie der Rezensent findet, ein »unschöner« ist, dürfte sein, dass
es tatsächlich einer ist. Erst recht für den Nichtintellektuellen oder Normalbürger,
der in der Abhängigkeit steckt und für den eben deshalb die Alternative der
Unabhängigkeit und des unabhängigen Denkens ein Widerspruch ist. Er hat nicht
die Wahl, ein Wegkommen, das zuerst einmal Unterbrechung hieße, kann er sich
nicht leisten: Wer unterbricht, fliegt raus aus der Aufmerksamkeitsökonomie, so
wie diejenigen, die in der gewöhnlichen Wirtschaft unterbrochen werden,
also den Job verlieren, im Regelfall draußen sind. Wer drin bleiben möchte,
unterbricht nicht und macht also weiter. Genau dazu rät mit seinen griffigen
Sätzen der rechtsliberale Medienintellektuelle Norbert Bolz und man kann ihm diesbezüglich
nicht vorwerfen, dass er den Leuten nicht reinen Wein einschenkt.
Unterbrechung ist
unmöglich verkündet als quasi
ehernes Gesetz der ununterbrochen tönende Generalbass des Mediensounds im
globalen Dorf. Die Alternativlosigkeit zum Mit- und Weitermachen entpuppt sich
nach einem halben Jahrhundert Inkubationszeit als die letztgültige Wahrheit von
Marshall McLuhans »the medium is the message«. Müssen aber deswegen auch die
noch übrig gebliebenen Intellektuellen in der Nachfolge des dem
Aufklärungsimpetus verschriebenen politischen Intellektuellen alternativlos
weitermachen? Wobei das »alternativlos« in ihrem Fall noch mit der perfiden Pointe
versehen wäre, dass die von Hause aus für Alternativen Zuständigen anscheinend
unbeirrbar Alternativen zu promoten versuchen, die wegen der gesellschaftlich
sanktionierten und vom allgemeinen Bewusstsein akzeptierten Alternativlosigkeit
nicht für solche gelten ? alternativlos Alternativen ventilieren, die keine
sind, darauf liefe das intellektuelle Weitermachen hinaus.
Und was wäre die Alternative
zu diesem alternativlosen So-tun-als-ob, zu diesem in der Tat kläglichen
Verläppern der Reste der klagenden Klasse? ? Man müsste als Intellektueller, so
stelle ich mir den Ausweg vor, die unmögliche Unterbrechung als professionelle
Herausforderung begreifen, wie eine Provokation, einen Angriff auf das
persönliche Berufsethos. Dann müsste ich mir als Intellektueller das zumuten,
was ich, sofern ich bei Trost bin, dem Nichtintellektuellen respektive dem Mann
und der Frau auf der Straße nie zumuten würde, weil es für sie die Katastrophe
bedeuten könnte: die (unmögliche) Unterbrechung. Ich bin sogar so
verwegen, mit dem Gedanken zu spielen, dass das Wagnis der Unterbrechung den
Intellektuellen, die es eingehen und auf diesem Wege in nicht musealer, sondern
höchst vitaler Art und Weise sich selbst überleben, die Chance eröffnet,
gesellschaftliche Relevanz und kulturelle Legitimität wiederzuerlangen.
Wodurch geschähe dies?
Dadurch, dass solche Intellektuelle ? wir könnten sie Unterbrecher nennen, wenn
das Wort nicht so fatal einem andern ähnelte ? bei sich selber der Furie der
Gegenwartsvernichtung Einhalt gebieten. Sobald sie dies tun, verhalten sie sich
in einer die humane Substanz von Gesellschaften und Kulturen gefährdenden
Angelegenheit sozial exemplarisch ? nicht stellvertretend wohlgemerkt,
wie anlässlich ihres früheren Vordenkertums, als sie noch anstelle des gesellschaftlichen
Kollektivs für dieses gedacht haben. Sie stoppen bei sich die
gesellschaftsweit wütende Gegenwartsvernichtung exemplarisch an der Stelle, wo
diese Vernichtung dem singulären Medium droht, das wir die »Denkzeit« nannten.
Der unterbrechende Intellektuelle räumt sich Denkzeit ein und gewährt dieser
damit den ihr gebührenden Raum. Und er engt diesen Raum nicht gleich dadurch
wieder ein, dass er ihn auf der Stelle mit allerlei Gedankengerümpel füllt. Zur
Geräumigkeit des Mediums Denkzeit gehört die vorübergehende Leere, das
regelmäßige Schweigen und die Stille.
Die Unterbrechung nach Art
des denkenden Innehaltens, falls es noch nötig ist, dies eigens hervorzuheben,
hat einen anderen Charakter als die mit dem routinemäßigen intellektuellen
Denken ohnehin stets verbundene »kleine Unterbrechung«. Andernfalls wären seit
eh und je Intellektuelle da, wo das gerade angestellte Gedankenspiel sich
vorstellt, das sie sein sollten, und es könnte tatsächlich weitergehen wie bisher.
Im Unterschied zur kleinen Unterbrechung, die sich so ziemlich mit jeder gesellschaftlichen
Normalität verträgt, kommt die große Unterbrechung nicht ohne das Einschneidende
aus, das zu vorsintflutlicher Zeit »Metanoia« hieß, meist als Umkehr eingedeutscht.
Eine Unterbrechung dieses Kalibers praktiziert sich naturgemäß nicht ohne
Askese und Exerzitium, die damit auch nicht, dies nur nebenbei, Religion und
Esoterik überlassen werden (und übrigens auch nicht Sloterdijks geistigen
Turnübungen zu diversen Steigerungszwecken). Der einzige Schönheitsfehler, aber
wirklich nur ein Schönheitsfehler: Die Unterbrechung in der Gestalt der
anhaltenden Geistesgegenwart, des Anwesendseins und Dabeibleibens qua nicht
ökonomisierter Aufmerksamkeit, hat keinen unverwechselbaren Namen, es fehlt
dafür eine handliche Bezeichnung. In grauer Vorzeit muss wohl das griechische
Wort »theoria« in die nämliche Richtung gezeigt haben, doch gehen mit diesem
Begriff für heutige Ohren zu viele unterschiedliche und auch irreführende
Assoziationen einher. Wenn wir von »Besinnung« und »zur Besinnung kommen«
sprechen, rührt es wahrscheinlich am ehesten an das, was wir erleben, wenn wir
den fürwahr besinnungslosen Vorwärtstaumel der Medientrance wie überhaupt der
uns vor sich hertreibenden Weltzeit-ohne-Denkzeit im Selbstversuch und am individuellen
Ort unterbrechen.
Das Desiderat der denkenden
Unterbrechung beziehungsweise die Notwendigkeit der Besinnung im Blick sprach
Heidegger davon, und man sollte dies nicht für eine schwäbisch-alemannische
Zipfelmütze halten, dass »die Wissenschaft nicht denkt«. Es gibt auch eine intellektuelle
Betriebsamkeit, die nicht denkt. Dieser gegenüber die denkende oder sich
besinnende Unterbrechung einfordern, insinuiert indessen nicht, der
intellektuelle Kopfarbeiter möge seine Routinetätigkeit an den Nagel hängen.
Die neue Pfleglichkeit im Umgang mit seinem Produktionsmittel, die zuvor
unübliche Sorge um das Denken ? überdies, wie schon gesagt, eine verdienstvolle,
weil gesellschaftlich exemplarische Sorge ? hat unter Umständen den erfreulichen
Nebeneffekt der Sensibilisierung für wider Erwarten sogar aussichtsreiche
soziale oder politische Eingriffe ? sozusagen Zen in der Kunst der
intellektuellen Intervention, zur rechten Zeit, am passenden Ort und in der
geeigneten Sache.
Der Schriftsteller Karl-Heinz
Ott schildert in seinem Roman Endlich Stille den bedenklichen Fall eines
Philosophieprofessors, eines Intellektuellen mithin, dem sich in Gestalt eines
plötzlich auftauchenden Fremden, der nicht mehr von seiner Seite weicht, eine
unaufhörlich schwatzende, schwafelnde, schwadronierende Zecke in den Pelz
setzt. Der gute Mann weiß sich am Ende nicht anders zu helfen, als dass er sich
den Quälgeist durch einen Mord vom Halse schafft: Danach war »endlich Stille«.
Eine Parabel auf die mediale Zeckenplage, von der wir alle befallen sind? Von
den restlichen Intellektuellen außerhalb dieser und anderer Romanwelten wird
man füglich keine Mordtat verlangen und muss es auch nicht ? es genügt die
(unmögliche) Unterbrechung. Dass sie nicht ganz einfach ist, versteht sich zum
Ende dieser Überlegungen von selbst. »Soyez réaliste: demandez l?impossible!«
sprühten die »enragés«, zu deutsch die Wütenden, des Pariser Mai 68
verschiedentlich auf Häuserwände. Unter den Bedingungen einer weltweiten Agenda
2010 wird man freilich Verständnis dafür aufbringen, dass das Unmögliche mit
dem Realismusversprechen kein Beliebiges mehr sein kann, sondern exakt jenes,
von dem zuvor die Rede gewesen ist.
Kasten:
Wie steht es mit der
Offensivstrategie einiger Solitärs, die ansonsten den »Medienintellektuellen«
zuzurechnen sind, jener künstlichen Spezies des gehobenen Infotainments, die
sich seit einer Weile an der durch das Ausscheiden der Intellektuellen alten
Schlags zurückgebliebenen Leerstelle tummelt? Slavoj Zizek for example? Wie zu den besten Zeiten der klagenden Klasse jammert
er nicht, sondern klagt an. Offensiv polemisiert er gegen die neoliberalen
Klassenverräter aus den eigenen Reihen, die das die Klasse der Intellektuellen
ideell definierende sozialutopische Projekt an den »Marktfundamentalismus«
verraten haben. Ein zweiter Verrat der Intellektuellen nach dem ersten,
bereits 1927 durch Julien Benda aktenkundig gemachten, damals dem Verrat an die
totalitären Geschichts- und Gesellschaftsideologien. Um öffentlich-medial
durchzudringen, mimt Zizek den wilden Mann: »I feel the idea of communism still
pertinent today, can still be used as a tool for the analysis and political
practice«, so erst kürzlich in London. Damit
möchte er die einen in Schreckstarre versetzen und die andern aus eben dieser
herauskatapultieren, aus ihrer heillos defensiven sozialdemokratischen
Schreckstarre. ? Aber wird hier nicht eher aus Ratlosigkeit denn mit Überzeugungskraft
auf den Putz geklopft? Mit dem selbstironischen Titel seines jüngsten Buchs Auf
verlorenem Posten räumt der Verfasser dies offenbar selber ein.
Zizeks Provokationsstrategie
der gezielten Regelverletzung durch Gebrauch politisch mit Tabu belegter
Begriffe und Topoi bemühte sich vor gut zwei Jahren der Science-Fiction-Autor
Dietmar Dath mit seinem Essay Maschinenwinter zu kopieren. Um die
abhängig und desolat gehaltenen Massen endlich in einen egalitär-gerechten
Nutzen der Segnungen der Technik zu bringen, müssten die »Maschinen« aus ihrer
kapitalistischen Winterstarre befreit werden. Dazu bedürfe es der Revolution,
zu dieser »der politischen Organisation der Avantgarde« ? Lenin hatte Recht,
sagt Dietmar Dath, und außerdem: demokratietheoretisch sei das Konzept
»demokratischer Zentralismus« einwandfrei und absolut plausibel. ? Was als
coole Provokation im hippen Geist eines junglinken Snobismus gedacht war,
verpuffte indes resonanzlos auf dem Buchmarkt, und ihr Erfinder hat sich
inzwischen wieder in die eigentlichen, sprich die belletristischen Welten von
Fiktion und Phantasma zurückgezogen.
H.-W. W.