Alarmismus
ist ein Verdammungswort politisch Wohlsituierter für skeptische Unruhegeister,
die immer eine Katastrophe an die Wand malen, eine globale Ungerechtigkeit oder
ein ökologisches Fanal. Was aber steckt im Alarmruf eines Herausgebers der FAZ,
»Europa ist in Gefahr«, obwohl der Kontinent weder von einem Krieg noch von
Naturgewalten erschüttert wird? Es ist wohl sein Erschrecken darüber, dass
etwas in Veränderung begriffen ist. Tiefschürfendes? Eigentlich geht es »nur«
um bestimmte Maastricht- Kriterien, um das, was Deutschland seinerzeit dank
seiner Wirtschaftsmacht im Vertrag unterbringen konnte. Das firmiert heute
vordergründig unter Schlagworten wie »Stabilität« und »Sparkurs«. In der EU
werden sie von anderen Mitgliedern freilich ganz anders interpretiert. Nicht
nur von klammen und grimmen Griechen; auch die französische
Wirtschaftsministerin Christine Lagarde sieht in Deutschland kein
»langfristiges lebensfähiges Modell« (Le Monde, 15.3.). Doch sollte eine
offene Debatte über Wirtschafts- und EU-Politik (siehe Joscha Schmierer, S. 32)
nun wirklich nichts Gefährliches sein. Oder doch? Für Holger Steltzner, den
Erschrockenen, geht es um viel mehr. Er baut ein Szenario auf, dessen Risiken
einem den Atem rauben. Die Finanzkrise: eine Idylle dagegen. Aus dieser kommt
das bedrohte Kapital und verhält sich wie »ein scheues Reh. Wenn es Gefahr
wittert, ergreift es schnell die Flucht«. Starke (Marx-)Lyrik für die
Eurozonen-Krise, die quantitativ gegenüber dem Flurschaden, den das scheue Reh
eben geliefert hat, nur eine Kleinkrise ist.
Aber
das Marx-Zitat ist mehr als Lyrik. Etwas beunruhigt den Mann der Wirtschaft
schwer. Die aktuellen Verschiebungen in der deutschen politischen Landschaft
infolge der Regierungsschwäche sind bestimmt kein Grund für solches Getöse. Es
gibt diese und jene Debatte, manche laut, manche auch übel, aber keine
Barrikaden, es herrscht relative Ruhe im Land. Schonzeit, angesichts des in der
FAZ gesichteten Rotwilds keine Debatten, ob wir Tierschützer sind oder
Liebhaber eines Rehbratens. Dann diese Breitseite gegen die staatlichen
Wildheger: »Angela Merkel spielt mit dem Feuer.«
Blickt
man auf die zurückliegenden Jahrzehnte, beschreibt Richard Rortys
Spiegelmetapher sie treffend: Zum einen wird der gesellschaftlichen
Wirklichkeit ein idealisierender Spiegel vorgehalten, der sie als perfekt
erscheinen lässt, zum anderen soll die einfache Spiegelung dieser »Perfektion«
erst gar keine Idee von Alternativen aufkommen lassen. Margaret Thatcher hat
sie als »TINA« in den politisch-ideologischen Alltag übersetzt zu einem
Zeitpunkt, als es den sich neu formierenden Eliten in den Achtzigern darum
ging, gesellschaftliche Ansprüche abzuwehren und staatliche Steuerungsansprüche
zurückzudrängen. Mit dem Untergang des Sowjetsozialismus trat sein
Konterbegriff Kapitalismus zeitweise so sehr in den Hintergrund, dass ein
SPD-Regierungschef nach einem tiefen Blick in Rortys Spiegel
Gesellschaftskritikern ärztliche Behandlung gegen Visionen empfahl. Der FAZ-Herausgeber
nun in Schröders Fußstapfen? Jede politische Veränderung gleich ein Menetekel?
Trotz
aller Ruhe im Land ? da gibt es Haarrisse, Furchen, Verwerfungen auf dem
sozialen Feld. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat offengelegt, was
über Jahre hinweg schon erodiert ist. Zum Vorschein kam das gealterte
Janusgesicht des Kapitalismus mit seiner destruktiven Dynamik in einer
historisch beispiellosen Entkoppelung von Eigentum und unternehmerischer
Tätigkeit (siehe Christoph Deutschmann, S. 6). Das Weiter-so steht zur Debatte
? und ihre Verfechter schlagen Alarm. Denn die Ruhe könnte trügen. Ein
beunruhigendes Indiz für den Status quo: Die intellektuelle Dissidenz gewinnt
an Einfluss. Das Misstrauen in die rationale Zähmung der Ökonomie durch
kunstvolles demokratisches Auspendeln nimmt zu. »Auslaufmodell Demokratie?«,
fragt Claus Offe und moniert einen »lückenhaften Sozialvertrag«. Überhaupt ist
der Kapitalismusbegriff, lange im Abseits der deutschen Geschichts- und
Sozialwissenschaften, zurückgekehrt,
stellt der Historiker und Mitbegründer der »Bielefelder Schule«, Jürgen Kocka
bei der Rezension einiger Hauptwerke der neueren Literatur fest (Merkur, Feb.
2010). Keiner der von Kocka besprochenen AutorInnen kann mit Steltzners
deutschem Wald- und Wildkapitalismus etwas anfangen. Geradezu antipodisch wirkt
das Werk des Max-Planck-Institut-Chefs Wolfgang Streeck, Re-Forming
Capitalism, das Kocka als »einen großen Wurf« bezeichnet, einen »wichtigen
Beitrag zur Weiterentwicklung der Historischen Sozialwissenschaft«. Streecks
erneuerter Begriff vom Kapitalismus umfasst Zeit, Raum, Struktur und
Prozessuales, Dynamik wie Pathologien oder seine Tendenz zur »Disorganisation«.
Von der Soziologie her kommen begründete Zweifel auf, »ob der Staat den
Kapitalismus noch einmal vor sich selbst retten könnte«. Denn »die einzigen
Gesetze«, meint Streeck an anderer Stelle, »mit denen Verständlichkeit und
Gestaltbarkeit der Gesellschaft gesichert werden können, sind solche, die die
Gesellschaft sich durch ihre Regierung ? durch Politik und Recht ? selber
gibt.« Mag auch das scheue Reh hinter dieses oder jenes Bäumchen springen.
Ökonomien kommen und gehen, die Gesellschaften bleiben.