Balduin Winter

Pech mit dem Kapitalismus?

Die Krise und die neuen EU-Staaten

 

Hat sich Europa überdehnt? Am Tag der Arbeit schreibt Anja Ingenrieth in der Rhein-Zeitung: »Egal ob Ungarn, Rumänien oder Lettland: Viele der einstigen Boom-Regionen stehen nun am Abgrund. Länder mit vormals zweistelligen Wachstumsraten sind vom Staatsbankrott bedroht, können sich nur noch mit Nothilfen des Internationalen Währungsfonds und der EU über Wasser halten. Osteuropa steht weltweit mit schätzungsweise 1,3 Billionen Euro in der Kreide. Wenn im Baltikum ein Viertel des kreditfinanzierten Konsums wegbreche, gleiche das dem Effekt eines Krieges, meint Daniel Gros vom Brüsseler ›Centre for European Policy Studies‹. Die vergangenen Monate haben bei vielen EU-Bürgern das vorhandene Bauchgefühl bestärkt, die Gemeinschaft habe sich übernommen – vor allem mit der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien 2007.«

Tatsächlich gibt es donauabwärts und östlich der Oder einige heftige Turbulenzen sehr unterschiedlicher Art. Es sind immer noch Staaten und Gesellschaften im Übergang. Vor zwanzig Jahren wäre niemandem eine solche Entwicklung auch nur im Traum eingefallen. In seinen Reflexionen über 1989 schreibt Adam Michnik: »Kein Oppositioneller sagte vor 1989, dass wir den Kapitalismus anstreben. Niemand forderte eine Privatisierung, niemand dachte daran. Und doch stellte sich heraus, dass diese absolut notwendig ist.« (»Verteidigung der Freiheit«, in: Osteuropa 2–3/09) Die Implosion des Sowjetimperiums, die Revolutionen in Ostmitteleuropa haben den jeweiligen Staaten und Staatsbürgern nicht einfach Zeit und freie Wahl gelassen, ein ökonomisches System nach Belieben aufzubauen. Die Diskussionen darüber, ob überhaupt Kapitalismus und wenn ja, welchen, wurden von der Wirklichkeit überrollt, lag doch das Kapital mit dem neuen Glücksversprechen vor der Tür, stellten in den 90er-Jahren György Konrád und andere, die nach einen »dritten Weg« suchten, wiederholt fest. Über Modelle konnte nicht erst diskutiert werden, es musste jener Kapitalismus angenommen werden, der real vorhanden war. Für die Rückkehrer nach Europa war klar, dass sie zurücklagen, hatte doch die tiefe Krise des sozialistischen Systems sie an den Rand des Ruins geführt. Sie waren »Transitionsländer«, ein sehr rentabler neuer Markt – und zwar bis heute – für die EU, Schwellenländer« mit besonderen Bedingungen und guten Aufholchancen, aber anfälliger für Krisen als die Kernländer des Kapitalismus selbst. Wer im Westen Europas jetzt von »Überspannung« redet, drückt nicht nur seine Geringschätzung für den revolutionären Kampf der Menschen dieser Länder um Demokratie aus, er übersieht auch die enormen Anstrengungen in diesem Aufholprozess.

 

Derzeit erleben die neuen Mitgliedsländer der EU und Osteuropa insgesamt eine schwere ökonomische Krise. Als Finanzkrise ist sie vor allem eine der großen westlichen Institute, die mit wenigen Ausnahmen den Kapitalmarkt in Ostmitteleuropa dominieren; laut Financial Times sind vor allem österreichische, schwedische, griechische und belgische Banken davon betroffen.

Das starke Engagement insbesondere österreichischer Banken wird des Öfteren »als Resultat einer verfehlten Entwicklungsstrategie« kritisiert (z. B. Joachim Becker: »Osteuropa vor dem Crash à la Argentina?«, Infobrief W&E 03–04/09). Das ist jedoch eine zweischneidige Sache. Zumindest wurden in Schweden und Österreich von Unternehmerverbänden, staatlichen Vertretern und Wirtschaftsfachleuten Strategien für die ökonomische Zusammenarbeit mit den Transitionsländern entwickelt (siehe etwa Karl Aiginger: »Jenseits von Keynesianismus und Neoliberalismus«, www.wifo.ac.at/Karl.Aiginger). In der Praxis haben wohl die »Möglichkeiten« und die Unerfahrenheit der Partner die Kapitaleigner »übermütig« bei der Teilhabe an der globalen Finanzrallye werden lassen, woran sich einheimische Banken wie die lettische Parex-Bank dann beteiligt haben, die vor dem Crash nur durch Verstaatlichung bewahrt werden konnte.

Eine importierte Krise also? Die konservative polnische Rzeczpospolita (10.3.) legt dazu eine recht verbreitete Ansicht auf: »Jetzt wurde dieses Paradigma durch Angela Merkel und Nicolas Sarkozy etwas modifiziert: Natürlich haben die USA das Krisen-Virus verbreitet, doch wurde es erst in Osteuropa richtig bösartig und bedrohlich.«

Auch im Westen erscheint sie vielen als »importierte Krise« – so auch der Untertitel von Reinhold Vetters Artikel »Turbulenzen und Konsequenzen« (Osteuropa 12/08): »Zum ersten Mal seit der Errichtung der Marktwirtschaft vor knapp zwei Jahrzehnten haben die EU-Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in dieser Schärfe die Erfahrung gemacht, dass die Stabilität ihrer Währungen nicht davon abhängt, ob ihre wirtschaftlichen Fundamente stabil sind, sondern mitunter auch sehr stark von dem Geschehen auf den internationalen Finanzmärkten und vom Investitions-, um nicht zu sagen Spekulationsverhalten internationaler Anleger.« Groß ist das Staunen über die Verlaufsformen des globalisierten Kapitalismus, der sich bisher vorwiegend von seiner angenehmen Seite gezeigt hat. Dieser Unglaube liegt auch in den wiederkehrenden Beteuerungen, die Krise käme »aus Amerika«. Aus alter – und altmodischer – Gewohnheit denkt man immer noch eher geografisch als systemisch.

Studien verschiedener westlicher und östlicher Think Tanks und Medien betonen allerdings starke nationale Unterschiede. Das tschechische Wirtschaftblatt Hospodárské noviny schätzt am 25.2. die Lage so ein: »Tschechien hat fast keine Kredite in fremden Währungen gewährt ... die Banken sind nicht abhängig von Krediten auf dem Bankenmarkt. Die Slowakei und Slowenien werden in gewisser Weise durch den Euro geschützt ... Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind bedrohte Länder ... Litauen, Estland und Lettland: Dort übersteigen die Kredite dramatisch die Bankeinlagen. ... Die Investoren können so schwerlich Mittel- und Osteuropa in einen Topf werfen.« Allerdings steckt Tschechien in einer kräftigen politischen Krise.

 

Das Hauptproblem liegt – entsprechend der gängigen monetaristischen Idee, die Geldzirkulation zu beschleunigen – in einem »hausgemachten Fremdwährungsproblem« (SWP-Studie »Krisen, Crashs und Hilfspakete«, März 2009). Denn das Zauberwort hieß Kredit. Kredite vor allem aus den reichen EU-Ländern, um den Konsum zu pushen. Das funktionierte auf Basis eines Wirtschaftswachstums, das zwar enorme Größen auswies, die jedoch wiederum trügerisch waren; denn diese »Größen« zeigen zwar die Einbindung in die globale Ökonomie, vor allem aber einen hohen Grad an Abhängigkeit.

Das Institut für deutsche Wirtschaft stellt zu den Besonderheiten osteuropäischer Wirtschaften fest (iwd Nr. 20, 14.5.09): »Ein Grund dafür (für den rapiden Einbruch, B. W.) ist die enge Verflechtung der osteuropäischen Volkswirtschaften mit dem Westen, denn ein Großteil der früheren Exportzuwächse Osteuropas ließ sich auf importierte Vorleistungen aus dem Westen zurückführen, die nunmehr ausbleiben.«

Nimmt man die Handelsbilanzen Polens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns –also der vier MOE-Staaten – zwischen 1995 und 2007, so wuchsen die Importe zwischen 225 bis 335 Prozent, die Exporte um 230 bis 360 Prozent. Das sind enorme Steigerungsraten, nämlich etwa das Dreifache vom OECD-Durchschnitt. Doch verschleiern diese Zahlen einen Sachverhalt ähnlich wie die doppelte Buchführung, nämlich dass aufgrund der Vorleistungen hier Posten sowohl unter Soll (Einfuhr) als auch unter Haben (Ausfuhr) aufscheinen. Im DIW-Bericht heißt es weiter: »Viele westliche Unternehmen nutzten in der Vergangenheit die gut qualifizierten und relativ günstigen Arbeitskräfte in Mittel- und Osteuropa für Offshoring-Geschäfte. Dabei liefert der Westen Vorleistungen – etwa Auto- oder Handyteile – nach Osten, wo sie zusammengebaut werden und anschließend als Re-Importe nach Westeuropa zurückwandern.«

Die industrielle Binnenleistung hingegen ist noch recht gering. Die vier MOE-Länder mit einer Bevölkerung von etwa 75 Prozent der Bundesrepublik kommen 2006 in der Produktion hochwertiger Industriegüter zusammen auf 2,13 Prozent der OECD-Wertschöpfung. Deutschland stellt mit 15,42 Prozent mehr als das Siebenfache.

Drei Viertel der Zuwächse gehen auf die Steigerung der Vorleistungen aus den westlichen EU-Staaten zurück. Der Einbruch dieser Vorleistungen hat nun katastrophale Auswirkungen sowohl auf die Produktion als auch auf die kreditfinanzierte Konsumtion, die in der Folge nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Diesen Aspekt zeigt die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von Michael Ehrke, »Die globale Krise an der europäischen Peripherie« auf (April 2009): »Ein hoher Anteil des Konsums insbesondere dauerhafter Güter (Autos) und des Immobilienerwerbs war kreditfinanziert und ein hoher Anteil dieser Kredite war in ausländischer Währung (Euro oder Schweizer Franken) aufgenommen worden.« Hier kracht es nun ähnlich wie auf dem US-Immobiliensektor.

 

Das destabilisiert die politische Lage. In Lettland stürzt die Regierung über den Bankenskandal und die strengen Konsolidierungsmaßnahmen (»Pinguin-Revolution«). Hier wie im gesamten Baltikum ist die Folie ein recht hoher Grad an »Nostalgie«: Umfragen ergeben Zustimmungswerte für das alte Regime durchwegs zwischen 40 und 50 Prozent, die Werte für die junge Demokratie liegen erst seit wenigen Jahren höher, bei und über 70 Prozent. Das verwundert nicht. Adam Michnik spricht von den »Gefahren der Freiheit«. Die Freiheit, Traum des Gefangenen, ist voll Schönheit und Chaos; im kommunistischen Gefängnis hingegen gab es Essenszeiten und einen Schlafplatz und eine feste Ordnung. Dem wird in Zeiten der Unsicherheit wieder stärker nachgetrauert.

Ungarn – ein weiterer Brennpunkt, wo eben die Regierung Gyurcsány den Hut nehmen musste – ist das Land mit den höchsten Fremdwährungskrediten und einem aus dem Ruder gelaufenen Staatshaushalt. Diese Krise wird noch gepeppt durch jahrzehntealten nationalen Extremismus, der in einer unbewältigten Identitätsproblematik wurzelt; durch den Kommunismus wurde ihr noch eine spezielle Variante beigemengt, sodass eine gefährliche Mischung entstand, jederzeit leicht entflammbar.

Allgemein gestiegen ist eine schwelende Unzufriedenheit gegenüber »Brüssel« und den beiden »Leitmächten« Frankreich und Deutschland. Die rumänische Cotidianul (6.3.) klagt: »Wir wissen jetzt, dass der berühmte Eiserne Vorhang niemals verschwunden ist. Man hat ihn nur so weit angehoben, dass darunter Arbeitskräfte ... Richtung Westen abwandern konnten.« Ein auch von polnischen Medien öfter erhobener Vorwurf, spezifiziert auf Frankreich und Deutschland, die die Zugangsbeschränkungen, anders als Großbritannien, Spanien und Skandinavien, noch nicht aufgehoben haben. Etwas tiefgründiger bedenkt in Evenimentul Zilei (9.4.) der rumänische Schriftsteller Horia-Roman Patapievici das Ost-West-Verhältnis in der EU, wenn er seinem Land einen Spiegel vorhält, es habe die EU bisher nur als Instrument für die »Abkehr aus der Unterentwicklung und die geopolitische Sicherheit« verwendet. »Während für die Polen das Vereinte Europa eine Idee ist, die bislang noch nicht vollzogen ist, ... scheint die Seele Europas bei uns auf den acquis communautaire reduziert zu sein.«

Kritik kommt auch vom angesehenen Brüsseler »Centre for European Policy Studies«, für das Piotr Maciej Kaczyński (»The European Commission 2004–09: A politically weakened institution?«) berichtet. Die Autorität der Kommission sei geschwächt, da sie unfähig gewesen sei, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu prognostizieren und angemessen zu reagieren. Ihr Mangel an Führung habe die großen nationalen Regierungen gestärkt. Das Gemeinschaftsrecht wurde in Richtung einiger Mitgliedsländer hin angewandt; großen Staaten wurde die strategische Anleitung überlassen, die EU funktionierte nicht mehr »als europäische Solidarität und Integration«. Eine »Schwächung der Institutionen« und eine »Verschiebung zwischen großen und kleinen Mitgliedsstaaten« sei eingetreten. Auch die Warnung vor Protektionismus klingt an.

Es gibt – das wird in Krisenzeiten wieder deutlich – Trennlinien in Europa, die durch Beitrittsakte nicht behoben werden. »Pech mit dem Kapitalismus«, meint Gunter Hofmann in der Zeit (26.3.) angesichts der wachsenden Skepsis in Osteuropa gegenüber der Marktwirtschaft. Der Skepsis will er, mit guten Kronzeugen, allerdings nicht folgen und meint skeptisch: »1989 wurde kein ›Gründungsmythos‹: Die Chance der Krise, so Adam Krzeminskis Argument, bestehe darin, dass Europa den ›Gründungsakt‹ nachholt, zu dem es 1989 nicht wirklich kam. Gelingt das?«

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009