Der Oberste Richter der
Bundesrepublik Deutschland, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
Hans-Jürgen Papier, hat erklärt: »Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass
sich das Grundgesetz im Wesentlichen bewährt hat und dass es die beste Verfassung
ist, die Deutschland je hatte.« Man mag solche Sätze
für floskelhaft halten. Vor dem Hintergrund einer politischen, moralischen und
wirtschaftlichen Katastrophe von Deutschland infolge des Faschismus ist jedoch
klar, dass – wie immer wir den aktuellen Zustand von Deutschland beurteilen –
wir ein Maß von grundgesetzlicher Freiheit, Sozialstaatlichkeit,
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden haben, das sich 1949 kaum jemand
getraut hätte zu erträumen. Das ist erreicht worden durch das Grundgesetz und
vor allem dadurch, dass sich Bürgerinnen und Bürger, gesellschaftliche, staatliche
und gerichtliche Institutionen konsensual darauf bezogen
haben. Nicht der Text, sondern die auf diesen Text bezogene gesellschaftliche
und politische Praxis hat den Text mit Leben erfüllt.
Das Grundgesetz ist im Laufe seiner Geschichte durch
52 Änderungsgesetze rechtstechnisch
umfangreich umgestaltet worden. 109 Artikel wurden geändert, aufgehoben oder
hinzugefügt. Grundsätzliche Umgestaltungen sind erfolgt durch die Wehrverfassung
(1956), durch die Notstandsgesetzgebung (1968), durch die Finanzverfassung
(1969), durch den Umbau des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung (1990,
1994) und durch die Föderalismusreform I (2006). Durch die Wehrverfassung
wurden die Bundeswehr und die Wehrpflicht eingeführt. Gesellschaftspolitisch
erfolgte damit eine Abkehr vom Pazifismus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zugleich
war die Wehrverfassung politischer Teil der Westintegration. Die
Notstandsgesetzgebung ermöglichte und regelte den Einsatz der Bundeswehr im
Inneren. Sie kam nie zur Anwendung, weil sie Unruhen im Inneren voraussetzte,
die es in dieser Form nie gab und geben wird. Durch die Finanzverfassung wurde
zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten die Gesamtheit der Steuern verteilt. Die
Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit ziehen
lediglich Konsequenzen aus zuvor getroffenen Entscheidungen über das Ob und Wie
der Deutschen Einheit. Die Föderalismusreform I hat zu Kompetenzverschiebungen
zwischen Bund und Ländern geführt, ohne die politischen Kräfteverhältnisse
zwischen ihnen zu verändern.
Für alle
Grundgesetzänderungen insgesamt gilt: Die Lesbarkeit und Verständlichkeit des
Grundgesetztextes hat durch viele Änderungen nachhaltig Schaden genommen. Wer
etwa Artikel 16a (Asylrecht), Artikel 23 (Europäische Union), Artikel 106
(Steuerertragsaufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden) oder Artikel 107
(Horizontale Steuerertragsaufteilung und Finanzausgleich unter den Ländern)
liest und wer nicht zugleich in dem geregelten Feld professionell tätig ist,
wird nur erahnen, was Inhalt dieser Bestimmungen ist. Die in Aussicht genommene
grundgesetzliche »Schuldenbremse« treibt den Prozess, in dem das Grundgesetz verunklart wird, weiter voran. Lesbarkeit und
Verständlichkeit sind keine Frage der »Verfassungsästhetik«, sondern berühren
einen Kern des Grundgesetzes. Wenn in diesem nicht mehr Grundsätzliches,
sondern Kleinkariertes geregelt wird aus Gründen, die ausschließlich mit
Parteitaktiken zu tun haben, darf man sich nicht wundern, wenn das Grundgesetz
für große Teile von Bürgerinnen und Bürgern unbekanntes Terrain ist. Bei
Meinungsumfragen in den Siebziger- und Achtzigerjahren vermutete eine übergroße
Mehrheit der Befragten den Satz: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«
(Artikel 20, Abs. 2 Satz 1) nicht als Inhalt des Grundgesetzes, sondern als
Bestandteil der DDR-Verfassung. Die Antworten heute wären nicht anders.
Ohne Änderung des
Grundgesetzes erfolgte der »Beitritt« der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.
Die sozialen, ökonomischen und politischen Grundlagen der DDR wurden komplett
umgestülpt, das gesellschaftliche und politische System in Deutschland verändert.
Insofern hätte es 1990 nahegelegen, statt des Weges
über Artikel 23 (Beitritt) den über Artikel 146 (Volksabstimmung) zu wählen.
Dieser Weg war nicht gewollt aus machtpolitischen Gründen und politisch hätte
er möglicherweise auch eine Überforderung dargestellt: Zwei Gesellschaften, die
aus ganz unterschiedlichen Gründen und auf ganz unterschiedliche Weise
politische Abstinenz geübt hatten, hätten kaum sinnvoll über eine gemeinsame
Verfassung diskutieren und entscheiden können.
Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist
charakterisiert durch ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement. Ein liebes Kind der Deutschen ist der Verein. Das
kulturelle Leben ist bunt. Theater werden durch bürgerschaftliches Engagement
am Leben erhalten, Museen und Kunsthallen sind besucht wie nie. Lokale
Bürgerinitiativen gibt es wie NGOs, deren
Wirkungskreis die Welt ist. Vielfältiges bürgerschaftliches Engagement nimmt
Meinungsfreiheit (Artikel 5 Abs. 1), Kunstfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), Versammlungsfreiheit
(Artikel 8 Abs. 1), Vereinigungsfreiheit (Artikel 9 Abs. 1) wahr und garantiert
damit zugleich deren Geltung. Das Bundesverfassungsgericht hat früh das Seine
zur Verwirklichung von grundgesetzlichen Freiheiten beigetragen: Im »Elfes-Urteil« wurden mit der allgemeinen Handlungsfreiheit
gemäß Artikel 2 Abs. 1 staatlicher Willkür Grenzen gesetzt. Im »Lüth-Urteil«
wurde der Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Abs. 1 Geltung verschafft. Auf
dieser Linie lagen auch spätere, politisch durchaus kontrovers bewertete Urteile
zur Versammlungsfreiheit (Brokdorf) und
Meinungsfreiheit (»Soldaten sind Mörder«). Wenig freiheitsverbürgend
tat sich das Bundesverfassungsgericht hervor bei der verfassungsrechtlichen
Bewertung des Radikalenerlasses von 1972. Zwar hielt das Bundesverfassungsgericht
die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation für nicht
ausreichend, einen Bewerber vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Vielmehr
sei die individuelle Prüfung jedes einzelnen Falls notwendig. Grundsätzlich
legitimierte es jedoch eine Einstellungspraxis, die die Gesinnung zum Anknüpfungspunkt
für rechtliche Sanktionen macht. Aus der Perspektive des Jahres 2009 ist die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Berufsverboten praktisch
weitgehend obsolet geworden. Dies liegt zum einen an der Veränderung
politischer Verhältnisse, zum anderen an der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes.
Mit dem »informationellen
Selbstbestimmungsrecht« hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil
von 1983 aktive Grundrechtsschöpfung betrieben. Das ist unter dem Aspekt der
Kompetenzen des Verfassungsgesetzgebers rechtspolitisch nicht problemlos, aber
nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass der Verfassungsgesetzgeber in den
letzten Jahren nie an die Ausweitung des Grundrechtskatalogs gedacht hat, sondern
nur initiativ geworden ist zur Einschränkung von Grundrechten. Das
»informationelle Selbstbestimmungsrecht« ist nach 1983 wiederholt Gegenstand
von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts gewesen, in denen Überwachungs- und
Datensammelwünschen des Staates Grenzen gesetzt worden sind. Die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, die dem informationellen Selbstbestimmungsrecht
hohen Rang einräumt, kontrastiert leider mit dem praktischen Verhalten vieler
Bürger und Bürgerinnen. Sie scheinen nicht genug von sich an andere preisgeben
zu können.
Die Geltungskraft von
Grundrechten wird in und unter den Bedingungen des Alltags relativiert.
Innerhalb von sozialen Hierarchien genießt die Meinungsfreiheit geringen Stellenwert.
Versammlungsfreiheit sieht sich mit kleinlichen behördlichen Restriktionen konfrontiert.
Insgesamt gilt, dass alle Grundrechte unter dem Vorbehalt stehen, das außerkonstitutionelle,
aber politisch überaus wirksame »Recht auf Sicherheit« nicht zu gefährden.
Vielleicht nicht untypisch für den Zustand der Grundrechte ist Artikel 3, Abs.
2. Danach sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Im Sinne dieser Verheißung
hat sich in den letzten 60 Jahren politisch, rechtlich und gesellschaftlich
viel getan. Zugleich bleibt vieles zu tun, wenn man etwa die Unterschiede in
den Lohnniveaus und den Aufstieg von Frauen in den Hierarchien betrachtet.
Die Eckpunkte der Wirtschaftsverfassung werden
gebildet durch die Gewährleistung
des Eigentums (Artikel 14 Abs. 1), der Koalitionsfreiheit (Artikel 9 Abs. 3)
sowie des Sozialstaatsprinzips (Artikel 20 Abs. 1). Innerhalb dieser
verfassungsrechtlichen Grenzen haben diverse Gesetze wie das Aktiengesetz, das
GmbH-Gesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz zur
rechtlichen Verfasstheit des »Rheinischen Kapitalismus« geführt. Danach sind
die Eigentümer grundsätzlich verantwortlich für wirtschaftliche Entscheidungen;
die Vergütungen werden zwischen den Tarifparteien geregelt. Soziale und
personelle Auswirkungen von wirtschaftlichen Entscheidungen sind auf
unterschiedliche Weise mitbestimmungsrelevant. Außerhalb der betrieblichen
Sphäre schützt das Sozialrecht vor gesellschaftlichen Risiken wie Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Berufsunfall. Die Grundstruktur des »Rheinischen Kapitalismus« wurde
in den Fünfzigerjahren gelegt, und sie hat zu beträchtlichem Wohlstand geführt.
Versuche, in den Siebzigerjahren über die gesetzliche Verankerung der
»Paritätischen Mitbestimmung« gewerkschaftliche Macht zu vergrößern, wurden vom
Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig gehalten und der Kapitalseite
Vorrang eingeräumt. Gewerkschaftliche Einflussmöglichkeiten wurden überdies
gemindert durch die rechtliche Anerkennung der Aussperrung als Mittel des
Arbeitskampfes. Zugleich schwächte die Globalisierung die Gewerkschaften. Das
führte zur sinkenden Attraktivität der Gewerkschaften.
Die Wirtschaftsverfassung
steht infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise vor einer neuen Herausforderung:
Wenn es Unternehmen gibt, für die der Satz gilt: »too
big to fail« und wenn es
»systemrelevante« Banken gibt, so heißt das, dass Unternehmen und Banken vor
den Konsequenzen eines marktwirtschaftlichen Systems – Insolvenz – geschützt
werden. Die Drohung der Insolvenz ist jedoch Motor für Innovationskraft. Wenn
ein Unternehmen oder eine Bank staatlich geschützt nicht mehr insolvent werden
kann, ist mithin die Legitimationsgrundlage der sozialen Marktwirtschaft
berührt. Als Konsequenz daraus könnte politisch eine neue Ordnungspolitik
resultieren, die die Größe von Marktteilnehmern beschränkt: Marktteilnehmer
dürfen nicht die Größe erreichen, die sie »systemrelevant« werden lässt. Daraus
könnte politisch auch die Konsequenz gezogen werden, die Rechte von
Beschäftigten und Gewerkschaften zu erweitern, weil diese als Steuerbürger für
den staatlichen Schutzschild einstehen müssen. Insoweit darf man gespannt sein,
ob die Parteien die Finanz- und Wirtschaftskrise zur Ausnahme erklären und
mithin an dem festhalten, was sie zuvor propagiert hatten. Denkbar ist auch,
dass sich im Zuge der weiteren Debatten Modelle für eine andere
Wirtschaftsverfassung entwickeln. In deren Mittelpunkt dürfte die Frage stehen,
wie die Eigentumsgarantie des Artikel 14 interpretiert
oder neu interpretiert werden muss.
Die Verfasstheit der politischen Ordnung ist durch
das Konzept der repräsentativen
Demokratie (Artikel 20 Abs. 1 und Artikel 20 Abs. 2), die Mitwirkungsbefugnis
der Parteien bei der politischen Willensbildung (Artikel 21) sowie das Prinzip
des freien Mandats (Artikel 38 Abs. 1) charakterisiert. Innerhalb dieser
Grenzen haben das Mehrheitswahlrecht in Kombination
mit der Fünf-Prozent-Klausel eine Kanalisierung des denkbaren politischen
Spektrums bewirkt. Gleiches bewirkten und bewirken
Parteiverbote, aber auch deren medial inszenierte Androhung. Ungeachtet dessen
hat sich in den letzten Jahren in Deutschland ein Fünf-Parteien-Spektrum
entwickelt, das sowohl im Bundestag als auch in den Landtagen existiert und
Mehrheitsbildungen schwierig macht. Mit der Ausdifferenzierung des politischen
Spektrums ist das Vertrauen gegenüber Politik nicht gestiegen. Der Beruf des
Politikers sowie der Politikerin gehört zu den Berufen, die wenig Ansehen
genießen. Die Zahl der Personen, die sich in Parteien engagieren, sinkt seit
Jahren kontinuierlich. Die Vielfalt der Verantwortlichkeiten zwischen Kommune,
Land, Bund und Europa macht es schwer, unterschiedliche Politiken zu
unterscheiden. Die Ausdifferenzierung von Politik in diverse Fachpolitiken
schafft undurchdringliche Expertenwelten, die sich dem Alltagswissen
verschließen. Politische Mittel wie Dramatisierung, Inszenierung und Skandalisierung sind Bürgerinnen und Bürgern fremd und
gelten ihnen eher als suspekt. Die Professionalisierung von Politik schafft
einen Typus von Politiker/Politikerin, der auf alles Antworten hat und der doch
nur als aalglatt gilt. Politikverdrossenheit und Politikferne von Bürgerinnen
und Bürgern haben zugenommen. Wahlen haben ihren Charakter verändert. Sie waren
Ausdruck von Gesinnungen und sind nun Ausdruck von Stimmungen.
Versuche der Grünen, mit
Mitteln wie »Trennung von Amt und Mandat« und »Rotation« die politische Kultur
zu verändern, sind gescheitert. In großer Unübersichtlichkeit sind einzelne
deutlich wahrnehmbare und unterscheidbare Persönlichkeiten in Parteien politische
Orientierungspunkte für Bürgerinnen und Bürger. Es ist kontraproduktiv, diese Orientierungspunkte
zu beseitigen oder zu verkleinern.
Von Zeit zu Zeit kommt das
Ausmaß von Politikverdrossenheit in parlamentarischen Debatten zum Ausdruck, in
denen um die Erhöhung der Beträge der Parteienfinanzierung oder die Erhöhung
der Diäten gestritten wird. Der öffentliche Aufschrei ist normal. Zu einem Teil
ist er verständlich vor dem Hintergrund von gesetzlichen Regelungen, die
widersprüchlich und intransparent waren und sind und
vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die auf
entsprechende Gesetze ihrerseits widersprüchlich reagierte. Hier ist Vertrauen
verloren gegangen und es ist bekanntlich viel leichter, Vertrauen zu verlieren
als Vertrauen zu gewinnen. Zu einem anderen Teil ist mancher öffentliche
Aufschrei irrational, weil in ihm die Sehnsucht nach einem Typus von Politiker
aufscheint, der sich durch Selbstlosigkeit auszeichnet und den es sonst
nirgends in der Welt gibt, aber in der Politik geben soll.
Politikverdrossenheit und
Politikferne sind für alle Parteien ein schwer gängiges Thema: Zum einen neigen
sie institutionell dazu, das Problem ausschließlich den anderen Parteien und
deren Politik anzulasten. Sie sehen sich mithin nicht als Teil, sondern als Lösung
des Problems. Zum anderen ist es schwierig für Politik und für politische
Parteien, die Haltung von Bürgern und Bürgerinnen, die sich als Zuschauer
verstehen, zu verändern. In der »Zuschauerdemokratie« sind die Zuschauer
Wählerinnen und Wähler, die man nicht verprellen will. Medien tun das ihre, um
das Thema Politikverdrossenheit und Parteienferne einseitig zu diskutieren.
Auch sie verorten das Problem ausschließlich in der Politik und in politischen
Parteien; auch insoweit gilt, dass Bürger und Bürgerinnen zugleich Hörer und
Hörerinnen und Leser und Leserinnen sind, die die Medien durch Wohlwollen an
sich binden wollen.
Ein Mittel gegen
Politikverdrossenheit und Politikferne von Bürgern und Bürgerinnen könnte die
Einführung von plebiszitären Komponenten im Grundgesetz sein. Einerseits werden
dadurch Bürgerinnen und Bürger angeregt, sich zu entscheiden und sich ihrer
Entscheidung zu vergewissern. Andererseits müssen sich Parteien bei Plebisziten
stärker auf die Sichtweise von Bürgerinnen und Bürgern einlassen, als sie es
üblicherweise tun, und ihr reflexhafter und ritualisierter Umgang zueinander könnte aufgebrochen werden.
Allerdings: Nichts würde Parteien hindern, Volksentscheide zu instrumentalisieren.
Nichts würde Bürger und Bürgerinnen hindern, weiterhin die Zuschauerrolle zu
pflegen.
Viele Grundgesetzänderungen haben den Kern des
Grundgesetzes von 1949 verwässert und verunklart. Modernisierungsbedarf des Grundgesetzes ist also
vorhanden. Modernisierungsbedarf des Grundgesetzes besteht auch aus anderen
Gründen: Wenn es zutreffend ist, dass die Mehrzahl aller Entscheidungen des
Bundesgesetzgebers determiniert wird durch Entscheidungen der EU, so spiegelt
sich dieser Zustand nur unzureichend und rudimentär in Artikel 23 wider. Auch
Entscheidungen etwa der G 8 oder G 20, bei denen zu Recht über globale Probleme
im globalen Rahmen beraten und entschieden wird, finden außerhalb des
Grundgesetzes statt, obwohl sie den politischen Meinungs-, Willenbildungs- und
Entscheidungsprozess determinieren. EU-weite und globale Zusammenarbeit haben
bewirkt, dass das Grundgesetz in Wahrheit nicht mehr das Grundgesetz ist. Der
politische Rahmen, der durch das Grundgesetz gestaltet wird, ist objektiv und
ohne Änderung des Grundgesetztextes kleiner geworden und die für das politische
und gesellschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlichen
Entscheidungen sind nicht ausschließlich oder gar nicht im Grundgesetz
verankert. Die demokratische Legitimationskette ist länger geworden. Das ist verfassungsrechtlich
möglicherweise unproblematisch, verfassungspolitisch jedoch schlecht.
Wenn man die Frage bejaht,
ob das Grundgesetz modernisiert werden sollte, stellt sich die nächste Frage,
in welchen Verfahren das stattfinden soll. Würde man das im Grundgesetz übliche
Verfahren anwenden, müssten also Bundestag und Bundesrat mit den erforderlichen
Mehrheiten einem Gesetz zur Modernisierung des Grundgesetzes zustimmen, so kann
man in ein solches Verfahren keine Hoffnungen setzen. Alle Beteiligten in
diesem Verfahren werden die Ergebnisse von Beratungen, Expertengesprächen,
Runden Tischen und Eingaben vor allem aus der Perspektive betrachten, ob ihnen
Machtverlust droht, der anderen zuwächst, und ob es ihnen gelingt,
Interessenverbände zu binden, indem sie deren Forderungen ganz oder teilweise
übernehmen. Das Grundgesetz würde aufgeladen durch Symbolik, indem der Sport,
die Bildung, die Kinder, die Kultur grundgesetzliche Erwähnung fänden und alles
Schlechte verdammt würde. Grundgesetzmodernisierung würde unter dem Aspekt
stattfinden: Keinen verprellen, alles (symbolisch) berücksichtigen, nichts
(wirklich) entscheiden bei strikter Wahrung der politischen Machtverhältnisse.
Eine solche Verfassungsmodernisierung würde die normative Kraft der Verfassung
schwächen, den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränken
und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bestärken.
Das Grundgesetz müsste
modernisiert werden, aber es besteht wenig Hoffnung, dass das geschieht. Hoffen
wir trotzdem. Demokratie heißt, kontrafaktisch zu
erwarten.