Uwe Günther

60 Jahre Grundgesetz – und läuft und läuft?

Stationen seiner Änderungen, Stationen der Politik

 

Gesellschaftliche und politische Praxis hat das Grundgesetz mit Leben erfüllt. Auch wenn der Text durch zahlreiche, auch parteitaktische Änderungen »verunklart« wurde, hat er zur Ausdifferenzierung der politischen Landschaft beigetragen. Die jeweiligen Veränderungen haben jedoch das Vertrauen zu Politikern und zur Politik nicht unbedingt gestärkt. In jüngerer Zeit wird die Stellung des Grundgesetzes zudem durch europäisches Recht eingeschränkt. Braucht es eine »Modernisierung«? Das wäre kein leichtes Unterfangen.

 

Der Oberste Richter der Bundesrepublik Deutschland, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, hat erklärt: »Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass sich das Grundgesetz im Wesentlichen bewährt hat und dass es die beste Verfassung ist, die Deutschland je hatte Man mag solche Sätze für floskelhaft halten. Vor dem Hintergrund einer politischen, moralischen und wirtschaftlichen Katastrophe von Deutschland infolge des Faschismus ist jedoch klar, dass – wie immer wir den aktuellen Zustand von Deutschland beurteilen – wir ein Maß von grundgesetzlicher Freiheit, Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden haben, das sich 1949 kaum jemand getraut hätte zu erträumen. Das ist erreicht worden durch das Grundgesetz und vor allem dadurch, dass sich Bürgerinnen und Bürger, gesellschaftliche, staatliche und gerichtliche Institutionen konsensual darauf bezogen haben. Nicht der Text, sondern die auf diesen Text bezogene gesellschaftliche und politische Praxis hat den Text mit Leben erfüllt.

 

Das Grundgesetz ist im Laufe seiner Geschichte durch 52 Änderungsgesetze rechtstechnisch umfangreich umgestaltet worden. 109 Artikel wurden geändert, aufgehoben oder hinzugefügt. Grundsätzliche Umgestaltungen sind erfolgt durch die Wehrverfassung (1956), durch die Notstandsgesetzgebung (1968), durch die Finanzverfassung (1969), durch den Umbau des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung (1990, 1994) und durch die Föderalismusreform I (2006). Durch die Wehrverfassung wurden die Bundeswehr und die Wehrpflicht eingeführt. Gesellschaftspolitisch erfolgte damit eine Abkehr vom Pazifismus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zugleich war die Wehrverfassung politischer Teil der Westintegration. Die Notstandsgesetzgebung ermöglichte und regelte den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Sie kam nie zur Anwendung, weil sie Unruhen im Inneren voraussetzte, die es in dieser Form nie gab und geben wird. Durch die Finanzverfassung wurde zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten die Gesamtheit der Steuern verteilt. Die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit ziehen lediglich Konsequenzen aus zuvor getroffenen Entscheidungen über das Ob und Wie der Deutschen Einheit. Die Föderalismusreform I hat zu Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern geführt, ohne die politischen Kräfteverhältnisse zwischen ihnen zu verändern.

Für alle Grundgesetzänderungen insgesamt gilt: Die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Grundgesetztextes hat durch viele Änderungen nachhaltig Schaden genommen. Wer etwa Artikel 16a (Asylrecht), Artikel 23 (Europäische Union), Artikel 106 (Steuerertragsaufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden) oder Artikel 107 (Horizontale Steuerertragsaufteilung und Finanzausgleich unter den Ländern) liest und wer nicht zugleich in dem geregelten Feld professionell tätig ist, wird nur erahnen, was Inhalt dieser Bestimmungen ist. Die in Aussicht genommene grundgesetzliche »Schuldenbremse« treibt den Prozess, in dem das Grundgesetz verunklart wird, weiter voran. Lesbarkeit und Verständlichkeit sind keine Frage der »Verfassungsästhetik«, sondern berühren einen Kern des Grundgesetzes. Wenn in diesem nicht mehr Grundsätzliches, sondern Kleinkariertes geregelt wird aus Gründen, die ausschließlich mit Parteitaktiken zu tun haben, darf man sich nicht wundern, wenn das Grundgesetz für große Teile von Bürgerinnen und Bürgern unbekanntes Terrain ist. Bei Meinungsumfragen in den Siebziger- und Achtzigerjahren vermutete eine übergroße Mehrheit der Befragten den Satz: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« (Artikel 20, Abs. 2 Satz 1) nicht als Inhalt des Grundgesetzes, sondern als Bestandteil der DDR-Verfassung. Die Antworten heute wären nicht anders.

Ohne Änderung des Grundgesetzes erfolgte der »Beitritt« der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Die sozialen, ökonomischen und politischen Grundlagen der DDR wurden komplett umgestülpt, das gesellschaftliche und politische System in Deutschland verändert. Insofern hätte es 1990 nahegelegen, statt des Weges über Artikel 23 (Beitritt) den über Artikel 146 (Volksabstimmung) zu wählen. Dieser Weg war nicht gewollt aus machtpolitischen Gründen und politisch hätte er möglicherweise auch eine Überforderung dargestellt: Zwei Gesellschaften, die aus ganz unterschiedlichen Gründen und auf ganz unterschiedliche Weise politische Abstinenz geübt hatten, hätten kaum sinnvoll über eine gemeinsame Verfassung diskutieren und entscheiden können.

 

Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist charakterisiert durch ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement. Ein liebes Kind der Deutschen ist der Verein. Das kulturelle Leben ist bunt. Theater werden durch bürgerschaftliches Engagement am Leben erhalten, Museen und Kunsthallen sind besucht wie nie. Lokale Bürgerinitiativen gibt es wie NGOs, deren Wirkungskreis die Welt ist. Vielfältiges bürgerschaftliches Engagement nimmt Meinungsfreiheit (Artikel 5 Abs. 1), Kunstfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Abs. 1), Vereinigungsfreiheit (Artikel 9 Abs. 1) wahr und garantiert damit zugleich deren Geltung. Das Bundesverfassungsgericht hat früh das Seine zur Verwirklichung von grundgesetzlichen Freiheiten beigetragen: Im »Elfes-Urteil« wurden mit der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Artikel 2 Abs. 1 staatlicher Willkür Grenzen gesetzt. Im »Lüth-Urteil« wurde der Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Abs. 1 Geltung verschafft. Auf dieser Linie lagen auch spätere, politisch durchaus kontrovers bewertete Urteile zur Versammlungsfreiheit (Brokdorf) und Meinungsfreiheit (»Soldaten sind Mörder«). Wenig freiheitsverbürgend tat sich das Bundesverfassungsgericht hervor bei der verfassungsrechtlichen Bewertung des Radikalenerlasses von 1972. Zwar hielt das Bundesverfassungsgericht die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation für nicht ausreichend, einen Bewerber vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Vielmehr sei die individuelle Prüfung jedes einzelnen Falls notwendig. Grundsätzlich legitimierte es jedoch eine Einstellungspraxis, die die Gesinnung zum Anknüpfungspunkt für rechtliche Sanktionen macht. Aus der Perspektive des Jahres 2009 ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Berufsverboten praktisch weitgehend obsolet geworden. Dies liegt zum einen an der Veränderung politischer Verhältnisse, zum anderen an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes.

Mit dem »informationellen Selbstbestimmungsrecht« hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil von 1983 aktive Grundrechtsschöpfung betrieben. Das ist unter dem Aspekt der Kompetenzen des Verfassungsgesetzgebers rechtspolitisch nicht problemlos, aber nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass der Verfassungsgesetzgeber in den letzten Jahren nie an die Ausweitung des Grundrechtskatalogs gedacht hat, sondern nur initiativ geworden ist zur Einschränkung von Grundrechten. Das »informationelle Selbstbestimmungsrecht« ist nach 1983 wiederholt Gegenstand von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts gewesen, in denen Überwachungs- und Datensammelwünschen des Staates Grenzen gesetzt worden sind. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dem informationellen Selbstbestimmungsrecht hohen Rang einräumt, kontrastiert leider mit dem praktischen Verhalten vieler Bürger und Bürgerinnen. Sie scheinen nicht genug von sich an andere preisgeben zu können.

Die Geltungskraft von Grundrechten wird in und unter den Bedingungen des Alltags relativiert. Innerhalb von sozialen Hierarchien genießt die Meinungsfreiheit geringen Stellenwert. Versammlungsfreiheit sieht sich mit kleinlichen behördlichen Restriktionen konfrontiert. Insgesamt gilt, dass alle Grundrechte unter dem Vorbehalt stehen, das außerkonstitutionelle, aber politisch überaus wirksame »Recht auf Sicherheit« nicht zu gefährden. Vielleicht nicht untypisch für den Zustand der Grundrechte ist Artikel 3, Abs. 2. Danach sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Im Sinne dieser Verheißung hat sich in den letzten 60 Jahren politisch, rechtlich und gesellschaftlich viel getan. Zugleich bleibt vieles zu tun, wenn man etwa die Unterschiede in den Lohnniveaus und den Aufstieg von Frauen in den Hierarchien betrachtet.

 

Die Eckpunkte der Wirtschaftsverfassung werden gebildet durch die Gewährleistung des Eigentums (Artikel 14 Abs. 1), der Koalitionsfreiheit (Artikel 9 Abs. 3) sowie des Sozialstaatsprinzips (Artikel 20 Abs. 1). Innerhalb dieser verfassungsrechtlichen Grenzen haben diverse Gesetze wie das Aktiengesetz, das GmbH-Gesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz zur rechtlichen Verfasstheit des »Rheinischen Kapitalismus« geführt. Danach sind die Eigentümer grundsätzlich verantwortlich für wirtschaftliche Entscheidungen; die Vergütungen werden zwischen den Tarifparteien geregelt. Soziale und personelle Auswirkungen von wirtschaftlichen Entscheidungen sind auf unterschiedliche Weise mitbestimmungsrelevant. Außerhalb der betrieblichen Sphäre schützt das Sozialrecht vor gesellschaftlichen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsunfall. Die Grundstruktur des »Rheinischen Kapitalismus« wurde in den Fünfzigerjahren gelegt, und sie hat zu beträchtlichem Wohlstand geführt. Versuche, in den Siebzigerjahren über die gesetzliche Verankerung der »Paritätischen Mitbestimmung« gewerkschaftliche Macht zu vergrößern, wurden vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig gehalten und der Kapitalseite Vorrang eingeräumt. Gewerkschaftliche Einflussmöglichkeiten wurden überdies gemindert durch die rechtliche Anerkennung der Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes. Zugleich schwächte die Globalisierung die Gewerkschaften. Das führte zur sinkenden Attraktivität der Gewerkschaften.

Die Wirtschaftsverfassung steht infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise vor einer neuen Herausforderung: Wenn es Unternehmen gibt, für die der Satz gilt: »too big to fail« und wenn es »systemrelevante« Banken gibt, so heißt das, dass Unternehmen und Banken vor den Konsequenzen eines marktwirtschaftlichen Systems – Insolvenz – geschützt werden. Die Drohung der Insolvenz ist jedoch Motor für Innovationskraft. Wenn ein Unternehmen oder eine Bank staatlich geschützt nicht mehr insolvent werden kann, ist mithin die Legitimationsgrundlage der sozialen Marktwirtschaft berührt. Als Konsequenz daraus könnte politisch eine neue Ordnungspolitik resultieren, die die Größe von Marktteilnehmern beschränkt: Marktteilnehmer dürfen nicht die Größe erreichen, die sie »systemrelevant« werden lässt. Daraus könnte politisch auch die Konsequenz gezogen werden, die Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften zu erweitern, weil diese als Steuerbürger für den staatlichen Schutzschild einstehen müssen. Insoweit darf man gespannt sein, ob die Parteien die Finanz- und Wirtschaftskrise zur Ausnahme erklären und mithin an dem festhalten, was sie zuvor propagiert hatten. Denkbar ist auch, dass sich im Zuge der weiteren Debatten Modelle für eine andere Wirtschaftsverfassung entwickeln. In deren Mittelpunkt dürfte die Frage stehen, wie die Eigentumsgarantie des Artikel 14 interpretiert oder neu interpretiert werden muss.

 

Die Verfasstheit der politischen Ordnung ist durch das Konzept der repräsentativen Demokratie (Artikel 20 Abs. 1 und Artikel 20 Abs. 2), die Mitwirkungsbefugnis der Parteien bei der politischen Willensbildung (Artikel 21) sowie das Prinzip des freien Mandats (Artikel 38 Abs. 1) charakterisiert. Innerhalb dieser Grenzen haben das Mehrheitswahlrecht in Kombination mit der Fünf-Prozent-Klausel eine Kanalisierung des denkbaren politischen Spektrums bewirkt. Gleiches bewirkten und bewirken Parteiverbote, aber auch deren medial inszenierte Androhung. Ungeachtet dessen hat sich in den letzten Jahren in Deutschland ein Fünf-Parteien-Spektrum entwickelt, das sowohl im Bundestag als auch in den Landtagen existiert und Mehrheitsbildungen schwierig macht. Mit der Ausdifferenzierung des politischen Spektrums ist das Vertrauen gegenüber Politik nicht gestiegen. Der Beruf des Politikers sowie der Politikerin gehört zu den Berufen, die wenig Ansehen genießen. Die Zahl der Personen, die sich in Parteien engagieren, sinkt seit Jahren kontinuierlich. Die Vielfalt der Verantwortlichkeiten zwischen Kommune, Land, Bund und Europa macht es schwer, unterschiedliche Politiken zu unterscheiden. Die Ausdifferenzierung von Politik in diverse Fachpolitiken schafft undurchdringliche Expertenwelten, die sich dem Alltagswissen verschließen. Politische Mittel wie Dramatisierung, Inszenierung und Skandalisierung sind Bürgerinnen und Bürgern fremd und gelten ihnen eher als suspekt. Die Professionalisierung von Politik schafft einen Typus von Politiker/Politikerin, der auf alles Antworten hat und der doch nur als aalglatt gilt. Politikverdrossenheit und Politikferne von Bürgerinnen und Bürgern haben zugenommen. Wahlen haben ihren Charakter verändert. Sie waren Ausdruck von Gesinnungen und sind nun Ausdruck von Stimmungen.

Versuche der Grünen, mit Mitteln wie »Trennung von Amt und Mandat« und »Rotation« die politische Kultur zu verändern, sind gescheitert. In großer Unübersichtlichkeit sind einzelne deutlich wahrnehmbare und unterscheidbare Persönlichkeiten in Parteien politische Orientierungspunkte für Bürgerinnen und Bürger. Es ist kontraproduktiv, diese Orientierungspunkte zu beseitigen oder zu verkleinern.

Von Zeit zu Zeit kommt das Ausmaß von Politikverdrossenheit in parlamentarischen Debatten zum Ausdruck, in denen um die Erhöhung der Beträge der Parteienfinanzierung oder die Erhöhung der Diäten gestritten wird. Der öffentliche Aufschrei ist normal. Zu einem Teil ist er verständlich vor dem Hintergrund von gesetzlichen Regelungen, die widersprüchlich und intransparent waren und sind und vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die auf entsprechende Gesetze ihrerseits widersprüchlich reagierte. Hier ist Vertrauen verloren gegangen und es ist bekanntlich viel leichter, Vertrauen zu verlieren als Vertrauen zu gewinnen. Zu einem anderen Teil ist mancher öffentliche Aufschrei irrational, weil in ihm die Sehnsucht nach einem Typus von Politiker aufscheint, der sich durch Selbstlosigkeit auszeichnet und den es sonst nirgends in der Welt gibt, aber in der Politik geben soll.

Politikverdrossenheit und Politikferne sind für alle Parteien ein schwer gängiges Thema: Zum einen neigen sie institutionell dazu, das Problem ausschließlich den anderen Parteien und deren Politik anzulasten. Sie sehen sich mithin nicht als Teil, sondern als Lösung des Problems. Zum anderen ist es schwierig für Politik und für politische Parteien, die Haltung von Bürgern und Bürgerinnen, die sich als Zuschauer verstehen, zu verändern. In der »Zuschauerdemokratie« sind die Zuschauer Wählerinnen und Wähler, die man nicht verprellen will. Medien tun das ihre, um das Thema Politikverdrossenheit und Parteienferne einseitig zu diskutieren. Auch sie verorten das Problem ausschließlich in der Politik und in politischen Parteien; auch insoweit gilt, dass Bürger und Bürgerinnen zugleich Hörer und Hörerinnen und Leser und Leserinnen sind, die die Medien durch Wohlwollen an sich binden wollen.

Ein Mittel gegen Politikverdrossenheit und Politikferne von Bürgern und Bürgerinnen könnte die Einführung von plebiszitären Komponenten im Grundgesetz sein. Einerseits werden dadurch Bürgerinnen und Bürger angeregt, sich zu entscheiden und sich ihrer Entscheidung zu vergewissern. Andererseits müssen sich Parteien bei Plebisziten stärker auf die Sichtweise von Bürgerinnen und Bürgern einlassen, als sie es üblicherweise tun, und ihr reflexhafter und ritualisierter Umgang zueinander könnte aufgebrochen werden. Allerdings: Nichts würde Parteien hindern, Volksentscheide zu instrumentalisieren. Nichts würde Bürger und Bürgerinnen hindern, weiterhin die Zuschauerrolle zu pflegen.

 

Viele Grundgesetzänderungen haben den Kern des Grundgesetzes von 1949 verwässert und verunklart. Modernisierungsbedarf des Grundgesetzes ist also vorhanden. Modernisierungsbedarf des Grundgesetzes besteht auch aus anderen Gründen: Wenn es zutreffend ist, dass die Mehrzahl aller Entscheidungen des Bundesgesetzgebers determiniert wird durch Entscheidungen der EU, so spiegelt sich dieser Zustand nur unzureichend und rudimentär in Artikel 23 wider. Auch Entscheidungen etwa der G 8 oder G 20, bei denen zu Recht über globale Probleme im globalen Rahmen beraten und entschieden wird, finden außerhalb des Grundgesetzes statt, obwohl sie den politischen Meinungs-, Willenbildungs- und Entscheidungsprozess determinieren. EU-weite und globale Zusammenarbeit haben bewirkt, dass das Grundgesetz in Wahrheit nicht mehr das Grundgesetz ist. Der politische Rahmen, der durch das Grundgesetz gestaltet wird, ist objektiv und ohne Änderung des Grundgesetztextes kleiner geworden und die für das politische und gesellschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlichen Entscheidungen sind nicht ausschließlich oder gar nicht im Grundgesetz verankert. Die demokratische Legitimationskette ist länger geworden. Das ist verfassungsrechtlich möglicherweise unproblematisch, verfassungspolitisch jedoch schlecht.

Wenn man die Frage bejaht, ob das Grundgesetz modernisiert werden sollte, stellt sich die nächste Frage, in welchen Verfahren das stattfinden soll. Würde man das im Grundgesetz übliche Verfahren anwenden, müssten also Bundestag und Bundesrat mit den erforderlichen Mehrheiten einem Gesetz zur Modernisierung des Grundgesetzes zustimmen, so kann man in ein solches Verfahren keine Hoffnungen setzen. Alle Beteiligten in diesem Verfahren werden die Ergebnisse von Beratungen, Expertengesprächen, Runden Tischen und Eingaben vor allem aus der Perspektive betrachten, ob ihnen Machtverlust droht, der anderen zuwächst, und ob es ihnen gelingt, Interessenverbände zu binden, indem sie deren Forderungen ganz oder teilweise übernehmen. Das Grundgesetz würde aufgeladen durch Symbolik, indem der Sport, die Bildung, die Kinder, die Kultur grundgesetzliche Erwähnung fänden und alles Schlechte verdammt würde. Grundgesetzmodernisierung würde unter dem Aspekt stattfinden: Keinen verprellen, alles (symbolisch) berücksichtigen, nichts (wirklich) entscheiden bei strikter Wahrung der politischen Machtverhältnisse. Eine solche Verfassungsmodernisierung würde die normative Kraft der Verfassung schwächen, den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränken und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bestärken.

Das Grundgesetz müsste modernisiert werden, aber es besteht wenig Hoffnung, dass das geschieht. Hoffen wir trotzdem. Demokratie heißt, kontrafaktisch zu erwarten.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009