Elisabeth Kiderlen

Wie Schach spielen mit einem Gorilla

Die Islamische Republik vor der Wahl

 

Wieder einmal steht der Iran vor wichtigen Entscheidungen. Werden die Präsidenten-Wahlen ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen sein – oder setzen sich wieder die konservativen Kräfte durch? Frauenbewegung und weitere Kräfte der Zivilgesellschaft haben diesmal von einem Boykott der Wahlen Abstand genommen. Denn letzthin hatte er Ahmadinejad genutzt.

 

Wir müssen achtsam sein gegenüber der Gefahr eines sanften Umsturzes durch Wahlen. Die Feinde der Islamischen Republik sinnen auf den Sturz der Regierung und wollen einen Präsidenten installieren, der ihnen und ihren Zielen nähersteht Ayatollah Janati, der 83-jährige Sekretär des mächtigen Wächterrats, der alle Kandidaten auf ihre Tauglichkeit für politische Ämter prüft, schwört seinen Stab vor den Wahlen auf Wachsamkeit ein. Er lobt den jetzigen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad und betont die »wichtige Rolle des Wächterrats für den Ausgang der Wahlen« und »dessen große Verantwortung bei der Kontrolle der Wahlurnen«. (rooz-online, 5.4.09)

Auch Mohammad Ali Jafari, Kommandant der Revolutionswächter (Pasdaran), spricht von der Gefahr einer »samtenen Revolution«. Der Feind führe einen »Kulturkrieg«, nachdem er bemerkt hat, dass er das iranische Volk und seine revolutionäre Regierung nicht durch militärische Drohungen einschüchtern  kann. Die wichtigste und wesentlichste Aufgabe der Basidji (der zumeist jungen islamistischen Milizionäre) sei es heute, sich der »psychologischen Kriegsführung des Feindes, der in aller Stille unsere Jugend verführen will«, entgegenzustellen.

Die Regierung und die mit ihr verbündeten Pasdaran und Milizen wie auch die orthodoxen Geistlichen sind beunruhigt über die Möglichkeit einer Wahlniederlage von Ahmadinejad. Vier Männer hat der Wächterrat als Kandidaten zugelassen, davon werden dem jetzigen Staatspräsidenten Ahmadinejad Mir-Hussein Mousavi, Präsident der iranischen Kunstakademie, der für das Reformlager kandidiert, die größten Chancen eingeräumt. Hinzu kommen der Geistliche Mehdi Karoubi, 2000–2004 Sprecher des iranischen Parlaments, ein »pragmatischer Reformer«, wie er sich selbst beschreibt. Und Mohsen Rezaei, ein ehemaliger Pasdaran-Kommandant und unabhängiger Konservativer.

 

Kein Heilsversprecher, eher ein Sachverständiger: Mir-Hussein Mousavi

Schon einmal, von 1980 bis 1989, also während des Iran-Irak-Kriegs, hat der Architekt und Künstler Mir-Hussein Mousavi die Regierung geführt und mit einem strengen wirtschaftlichen Rationalisierungsprogramm das Überleben der jungen Republik ermöglicht. Der Bewunderer von Revolutionsführer Khomeini gilt als nicht korrumpierbar, er wird »für seine Ehrlichkeit, Treue und Standhaftigkeit geschätzt« (Bahran Nirumand im Iran-Report 4/2009). Allerdings wurden während seiner Amtszeit Zehntausende verhaftet und hingerichtet, die siegreichen Islamisten schalteten ihre politischen Gegner – Schah-Anhänger, Linksislamisten, Kommunisten – systematisch aus. Im August 1989 wird das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft, seine Aufgaben dem damaligen Staatspräsidenten Rafsandjani übertragen. Seither hat sich Mousavi nicht mehr öffentlich geäußert. Jetzt ist er auf die politische Bühne zurückgekehrt.

Zu seiner Bewerbung erklärte Mousavi: »Ich hatte kein Verlangen zu kandidieren. Ich sah aber die Probleme und sah die Fähigkeit in mir, diese zu lösen. Aus Respekt für meine Entscheidung habe ich den Obersten Führer dabei nicht konsultiert. So Gott will, werde ich aber ein Treffen mit ihm haben, da ich glaube, dass er meine Teilnahme im Rahmen der Verfassung genauso begrüßen wird wie diejenige jedes anderen Menschen Eine gewundene, aber selbstbewusste Distanzierung.

Mousavi beschreibt mit deutlichen Worten die ökonomische, politische und kulturelle Unfähigkeit der Regierung Ahmadinejad. Er kritisiert die Korruption und sprunghafte Willkür vieler Entscheidungen, den Extremismus der Außenpolitik, die Anzweiflung des Holocausts, die Schließung von Zeitungen und die Erosion der Freiheit. Und er will die Kontrollen durch die Sittenpolizei beenden. Zur Frage der Nuklearpolitik erklärt er nur, dass er auf die Entwicklung von Nukleartechnologie nicht verzichten will, dass es aber auf Vertrauensbildung ankomme.

Es ist ein nüchternes, solides Programm und verweist auf schwierige Zeiten. Hier setzt sich kein Heilsversprecher in Szene, sondern ein Sachverständiger, der die Dringlichkeit von Reformen sieht. Von Ahmadinejads Taktik, auf die Hoffnungen der kleinen Leute zu setzen und Geldscheine an sie zu verteilen, um Stimmen zu fangen, hebt sich der Eindruck von Realismus und Verantwortlichkeit, den Mousavi vermittelt, deutlich ab.

Aber dieser Reformer ist wesensmäßig konservativ, sein Veränderungswillen zielt auf Anpassung, nicht auf Bruch. So redet Mousavi ähnlich wie Ex-Präsident Khatami über seine Gegner: »Sie glauben, sie könnten einen Damm gegen den Wandel errichten … aber der Wandel wird sich auftürmen, bis der Damm plötzlich bricht und eine Katastrophe freisetzt, so schrecklich wie die Flut nach dem Bersten der Staumauer.«

Seit Mousavi Anfang April seine Kandidatur verkündete, hat ein spannender Prozess der Neuausrichtung eingesetzt. Viele Gruppierungen der Reformer warfen ihr Votum für Mousavi in die Waagschale. Auch die Jugendorganisationen, die Khatami unterstützt hatten und die Enttäuschung über dessen Rückzug erst einmal wegstecken mussten, diskutierten mit Mousavi und nannten anschließend das Treffen »vielversprechend«. Gleichzeitig differenzierte sich das konservative Lager aus.

Ahmadinejads Nonchalance dem Parlament gegenüber und seine Weigerung, über eine unauffindbare Milliarde Dollar Rechenschaft abzulegen, hat die Entrüstung auch der konservativen Abgeordneten hervorgebracht. »Ahmadinejads Administration ist die schlimmste seit der Revolution, die Nummer 1 in finanzieller Disziplinlosigkeit«, schimpft der Sprecher des parlamentarischen Wirtschaftsrats. Und der Vizesprecher des Parlaments beharrt auf einem Rechenschaftsbericht für die Öffentlichkeit. »Bei dieser Regierung kommen auf jeden der 200 Arbeitstage sieben Verstöße gegen das Recht«, rechnen die Gesetzgeber vor. Dem diesjährigen Neujahrsempfang des Präsidenten bleiben über die Hälfte der Abgeordneten, darunter Parlamentssprecher Ali Laridjani, fern – ein Affront.

Abgeordnete aller Lager verlangen jetzt Transparenz, gute Regierungsführung und Handeln nach Recht und Gesetz. Sie bitten den obersten Geistigen Führer (Rahbar) um seine Unterstützung: Khamenei möge sich mit den ausufernden Verletzungen des Budgets durch die Regierung befassen. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. In einer landesweit ausgestrahlten Rede preist der Rhabar am 21. Mai die Administration von Ahmadinejad: »Ich kenne die Situation des Landes besser als diese Gentlemen, die ihn kritisieren. Ich weiß, dass vieles, was sie über die Situation des Landes und seiner Ökonomie sagen, der Realität nicht entspricht. Sie irren sich Schon im November hat Khamenei die Kritiker gewarnt: »Die Attacken gegen die Regierung sind nichts, über das der Allmächtige leicht hinwegsieht

Doch inzwischen wurde sogar eine Unterstützungsfront »Prinzipientreue für Mousavi« gegründet – »Prinzipientreue« ist der Name, den die Konservativen sich selbst gegeben haben. Mehrere von ihnen haben sich mit dem Kandidaten der Reformer getroffen. Empört bezichtigt Kayhan, Zeitung der Hardliner, »diese Vertreter einer Regierung der nationalen Einheit der Zuwiderhandlung gegen die Prinzipien der Revolution«.

Auch der Klerus zögert, Ahmadinedjad weiterhin zu unterstützen. Der Qomer Zweig der Lehrerassoziation ist gespalten, zwei Großayatollahs sprechen sich gegen ihn aus. Die konservative »Assoziation der kämpfenden Geistlichen« aus Qom kommt zu keiner Einigung und gibt keine Empfehlung ab. Die »Kämpfenden Geistlichen« aus Tabriz hingegen kündigen ihre Unterstützung für Mousavi an: »Dass wir Mousavi als Kandidat haben, ist ein Zeichen von Gottes Gnade. Dieser Kandidat hat die Nöte der Zeit und das nationale Interesse zu seiner Top-Priorität gemacht

 

Eine neue Energie liegt in der Luft

Trotz aller Repression: »Eine neue Energie liegt in der Luft«, schreibt die iranische Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Mehrangiz Kar über den Wahlkampf. Versuche in realer Demokratie. Auch die Zivilgesellschaft mischt sich ein. In der iranischen Frauenbewegung, in den studentischen Organisationen, den Gewerkschaften und bei den Aktivisten der Menschenrechts- und Umwelt-NGOs herrscht die Meinung vor: Ein Wahlboykott wie 2005 führt in die Sackgasse. Damals hatte der Wächterrat fast alle Reformer ausgeschlossen, und so wurde ein Aufruf lanciert, nicht zu wählen, um die Abstimmung als Farce zu entlarven. Doch heute teilt die Mehrheit dieser Gruppierungen die Ansicht, dass ein Boykott keine Strategie zur Förderung von demokratischem Bewusstsein sei. Außerdem habe der Boykott Mahmoud Ahmadinejad den Weg ins Präsidentenamt geebnet.

Nach langen Diskussionen haben sich die Frauenrechtlerinnen, ob eher säkular oder islamistisch, zu einer Koalition zusammengefunden. Ihre Strategie ist es, die Kandidaten nach ihrer Haltung zur Frauendiskriminierung  zu befragen und die Antworten zu veröffentlichen. Also konkret: Herr Kandidat, was werden Sie für die Frauen tun, wenn Sie Präsident werden? Sind Sie für gleiche Rechte von Männern und Frauen? Ist es Ihrer Meinung nach richtig,  dass Mädchen schon mit neun Jahren strafbar sind, Jungen mit 15? Halten Sie es für gerechtfertigt, wenn Ihre Tochter nur die Hälfte dessen erbt, was Ihr Sohn bekommt? Die Liste der zu stellenden Fragen ist lang.

Öffentlichkeit? Es gibt Wege ... Im Wege-Finden sind die Aktivistinnen geübt. Da sie keine öffentlichen Versammlungen oder Kundgebungen zur Verbreitung ihrer Forderungen abhalten dürfen, haben sie 2006 die Kampagne »Eine Million Unterschriften für die Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz« gegründet und sammeln seitdem Unterschriften im »Face-to-face«-Verfahren. Unendlich viele Gespräche haben sie geführt, überall die kleinen Informationsbroschüren verteilt, die schnell und unauffällig von Hand zu Hand gleiten. In den zwei Jahren der Kampagne hat sich ihre Basis verbreitert. Bottom-up ist die Devise, es geht um einen generellen Bewusstseinswandel im Land. Inzwischen stellen die Frauen mehr als 60 Prozent der Universitätsabsolventen und ihr Kampf um Gleichheit findet breiten Widerhall in der Gesellschaft.

Am 24. April haben die Repräsentantinnen der Frauenkoalition die Forderungen formuliert, mit denen die Kandidaten konfrontiert werden:

– Die Islamische Republik Iran soll die UNO-Konvention gegen jegliche Diskriminierung von Frauen (CEDAW) unterschreiben.

– Die Verfassung soll vorbehaltlos überprüft und alle Gesetze, die Frauen benachteiligen, sollen geändert werden.

Wie vernetzt die iranische Zivilgesellschaft inzwischen ist, zeigt sich an den parallelen Strategien gesellschaftlicher Gruppen. Auch die größte Studentenorganisation Irans (Daftare Tahkime Vahdat) lehnt jetzt die Strategie des Wahlboykotts ab, weil die Präsenz von Reformern an der Regierung für die Zivilgesellschaft von Nutzen sei. Die Studenten wollen unter bestimmten Bedingungen die Kandidaten der Reformer unterstützen. Auch sie konfrontieren die Politiker mit einem Katalog von Forderungen und grundsätzlichen Fragen und erwarten Dialog und Antwort.

Daftare Tahkime Vahdat kritisiert die Leistung der Administration Ahmadinejad, betont die Notwendigkeit eines politischen Wechsels und macht sich stark für »friedliche und allmähliche Reformen, die unterstützt werden von den Organisationen der Zivilgesellschaft und den gesellschaftlichen Bewegungen« (rooz-online, 8.3.09). Auch die Leistungen von Ex-Präsident Khatami – größere gesellschaftliche Freiheiten, erstmalige Durchführung von Lokalwahlen, Förderung der Zivilgesellschaft – werden nach einer Phase der Abwendung wieder gewürdigt. »Vor ihm hatte man nur die Wahl, eine treue Anhängerin des Regimes zu sein oder eine zum Schweigen verurteilte Oppositionelle. Seit Khatami gibt es etwas dazwischen, und wir können was tun: nämlich uns für reale Veränderungen engagieren (Interview im Teheraner Frauenkulturzentrum, März 2005).

 

Große Nervosität, große Sorge

In der Endphase vor der Wahl ist die politische Stimmung der Parteigänger von Ahmadinejad angespannt und nervös. Wird der Präsident nach nur einer Legislaturperiode abgewählt, wäre das nicht nur eine Niederlage für ihn, sondern auch eine des Obersten Führers, die dessen Position nachhaltig beschädigen würde. Wiederholt hatte Ali Khamenei öffentlich für Ahmadinejad Stellung bezogen und die Menschen direkt und indirekt aufgefordert, ihm die Stimme zu geben. »Es wäre eine Katastrophe für das Land«, so der Rahbar, »wenn nach der Wahl Personen in die höchsten politischen wie ökonomischen Ämter kämen, die von unseren Feinden benutzt werden könnten, das Volk zu spalten und es wegzuführen von der Religion und den Prinzipien der Revolution.« Khameneis warnenden Worten ist Unruhe anzumerken, seiner Diffamierung der Reformer als »Verräter der Revolution, die zum Kotau dem Westen gegenüber bereit sind«, Nervosität. »Die ausgestreckte Hand« des US-Präsidenten mag da eine Rolle spielen.

Das Lager der Reformer hingegen ist beunruhigt über die Möglichkeit von Wahlfälschungen. Schon früh hat Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi ein Komitee zur Überwachung der Wahlen ins Leben gerufen. Am 4. Mai wird ihre Sitzung von Basidjis gestürmt. Auch die Reformkandidaten Mousavi und Karoubi haben gemeinsam ein Komitee zum Schutz der Wahlen gegründet. Seit Wochen warnt Ali Akbar Hashemi Rafsandjani, heute Leiter des Schlichtungsrats, beim Teheraner Freitagsgebet vor Wahlmanipulationen. Auch Khatami betont immer wieder die Notwendigkeit von fairen Wahlen. Für den Obersten Geistigen Führer hingegen wiederholen diese warnenden Stimmen nur »die Lügen des Feindes, indem sie die Integrität der Wahlen in Frage stellen«.

Probeabstimmungen sind ein gutes Mittel, die Wahrscheinlichkeit von Wahlmanipulation einzuschätzen. Bei einer von Studenten organisierten Abstimmung an der Universität Teheran stimmten 72,1 Prozent für Mousavi, 17,06 für Ahmadinejad und 6,9 für Karoubi. Eine andere Möglichkeit der Kontrolle sind Befragungen der Wähler nach dem Verlassen des Wahllokals. Die Zivilgesellschaft ist in erhöhter Alarmbereitschaft – allerdings nicht nur aus Furcht vor Wahlfälschung.

Die Reformer beobachten besorgt eine zunehmende Militarisierung der Geisteshaltung wie des Regierungsalltags. Bei einer Zusammenkunft von Reformern skizzierte der Politikwissenschaftler Alireza Alavitabar jüngst die Lage: »Bei jedem Spiel, auch dem Spiel der Politik, müssen sich die Teilnehmer an Regeln halten. Unglücklicherweise ist das bei uns nicht der Fall. Wir bewegen uns in eine Richtung, in der die politische Szenerie des Landes  Schauplatz unberechenbaren Verhaltens wird. Wenn dieser Trend anhält, gerät dieses Problem außer Kontrolle Er gebraucht einen hübschen Vergleich für die iranischen Verhältnisse: »Reformerische Politik hier ist wie Schach spielen mit einem Gorilla In dieser Situation müsse der künftige Präsident über drei Fähigkeiten verfügen: Er müsse eine strikte Ausgabendisziplin in die iranische Ökonomie zurückbringen. Sein Verhalten müsse für Anhänger wie Gegner und die internationale Gemeinschaft zuverlässig und berechenbar sein, denn unberechenbare Menschen produzieren Krisen. Und er müsse die Fähigkeit haben, die wachsende Militarisierung in Iran zu kontrollieren. »Militarisierung ist ein Monster, wenn es einmal aus der Box gelassen ist, kann man es schwer wieder einfangen Im Juni 2009 steht die islamische Republik wieder einmal an einem Scheidepunkt.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009