Wieder einmal steht der Iran vor wichtigen
Entscheidungen. Werden die Präsidenten-Wahlen ein Spiegel gesellschaftlicher
Entwicklungen sein – oder setzen sich wieder die konservativen Kräfte durch?
Frauenbewegung und weitere Kräfte der Zivilgesellschaft haben diesmal von einem
Boykott der Wahlen Abstand genommen. Denn letzthin hatte er Ahmadinejad
genutzt.
Wir müssen achtsam sein
gegenüber der Gefahr eines sanften Umsturzes durch Wahlen. Die Feinde der
Islamischen Republik sinnen auf den Sturz der Regierung und wollen einen
Präsidenten installieren, der ihnen und ihren Zielen nähersteht.« Ayatollah Janati, der
83-jährige Sekretär des mächtigen Wächterrats, der alle Kandidaten auf ihre
Tauglichkeit für politische Ämter prüft, schwört seinen Stab vor den Wahlen auf
Wachsamkeit ein. Er lobt den jetzigen Präsidenten Mahmoud
Ahmadinejad und betont die »wichtige Rolle des
Wächterrats für den Ausgang der Wahlen« und »dessen große Verantwortung bei der
Kontrolle der Wahlurnen«. (rooz-online,
5.4.09)
Auch Mohammad Ali Jafari, Kommandant der Revolutionswächter (Pasdaran), spricht von der Gefahr einer »samtenen
Revolution«. Der Feind führe einen »Kulturkrieg«, nachdem er bemerkt hat, dass
er das iranische Volk und seine revolutionäre Regierung nicht durch
militärische Drohungen einschüchtern
kann. Die wichtigste und wesentlichste Aufgabe der Basidji
(der zumeist jungen islamistischen Milizionäre) sei es heute, sich der »psychologischen
Kriegsführung des Feindes, der in aller Stille unsere Jugend verführen will«,
entgegenzustellen.
Die Regierung und die mit
ihr verbündeten Pasdaran und Milizen wie auch die
orthodoxen Geistlichen sind beunruhigt über die Möglichkeit einer Wahlniederlage
von Ahmadinejad. Vier Männer hat der Wächterrat als
Kandidaten zugelassen, davon werden dem jetzigen Staatspräsidenten Ahmadinejad Mir-Hussein Mousavi, Präsident der iranischen Kunstakademie, der für
das Reformlager kandidiert, die größten Chancen eingeräumt. Hinzu kommen der Geistliche
Mehdi Karoubi, 2000–2004
Sprecher des iranischen Parlaments, ein »pragmatischer Reformer«, wie er sich
selbst beschreibt. Und Mohsen Rezaei,
ein ehemaliger Pasdaran-Kommandant und unabhängiger
Konservativer.
Kein Heilsversprecher, eher ein Sachverständiger: Mir-Hussein Mousavi
Schon einmal, von 1980 bis
1989, also während des Iran-Irak-Kriegs, hat der Architekt und Künstler Mir-Hussein Mousavi die Regierung
geführt und mit einem strengen wirtschaftlichen Rationalisierungsprogramm das
Überleben der jungen Republik ermöglicht. Der Bewunderer von Revolutionsführer
Khomeini gilt als nicht korrumpierbar, er wird »für seine Ehrlichkeit, Treue
und Standhaftigkeit geschätzt« (Bahran Nirumand im Iran-Report 4/2009). Allerdings wurden
während seiner Amtszeit Zehntausende verhaftet und hingerichtet, die
siegreichen Islamisten schalteten ihre politischen
Gegner – Schah-Anhänger, Linksislamisten, Kommunisten
– systematisch aus. Im August 1989 wird das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft,
seine Aufgaben dem damaligen Staatspräsidenten Rafsandjani
übertragen. Seither hat sich Mousavi nicht mehr
öffentlich geäußert. Jetzt ist er auf die politische Bühne zurückgekehrt.
Zu seiner Bewerbung
erklärte Mousavi: »Ich hatte kein Verlangen zu
kandidieren. Ich sah aber die Probleme und sah die Fähigkeit in mir, diese zu
lösen. Aus Respekt für meine Entscheidung habe ich den Obersten Führer dabei
nicht konsultiert. So Gott will, werde ich aber ein Treffen mit ihm haben, da
ich glaube, dass er meine Teilnahme im Rahmen der Verfassung genauso begrüßen
wird wie diejenige jedes anderen Menschen.« Eine
gewundene, aber selbstbewusste Distanzierung.
Mousavi beschreibt mit deutlichen Worten die ökonomische,
politische und kulturelle Unfähigkeit der Regierung Ahmadinejad.
Er kritisiert die Korruption und sprunghafte Willkür vieler Entscheidungen, den
Extremismus der Außenpolitik, die Anzweiflung des Holocausts, die Schließung
von Zeitungen und die Erosion der Freiheit. Und er will die Kontrollen durch die
Sittenpolizei beenden. Zur Frage der Nuklearpolitik erklärt er nur, dass er auf
die Entwicklung von Nukleartechnologie nicht verzichten will, dass es aber auf
Vertrauensbildung ankomme.
Es ist ein nüchternes,
solides Programm und verweist auf schwierige Zeiten. Hier setzt sich kein
Heilsversprecher in Szene, sondern ein Sachverständiger, der die Dringlichkeit
von Reformen sieht. Von Ahmadinejads Taktik, auf die
Hoffnungen der kleinen Leute zu setzen und Geldscheine an sie zu verteilen, um
Stimmen zu fangen, hebt sich der Eindruck von Realismus und Verantwortlichkeit,
den Mousavi vermittelt, deutlich ab.
Aber dieser Reformer ist
wesensmäßig konservativ, sein Veränderungswillen zielt auf Anpassung, nicht auf
Bruch. So redet Mousavi ähnlich wie Ex-Präsident Khatami über seine Gegner: »Sie glauben, sie könnten einen
Damm gegen den Wandel errichten … aber der Wandel wird sich auftürmen, bis der
Damm plötzlich bricht und eine Katastrophe freisetzt, so schrecklich wie die
Flut nach dem Bersten der Staumauer.«
Seit Mousavi
Anfang April seine Kandidatur verkündete, hat ein spannender Prozess der
Neuausrichtung eingesetzt. Viele Gruppierungen der Reformer warfen ihr Votum
für Mousavi in die Waagschale. Auch die
Jugendorganisationen, die Khatami unterstützt hatten
und die Enttäuschung über dessen Rückzug erst einmal wegstecken mussten,
diskutierten mit Mousavi und nannten anschließend das
Treffen »vielversprechend«. Gleichzeitig
differenzierte sich das konservative Lager aus.
Ahmadinejads Nonchalance dem Parlament gegenüber und seine
Weigerung, über eine unauffindbare Milliarde Dollar Rechenschaft abzulegen, hat
die Entrüstung auch der konservativen Abgeordneten hervorgebracht. »Ahmadinejads Administration ist die schlimmste seit der
Revolution, die Nummer 1 in finanzieller Disziplinlosigkeit«, schimpft der
Sprecher des parlamentarischen Wirtschaftsrats. Und der Vizesprecher des
Parlaments beharrt auf einem Rechenschaftsbericht für die Öffentlichkeit. »Bei
dieser Regierung kommen auf jeden der 200 Arbeitstage sieben Verstöße gegen das
Recht«, rechnen die Gesetzgeber vor. Dem diesjährigen Neujahrsempfang des
Präsidenten bleiben über die Hälfte der Abgeordneten, darunter
Parlamentssprecher Ali Laridjani, fern – ein Affront.
Abgeordnete aller Lager
verlangen jetzt Transparenz, gute Regierungsführung und Handeln nach Recht und
Gesetz. Sie bitten den obersten Geistigen Führer (Rahbar)
um seine Unterstützung: Khamenei möge sich mit den ausufernden Verletzungen des
Budgets durch die Regierung befassen. Die Antwort lässt nicht lange auf sich
warten. In einer landesweit ausgestrahlten Rede preist der Rhabar
am 21. Mai die Administration von Ahmadinejad: »Ich
kenne die Situation des Landes besser als diese Gentlemen, die ihn kritisieren.
Ich weiß, dass vieles, was sie über die Situation des Landes und seiner
Ökonomie sagen, der Realität nicht entspricht. Sie irren sich.«
Schon im November hat Khamenei die Kritiker gewarnt: »Die Attacken gegen die
Regierung sind nichts, über das der Allmächtige leicht hinwegsieht.«
Doch inzwischen wurde
sogar eine Unterstützungsfront »Prinzipientreue für Mousavi«
gegründet – »Prinzipientreue« ist der Name, den die Konservativen sich selbst
gegeben haben. Mehrere von ihnen haben sich mit dem Kandidaten der Reformer
getroffen. Empört bezichtigt Kayhan, Zeitung
der Hardliner, »diese Vertreter einer Regierung der nationalen Einheit der
Zuwiderhandlung gegen die Prinzipien der Revolution«.
Auch der Klerus zögert, Ahmadinedjad weiterhin zu unterstützen. Der Qomer Zweig der Lehrerassoziation ist gespalten, zwei
Großayatollahs sprechen sich gegen ihn aus. Die konservative »Assoziation der
kämpfenden Geistlichen« aus Qom kommt zu keiner
Einigung und gibt keine Empfehlung ab. Die »Kämpfenden Geistlichen« aus Tabriz hingegen kündigen ihre Unterstützung für Mousavi an: »Dass wir Mousavi als
Kandidat haben, ist ein Zeichen von Gottes Gnade. Dieser Kandidat hat die Nöte
der Zeit und das nationale Interesse zu seiner Top-Priorität gemacht.«
Eine neue Energie liegt in der Luft
Trotz aller Repression:
»Eine neue Energie liegt in der Luft«, schreibt die iranische Rechtsanwältin
und Frauenrechtlerin Mehrangiz Kar über den
Wahlkampf. Versuche in realer Demokratie. Auch die Zivilgesellschaft mischt
sich ein. In der iranischen Frauenbewegung, in den studentischen Organisationen,
den Gewerkschaften und bei den Aktivisten der Menschenrechts- und Umwelt-NGOs herrscht die Meinung vor: Ein Wahlboykott wie
2005 führt in die Sackgasse. Damals hatte der Wächterrat fast alle Reformer
ausgeschlossen, und so wurde ein Aufruf lanciert, nicht zu wählen, um die
Abstimmung als Farce zu entlarven. Doch heute teilt die Mehrheit dieser
Gruppierungen die Ansicht, dass ein Boykott keine Strategie zur Förderung von
demokratischem Bewusstsein sei. Außerdem habe der Boykott Mahmoud
Ahmadinejad den Weg ins Präsidentenamt geebnet.
Nach langen Diskussionen
haben sich die Frauenrechtlerinnen, ob eher säkular oder islamistisch,
zu einer Koalition zusammengefunden. Ihre Strategie ist es, die Kandidaten nach
ihrer Haltung zur Frauendiskriminierung
zu befragen und die Antworten zu veröffentlichen. Also konkret: Herr
Kandidat, was werden Sie für die Frauen tun, wenn Sie Präsident werden? Sind
Sie für gleiche Rechte von Männern und Frauen? Ist es Ihrer Meinung nach
richtig, dass Mädchen schon mit neun
Jahren strafbar sind, Jungen mit 15? Halten Sie es für gerechtfertigt, wenn
Ihre Tochter nur die Hälfte dessen erbt, was Ihr Sohn bekommt? Die Liste der zu
stellenden Fragen ist lang.
Öffentlichkeit? Es gibt
Wege ... Im Wege-Finden sind die Aktivistinnen geübt. Da sie keine öffentlichen
Versammlungen oder Kundgebungen zur Verbreitung ihrer Forderungen abhalten
dürfen, haben sie 2006 die Kampagne »Eine Million Unterschriften für die
Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz« gegründet und sammeln seitdem
Unterschriften im »Face-to-face«-Verfahren. Unendlich
viele Gespräche haben sie geführt, überall die kleinen Informationsbroschüren
verteilt, die schnell und unauffällig von Hand zu Hand gleiten. In den zwei
Jahren der Kampagne hat sich ihre Basis verbreitert. Bottom-up
ist die Devise, es geht um einen generellen Bewusstseinswandel im Land.
Inzwischen stellen die Frauen mehr als 60 Prozent der Universitätsabsolventen
und ihr Kampf um Gleichheit findet breiten Widerhall in der Gesellschaft.
Am 24. April haben die
Repräsentantinnen der Frauenkoalition die Forderungen formuliert, mit denen die
Kandidaten konfrontiert werden:
– Die Islamische Republik
Iran soll die UNO-Konvention gegen jegliche Diskriminierung von Frauen (CEDAW)
unterschreiben.
– Die Verfassung soll vorbehaltlos
überprüft und alle Gesetze, die Frauen benachteiligen, sollen geändert werden.
Wie vernetzt die iranische
Zivilgesellschaft inzwischen ist, zeigt sich an den parallelen Strategien
gesellschaftlicher Gruppen. Auch die größte Studentenorganisation Irans (Daftare Tahkime Vahdat) lehnt jetzt die Strategie des Wahlboykotts ab,
weil die Präsenz von Reformern an der Regierung für die Zivilgesellschaft von
Nutzen sei. Die Studenten wollen unter bestimmten Bedingungen die Kandidaten
der Reformer unterstützen. Auch sie konfrontieren die Politiker mit einem
Katalog von Forderungen und grundsätzlichen Fragen und erwarten Dialog und
Antwort.
Daftare Tahkime Vahdat
kritisiert die Leistung der Administration Ahmadinejad,
betont die Notwendigkeit eines politischen Wechsels und macht sich stark für
»friedliche und allmähliche Reformen, die unterstützt werden von den
Organisationen der Zivilgesellschaft und den gesellschaftlichen Bewegungen« (rooz-online, 8.3.09). Auch die Leistungen von
Ex-Präsident Khatami – größere gesellschaftliche
Freiheiten, erstmalige Durchführung von Lokalwahlen, Förderung der
Zivilgesellschaft – werden nach einer Phase der Abwendung wieder gewürdigt.
»Vor ihm hatte man nur die Wahl, eine treue Anhängerin des Regimes zu sein oder
eine zum Schweigen verurteilte Oppositionelle. Seit Khatami
gibt es etwas dazwischen, und wir können was tun: nämlich uns für reale
Veränderungen engagieren.« (Interview im Teheraner
Frauenkulturzentrum, März 2005).
Große Nervosität, große Sorge
In der Endphase vor der
Wahl ist die politische Stimmung der Parteigänger von Ahmadinejad
angespannt und nervös. Wird der Präsident nach nur einer Legislaturperiode
abgewählt, wäre das nicht nur eine Niederlage für ihn, sondern auch eine des
Obersten Führers, die dessen Position nachhaltig beschädigen würde. Wiederholt
hatte Ali Khamenei öffentlich für Ahmadinejad
Stellung bezogen und die Menschen direkt und indirekt aufgefordert, ihm die
Stimme zu geben. »Es wäre eine Katastrophe für das Land«, so der Rahbar, »wenn nach der Wahl Personen in die höchsten
politischen wie ökonomischen Ämter kämen, die von unseren Feinden benutzt
werden könnten, das Volk zu spalten und es wegzuführen von der Religion und den
Prinzipien der Revolution.« Khameneis warnenden Worten ist Unruhe anzumerken,
seiner Diffamierung der Reformer als »Verräter der Revolution, die zum Kotau
dem Westen gegenüber bereit sind«, Nervosität. »Die ausgestreckte Hand« des
US-Präsidenten mag da eine Rolle spielen.
Das Lager der Reformer
hingegen ist beunruhigt über die Möglichkeit von Wahlfälschungen. Schon früh
hat Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi
ein Komitee zur Überwachung der Wahlen ins Leben gerufen. Am 4. Mai wird ihre
Sitzung von Basidjis gestürmt. Auch die
Reformkandidaten Mousavi und Karoubi
haben gemeinsam ein Komitee zum Schutz der Wahlen gegründet. Seit Wochen warnt
Ali Akbar Hashemi Rafsandjani, heute Leiter des
Schlichtungsrats, beim Teheraner Freitagsgebet vor Wahlmanipulationen. Auch Khatami betont immer wieder die Notwendigkeit von fairen
Wahlen. Für den Obersten Geistigen Führer hingegen wiederholen diese warnenden
Stimmen nur »die Lügen des Feindes, indem sie die Integrität der Wahlen in
Frage stellen«.
Probeabstimmungen sind ein
gutes Mittel, die Wahrscheinlichkeit von Wahlmanipulation einzuschätzen. Bei
einer von Studenten organisierten Abstimmung an der Universität Teheran
stimmten 72,1 Prozent für Mousavi, 17,06 für Ahmadinejad und 6,9 für Karoubi.
Eine andere Möglichkeit der Kontrolle sind Befragungen der Wähler nach dem
Verlassen des Wahllokals. Die Zivilgesellschaft ist in erhöhter
Alarmbereitschaft – allerdings nicht nur aus Furcht vor Wahlfälschung.
Die Reformer beobachten
besorgt eine zunehmende Militarisierung der Geisteshaltung wie des
Regierungsalltags. Bei einer Zusammenkunft von Reformern skizzierte der
Politikwissenschaftler Alireza Alavitabar jüngst die
Lage: »Bei jedem Spiel, auch dem Spiel der Politik, müssen sich die Teilnehmer
an Regeln halten. Unglücklicherweise ist das bei uns nicht der Fall. Wir
bewegen uns in eine Richtung, in der die politische Szenerie des Landes Schauplatz unberechenbaren Verhaltens wird.
Wenn dieser Trend anhält, gerät dieses Problem außer Kontrolle.« Er gebraucht einen hübschen Vergleich für die iranischen
Verhältnisse: »Reformerische Politik hier ist wie Schach spielen mit einem
Gorilla.« In dieser Situation müsse der künftige
Präsident über drei Fähigkeiten verfügen: Er müsse eine strikte
Ausgabendisziplin in die iranische Ökonomie zurückbringen. Sein Verhalten müsse
für Anhänger wie Gegner und die internationale Gemeinschaft zuverlässig und
berechenbar sein, denn unberechenbare Menschen produzieren Krisen. Und er müsse
die Fähigkeit haben, die wachsende Militarisierung in Iran zu kontrollieren.
»Militarisierung ist ein Monster, wenn es einmal aus der Box gelassen ist, kann
man es schwer wieder einfangen.« Im Juni 2009 steht
die islamische Republik wieder einmal an einem Scheidepunkt.