Man erinnert sich: Ziemlich
unerwartet traten Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück
uns im letzten Jahr mit ernsten Mienen aus dem Fernseher entgegen und versicherten,
dass man keine Angst um seine Spar- und Festgeldkonten haben müsse. Der Staat
garantiere sie. Dass sie gefährdet sein könnten, war zu diesem Zeitpunkt den
wenigsten bewusst. Ich jedenfalls war verblüfft. Sieht so also der Staat aus?
Ein älteres Paar, fast Hand in Hand, sagt uns, wir sollten uns keine Sorgen machen,
bevor wir den Grund sehen, warum wir uns Sorgen machen müssten? Die große
Koalition erschien in diesem Moment als Glücksfall, als große staatliche
Sozialversicherung.
Erst nach und nach klärte
sich die Dramatik der Situation. Die Regierung hat sich schlecht und recht
behauptet in den globalen Stürmen. Haben die sich schon gelegt? Sind sie gar
vorbei, ohne allzu viel kaputt gemacht zu haben? Dafür wird niemand die Hand
ins Feuer legen. Und wer hätte den Mut, wie seinerzeit Karl Marx voller revolutionärer Selbstgewissheit, zu
triumphieren: Die Krise entwickelt sich
großartig? Hoffentlich ist sie bald vorbei und
gefährdet sie nicht meine Rente, sagt sich
heute selbst der ehemalige SED-Funktionär. Die
Krise überwinden zu wollen, versprechen die Parteien, die sich für den
Bundestag zur Wahl stellen. Es allein zu
schaffen, behauptet keine.
Es gibt keinen einfachen und
sicheren Weg aus der Krise. Darüber allerdings, was langfristig zu erreichen
ist, herrscht große Übereinstimmung. Wenn Bundespräsident Köhler von der
Notwendigkeit einer »Ökologisierung der Weltwirtschaft« spricht, findet er das
Echo bei Joschka Fischer, den die jetzigen SPD-Führer, wie man lesen konnte,
als seinen Nachfolger nicht schlecht gefunden hätten: »Ein wirksamer Kampf
gegen die Klimakrise setzt daher nichts Geringeres als eine grüne Revolution
der Weltwirtschaft voraus. Dies muss das Megaprojekt des 21. Jahrhunderts sein.« (SZ, 11.5.09)
Um das »Megaprojekt« der
»Ökologisierung der Weltwirtschaft« wirksam in Angriff zu nehmen und über alle
Hindernisse und Rückschläge hinweg dauerhaft zu verfolgen, könnte eine
Koalition gar nicht groß genug sein. Der »New Green Deal«, von dem auf beiden
Seiten des Atlantiks die Rede ist, muss zwischen allen Teilen der Gesellschaft
ausgehandelt werden. Er verlangt eine Verständigung unter allen Staaten. In der
jetzigen Krise zeichnen sich Züge eines globalen Bewusstseins ab, das die wechselseitige
Abhängigkeit als aufeinander angewiesen sein zu begreifen beginnt. Mit den G 20
hat sich ein Forum gebildet, in dem die entscheidenden Mächte ihr Gewicht
zusammenfassen und zur Geltung bringen können.
Dass es in der Bundestagswahl auch um diese großen
Fragen geht, ist schwer zu erkennen.
Zu klein erscheint der mögliche Anteil der Bundesrepublik an ihrer Lösung, zu
kleinlich gehen die Parteien an sie heran. Wahlen in der parlamentarischen
Demokratie funktionieren nach dem Mechanismus von Regierung und Opposition. Der
ist unter Bedingungen einer großen Koalition empfindlich gestört. Gegenüber der
großen Koalition kann sich keine regierungsfähige Opposition herausbilden, die
in die Wahlen mit dem Ziel geht, die gegenwärtige Regierung abzulösen. Auch
wenn sich FDP, Grüne und Die Linke gelegentlich zusammentun, um einen
Untersuchungsausschuss zu installieren, passen sie in ihren erklärten Zielen
und ihrem politischen Habitus untereinander schlechter zusammen, als jede von
ihnen zu einer der Regierungsparteien passt. Die Grünen regieren in Bremen und
Hamburg jeweils mit einer von beiden und stehen inzwischen wohl auch beiden in
ihrem politischen Verantwortungsbewusstsein näher als den anderen
Oppositionsparteien. Während in der großen Koalition wohl oder übel Pragmatismus,
der oft an Opportunismus grenzt, die Entscheidungen prägt, entwickeln sich FDP
und Die Linke zunehmend zu ideologischen Bekenntnisparteien. Dabei bilden ein
imaginierter Neoliberalismus und Sozialismus die ideologischen Pole, an denen
sie sich gegenseitig ab- und zuarbeiten. Die Grünen haben sich immer an Zielen
orientiert, nicht an Ideologien. Die beiden großen Parteien mussten sich als
Volksparteien diese Ziele mehr oder weniger zu eigen
machen. Unter Volksparteien verstehe ich Parteien, die sich in ihrer
Programmatik und Ansprache an alle wenden. Die Größe ist Ergebnis, nicht
Voraussetzung. In diesem Sinne sind auch die Grünen im Unterschied zu FDP und
Die Linke eine Volkspartei. Die Grünen haben entscheidend dazu beigetragen,
dass der soziale Grundkonsens der Bundesrepublik ökologisch erweitert wurde.
Keine Regierung wird diesen ökologisch erweiterten sozialen Grundkonsens völlig
negieren können. Um ihn bildet sich die politische Mitte, die den Zusammenhalt
der Gesellschaft auch in Zeiten der Krise sichern will. Die Grünen sind nicht
weniger als große Teile der CDU und die SPD Teil dieser politischen Mitte. Ihr
gegenüber zielen FDP und Die Linke auf Spaltung. Die CSU, auf Bundesebene die
sechste Partei, entscheidet von Fall zu Fall, wohin sie sich schlägt.
Der parlamentarische Mechanismus von Regierung und
Opposition funktioniert nicht im
Vorfeld der Bundestagswahlen. Einerseits ist die Opposition unfähig die Regierung
abzulösen, andererseits steht aber auch keine Regierung zur Wahl. Die jetzige Regierung
scheint ja keinen größeren Wunsch zu haben, als abgelöst zu werden. Die Wahlen
werden über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden. Welche Regierung
dieses Parlament installieren wird, bleibt ungewiss.(1)
Welcher Partei man immer seine Stimme gibt, man entscheidet damit nicht über
Regierung und Opposition. Beide werden sich erst nach den Wahlen finden. Das
ist eine neue Situation, weder vergleichbar mit den Wahlen von 1969, durch die
die damalige große Koalition beendet wurde, noch mit den Wahlen von 2005, als
die Niederlage der rotgrünen Regierung zu einer Neuauflage der großen Koalition
führte.
Die Bildung der
sozialliberalen Koalition nach den Wahlen von 1969 brach zwar mit der
Konvention, wonach der stärksten Partei die Prärogative bei der
Regierungsbildung zukommt, konnte sich aber auf eine gesellschaftliche Dynamik
stützen, die von der zwei Jahrzehnte langen Vorherrschaft der CDU/CSU eindeutig
genug hatte. Die sozialliberale Koalition kam diesem Veränderungswillen mit dem
Slogan »Mehr Demokratie wagen« und ihrem den bisherigen mainstream überragenden
Regierungschef Brandt entgegen. Während sich die CDU/CSU seinerzeit geradezu
als Opfer eines Staatsstreichs gerierte, atmete ein großer Teil der
Gesellschaft auf. Vor allem die neue Ostpolitik der Regierung Brandt
ermöglichte dann den triumphalen Wahlsieg der sozialliberalen Koalition, die
die konservative Vorstellung eines »bürgerlichen Lagers« ein für alle Mal
gesprengt zu haben schien. Es lebt heute zwar als Fetisch und
Beschwörungsformel wieder auf, hat aber in den realen gesellschaftlichen
Bedingungen keinerlei Grundlage.
In der Bundestagswahl von 2005 hatten bisherige
Regierung und Opposition gleichermaßen
die Mehrheit verpasst. Die Bildung einer einigermaßen stabilen und handlungsfähigen
Regierung versprach damit allein die große Koalition. So wenig sie zu größeren
Reformen in der Lage war, bewies sie in den entscheidenden außenpolitischen
Fragen und jetzt auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise eine unleugbare
Standfestigkeit. Es ist keine schlechte Regierung. Aber niemand will sie
ausdrücklich verteidigen. Niemand stellt sie ausdrücklich zur Wahl.
Ginge es bei der
Bundestagswahl wie bei der Europawahl um die Stärkung des Parlaments gegenüber
einer Exekutive, die zwar nicht unabhängig vom Parlament agiert, aber doch
nicht durch seine Mehrheitsentscheidung zustande kommt, wäre die Situation
weniger verwirrend, als sie in Sachen Regierungsbildung nun einmal ist. Welche
Freiräume der Erörterung und Abwägung ein Parlament wie das europäische
eröffnen kann, erklärte der grüne Europaparlamentarier Michael Cramer neulich
der taz. Was denn die größten Unterschiede zur
Berliner Landespolitik seien, wurde er gefragt: »Die Entscheidungsfindung läuft
anders. Es gibt in Brüssel nicht das Spiel zwischen einer von einer
Parlamentsmehrheit gestützten Regierung und der Opposition. Im Europarlament
sitzen 785 Abgeordnete aus 177 unterschiedlichen Parteien … Und dennoch sind
wir nur in sieben Fraktionen zusammengeschlossen. Wir haben auch kein
Initiativrecht, wir können also keine Gesetzentwürfe einbringen, sondern immer
nur auf Vorlagen der Kommission reagieren.« Und das
bringe doch quasi das ganze Parlament in eine Oppositionsrolle, staunt der
Interviewer. »So ungefähr«, antwortet Cramer. »Und alle wissen: Nur wenn wir im
Parlament starke Mehrheiten zusammenkriegen, können wir gegen die Kommission
und den Rat – die jeweiligen Minister der Länder – etwas durchsetzen.« Auf die Frage, ob er jetzt sagen wolle, es gebe keinen
Fraktionszwang, bekommt die taz zu
hören: »Den gibt es wirklich nicht – und das eröffnet Chancen auch für kleinere
Fraktionen, eine Mehrheit für ihre Position zu organisieren.«(2)
Hier im Europaparlament ist das Prinzip der wechselnden Mehrheiten, nach dessen
Möglichkeiten Michael Jäger immer wieder fragt,(3)
also durchaus verwirklicht.
Die relative Schwäche des
EU-Parlaments gegenüber der Exekutive bewirkt die Stärke der Parlamentarier und
des Parlaments gegenüber den Parteien. In der EU als Staaten- und Bürgerunion
wird auf originelle Art und Weise an dem Prinzip der Gewaltenteilung
festgehalten, die im Inneren der Bundesrepublik zwischen Exekutive und
Gesetzgeber nie bestand. Die Abhängigkeit der Exekutive von der Mehrheit des
Gesetzgebers bewirkt im Regelfall eine Unterordnung der Meinungsbildung im
Parlament unter den Regierungswillen. Wechselnde Mehrheiten kommen nicht vor.
Was gelegentlich vorkommt, ist eine offene Mehrheitsbildung, wenn es große
Meinungsunterschiede in der Mehrheit gibt und die Entscheidung für das
Regierungshandeln als unwichtig genug gilt, um sie als Gewissensentscheidung
ins Belieben der Parlamentarier zu stellen. Es ist dann von einer großen Stunde
des Parlaments die Rede. Die gesellschaftliche Mehrheit, die ja nicht in der
gleichen Weise einer Polarisierung unterliegt, wie sie der Mechanismus von
Regierung und Opposition vorsieht, muss also andere Wege suchen, um auf den Gesetzgeber
und die Exekutive einzuwirken. Eine solche Form kann eine große Koalition sein.
Über die große Koalition von 1967/69 wurde durch die
Regierungsbeteiligung der SPD die
Weiche für eine zuvor fast undenkbare Regierungsmehrheit gestellt: eine sozialliberale
Regierung unter Führung der SPD. Vielleicht wurden mit der jetzigen großen Koalition
die Weichen für eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Exekutive und
Gesetzgeber, zwischen Regierung und Parlament gestellt, indem das Spiel von Regierung
und Opposition so gründlich durcheinandergeraten ist,
dass die Wähler zwar ein Parlament wählen, sich aber weder für die Regierung
noch für die Opposition entscheiden können, weil die Regierung nicht antritt
und die Opposition als Kandidat für die Regierung nicht zur Verfügung steht.
Ein ziemlich dummer und
geradezu unverschämter Versuch, den gegenwärtig außer Kraft gesetzten
Mechanismus von Regierung und Opposition virtuell zu ersetzen und zugleich das
eigene ideologische Gebaren scheinbar mit sozialer Substanz zu füllen, ist die
polarisierende Gegenüberstellung von »bürgerlichem Lager« und der »Linken«.
Als ihr fanatischer
Propagandist tritt zurzeit vor allem Guido Westerwelle auf, aber auch viele
Meinungsforscher machen sich diese Gegenüberstellung zu eigen,
wenn sie ihre Umfrageergebnisse gruppieren. Wie albern dieser Ansatz ist, zeigt
sich schon daran, dass die beiden angeblichen Pole nach Begriffen aus völlig
verschiedenen Sphären kategorisiert werden, bürgerlich und links. Wenn schon,
dann wäre es nahe liegend nach rechts und links oder nach bürgerlich und
proletarisch zu sortieren. Doch das »bürgerliche Lager« soll zugleich die Mitte
repräsentieren. Da käme es nicht gut, es als rechts zu verorten. Würde dem
bürgerlichen Lager aber ein proletarisches Lager entgegengesetzt, träte der
ganze Unsinn sofort zutage. So viele »Bürger« im vordemokratischen Sinn, wie
das bürgerliche Lager sammeln will, kann keine Übertreibung zusammenbringen und
so wenige Proletarier im strikt ökonomischen Sinn, wie die »Linke« auf die
Waagschale bringen kann, gibt es auch nicht.
Die asymmetrische
Polarisierung ist natürlich erwünscht, um auf der einen Seite soziale
Gegebenheit vorzutäuschen und die andere Seite als willkürliche Setzung zu
apostrophieren.
Die nächste Bundestagswahl sei schicksalhaft,
behauptet Guido Westerwelle.(4) Man bräuchte nicht zu widersprechen, wenn Guido
Westerwelle auf die schwierigen Probleme verwiese, mit denen das nächste
Parlament und jede Regierung, die aus ihm hervorgeht, konfrontiert sein wird.
Aber dieses »Schicksal« meint Westerwelle nicht. Er sieht es so: Dieses Land erlebe
im September eine »Weichenstellung für die nächsten zwölf Jahre. Die Deutschen
sind vor die Entscheidung gestellt: Gibt es noch eine strukturelle Mehrheit für
eine bürgerliche Regierung oder geht der Linksrutsch weiter? Es geht um die
Frage, ob die Mehrheit in Deutschland noch hinter unserer Grund- und Werteordnung
steht. Der fehlende Kompass der sogenannten großen
Koalition hat bereits dafür gesorgt, dass die geistig politische Achse dieser
Republik gefährlich ins Pendeln gekommen ist. Bei der nächsten Bundestagswahl
entscheidet sich, ob sie endgültig aus der Mitte nach links verrutscht.« Was hier ins Rutschen gekommen scheint, ist der politische
Verstand. Gleich für zwölf Jahre will er die Weichen stellen lassen, damit die
Republik nicht »endgültig« aus der Mitte nach links verrutscht, nachdem auf dem
fehlenden Kompass ihre geistig-politische Achse schon gefährlich pendelte. Der
Verteidiger der »zivilisierten Demokratie der Mitte« deliriert. Kein Wunder,
dass sich die Union bei diesem Umstand »die Hintertür zur großen Koalition offenhält«, wohl kaum weil die FDP »die letzte Partei ist,
die an der sozialen Marktwirtschaft als ihrem inneren Kompass festhält«. Als
Ideologe sieht Westerwelle auch nur ideologische Bedrohungen, keine objektive
Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch reale Entwicklungen. So
geht es Westerwelle nicht nur um Schwarz-Gelb. »Es geht darum, als Liberale
stark genug zu werden, um die politische Achse der Republik wieder in Richtung
Mitte gerade zu rücken.« So ähnlich hat Helmut Kohl getönt,
als er zur geistig-moralischen Wende aufrief, um dann sehr schnell daran zu
scheitern, dass sich die Gesellschaft nicht verbiegen ließ. Bei Westerwelle
vergisst man allerdings nie, dass er eigentlich nur den Steuerbescheid von
Zahnärzten und anderen Besserverdienenden im Auge hat. Er spricht es nur nicht
mehr offen aus.
Die Bundesrepublik ist eine
Gesellschaft verallgemeinerter Lohnabhängigkeit. Noch die Empörung über die
grotesken Managergehälter stammt ja aus dem Vergleich von Einkommen, die sich
alle gleichermaßen durch erbrachte Arbeit (»Leistung«) rechtfertigen lassen
sollen. Kämen diese Einkommen aus Vermögen, riefen sie vielleicht Neid hervor,
aber nicht dieses Gefühl der Verletzung elementarer Regeln der Gerechtigkeit.
Wenn Westerwelle beklagt, dass die Gesellschaft auseinanderfliege,
wenn die »Mittelschicht« schwach werde, dann sollte er mal fragen, was da wegbricht. Es ist die »Oberschicht«, von der bei all dem
Gerede von Mitte nie die Rede ist. Sie macht sich aus der Mitte davon, manchmal
auch gleich ganz aus dem Land. So massiv sie die Strippen zieht, so vollkommen
ist sie aus dem Diskurs einer Partei wie der FDP verschwunden.
In Demokratien, die auf Verallgemeinerung der
Lohnabhängigkeit beruhen, ist der
Begriff des Bürgers mit Einführung des allgemeinen Wahlrechts politisch durch
die formell gleiche Teilhabe an den Staatsangelegenheiten definiert. Sie ist
nicht auf die über Eigentum verfügenden Familienvorstände beschränkt. Zugleich
bleibt die Dialektik zwischen privat und öffentlich, von Bourgeois und Citoyen
insofern in Kraft, als in der bürgerlichen Gesellschaft, die nun nicht länger
Eigentumslose und Frauen ausschließt, nur diejenigen eine unabhängige Stellung
erlangen, die eigenes Einkommen erzielen, weil sie etwas zu verkaufen haben, im
Normalfall also ihre Arbeitskraft. In Demokratien, die auf Verallgemeinerung
der Lohnabhängigkeit beruhen, wird die politische Teilhabe nicht nur dadurch
untergraben, dass sich die politische Klasse möglichst wenig vom Citoyen
dreinreden lassen will, sondern auch dadurch, dass der Citoyen seinen
bourgeoisen Rückhalt in der Privatsphäre verliert, etwa indem er dauerhaft
arbeitslos wird. Ob man dieser Misere durch ein gesetzliches Mindesteinkommen
entgegenwirken kann, bleibt fraglich, sicher nicht, wenn es an die Stelle eines
Arbeitseinkommens treten müsste, weil der Gesellschaft die Nachfrage nach
bezahlter Arbeit ausginge.
Moderne Demokratien sind
immer von Fragmentierung und gesellschaftlichem Ausschluss von Teilen der
Gesellschaft bedroht. Diese Bedrohung geht von der Dynamik des Kapitals aus, im
Boom wie in der Krise und Stagnation. Die Republik und demokratische Politik
befinden sich deshalb in einem permanenten Spannungsverhältnis zur kapitalistischen
Produktionsweise. Wie dieses Spannungsverhältnis politisch bearbeitet wird,
entscheidet über die jeweilige Gestalt des Kapitalismus. Das betrifft so elementare
Fragen wie die Länge des Arbeitstages und des Mindestlohns, die Grenzen des
Naturverbrauchs, aber natürlich auch die Gesundheits-, Wohnungs- und Industriepolitik,
die Bildungspolitik und die Altersversorgung. An Parteien wie der FDP und der
Linken ist beunruhigend, dass sie entweder dieses Spannungsverhältnis leugnen
und damit der Dynamik des Kapitals freien Lauf geben wollen, weil das für alle
die besten Ergebnisse verspreche, oder dass sie es aufheben wollen, weil die
Gesellschaft dann souverän über ihre Ressourcen verfügen könne.
Alle anderen, und falls sie
an der Regierung beteiligt sein sollten oder sind, auch die Vertreter der
genannten übermäßig ideologischen Parteien, werden sich mit den komplizierten
Fragen sozial und ökologisch motivierter Interventionen in den Selbstlauf der
Reproduktion des Kapitals herumschlagen müssen, mit dem Verhältnis von erwünschten
Ergebnissen und unerwünschten Nebenfolgen. All das sind Fragen des Meinungsstreits
und der Konsensbildung, die in der Republik zusammengehören.
Auch wenn für die Fortsetzung der großen Koalition
keine der beiden Regierungsparteien eintritt, ist sie eine der beiden Regierungsvarianten, für die gegenwärtig das
meiste spricht. Zu ihr wird es wohl nur dann nicht kommen, wenn Schwarz-Gelb eine
ausreichende Mehrheit erzielt. Was als ausreichend gilt, hängt auch vom
weiteren Verlauf der Krise ab. Alle anderen Regierungsvarianten hat mindestens
einer der notwendigen Partner ausgeschlossen. Die SPD lehnt Rot-Rot-Grün ab,
weil eine einigermaßen verantwortliche Außenpolitik mit Die Linke gegenwärtig
nicht vorstellbar ist. Im Inneren hat Die Linke programmatisch auf alle ohnehin
schwer verwirklichbaren sozialen Forderungen von SPD und Grünen noch eins
draufgesetzt. Fordern die jeweils einen Mindestlohn von 7,50 Euro, so hat »Die
Linke« ihre ursprüngliche Forderung von 8,00 noch einmal auf 10,00 Euro erhöht.
Ebenso auf- und übertrumpfend sind ihre Vorstellungen zu Arbeitslosengeld und Hartz IV. Selbst wenn Die Linke nach den Wahlen Abstriche
machte, wäre dies nur ein weiterer Beleg, dass man mit dieser Partei als verlässliche
Größe nicht rechnen kann. Entscheidend bleiben ihre außenpolitischen Vorstellungen,
die auch für die Grünen inakzeptabel bleiben dürften. Aber das politische
Modell des Auf- und Übertrumpfens lässt sich ohnehin nur in permanenter
Opposition ausleben.
Die Grünen wiederum
schließen eine Koalition mit CDU/CSU und FDP aus, während die FDP die
Ampelkoalition ausschließt. Dass Rot-Grün allein eine Mehrheit finden könnte,
können auch die nicht hoffen, die immer noch von einem »rot-grünen Projekt«
träumen.
Wer die Grünen wählt, wird
Gründe brauchen, die über den Wunsch einer direkten Regierungsbeteiligung
hinausgehen. Tatsächlich haben die Grünen mit und ohne Regierungsbeteiligung in
den letzten Jahrzehnten entscheidend zur Ausbildung eines sozialen und
ökologischen gesellschaftlichen Grundkonsenses beigetragen, gegen den keine
Regierung frontal angehen kann. Indem sie weiter an diesem Grundkonsens in der
Öffentlichkeit und im Parlament arbeiten, werden sie auch ohne direkte
Beteiligung Einfluss auf jede Regierung nehmen können. Wahrscheinlich werden
die Grünen in der nächsten Legislaturperiode die Kunst der indirekten
Regierungsbeteiligung vervollkommnen müssen. Auch außerhalb der Regierung
sollten sie so handeln und sprechen, als müssten sie Regierungsentscheidungen
treffen, und damit ihren Einfluss optimieren. Eine große Koalition lässt diese
indirekte Regierungsbeteiligung eher zu, wenn es denn zu einer direkten
Beteiligung an der Regierungsbildung nicht reicht und kommt.
Eine schwarzgelbe Regierung
hätte für viele, die die Links-rechts-Polarisierung für den geeigneten Modus
halten, um ihre Ziele zu verwirklichen, den Charme, dass damit zum ersten Mal
auf Bundesebene das ganze mehr oder weniger linke Spektrum in die Rolle der
Opposition versetzt wäre. Man kann davon träumen, dass dieses Spektrum auf diese
Weise gemeinsame Regierungsfähigkeit ausbilden könnte. Viel wahrscheinlicher
ist jedoch, dass der Versuch der Linkspartei, in der Opposition als die
radikalste Kraft zu erscheinen, auch die anderen Oppositionsparteien in einen
oppositionellen Schönheitswettbewerb verwickelt, der dann tatsächlich in die
von Westerwelle gewünschten »12 Jahre« münden könnte. Auf beiden Seiten hätten
die Lagerpolitiker das Sagen. Die Grünen würden sich wahrscheinlich schwertun, auch in dieser Konstellation ihren über
Jahrzehnte erfolgreichen Kurs des direkten oder indirekten Mitregierens beizubehalten
und besser zu beherrschen.
Wie die Kräfteverhältnisse und politischen
Konstellationen aussehen, kann nur
die CDU/CSU ziemlich sicher sein, so oder so an der nächsten Regierung beteiligt
zu sein. Welche Koalition die CDU und die Kanzlerin tatsächlich vorziehen,
bleibt ihr Geheimnis, auch wenn sie ebenfalls öffentlich für eine »bürgerliche
Mehrheit« eintreten. In einer schwarz-gelben Koalition wird die Kanzlerin den
ideologischen Krämpfen der FDP und CSU ziemlich ausgeliefert sein. Das kann sie
wie seinerzeit die geistig-moralische Wende Kohls gerade unter den Bedingungen
der Krise in eine heftige gesellschaftliche Konfrontation treiben. Man muss
annehmen, dass das ihren Neigungen überhaupt nicht entspricht. Man kann auch vermuten,
dass sie aus den Ergebnissen des Wahlkampfes von 2005 ihre Lehren gezogen hat
und die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht noch mal
unterschätzt. Mit Schwarz-Gelb geriete die CDU in eine innere Zerreißprobe, wie
sich schon im Vorfeld der Bundestagswahl zeigt. Die Kanzlerin getraute sich
zwar nicht, den steuerpolitischen Schwadronaden von
CSU und FDP zu widersprechen. Die Steuerpolitik scheint ihr ein Feld zu bieten,
auf dem der dem Wahlkampf immanenten polaren Gefechtsordnung am ehesten
entsprochen werden kann, ohne die Politik der großen Koalition allzu sehr
anzugreifen und den potenziellen anderen Koalitionspartner, die SPD, völlig vor
den Kopf zu stoßen. Die notwendige Flexibilität für die Regierungsbildung wird
von ihr dadurch bewahrt, dass der Zeitpunkt der versprochenen Steuersenkungen offengelassen wird.
Die CDU wird versuchen, ihre
Programmpunkte in der Steuerpolitik sozial- und konjunkturpolitisch zu
begründen, indem sie als Sicherungsmaßnahmen der Arbeitsplätze verkauft werden.
Weder vor noch nach den Wahlen kann die CDU darauf verzichten, das Soziale als
ihr ureigenes Terrain zu besetzen. Eine Untersuchung der Reden von Merkel und
Steinmeier zeigt, dass das Wörtchen »sozial« bei Merkel bisher sogar einen höheren
Stellenwert als bei ihrem Konkurrenten einnimmt.(5) Es ist halt nicht so, dass
es in der Bundesrepublik einen sozialdemokratischen Common Sense gibt,
das heißt einen Konsens, der parteipolitisch mit der SPD verknüpft ist oder von
ihr als »Leitpartei« hegemonial instrumentalisiert werden kann.(6) Es gibt eine
hohe Wertschätzung sozialer Gerechtigkeit, die sich zwar am ehesten bei den
beiden großen Parteien aufgehoben sieht, aber sich an keine Partei
ausschließlich bindet. Es ist diese ungebrochene Wertschätzung, die Westerwelle
von einem »Linksrutsch« sprechen lässt, der beendet werden müsse, ehe die
geistig-politische Achse dieser Republik endgültig aus der Mitte nach links verrutscht.
Dabei ist es diese Wertschätzung, um die sich die politische Mitte einer
Republik auf Basis verallgemeinerter Lohnabhängigkeit allein bilden kann.(7)
1
Vgl. zu
dieser Problematik Helmut Wiesenthal: »Vor uns die schwierigen Jahre. Wandel
des deutschen Parteiensystems, gesellschaftliche Desintegration und die Zukunft
der Grünen«, in Kommune 4/08, S. 6–15, speziell S. 9, wo Wiesenthal auf
den schwindenden Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der nächsten
Regierung unter Bedingungen eines Fünf- bis Sechsparteiensystems hinweist.
2
»Fußball
ist populärer«, in: taz, 9.5.09.
3
Zuletzt
mit: »Machtfrage und Parlamentstaktik. Die Politik wechselnder Mehrheiten –
damals und heute«, in: Kommune 3/08, S. 6–13.
4
Die
folgenden Zitate stammen alle aus: »Wir stehen vor einer schicksalhaften Wahl«,
einem Gespräch Westerwelles mit Thorsten Jungholt und
Alan Posener, in: WamS, 10.5.09.
5
Darauf
weist Joachim Scharloth von der Heidelberger
Forschungsgruppe »Semtracks« hin in einem Gespräch
mit der FAS, 10.5.09.
6
Davon gehen
dagegen die Autoren des Artikels »Die Haupttendenz ist Reformismus. Die
Leitpartei SPD und der sozialdemokratische ›Common Sense‹«, in: Kommune
3/08, S. 6–13, aus. Statt Common Sense hätten sie in ihrem Zusammenhang
eher sozialdemokratisch in Anführungszeichen setzen müssen. Auch ihr Abschied
vom Begriff der »Volkspartei« scheint mir insofern verfehlt, als es für
Parteien wie die CDU, die SPD und auch die Grünen weiterhin darauf ankommt, die
Gesamtheit der Gesellschaft, die »bürgerliche Gesellschaft« insgesamt,
anzusprechen und sich nicht nur auf Teile der Gesellschaft zu kaprizieren. Der
Begriff der Volkspartei ist insofern paradox, als er ausdrücken will, dass ein
Teil des politischen Spektrums, eine Partei, doch die Allgemeinheit überzeugen
will. Er grenzt sich gegen den Begriff der Klassenpartei ab, der in einer
Gesellschaft verallgemeinerter Lohnabhängigkeit wirklich obsolet geworden ist.
Auf dieser ausgedehnten, gespreizten, aber nicht zerklüfteten Basis
unterscheiden sich die Parteien immer weniger nach der Herkunft ihrer
Mitglieder und Anhänger als nach dem Bukett ihrer Ziele.
7
Das
Problem, wie in einer Gesellschaft auf Basis der kapitalistischen
Produktionsweise und verallgemeinerter Lohnabhängigkeit der gesellschaftliche Zusammenhalt
durch die Bildung einer politischen Mitte zu sichern wäre, um damit die
Fähigkeit zu gewinnen, in den Selbstlauf des Kapitalismus sozial und ökologisch
regulierend einzugreifen, habe ich von meiner Seite zum ersten Mal in einem
Artikel in Kommune 6/94 ausdrücklich diskutiert: »Viel Mittelmaß, wenig
Mitte. Die Mitte denken«, S. 6–9.