Joscha Schmierer

Republik und Krise

Konstellationen im Wahljahr

 

Während mit dem Ausmaß der Krise die »großen Fragen« immer größer werden, gehen die Parteien vor den Bundestagswahlen immer kleinlicher an sie heran. Der Mechanismus von Regierung und Opposition ist unter Bedingungen einer großen Koalition empfindlich gestört. Die Opposition kann die Regierung nicht ablösen und die Regierung selbst stellt sich nicht zur Wahl. Stattdessen also Lagerwahlkampf? Aber welche Lager hat die Bundesrepublik denn? Und welchem ließe sich das Soziale zuzuordnen? Vielleicht doch einer politischen Mitte, in einer Republik auf Basis verallgemeinerter Lohnarbeit? Wo bleibt da eine polare Gefechtsordnung?

 

Man erinnert sich: Ziemlich unerwartet traten Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück uns im letzten Jahr mit ernsten Mienen aus dem Fernseher entgegen und versicherten, dass man keine Angst um seine Spar- und Festgeldkonten haben müsse. Der Staat garantiere sie. Dass sie gefährdet sein könnten, war zu diesem Zeitpunkt den wenigsten bewusst. Ich jedenfalls war verblüfft. Sieht so also der Staat aus? Ein älteres Paar, fast Hand in Hand, sagt uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, bevor wir den Grund sehen, warum wir uns Sorgen machen müssten? Die große Koalition erschien in diesem Moment als Glücksfall, als große staatliche Sozialversicherung.

Erst nach und nach klärte sich die Dramatik der Situation. Die Regierung hat sich schlecht und recht behauptet in den globalen Stürmen. Haben die sich schon gelegt? Sind sie gar vorbei, ohne allzu viel kaputt gemacht zu haben? Dafür wird niemand die Hand ins Feuer legen. Und wer hätte den Mut, wie seinerzeit Karl Marx voller revolutionärer Selbstgewissheit, zu triumphieren: Die Krise entwickelt sich großartig? Hoffentlich ist sie bald vorbei und gefährdet sie nicht meine Rente, sagt sich heute selbst der ehemalige SED-Funktionär. Die Krise überwinden zu wollen, versprechen die Parteien, die sich für den Bundestag zur Wahl stellen. Es allein zu schaffen, behauptet keine.

Es gibt keinen einfachen und sicheren Weg aus der Krise. Darüber allerdings, was langfristig zu erreichen ist, herrscht große Übereinstimmung. Wenn Bundespräsident Köhler von der Notwendigkeit einer »Ökologisierung der Weltwirtschaft« spricht, findet er das Echo bei Joschka Fischer, den die jetzigen SPD-Führer, wie man lesen konnte, als seinen Nachfolger nicht schlecht gefunden hätten: »Ein wirksamer Kampf gegen die Klimakrise setzt daher nichts Geringeres als eine grüne Revolution der Weltwirtschaft voraus. Dies muss das Megaprojekt des 21. Jahrhunderts sein (SZ, 11.5.09)

Um das »Megaprojekt« der »Ökologisierung der Weltwirtschaft« wirksam in Angriff zu nehmen und über alle Hindernisse und Rückschläge hinweg dauerhaft zu verfolgen, könnte eine Koalition gar nicht groß genug sein. Der »New Green Deal«, von dem auf beiden Seiten des Atlantiks die Rede ist, muss zwischen allen Teilen der Gesellschaft ausgehandelt werden. Er verlangt eine Verständigung unter allen Staaten. In der jetzigen Krise zeichnen sich Züge eines globalen Bewusstseins ab, das die wechselseitige Abhängigkeit als aufeinander angewiesen sein zu begreifen beginnt. Mit den G 20 hat sich ein Forum gebildet, in dem die entscheidenden Mächte ihr Gewicht zusammenfassen und zur Geltung bringen können.

 

Dass es in der Bundestagswahl auch um diese großen Fragen geht, ist schwer zu erkennen. Zu klein erscheint der mögliche Anteil der Bundesrepublik an ihrer Lösung, zu kleinlich gehen die Parteien an sie heran. Wahlen in der parlamentarischen Demokratie funktionieren nach dem Mechanismus von Regierung und Opposition. Der ist unter Bedingungen einer großen Koalition empfindlich gestört. Gegenüber der großen Koalition kann sich keine regierungsfähige Opposition herausbilden, die in die Wahlen mit dem Ziel geht, die gegenwärtige Regierung abzulösen. Auch wenn sich FDP, Grüne und Die Linke gelegentlich zusammentun, um einen Untersuchungsausschuss zu installieren, passen sie in ihren erklärten Zielen und ihrem politischen Habitus untereinander schlechter zusammen, als jede von ihnen zu einer der Regierungsparteien passt. Die Grünen regieren in Bremen und Hamburg jeweils mit einer von beiden und stehen inzwischen wohl auch beiden in ihrem politischen Verantwortungsbewusstsein näher als den anderen Oppositionsparteien. Während in der großen Koalition wohl oder übel Pragmatismus, der oft an Opportunismus grenzt, die Entscheidungen prägt, entwickeln sich FDP und Die Linke zunehmend zu ideologischen Bekenntnisparteien. Dabei bilden ein imaginierter Neoliberalismus und Sozialismus die ideologischen Pole, an denen sie sich gegenseitig ab- und zuarbeiten. Die Grünen haben sich immer an Zielen orientiert, nicht an Ideologien. Die beiden großen Parteien mussten sich als Volksparteien diese Ziele mehr oder weniger zu eigen machen. Unter Volksparteien verstehe ich Parteien, die sich in ihrer Programmatik und Ansprache an alle wenden. Die Größe ist Ergebnis, nicht Voraussetzung. In diesem Sinne sind auch die Grünen im Unterschied zu FDP und Die Linke eine Volkspartei. Die Grünen haben entscheidend dazu beigetragen, dass der soziale Grundkonsens der Bundesrepublik ökologisch erweitert wurde. Keine Regierung wird diesen ökologisch erweiterten sozialen Grundkonsens völlig negieren können. Um ihn bildet sich die politische Mitte, die den Zusammenhalt der Gesellschaft auch in Zeiten der Krise sichern will. Die Grünen sind nicht weniger als große Teile der CDU und die SPD Teil dieser politischen Mitte. Ihr gegenüber zielen FDP und Die Linke auf Spaltung. Die CSU, auf Bundesebene die sechste Partei, entscheidet von Fall zu Fall, wohin sie sich schlägt.

 

Der parlamentarische Mechanismus von Regierung und Opposition funktioniert nicht im Vorfeld der Bundestagswahlen. Einerseits ist die Opposition unfähig die Regierung abzulösen, andererseits steht aber auch keine Regierung zur Wahl. Die jetzige Regierung scheint ja keinen größeren Wunsch zu haben, als abgelöst zu werden. Die Wahlen werden über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden. Welche Regierung dieses Parlament installieren wird, bleibt ungewiss.(1) Welcher Partei man immer seine Stimme gibt, man entscheidet damit nicht über Regierung und Opposition. Beide werden sich erst nach den Wahlen finden. Das ist eine neue Situation, weder vergleichbar mit den Wahlen von 1969, durch die die damalige große Koalition beendet wurde, noch mit den Wahlen von 2005, als die Niederlage der rotgrünen Regierung zu einer Neuauflage der großen Koalition führte.

Die Bildung der sozialliberalen Koalition nach den Wahlen von 1969 brach zwar mit der Konvention, wonach der stärksten Partei die Prärogative bei der Regierungsbildung zukommt, konnte sich aber auf eine gesellschaftliche Dynamik stützen, die von der zwei Jahrzehnte langen Vorherrschaft der CDU/CSU eindeutig genug hatte. Die sozialliberale Koalition kam diesem Veränderungswillen mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« und ihrem den bisherigen mainstream überragenden Regierungschef Brandt entgegen. Während sich die CDU/CSU seinerzeit geradezu als Opfer eines Staatsstreichs gerierte, atmete ein großer Teil der Gesellschaft auf. Vor allem die neue Ostpolitik der Regierung Brandt ermöglichte dann den triumphalen Wahlsieg der sozialliberalen Koalition, die die konservative Vorstellung eines »bürgerlichen Lagers« ein für alle Mal gesprengt zu haben schien. Es lebt heute zwar als Fetisch und Beschwörungsformel wieder auf, hat aber in den realen gesellschaftlichen Bedingungen keinerlei Grundlage.

 

In der Bundestagswahl von 2005 hatten bisherige Regierung und Opposition gleichermaßen die Mehrheit verpasst. Die Bildung einer einigermaßen stabilen und handlungsfähigen Regierung versprach damit allein die große Koalition. So wenig sie zu größeren Reformen in der Lage war, bewies sie in den entscheidenden außenpolitischen Fragen und jetzt auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise eine unleugbare Standfestigkeit. Es ist keine schlechte Regierung. Aber niemand will sie ausdrücklich verteidigen. Niemand stellt sie ausdrücklich zur Wahl.

Ginge es bei der Bundestagswahl wie bei der Europawahl um die Stärkung des Parlaments gegenüber einer Exekutive, die zwar nicht unabhängig vom Parlament agiert, aber doch nicht durch seine Mehrheitsentscheidung zustande kommt, wäre die Situation weniger verwirrend, als sie in Sachen Regierungsbildung nun einmal ist. Welche Freiräume der Erörterung und Abwägung ein Parlament wie das europäische eröffnen kann, erklärte der grüne Europaparlamentarier Michael Cramer neulich der taz. Was denn die größten Unterschiede zur Berliner Landespolitik seien, wurde er gefragt: »Die Entscheidungsfindung läuft anders. Es gibt in Brüssel nicht das Spiel zwischen einer von einer Parlamentsmehrheit gestützten Regierung und der Opposition. Im Europarlament sitzen 785 Abgeordnete aus 177 unterschiedlichen Parteien … Und dennoch sind wir nur in sieben Fraktionen zusammengeschlossen. Wir haben auch kein Initiativrecht, wir können also keine Gesetzentwürfe einbringen, sondern immer nur auf Vorlagen der Kommission reagieren Und das bringe doch quasi das ganze Parlament in eine Oppositionsrolle, staunt der Interviewer. »So ungefähr«, antwortet Cramer. »Und alle wissen: Nur wenn wir im Parlament starke Mehrheiten zusammenkriegen, können wir gegen die Kommission und den Rat – die jeweiligen Minister der Länder – etwas durchsetzen Auf die Frage, ob er jetzt sagen wolle, es gebe keinen Fraktionszwang, bekommt die taz zu hören: »Den gibt es wirklich nicht – und das eröffnet Chancen auch für kleinere Fraktionen, eine Mehrheit für ihre Position zu organisieren(2) Hier im Europaparlament ist das Prinzip der wechselnden Mehrheiten, nach dessen Möglichkeiten Michael Jäger immer wieder fragt,(3) also durchaus verwirklicht.

Die relative Schwäche des EU-Parlaments gegenüber der Exekutive bewirkt die Stärke der Parlamentarier und des Parlaments gegenüber den Parteien. In der EU als Staaten- und Bürgerunion wird auf originelle Art und Weise an dem Prinzip der Gewaltenteilung festgehalten, die im Inneren der Bundesrepublik zwischen Exekutive und Gesetzgeber nie bestand. Die Abhängigkeit der Exekutive von der Mehrheit des Gesetzgebers bewirkt im Regelfall eine Unterordnung der Meinungsbildung im Parlament unter den Regierungswillen. Wechselnde Mehrheiten kommen nicht vor. Was gelegentlich vorkommt, ist eine offene Mehrheitsbildung, wenn es große Meinungsunterschiede in der Mehrheit gibt und die Entscheidung für das Regierungshandeln als unwichtig genug gilt, um sie als Gewissensentscheidung ins Belieben der Parlamentarier zu stellen. Es ist dann von einer großen Stunde des Parlaments die Rede. Die gesellschaftliche Mehrheit, die ja nicht in der gleichen Weise einer Polarisierung unterliegt, wie sie der Mechanismus von Regierung und Opposition vorsieht, muss also andere Wege suchen, um auf den Gesetzgeber und die Exekutive einzuwirken. Eine solche Form kann eine große Koalition sein.

 

Über die große Koalition von 1967/69 wurde durch die Regierungsbeteiligung der SPD die Weiche für eine zuvor fast undenkbare Regierungsmehrheit gestellt: eine sozialliberale Regierung unter Führung der SPD. Vielleicht wurden mit der jetzigen großen Koalition die Weichen für eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Exekutive und Gesetzgeber, zwischen Regierung und Parlament gestellt, indem das Spiel von Regierung und Opposition so gründlich durcheinandergeraten ist, dass die Wähler zwar ein Parlament wählen, sich aber weder für die Regierung noch für die Opposition entscheiden können, weil die Regierung nicht antritt und die Opposition als Kandidat für die Regierung nicht zur Verfügung steht.

Ein ziemlich dummer und geradezu unverschämter Versuch, den gegenwärtig außer Kraft gesetzten Mechanismus von Regierung und Opposition virtuell zu ersetzen und zugleich das eigene ideologische Gebaren scheinbar mit sozialer Substanz zu füllen, ist die polarisierende Gegenüberstellung von »bürgerlichem Lager« und der »Linken«.

Als ihr fanatischer Propagandist tritt zurzeit vor allem Guido Westerwelle auf, aber auch viele Meinungsforscher machen sich diese Gegenüberstellung zu eigen, wenn sie ihre Umfrageergebnisse gruppieren. Wie albern dieser Ansatz ist, zeigt sich schon daran, dass die beiden angeblichen Pole nach Begriffen aus völlig verschiedenen Sphären kategorisiert werden, bürgerlich und links. Wenn schon, dann wäre es nahe liegend nach rechts und links oder nach bürgerlich und proletarisch zu sortieren. Doch das »bürgerliche Lager« soll zugleich die Mitte repräsentieren. Da käme es nicht gut, es als rechts zu verorten. Würde dem bürgerlichen Lager aber ein proletarisches Lager entgegengesetzt, träte der ganze Unsinn sofort zutage. So viele »Bürger« im vordemokratischen Sinn, wie das bürgerliche Lager sammeln will, kann keine Übertreibung zusammenbringen und so wenige Proletarier im strikt ökonomischen Sinn, wie die »Linke« auf die Waagschale bringen kann, gibt es auch nicht.

Die asymmetrische Polarisierung ist natürlich erwünscht, um auf der einen Seite soziale Gegebenheit vorzutäuschen und die andere Seite als willkürliche Setzung zu apostrophieren.

 

Die nächste Bundestagswahl sei schicksalhaft, behauptet Guido Westerwelle.(4) Man bräuchte nicht zu widersprechen, wenn Guido Westerwelle auf die schwierigen Probleme verwiese, mit denen das nächste Parlament und jede Regierung, die aus ihm hervorgeht, konfrontiert sein wird. Aber dieses »Schicksal« meint Westerwelle nicht. Er sieht es so: Dieses Land erlebe im September eine »Weichenstellung für die nächsten zwölf Jahre. Die Deutschen sind vor die Entscheidung gestellt: Gibt es noch eine strukturelle Mehrheit für eine bürgerliche Regierung oder geht der Linksrutsch weiter? Es geht um die Frage, ob die Mehrheit in Deutschland noch hinter unserer Grund- und Werteordnung steht. Der fehlende Kompass der sogenannten großen Koalition hat bereits dafür gesorgt, dass die geistig politische Achse dieser Republik gefährlich ins Pendeln gekommen ist. Bei der nächsten Bundestagswahl entscheidet sich, ob sie endgültig aus der Mitte nach links verrutscht Was hier ins Rutschen gekommen scheint, ist der politische Verstand. Gleich für zwölf Jahre will er die Weichen stellen lassen, damit die Republik nicht »endgültig« aus der Mitte nach links verrutscht, nachdem auf dem fehlenden Kompass ihre geistig-politische Achse schon gefährlich pendelte. Der Verteidiger der »zivilisierten Demokratie der Mitte« deliriert. Kein Wunder, dass sich die Union bei diesem Umstand »die Hintertür zur großen Koalition offenhält«, wohl kaum weil die FDP »die letzte Partei ist, die an der sozialen Marktwirtschaft als ihrem inneren Kompass festhält«. Als Ideologe sieht Westerwelle auch nur ideologische Bedrohungen, keine objektive Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch reale Entwicklungen. So geht es Westerwelle nicht nur um Schwarz-Gelb. »Es geht darum, als Liberale stark genug zu werden, um die politische Achse der Republik wieder in Richtung Mitte gerade zu rücken So ähnlich hat Helmut Kohl getönt, als er zur geistig-moralischen Wende aufrief, um dann sehr schnell daran zu scheitern, dass sich die Gesellschaft nicht verbiegen ließ. Bei Westerwelle vergisst man allerdings nie, dass er eigentlich nur den Steuerbescheid von Zahnärzten und anderen Besserverdienenden im Auge hat. Er spricht es nur nicht mehr offen aus.

Die Bundesrepublik ist eine Gesellschaft verallgemeinerter Lohnabhängigkeit. Noch die Empörung über die grotesken Managergehälter stammt ja aus dem Vergleich von Einkommen, die sich alle gleichermaßen durch erbrachte Arbeit (»Leistung«) rechtfertigen lassen sollen. Kämen diese Einkommen aus Vermögen, riefen sie vielleicht Neid hervor, aber nicht dieses Gefühl der Verletzung elementarer Regeln der Gerechtigkeit. Wenn Westerwelle beklagt, dass die Gesellschaft auseinanderfliege, wenn die »Mittelschicht« schwach werde, dann sollte er mal fragen, was da wegbricht. Es ist die »Oberschicht«, von der bei all dem Gerede von Mitte nie die Rede ist. Sie macht sich aus der Mitte davon, manchmal auch gleich ganz aus dem Land. So massiv sie die Strippen zieht, so vollkommen ist sie aus dem Diskurs einer Partei wie der FDP verschwunden.

 

In Demokratien, die auf Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit beruhen, ist der Begriff des Bürgers mit Einführung des allgemeinen Wahlrechts politisch durch die formell gleiche Teilhabe an den Staatsangelegenheiten definiert. Sie ist nicht auf die über Eigentum verfügenden Familienvorstände beschränkt. Zugleich bleibt die Dialektik zwischen privat und öffentlich, von Bourgeois und Citoyen insofern in Kraft, als in der bürgerlichen Gesellschaft, die nun nicht länger Eigentumslose und Frauen ausschließt, nur diejenigen eine unabhängige Stellung erlangen, die eigenes Einkommen erzielen, weil sie etwas zu verkaufen haben, im Normalfall also ihre Arbeitskraft. In Demokratien, die auf Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit beruhen, wird die politische Teilhabe nicht nur dadurch untergraben, dass sich die politische Klasse möglichst wenig vom Citoyen dreinreden lassen will, sondern auch dadurch, dass der Citoyen seinen bourgeoisen Rückhalt in der Privatsphäre verliert, etwa indem er dauerhaft arbeitslos wird. Ob man dieser Misere durch ein gesetzliches Mindesteinkommen entgegenwirken kann, bleibt fraglich, sicher nicht, wenn es an die Stelle eines Arbeitseinkommens treten müsste, weil der Gesellschaft die Nachfrage nach bezahlter Arbeit ausginge.

Moderne Demokratien sind immer von Fragmentierung und gesellschaftlichem Ausschluss von Teilen der Gesellschaft bedroht. Diese Bedrohung geht von der Dynamik des Kapitals aus, im Boom wie in der Krise und Stagnation. Die Republik und demokratische Politik befinden sich deshalb in einem permanenten Spannungsverhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise. Wie dieses Spannungsverhältnis politisch bearbeitet wird, entscheidet über die jeweilige Gestalt des Kapitalismus. Das betrifft so elementare Fragen wie die Länge des Arbeitstages und des Mindestlohns, die Grenzen des Naturverbrauchs, aber natürlich auch die Gesundheits-, Wohnungs- und Industriepolitik, die Bildungspolitik und die Altersversorgung. An Parteien wie der FDP und der Linken ist beunruhigend, dass sie entweder dieses Spannungsverhältnis leugnen und damit der Dynamik des Kapitals freien Lauf geben wollen, weil das für alle die besten Ergebnisse verspreche, oder dass sie es aufheben wollen, weil die Gesellschaft dann souverän über ihre Ressourcen verfügen könne.

Alle anderen, und falls sie an der Regierung beteiligt sein sollten oder sind, auch die Vertreter der genannten übermäßig ideologischen Parteien, werden sich mit den komplizierten Fragen sozial und ökologisch motivierter Interventionen in den Selbstlauf der Reproduktion des Kapitals herumschlagen müssen, mit dem Verhältnis von erwünschten Ergebnissen und unerwünschten Nebenfolgen. All das sind Fragen des Meinungsstreits und der Konsensbildung, die in der Republik zusammengehören.

 

Auch wenn für die Fortsetzung der großen Koalition keine der beiden Regierungsparteien eintritt, ist sie eine der beiden Regierungsvarianten, für die gegenwärtig das meiste spricht. Zu ihr wird es wohl nur dann nicht kommen, wenn Schwarz-Gelb eine ausreichende Mehrheit erzielt. Was als ausreichend gilt, hängt auch vom weiteren Verlauf der Krise ab. Alle anderen Regierungsvarianten hat mindestens einer der notwendigen Partner ausgeschlossen. Die SPD lehnt Rot-Rot-Grün ab, weil eine einigermaßen verantwortliche Außenpolitik mit Die Linke gegenwärtig nicht vorstellbar ist. Im Inneren hat Die Linke programmatisch auf alle ohnehin schwer verwirklichbaren sozialen Forderungen von SPD und Grünen noch eins draufgesetzt. Fordern die jeweils einen Mindestlohn von 7,50 Euro, so hat »Die Linke« ihre ursprüngliche Forderung von 8,00 noch einmal auf 10,00 Euro erhöht. Ebenso auf- und übertrumpfend sind ihre Vorstellungen zu Arbeitslosengeld und Hartz IV. Selbst wenn Die Linke nach den Wahlen Abstriche machte, wäre dies nur ein weiterer Beleg, dass man mit dieser Partei als verlässliche Größe nicht rechnen kann. Entscheidend bleiben ihre außenpolitischen Vorstellungen, die auch für die Grünen inakzeptabel bleiben dürften. Aber das politische Modell des Auf- und Übertrumpfens lässt sich ohnehin nur in permanenter Opposition ausleben.

Die Grünen wiederum schließen eine Koalition mit CDU/CSU und FDP aus, während die FDP die Ampelkoalition ausschließt. Dass Rot-Grün allein eine Mehrheit finden könnte, können auch die nicht hoffen, die immer noch von einem »rot-grünen Projekt« träumen.

Wer die Grünen wählt, wird Gründe brauchen, die über den Wunsch einer direkten Regierungsbeteiligung hinausgehen. Tatsächlich haben die Grünen mit und ohne Regierungsbeteiligung in den letzten Jahrzehnten entscheidend zur Ausbildung eines sozialen und ökologischen gesellschaftlichen Grundkonsenses beigetragen, gegen den keine Regierung frontal angehen kann. Indem sie weiter an diesem Grundkonsens in der Öffentlichkeit und im Parlament arbeiten, werden sie auch ohne direkte Beteiligung Einfluss auf jede Regierung nehmen können. Wahrscheinlich werden die Grünen in der nächsten Legislaturperiode die Kunst der indirekten Regierungsbeteiligung vervollkommnen müssen. Auch außerhalb der Regierung sollten sie so handeln und sprechen, als müssten sie Regierungsentscheidungen treffen, und damit ihren Einfluss optimieren. Eine große Koalition lässt diese indirekte Regierungsbeteiligung eher zu, wenn es denn zu einer direkten Beteiligung an der Regierungsbildung nicht reicht und kommt.

Eine schwarzgelbe Regierung hätte für viele, die die Links-rechts-Polarisierung für den geeigneten Modus halten, um ihre Ziele zu verwirklichen, den Charme, dass damit zum ersten Mal auf Bundesebene das ganze mehr oder weniger linke Spektrum in die Rolle der Opposition versetzt wäre. Man kann davon träumen, dass dieses Spektrum auf diese Weise gemeinsame Regierungsfähigkeit ausbilden könnte. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Versuch der Linkspartei, in der Opposition als die radikalste Kraft zu erscheinen, auch die anderen Oppositionsparteien in einen oppositionellen Schönheitswettbewerb verwickelt, der dann tatsächlich in die von Westerwelle gewünschten »12 Jahre« münden könnte. Auf beiden Seiten hätten die Lagerpolitiker das Sagen. Die Grünen würden sich wahrscheinlich schwertun, auch in dieser Konstellation ihren über Jahrzehnte erfolgreichen Kurs des direkten oder indirekten Mitregierens beizubehalten und besser zu beherrschen.

 

Wie die Kräfteverhältnisse und politischen Konstellationen aussehen, kann nur die CDU/CSU ziemlich sicher sein, so oder so an der nächsten Regierung beteiligt zu sein. Welche Koalition die CDU und die Kanzlerin tatsächlich vorziehen, bleibt ihr Geheimnis, auch wenn sie ebenfalls öffentlich für eine »bürgerliche Mehrheit« eintreten. In einer schwarz-gelben Koalition wird die Kanzlerin den ideologischen Krämpfen der FDP und CSU ziemlich ausgeliefert sein. Das kann sie wie seinerzeit die geistig-moralische Wende Kohls gerade unter den Bedingungen der Krise in eine heftige gesellschaftliche Konfrontation treiben. Man muss annehmen, dass das ihren Neigungen überhaupt nicht entspricht. Man kann auch vermuten, dass sie aus den Ergebnissen des Wahlkampfes von 2005 ihre Lehren gezogen hat und die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht noch mal unterschätzt. Mit Schwarz-Gelb geriete die CDU in eine innere Zerreißprobe, wie sich schon im Vorfeld der Bundestagswahl zeigt. Die Kanzlerin getraute sich zwar nicht, den steuerpolitischen Schwadronaden von CSU und FDP zu widersprechen. Die Steuerpolitik scheint ihr ein Feld zu bieten, auf dem der dem Wahlkampf immanenten polaren Gefechtsordnung am ehesten entsprochen werden kann, ohne die Politik der großen Koalition allzu sehr anzugreifen und den potenziellen anderen Koalitionspartner, die SPD, völlig vor den Kopf zu stoßen. Die notwendige Flexibilität für die Regierungsbildung wird von ihr dadurch bewahrt, dass der Zeitpunkt der versprochenen Steuersenkungen offengelassen wird.

Die CDU wird versuchen, ihre Programmpunkte in der Steuerpolitik sozial- und konjunkturpolitisch zu begründen, indem sie als Sicherungsmaßnahmen der Arbeitsplätze verkauft werden. Weder vor noch nach den Wahlen kann die CDU darauf verzichten, das Soziale als ihr ureigenes Terrain zu besetzen. Eine Untersuchung der Reden von Merkel und Steinmeier zeigt, dass das Wörtchen »sozial« bei Merkel bisher sogar einen höheren Stellenwert als bei ihrem Konkurrenten einnimmt.(5) Es ist halt nicht so, dass es in der Bundesrepublik einen sozialdemokratischen Common Sense gibt, das heißt einen Konsens, der parteipolitisch mit der SPD verknüpft ist oder von ihr als »Leitpartei« hegemonial instrumentalisiert werden kann.(6) Es gibt eine hohe Wertschätzung sozialer Gerechtigkeit, die sich zwar am ehesten bei den beiden großen Parteien aufgehoben sieht, aber sich an keine Partei ausschließlich bindet. Es ist diese ungebrochene Wertschätzung, die Westerwelle von einem »Linksrutsch« sprechen lässt, der beendet werden müsse, ehe die geistig-politische Achse dieser Republik endgültig aus der Mitte nach links verrutscht. Dabei ist es diese Wertschätzung, um die sich die politische Mitte einer Republik auf Basis verallgemeinerter Lohnabhängigkeit allein bilden kann.(7)

 

1

Vgl. zu dieser Problematik Helmut Wiesenthal: »Vor uns die schwierigen Jahre. Wandel des deutschen Parteiensystems, gesellschaftliche Desintegration und die Zukunft der Grünen«, in Kommune 4/08, S. 6–15, speziell S. 9, wo Wiesenthal auf den schwindenden Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der nächsten Regierung unter Bedingungen eines Fünf- bis Sechsparteiensystems hinweist.

2

»Fußball ist populärer«, in: taz, 9.5.09.

3

Zuletzt mit: »Machtfrage und Parlamentstaktik. Die Politik wechselnder Mehrheiten – damals und heute«, in: Kommune 3/08, S. 6–13.

4

Die folgenden Zitate stammen alle aus: »Wir stehen vor einer schicksalhaften Wahl«, einem Gespräch Westerwelles mit Thorsten Jungholt und Alan Posener, in: WamS, 10.5.09.

5

Darauf weist Joachim Scharloth von der Heidelberger Forschungsgruppe »Semtracks« hin in einem Gespräch mit der FAS, 10.5.09.

6

Davon gehen dagegen die Autoren des Artikels »Die Haupttendenz ist Reformismus. Die Leitpartei SPD und der sozialdemokratische ›Common Sense‹«, in: Kommune 3/08, S. 6–13, aus. Statt Common Sense hätten sie in ihrem Zusammenhang eher sozialdemokratisch in Anführungszeichen setzen müssen. Auch ihr Abschied vom Begriff der »Volkspartei« scheint mir insofern verfehlt, als es für Parteien wie die CDU, die SPD und auch die Grünen weiterhin darauf ankommt, die Gesamtheit der Gesellschaft, die »bürgerliche Gesellschaft« insgesamt, anzusprechen und sich nicht nur auf Teile der Gesellschaft zu kaprizieren. Der Begriff der Volkspartei ist insofern paradox, als er ausdrücken will, dass ein Teil des politischen Spektrums, eine Partei, doch die Allgemeinheit überzeugen will. Er grenzt sich gegen den Begriff der Klassenpartei ab, der in einer Gesellschaft verallgemeinerter Lohnabhängigkeit wirklich obsolet geworden ist. Auf dieser ausgedehnten, gespreizten, aber nicht zerklüfteten Basis unterscheiden sich die Parteien immer weniger nach der Herkunft ihrer Mitglieder und Anhänger als nach dem Bukett ihrer Ziele.

7

Das Problem, wie in einer Gesellschaft auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise und verallgemeinerter Lohnabhängigkeit der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die Bildung einer politischen Mitte zu sichern wäre, um damit die Fähigkeit zu gewinnen, in den Selbstlauf des Kapitalismus sozial und ökologisch regulierend einzugreifen, habe ich von meiner Seite zum ersten Mal in einem Artikel in Kommune 6/94 ausdrücklich diskutiert: »Viel Mittelmaß, wenig Mitte. Die Mitte denken«, S. 6–9.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009