Thomas Schmitt

Gewalt und Gegengewalt

Pakistan und Indien im Spannungsfeld staatlicher Repression und politisch motivierter Aufstandsbewegungen

 
Indien und Pakistan, Nachbarn, doch sehr verschieden, nicht nur was Land und Leute betrifft, sondern auch in ihrer politischen Entwicklung. Im Vergleich der politischen Strukturen, den unser Autor zieht, erweisen sich die Regulative der indischen Demokratie eindeutig integrativer als jene des pakistanischen Staats. Während gewaltsame Aufstandsbewegungen in Indien zwar eine ernste Sache sind, aber nicht die staatliche Existenz erschüttern, zeigt in Pakistan jede Eskalation sofort die Hinfälligkeit des Staatswesens.

 

Mit Indien und Pakistan stehen sich zwei konfliktträchtige Atommächte gegenüber, die nicht nur mehrere Kriege gegeneinander geführt haben, sondern auch zwei unterschiedliche politische Systeme mit einem jeweils unterschiedlichen religiös-kulturellen Hintergrund repräsentieren.

Beide Länder sind seit Jahrzehnten mit unterschiedlichsten Aufstandsbewegungen konfrontiert. Wie die jeweiligen Eliten, die Parteien, die Regierungen und deren Sicherheitsapparate auf politische Gewalt und Terror reagieren, sagt viel über das Selbstverständnis des jeweiligen Regimes aus. So erkennen viele Kritiker in Pakistan einen von amerikanischer Finanz- und Militärhilfe abhängigen Kunststaat, der sich zwar erhalten, aber bis heute nicht konsolidiert hat. Schlimmer noch, viele zählen Pakistan schon zu den failed states, dessen Zusammenbruch zwar nicht unmittelbar bevorsteht, aber in Zukunft nicht mehr gänzlich ausgeschlossen werden kann.

Dabei sah es vor allzu langer Zeit gar nicht so schlecht aus. Die Partei der ermordeten früheren Premierministerin Benazir Bhutto, die Pakistan Peoples Party (PPP), hatte 2008 einen klaren Wahlsieg errungen. Bhuttos Wittwer, Asif A. Zardari, wurde zum Präsidenten und an die Spitze seiner Partei, der Pakistan Peoples Party (PPP) gewählt. Problematisch ist allerdings, dass die PPP seither mit der von Nawaz Sharif geführten Pakistan Muslim League (PML-N) koalieren muss, obwohl die beiden Parteien, bis auf die Abneigung gegen den ehemaligen Präsidenten und damaligen Armeechef Musharraf, nichts verbindet.

Damals hatte die Öffentlichkeit die Bildung einer parlamentarisch breit abgestützten Regierung begrüßt. Aber schnell zeigt sich, dass die beiden großen pakistanischen Parteien noch nie gemeinsam regiert hatten und keine von beiden die enormen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu lösen imstande ist. Stattdessen behindern anhaltender Terror und rohe politische Gewalt den Demokratisierungsprozess und schwächen die Staatsgewalt. Unter diesen Bedingungen können bestehende gesellschaftliche Konflikte nicht eingedämmt und gewaltbereite Gruppen nicht angemessen bekämpft werden.

Im Gegensatz zu Pakistan, bei dem es sich nur der Verfassung nach um eine »demokratisch-parlamentarische« Republik handelt, hat Indien von Anbeginn an den Prinzipien des Säkularismus und Föderalismus festgehalten und 1947 eine auf der »Einheit in der Vielfalt« gegründete Demokratie errichtet. Pakistans »islamische Republik« hingegen hat seit der Unabhängigkeit bis dato drei Abschnitte gescheiterter Demokratisierung (1947–1958; 1971–1977; 1988–1999) und Militärherrschaft (1958–1971; 1977–1988; 1999–2008) durchlaufen. Art und Charakter der »Nationalidentität« Pakistans sorgen bis heute dafür, dass islamistische Tendenzen allgegenwärtig sind und dem Aufbau säkularer und föderaler Strukturen kein Erfolg beschieden ist.

Indien erhält wie Pakistan seine Unabhängigkeit 1947. Schon 1950 wird hier aber eine auf dem »Government of India Act« (1936) basierende Verfassung verabschiedet, welche die Indische Union auf den Grundsatz des Säkularismus und Föderalismus verpflichtet. Seit 1952 werden alle auf Unions- und nationaler Ebene durchgeführten Wahlen – bis auf eine einzige – auf Grundlage des allgemeinen und geheimen Stimmrechts durchgeführt.(1) Die auf dieser Basis gegründete Massendemokratie wurde bis dato nur einmal, und hier auch nur für kurze Zeit, ausgesetzt. Im Gegensatz zu seinen südasiatischen Nachbarländern hält Indien trotz einer Hindu-Mehrheit von 83 Prozent an den Prinzipien der Demokratie fest.

Den Schlüssel zum Erfolg sichert eine sogenannte State-Reorganisation, die nach der Unabhängigkeit die inneren Grenzen Indiens nach regionalen Sprachgruppen ordnet. In den aus dieser staatlichen Reorganisation entstandenen neuen Unionsstaaten werden neben der jeweiligen Regionalsprache sowohl Hindi als auch Englisch Amts- und Geschäftssprache. Es entsteht eine neue Garde von Politikern, die in die Politik der Zentralregierung eingebunden ist und später eigene, zumeist regionale Parteien gründet. Die bestimmende Partei, die Congress-Partei, wird so früh zum Mikrokosmos der regionalen Machtgruppen und kann die politische Entwicklung des Landes bis heute maßgeblich bestimmen.

 

Ganz anders Pakistan. Pakistan ist ein Kunststaatsgebilde, das sich zwar erhalten konnte, sich aber bis heute nicht konsolidiert hat. Es wird immer noch darüber gestritten, ob das Land als Militärdiktatur oder Demokratie, als säkularer oder als Zentral- oder Föderalstaat zu bestimmen ist. Dieses Dilemma ist Ursache und Konsequenz der Manipulation des politischen Prozesses durch einen kleinen Kreis von Staatsbürokraten, Militärs und Feudalherren, welche lange Zeit gezielt die verfassungsmäßigen Kontrollinstitutionen außer Kraft gesetzt haben.

Mehr noch. Früh hat die Frage nach der religiösen Ausrichtung des Staates zur Gründung kleiner islamistischer Parteien geführt. Diese Parteien, insbesondere die bereits vor der Gründung Pakistans entstandene fundamentalistische Jamiat i Islam, haben seit der islamistischen Militärdiktatur Zia ul-Haqs großen Einfluss auf das Militär, den Geheimdienst, die beiden großen Parteien und damit auch auf die Themen der politischen und religiösen Öffentlichkeit.(2) Es sind diese Gruppen, vor allem die Jamiat i Islam und die Jamiat i Ulema Islam, die in Kooperation mit Geheimdienst und Armee den anti-amerikanischen Jihad in Afghanistan (mit-)koordinieren, den Taliban-Vormarsch stützen und bis heute den Aufstand im Kaschmirhochtal gegen Indien fördern.

Die politische Verwicklung der Armee und der religiösen Parteien in diese Konfliktlagen ist nicht zufällig: Aufgrund der britischen Grenzziehung (Durand-Linie von 1892) lebt über die Hälfte der Paschtunen in Afghanistan.(3) Die andere Hälfte lebt in der pakistanischen Northwest Frontier Provinz. Wichtiger noch: Die Paschtunen besetzen die höheren Ränge des pakistanischen Militärs. Von daher muss sowohl das »demokratische« als das auch nicht-demokratische Pakistan vor allem die Kontrolle über die eigenen, aber mehr noch deren Einfluss auf die afghanischen Paschtunen behalten.(4)

Der pakistanische Staat provoziert nicht nur innenpolitische, sondern vor allem einen ernst zu nehmenden außenpolitischen Konfliktherd. So gehört das »Königreich von Jamu und Kaschmir« nach Auffassung Pakistans aufgrund seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit zu Pakistan. Seit dem ersten Krieg mit Indien 1948 kontrolliert Pakistan aber lediglich 40 Prozent des Territoriums. Die Forderung nach der Übergabe des Hochtals bleiben für Pakistans Selbstverständnis, aber mehr noch für Pakistans Armee, unverzichtbar.

Der Unterschied zu Indien besteht nun darin, dass Indien – entgegen weit verbreiteter Meinung – seit seiner Gründung mehr potenziell kriegerisches Konfliktpotenzial eingedämmt als freigesetzt hat: Im Gegensatz zu Pakistan ist für Indien der Dauerkonflikt mit seinem Nachbarn nicht von existenzieller Bedeutung. Zwar bräuchte auch Indien diese Muslimmehrheitsprovinz, um seinen säkularen Nationenanspruch zu bekräftigen, aber in Indien gilt die Armee nicht als einziger verlässlicher Garant der fortdauernden Existenz des Staates.

 

Im Land der Ghandis hat nicht das Militär, sondern die Congress-Partei, sowohl außen- als auch innenpolitisch das Zepter in der Hand. Besser noch, politische Agitationsbewegungen im Innern schließen sich bis dato im Großen und Ganzen entweder den Congress-Organisationen an, oder sie gründen eigene, regionalistische, aber selten sezessionistische Parteien. Über eine Strategie der Wähler-Minderheitenkoalition hat der Congress bei den gerade abgehaltenen Parlamentswahlen wieder bewiesen, dass er in der Lage ist, die vier größten Minderheitengruppen (Unberührbare 17 %, Stammesbevölkerung 7 %, Muslime 12 % und einflussreiche Bauern-Kasten 10 %) an sich zu binden und gefährliche gesellschaftspolitische Konfrontationen aufzuschieben oder abzuschwächen.(5)

Die Partei steht gewissermaßen für das gesamte Meinungsspektrum – mit Ausnahme weniger radikaler, fundamentalistischer oder sezessionistischer, aber vor allem kleiner Randgruppen. Dies funktioniert, weil der Congress in seiner Binnenstruktur verbal-sozialistische, liberale Fraktionen, Hindukonservative, Muslime und Sikhs, aber auch zentralistische Parteikader einbinden kann. Damit müssen sich die wenigen unabhängigen Splittergruppen auf extreme Standpunkte festlegen. Extrempositionen sind in einem Vielvölkerstaat jedoch schwer vermittelbar und taugen im demokratischen System nicht dazu, verbindliche Koalitionen gegen das politische Establishment aufzubauen.(6)

Anders in Pakistan. Dort findet die Muslim Liga von Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah nie eine Massenbasis. Sie formiert sich erst Jahre nach dem Congress und richtet sich in erster Linie gegen eine befürchtete »Hindu-Dominanz«. Ein ideologisches Konzept, das spätestens nach der Staatsgründung Pakistans seinen sinnstiftenden Inhalt verliert.(7) Betrachtet man die Entwicklung des pakistanischen Parlamentarismus genauer, fällt auf, dass die klassischen Parlamentsfunktionen nicht oder bestenfalls unzureichend ausgeübt werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine tiefe Feindschaft zwischen den beiden einflussreichsten Parteien besteht. Nach einem sich seit 1988 stets wiederholenden Muster werden alle Machtmittel eingesetzt, um die in der Opposition befindliche Partei unter Druck zu setzen und einzuschüchtern. Ziel ist es, das Nicht-Funktionieren der Demokratie vorzuführen und die jeweilige Regierung zum Rücktritt zu zwingen.

Dies hat viel damit zu tun, dass pakistanische Politiker (und Politikerinnen!) in erster Linie die Interessen ihrer Familie, ihres Clans oder ihrer Stämme, nicht aber ein Parteiprogramm oder den »Willen des pakistanischen Volkes« vertreten. Vielmehr versteht sich jede einzelne Gruppe innerhalb der pakistanischen Elite als Master of their own house, welcher autoritär und überaus konfliktträchtig bestimmen will, wohin die (politische) Reise geht. Dieses Manko zeigt sich auch und gerade in der innerparteilichen Willensbildung. Die ist wenig transparent und fußt keineswegs auf demokratischen Prinzipien. Darüber hinaus sind pakistanische Politiker in ihren Aussagen wenig verbindlich, gründen Zweckbündnisse auf Zeit, welche sich je nach Bedarf wie in Luft auflösen, wenn persönliche Sympathien, Geldforderungen oder zu erwartende Posten nicht erfüllt werden (können).

 

Letzteres trifft in gewissem Umfang zwar auch auf Indien zu, aber die indische Parteienlandschaft ist so aufgebaut, dass sich die ideologische Mittelstellung der Congress-Partei und ihre politische Vorrangstellung wechselseitig bedingt – und somit für eine gewisse politische Stabilität sorgt: Denn, als Regierungspartei hat der Congress Zugang zu den größten Patronageressourcen des Landes und als bürokratische Massenorganisation und Träger der Unabhängigkeitsbewegung verfügt er über Indien-weite Akzeptanz. Gegenüber militanten Umsturz- und Sezessionsbewegungen besitzt die Partei damit eine überlegene Strategie, welche die Inkorporation, Spaltung oder Marginalisierung ihrer politischen Gegner ermöglicht.

Zur Anwendung kommt immer die gleiche Spielart: Widerstand wird neutralisiert, indem politische Wortführer kooptiert und anschließend isoliert und korrumpiert werden. Ihre Forderungen werden zunächst in das eigene Programm aufgenommen, um sie später zu verwässern oder nicht selten ganz unter den Tisch fallen zu lassen. In der Mehrheit der Fälle ist es dem Congress auf diese Weise gelungen, sozial motivierte Agitationskampagnen, tribale Protestbewegungen oder regionalistisch-separatistische Organisationen in ein von ihm dominiertes regionales Parteienspektrum einzubinden. Nun wissen die Führer dieser Bewegungen sehr wohl, dass dem Congress-Apparat durch sein breites Spektrum rhetorischer, symbolischer und agitatorischer Macht schwer beizukommen ist. Aber sie wissen auch, dass die Einhaltung der vom Congress gesetzten politischen Spielregeln politische Teilerfolge sichern hilft.

Pakistans Parteiensystem hingegen baut auf eine distanzierte, stark lokalisierte, aber weder integrierte noch modernisierte, multiethnische Bevölkerung auf. Diese Bevölkerung hält sich weitgehend außerhalb der Reichweite der Politik des Staates auf.(8) Kein(e) Partei(en), sondern die in den Distrikten und Provinzen dominierenden Eliten, Großgrundbesitzer, Magnatenfamilien und Unternehmerkasten verbinden die Bevölkerung mit dem Staat. Nicht der Staat oder demokratische Politiken tragen zur Kohäsion und Koexistenz der sprachlich und kulturell höchst heterogen Bevölkerung bei, sondern ein auf die Verehrung von Heiligen ausgerichteter, traditionalistischer Islam.

Es sind die islamischen Parteien, die unbestreitbar diesen traditionalistischen Islam instrumentalisieren und für die Zunahme religiös motivierter Intoleranz in Pakistan verantwortlich zeichnen. Zwar bilden sie in den Parlamenten keine nennenswerte Kraft, ihr Absolutheitsanspruch und die Fähigkeit, in Protestaktionen immer wieder große Massen zu mobilisieren, machen sie aber gefährlich.

Dauerthema ist die Anwendung der sharia, welcher auch im aktuell militärisch stark umkämpften Swat-Tal eine bedeutende Rolle zukommt. Um den Islamisten entgegenzukommen, hat man dort erst kürzlich die sharia eingeführt und sieht sich nun einer gefährlich wachsenden Militanz islamistischer Kämpfer ausgesetzt. Was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass ein nicht exakt bezifferbarer Anteil der insgesamt mehr als 16.000 Koranschulen (madrasas) von genau diesen Gruppen geleitet wird, deren Einfluss sich längst auf militante ausländische Islamistenorganisationen ausgeweitet hat.

 

Wie bereits angedeutet, spielt in dem multiethnischen Kunststaatsgebilde das Militär eine herausragende Rolle. Die Tatsache erschließt sich schon aus den langen Perioden des angewendeten Kriegsrechts. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren errichtet das Militär eine Entwicklungsdiktatur, in den Siebzigern bekämpft es unter Bhutto die Kräfte, die den Staat zu entfremden drohen und in den Achtzigern nimmt es die Rolle des Verteidigers der islamischen Staatsideologie ein. Die vorerst letzte Periode militärischer Herrschaft in Pakistan unter Musharraf war sowohl gegen korrupte Politiker als auch gegen den schleichenden Staatszerfall gerichtet.

Stichwort Korruption: Es sind die Militärs, die traditionell eng mit der staatlichen Bürokratie und den Feudalpolitikern verflochten sind. Letztere sind zugleich eines der größten Hemmnisse der Demokratisierung und der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Eine nur kleine Gruppe von rund 50 Großgrundbesitzerfamilien stellt rund 70 Prozent aller Mitglieder der Provinz- und Landesparlamente. Durch das Fehlen eines nachhaltigen Modernisierungsprozesses können sich auf dem Lande Großgrundbesitz- und Abhängigkeitsstrukturen erhalten, bei der die Masse von Erntearbeitern oder Kleinstpächtern wie Leibeigene gehalten werden. Eine »Landreform« hat es nie gegeben.

Dass sich an diesem Zustand so schnell etwas ändern könnte, darf mit Recht bezweifelt werden. Dazu müssten grundlegende gesellschaftliche, ökonomische und politische Probleme gelöst werden. Hierzu gehört neben der Überwindung des Feudalsystems auch eine gerechtere Verteilung der Einkommen. Aber die Staatsverschuldung wächst und die Entwicklungsausgaben und Investitionen stagnieren. Dies liegt zum großen Teil auch daran, dass das bisherige Wachstum in hohem Maße auf zusätzliche Transferleistungen aus dem internationalen Kreditsystem sowie auf Finanzhilfen der USA basiert. Dass gerade eine von der PPP dominierte Regierung daran etwas ändern könnte, ist mehr als fraglich. Trotz einer verbal-sozialistischen Agenda hat die Partei die meisten Feudalherren in ihren eigenen Reihen.

 

Auch in Indien sichert letztlich die Armee zusammen mit der Polizei und den paramilitärischen Spezialkräften die staatliche Einheit. Im Vordergrund steht in der politischen Praxis aber der Einsatz der in der Verfassung verankerten Interventionsrechte.(9) Zum einen der »Maintenance of Internal Security Act« (MISA) und zum anderen die »Presidents-Rule«. Währen ersterer der Zentralregierung gestattet, politische Freiheitsrechte einzuschränken, können mit der »Presidents-Rule« Unionsstaatenparlamente aufgelöst und die jeweiligen Unionsstaaten bis zu anberaumten Neuwahlen der Verwaltung in Delhi unterstellt werden.(10)

Hinzu tritt ein quasi natürliches, innergesellschaftliches Macht- und Kontrollpotenzial: Die jahrhundertealte Kastenordnung. Die obersten Kasten nehmen in ihr eine weitgehend ungebrochene ökonomische und soziale Vorrangstellung ein. Führer und Eliten dieser Kasten sichern die Herrschaftsordnung, sind die traditionellen Verbündeten der Machtträger des Staates und die Stützen der herrschenden Partei. Im Falle regionaler oder lokaler Aufstandsversuche kann sich der Staat auf diese natürlichen Verbündeten stützen.

Für die gewaltbereiten Organisationen oder Parteien, welche sich durch Inkorporieren, Spalten oder durch Marginalisieren nicht bändigen lassen, erhöht das Zusammenspiel der nationalen Eingriffsrechte, der Sicherheitskräfte und der lokalen Herrschaftsgruppen den Repressionsdruck. Die Arbeitsteilung und das Eigeninteresse der drei Einflussebenen begünstigt eine unausgesprochene Kooperation, welche es leichter macht, gegebenenfalls die Repression zu delegieren und im Zweifelsfall auszudehnen.

Politische Organisationen, die – vor allem bei parteipolitischer Gegnerschaft zum Zentrum – die Eingriffsrechte des Staates fürchten müssen, werden alles tun, um zu verhindern, dass die Zentralregierung unter dem Vorwand des Ordnungszusammenbruchs von ihren Interventionsrechten Gebrauch macht.(11) Denn: Misslingt die Integration, können die regionalen Parteien die Repression delegieren, und zwar an jene dominanten Kasten und ländlichen Machthaber, mit denen sie seit jeher zusammengearbeitet haben.(12)

Nur in jenen Fällen, in denen die Delegation von Repression durch die verschiedenen Ebenen hindurch versagt, sieht sich das Zentrum zur massiven Intervention gezwungen. Nach dem endgültigen Scheitern werden dann Armee und nationale Sicherheitstruppen eingesetzt, mithilfe des »Maintenance of Internal Security Act« (MISA) politische Grundrechte ausgehebelt und gegebenenfalls die »Presidents Rule« verhängt. Über mehrere Jahre können sich dann die betroffenen Unionsstaaten in militärische Sperrgebiete verwandeln.

Wie erfolgreich bislang die Strategie der delegierten und dezentralisierten Repression war, zeigt ihre seltene Anwendung. Sie ist aber am deutlichsten in Kaschmir gegeben; sie zeigte sich im Falle der Aufstandsbewegung fundamentalistischer Sikhs während der Achtzigerjahre im Punjab und bei der Unterdrückung sezessionistischer Stammesaufstände im Nordosten des Landes.(13) In all diesen Fällen hatte das Zentrum (und damit die Congress-Partei) zuvor die Kontrolle über die Provinzregierungen nicht zeitig genug erlangen können – oder leichtfertig verspielt.

In Indien ist die Bereitschaft der Zentralregierung, in diesen Unionsstaaten zum Mittel direkter und anhaltender Repression zu greifen, sowohl aus sicherheitspolitischem Kalkül als auch aus Angst geleitet. Kaschmir, Punjab und die Nordostregion sind allesamt grenznahe Gebiete und gelten als geostrategisch bedeutsam. Eine Sezession vom indischen Mutterland könnte eine Kettenreaktion nach sich ziehen.

Alle diese Spielarten der Intervention können aber nicht als Beleg für einen (baldigen) Zusammenbruch des Staates angeführt werden. Sie verweisen eher auf das Gegenteil: Die Interventionen erinnern daran, dass im Falle Kaschmirs, des Punjabs und Nordostindiens (Assam) die in der Verfassung manifestierten Prinzipien nicht eingehalten worden sind. Sie zeigen, dass, vor allem in Nordindien, gewalttätige Unterorganisationen der hindunationalen BJP am Werke sind, die dem Säkularismus der indischen Demokratie den Garaus machen und stattdessen eine Hindu Rashtra (Nation) begründen wollen.

 

In Pakistan hingegen überformt der Staatsapparat ein enormes ethnisches, sektarisches und sezessionistisches Konfliktpotenzial. Zugleich kann der Staat auf keine mit Indien vergleichbaren Regeln zur Eindämmung, Integration oder Marginalisierung von politischer Gewalt zurückgreifen. Gegen die unübersehbare, also das Prestige- und die Bestandsfähigkeit des Staates gefährdende Gewalt wird dagegen mit Polizei, paramilitärischen Einheiten und vor allem mithilfe von Geheimdiensten vorgegangen.

Wesentlich häufiger als bei der aktuellen Bedrohungslage in der Swat-Region, bei der die Armee mit aller Härte versucht, islamistische Kampfverbände der Taliban zurückzuschlagen, kommen Strategien der Bestechung, der Kooptation und der Spaltung zur Anwendung. Damit hat es das Land zumindest bislang geschafft, die Repräsentanten, Träger und Nutznießer dieses Staates, also vor allem die islamistischen Parteien, die Armee und Verwaltung sowie rachsüchtige und selbstherrliche Eliten unter Kontrolle halten. Aufgrund einer bislang ausgebliebenen tiefgreifenden Modernisierung wird Pakistan aber noch nicht ernsthaft mit Umsturzbewegungen konfrontiert, die es wirklich gefährlich und nachhaltig erschüttern könnten – für deren Integration es allerdings über keine angemessen Mechanismen verfügt.

Indien hingegen, sechsmal größer als Pakistan, hat aufgrund seiner politischen Erfahrungen während des Unabhängigkeitskampfes und aufgrund der Größe und Komplexität des Landes von Anfang an an der Demokratie festgehalten. Schon lange befindet man sich auf dem Weg der gesellschaftlichen Modernisierung. Man ist das Risiko eingegangen und hat schmerzhafte soziale Verwerfungen und Konflikte ausgelöst. Im Gegensatz zu Pakistan aber, hat der größte demokratische Flächenstaat Südasiens immer nur jenes Maß an Gewalt freigesetzt, welches er im Rahmen seiner in der Verfassung verankerten Möglichkeiten auch bewältigen konnte.

 

1

Während der achtzehn Monate andauernden »Emergency« unter Indira Gandhi (1976–1977).

2

Zia ul-Haq fördert den Islam wie kein anderer vor ihm. Sein politisches Ziel ist es, den unklaren Begriff einer »pakistanischen« Identität durch eine umfassende Islamisierung neu zu definieren. Gestützt auf das Militär modelliert ul-Haq eine »islamische Demokratie« unter Ausschluss der politischen Parteien.

3

Bis ins 19. Jahrhundert hinein gehören auch die Paschtunengebiete im heutigen Nordwesten Pakistans zu Afghanistan. Im Zuge des great game annektieren die Briten den afghanischen Teil, wodurch die Hälfte der Paschtunen der Kontrolle Kabuls entzogen wird. 1893 wird die territoriale Expansion durch die Durand-Linie formalisiert und bestimmt, dass das Gebiet dem neu gegründeten Staat Pakistan zugesprochen wird. Mit der Teilung der Paschtunengebiete hinterlassen die Briten einen Herd irredentistischer Bestrebungen.

4

Islamabad sieht sich spätestens seit dem ersten Afghanistankrieg (1979) verstärkt durch Proliferation militanter Gruppen in seine westliche Grenzregion konfrontiert. Nicht selten haben korrupte Grenztruppen und der eigene Geheimdienst die Hände mit im Spiel. Jüngst nehmen die Auseinandersetzungen an der nur lose demarkierten Grenze zum Nachbarland zu.

5

Die regierende Congress-Partei ist ersten Ergebnissen zufolge wieder stärkste Partei im indischen Unterhaus. Zwar wird die von ihr angeführte Vereinte Fortschrittsallianz die Mehrheit von 272 Sitzen verfehlen, kann aber ohne stillschweigende Unterstützung durch die kommunistischen Parteien regieren. Eine von der hindunationalen BJP dominierte Mehrparteienkoalition ist hingegen vom Tisch.

6

Zu diesen Parteien zählte die ultra-liberale »Svatantra«, verschiedene aus dem Congress ausgeschiedene sozialistische Parteien und die Communist Party of India (CPI) und nach der Spaltung 1962 auch die CPI-Marxist. Es zählten dazu die (regionalen) Reste der Muslim Liga, die bis 1989 bedeutungslose hindufundamentalistische Jana-Sangh, seit 1980 Bharatiya Janata Party (BJP) genannt, und die Akali Dal (im Punjab). Daneben treten Regionalparteien an wie die zu Anfang sezessionistische Dravida Munethra Kazhagam (DMK) in Tamil Nadu, die auf Autonomie drängende National Conference in Kaschmir, die hindunationale Shiv Sena in Maharashtra und die gegen bengalische Migranten agitierende Asom Gana Parishad in Assam.

7

Die Politiker des neugegründeten islamischen Staates brauchen knapp neun Jahre, um eine Verfassung auszuarbeiten.

8

Pakistan ist ein multiethnisches und multireligiöses Staatsgebilde. Von den circa 165 Millionen Einwohnern zählen sich rund 53 % zu den Punjabis. Die Sindhis sind mit circa 18 % die zweitgrößte Volksgruppe. Die Pashtunen oder Pathanen, die in der North West Frontier Province (NWFP) und in den halbautonomen Stammesgebieten an der afghanischen Grenze und zum großen Teil auch in Baluchistan zu Hause sind, machen mit 15,5 % die drittgrößte Bevölkerungsgruppe aus. Die Mohajirs, die »Flüchtlinge« aus Indien, stellen mit circa 6 Millionen knapp die Hälfte aller Einwohner in Karachi und Hyderabad. Hinzu kommen noch die zahlreichen Stämme Baluchistans, welche in der flächenmäßig größten Provinz (mit über 40 % des Gesamtterritoriums) beheimatet sind, aber nur circa 3 % der Gesamtbevölkerung stellen. Daneben gibt es noch zahlreiche Kleinstvölker im pakistanisch-chinesischen und afghanischen Grenzgebiet, welche vergleichbar den etwa 3 % Christen, Hindus, Parsen und Ahmadias, oder den etwa 2,6 Millionen Kashmiris in offiziellen Statistiken selten Erwähnung finden.

9

Indien verfügt nicht nur über eine circa 1,500.000 Mann starke Armee und die gleiche Anzahl an Reservisten; die paramilitärischen Einheiten umfassen ebenfalls circa 500.000 Mann und seine Polizeistreitkräfte noch einmal 1,500.000 Mann.

10

Bestand unter Nehru keine Notwendigkeit, mithilfe der »Presidents-Rule« auf die Machtverhältnisse in den einzelnen Provinzen einzuwirken, so setzte Indira Gandhi während ihrer Amtszeit dieses Interventionsmittel häufig ein, um politische Gegner oder Organisationen innerhalb oder außerhalb der eigenen Partei zu stürzen.

11

Dies kann, wie im Falle der blutigen Niederschlagung des »maoistischen« Aufstandsversuchs der Naxaliten dazu führen, dass eine de facto regionale Partei, die CPI-M, selbst Jagd auf diese ihr politisch nahestehende revolutionäre Umsturzbewegung macht – um zu verhindern, dass sie selbst Opfer von »Presidents-Rule« und staatlicher Repression wird.

12

Es sind die Privatarmeen der Großgrundbesitzer, die (etwa in Bihar) einer militanten Landnahme oder Reformbewegung entgegentreten.

13

Thomas Schmitt: Ursachen und Folgen der Autonomie- und Separationsbewegungen in Nordostindien. Eine Region im Spannungsfeld ethnischer Mobilisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung, Rostock 2005 (Dissertation).

 

Literatur

Banuazizi, A./Weiner, M. (1987): The state, religion, and ethnic politics: Pakistan, Iran, and Afghanistan, Lahore

Brass, P. (1990): The Politics of India since Independence, New York

Duncan, E. (1990): Breaking the Curfew – A Political Journey through Pakistan, London

Hardgrave, Robert L. (1975): India. Government and Politics in a Developing Nation, New York

Kohli, A. (1990): Democracy and Discontent. India´s Growing Crisis of Governability, Cambridge

Manor, J. (1994): Nehru to the Nineties. The Changing Office of Prime Minister in India, London.

Schmitt, T. (2005): Ursachen und Folgen der Autonomie- und Separationsbewegungen in Nordostindien. Eine Region im Spannungsfeld ethnischer Mobilisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung, Rostock (Dissertation)

Tinker, H. (1962): India and Pakistan, London

Wagner, C. (2006): Das politische System Indiens, Wiesbaden

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009