Michael Ackermann
Ihm hätte sich die
Wirtschaft unterzuordnen. Denn das Versprechen der Demokratie zielt auf
Teilnahme und Entscheidungsfindung in Freiheit. Freiheit heißt nicht
Ungebundenheit. Gerechtigkeit in Freiheit ist keine Tugend, sondern
Voraussetzung zur Teilnahme an den gesellschaftlichen und politischen
Entscheidungsprozessen. Diese »Freiheitsverfassung« enthält eine Pflicht zur
Gleichbehandlung vor dem Gesetz, verbürgt Chancengleichheit und setzt ein
Bekenntnis zum sozialen Ausgleich. Wenn man vor diesem Hintergrund Peter Lohauß’
Analyse über den Fortgang der Finanz- zur Gesellschaftskrise liest (S. 14),
wird das Ausmaß der Umverteilung von unten nach oben als dramatische
Ungerechtigkeitsentwicklung von zwei Jahrzehnten deutlich.
In diesem Kontext zeigt
eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum »Demokratieverdruss in
Deutschland«, wie einschneidend diese Entwicklungen auf das Bewusstsein der
Bevölkerung zurückwirken (Demokratie!
Nein danke?, Verlag J. H. W. Dietz Nachf.). Die Studie der FES belegt eine
eklatant sich öffnende Schere zwischen demokratischen Freiheiten und sozialen
Sicherungs- und Gerechtigkeitsempfindungen. Der Wille zur Freiheit ist nicht
nur eine Geisteshaltung, er stößt an Grenzen der materiellen und sozialen
Verhältnisse. Es nehmen die Enttäuschungen darüber zu, sich auf einer
abschüssigen Ebene von Gerechtigkeit und Solidarität zu befinden. Dabei nimmt
nicht die Zustimmung zu den Freiheitswerten ab, sondern die stille Wut über die
Verletzung von Gleichbehandlungs- und Gerechtigkeitsgrundsätzen zu. Deshalb
beurteilen 37 Prozent der Deutschen die Demokratie als »weniger gut« oder als
»schlecht«. Je prekärer die soziale Lage der Befragten, umso geringer das
Vertrauen in die Demokratie und die Politik.
Die gesellschaftliche
Realität treibt »freiheitsermüdende« Wirkungen hervor. So ist etwa der
Verfassungsgrundsatz der Orientierung an »vergleichbaren Lebensverhältnissen«
längst eklatant verletzt (über den Anpassungsdruck der Verfassung schreibt Uwe
Günther, S. 30). Jüngste Daten zeigen, dass das Ungleichgewicht zwischen den
Regionen stetig wächst, die Annahme eines puren Ost-West-Gegensatzes jedoch
trügt. Nicht erst mit der großen Krise steckt der Föderalismus in einer
strukturellen Falle. Das seltsame Gebaren von Ministerpräsidenten bei der
Automobilkrise zeigt das neuerlich. Als jeweilige »Standortsicherer«
überspielen sie das komplexe Verhältnis zwischen kommunalen und
Länderinteressen, zwischen nationalen und europäischen Dimensionen. Die
automobilen Großstrukturen dieser Industrie (nationenübergreifende
Weltmarktorientierung) reißen einen Abgrund an Hilflosigkeit, an regional- und
nationalchauvinistischen Denkarten sowie intergouvernementaler
Demokratieprobleme auf. Zugleich wächst aus der Wirtschaft die Nachfrage nach
staatlichen Sicherungsfonds von Woche zu Woche.
Mit den Worten »Gier« und
»Neid« sind die »unmittelbaren Interessen« am schlechtesten beschrieben. Das
strukturierende Prinzip »Wachstum« ist der Treibstoff der kapitalistisch
verfassten Lohnarbeitsgesellschaften. Die Aussicht auf Wachstum erscheint den
meisten als das Überlebensprinzip von Gesellschaft. Hilft es da, wenn ein
»nachhaltiges Wachstum« (der Bundespräsident), eine »grüne Revolution der
Weltwirtschaft« (Joschka Fischer) sowie ein »grünes Wirtschaftswunder« (Ralf
Fücks) gefordert werden? 100 Prozent erneuerbare Energien (wie sie Karl-Martin
Hentschel als Vision vorstellt, S. 67) und ein veränderter Automobilitätsmix
(Weert Canzler/Andreas Knie, S. 76) sind dann Mindestvoraussetzungen für eine
umfassende Umsteuerung bei Produktion und Verbrauch. Kombiniert mit
internationalen Einsichten und Kooperationen.
Wie aber verhält sich das
globale Wachstumsproblem zur nationalen Demokratie? Der Autor der FES-Studie,
Serge Embacher, schlägt eine Runderneuerung demokratischer Teilnahme vor. Die
Parteien müssten die Bevölkerung viel stärker in die Entscheidungsfindung
einbeziehen (Schluss mit »Es gibt keine Alternative«). Doch auch die »direkte
Demokratie« versagt im Zweifel im Vermittlungsverhältnis von Binnen- und
Außenstrukturen, also in der Einschätzung von internationalen Wechselwirkungen,
die dem Einfluss von nationalen Entscheidungen in vielen Fällen entzogen sind.
Gleichwohl müsste sich »objektiv« eine stabile Bevölkerungsmehrheit für einen anderen
Entwicklungspfad entscheiden, während »subjektiv« noch immer breiteste Teile in
traditionellen Erwartungshaltungen an Wachstum und Politik verharren. Jenseits
ideologischer Muster bleibt es nach Joscha Schmierer (»Republik und Krise«, S.
6) die Aufgabe der gesellschaftlichen Mitte, das enorme Spannungsverhältnis
zwischen großen Aufgaben und politischen Alltagserwartungen anzugehen.