Michael Ackermann

Editorial

Im Unterschied zur US-amerikanischen Verfassung enthält das Grundgesetz der Bundesrepublik keine Passagen zum Streben der BürgerInnen nach Glück. Überhaupt hielten sich die Verfassungsmütter und -väter nach den Erfahrungen des Faschismus mit Versprechungen zurück. So ist auch das Eigentumsrecht voraussetzungsvoll gefasst, bleibt eng an das Allgemeinwohl gebunden. Vor kurzem erinnerte der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit scharfen Worten gegen den »inhumanen Kapitalismus« an dieses Allgemeinwohl.

Ihm hätte sich die Wirtschaft unterzuordnen. Denn das Versprechen der Demokratie zielt auf Teilnahme und Entscheidungsfindung in Freiheit. Freiheit heißt nicht Ungebundenheit. Gerechtigkeit in Freiheit ist keine Tugend, sondern Voraussetzung zur Teilnahme an den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen. Diese »Freiheitsverfassung« enthält eine Pflicht zur Gleichbehandlung vor dem Gesetz, verbürgt Chancengleichheit und setzt ein Bekenntnis zum sozialen Ausgleich. Wenn man vor diesem Hintergrund Peter Lohauß’ Analyse über den Fortgang der Finanz- zur Gesellschaftskrise liest (S. 14), wird das Ausmaß der Umverteilung von unten nach oben als dramatische Ungerechtigkeitsentwicklung von zwei Jahrzehnten deutlich.

In diesem Kontext zeigt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum »Demokratieverdruss in Deutschland«, wie einschneidend diese Entwicklungen auf das Bewusstsein der Bevölkerung zurückwirken (Demokratie! Nein danke?, Verlag J. H. W. Dietz Nachf.). Die Studie der FES belegt eine eklatant sich öffnende Schere zwischen demokratischen Freiheiten und sozialen Sicherungs- und Gerechtigkeitsempfindungen. Der Wille zur Freiheit ist nicht nur eine Geisteshaltung, er stößt an Grenzen der materiellen und sozialen Verhältnisse. Es nehmen die Enttäuschungen darüber zu, sich auf einer abschüssigen Ebene von Gerechtigkeit und Solidarität zu befinden. Dabei nimmt nicht die Zustimmung zu den Freiheitswerten ab, sondern die stille Wut über die Verletzung von Gleichbehandlungs- und Gerechtigkeitsgrundsätzen zu. Deshalb beurteilen 37 Prozent der Deutschen die Demokratie als »weniger gut« oder als »schlecht«. Je prekärer die soziale Lage der Befragten, umso geringer das Vertrauen in die Demokratie und die Politik.

Die gesellschaftliche Realität treibt »freiheitsermüdende« Wirkungen hervor. So ist etwa der Verfassungsgrundsatz der Orientierung an »vergleichbaren Lebensverhältnissen« längst eklatant verletzt (über den Anpassungsdruck der Verfassung schreibt Uwe Günther, S. 30). Jüngste Daten zeigen, dass das Ungleichgewicht zwischen den Regionen stetig wächst, die Annahme eines puren Ost-West-Gegensatzes jedoch trügt. Nicht erst mit der großen Krise steckt der Föderalismus in einer strukturellen Falle. Das seltsame Gebaren von Ministerpräsidenten bei der Automobilkrise zeigt das neuerlich. Als jeweilige »Standortsicherer« überspielen sie das komplexe Verhältnis zwischen kommunalen und Länderinteressen, zwischen nationalen und europäischen Dimensionen. Die automobilen Großstrukturen dieser Industrie (nationenübergreifende Weltmarktorientierung) reißen einen Abgrund an Hilflosigkeit, an regional- und nationalchauvinistischen Denkarten sowie intergouvernementaler Demokratieprobleme auf. Zugleich wächst aus der Wirtschaft die Nachfrage nach staatlichen Sicherungsfonds von Woche zu Woche.

Mit den Worten »Gier« und »Neid« sind die »unmittelbaren Interessen« am schlechtesten beschrieben. Das strukturierende Prinzip »Wachstum« ist der Treibstoff der kapitalistisch verfassten Lohnarbeitsgesellschaften. Die Aussicht auf Wachstum erscheint den meisten als das Überlebensprinzip von Gesellschaft. Hilft es da, wenn ein »nachhaltiges Wachstum« (der Bundespräsident), eine »grüne Revolution der Weltwirtschaft« (Joschka Fischer) sowie ein »grünes Wirtschaftswunder« (Ralf Fücks) gefordert werden? 100 Prozent erneuerbare Energien (wie sie Karl-Martin Hentschel als Vision vorstellt, S. 67) und ein veränderter Automobilitätsmix (Weert Canzler/Andreas Knie, S. 76) sind dann Mindestvoraussetzungen für eine umfassende Umsteuerung bei Produktion und Verbrauch. Kombiniert mit internationalen Einsichten und Kooperationen.

Wie aber verhält sich das globale Wachstumsproblem zur nationalen Demokratie? Der Autor der FES-Studie, Serge Embacher, schlägt eine Runderneuerung demokratischer Teilnahme vor. Die Parteien müssten die Bevölkerung viel stärker in die Entscheidungsfindung einbeziehen (Schluss mit »Es gibt keine Alternative«). Doch auch die »direkte Demokratie« versagt im Zweifel im Vermittlungsverhältnis von Binnen- und Außenstrukturen, also in der Einschätzung von internationalen Wechselwirkungen, die dem Einfluss von nationalen Entscheidungen in vielen Fällen entzogen sind. Gleichwohl müsste sich »objektiv« eine stabile Bevölkerungsmehrheit für einen anderen Entwicklungspfad entscheiden, während »subjektiv« noch immer breiteste Teile in traditionellen Erwartungshaltungen an Wachstum und Politik verharren. Jenseits ideologischer Muster bleibt es nach Joscha Schmierer (»Republik und Krise«, S. 6) die Aufgabe der gesellschaftlichen Mitte, das enorme Spannungsverhältnis zwischen großen Aufgaben und politischen Alltagserwartungen anzugehen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2009