Xaver Brenner

Dekadenz oder Gerechtigkeit

Wer richtet diese Gesellschaft zugrunde?



Gerechtigkeit ist nichts Gottgegebenes, sie lässt sich nicht aus einer »Vernunft der Natur« herleiten, sondern ist eine ethische Übereinkunft der Mängelwesen Menschen, Ergebnis immer wieder neuer Vereinbarungen. Ein denkbar schlechter Maßstab ist die »Leistung«, ausgedrückt in Geldeinkünften der Eliten. Übertragen auf eine Gesellschaft, in der zunehmende Teile vom Arbeitsmarkt exkludiert sind und die Maßstäbe für Leistung selbst wie Börsenkurse ins Schlingern geraten, wendet sich die Rede von der Dekadenz gegen die Sprecher. Mit ihren Trugschlüssen werden hier durch den Autor zugleich die philosophischen Annahmen von Nietzsche über die »natürliche Ungleichheit« hinterfragt.

Zu allen Zeiten hat die Rede vom »Niedergang und Verfall« der eigenen Kultur die Bürger tief bewegt, erschreckt und in maximale Aufregung versetzt. Wer davon sprach, griff zur schärfsten Warnvokabel. In der Neuzeit belebt Nietzsche diesen kulturellen Aufreger mit der Formel von den »décadence-Werten«. Spengler greift das Thema in »Der Untergang des Abendlandes« auf. Eine abgeschwächte Neuauflage erfährt diese Drohung heute durch die Warnungen vor der »spätrömischen Dekadenz« von FDP-Chef Westerwelle. Der Untergang drohe jetzt ausgerechnet durch die Hartz-IV-Empfänger. Schuld am kulturellen Untergang seien die untersten Schichten. So muss die Ursache nicht in der Finanzkrise, bei den Reichen und den Hedge-Fonds gesucht werden. Weil jedoch die Untergangsmetapher ohne Erlösungshoffnung nicht funktioniert, muss für die augenscheinliche »Dekadenz« eine ganz andere Lösung gefunden werden. Seit Jahren lautet sie bei Westerwelle: »Mehr Netto vom Brutto!« Das übersetzt sich in der Finanzkrise heute sinnvoll durch die Erweiterung: »Mehr spekulative Nettogewinne aus dem Bruttosozialprodukt der Völker!«

Der äußere Anlass für die Dekadenzdebatte war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger. Die seien nicht »realitätsgerecht« und »müssen bis zum Jahresende neu festgesetzt werden«.(1) Kurz darauf titelte Bild: »Macht Hartz IV faul?«(2) Arbeitgeberpräsident Hundt sekundiert: »Wenn die Grundsicherung zu hoch ist, wird legale Arbeit unattraktiv.« Die Rede von der »legalen Arbeit« macht die »Grundsicherung« zur »illegalen« Nichtarbeit. Jetzt schlug die Stunde des »Kulturphilosophen« Westerwelle. Er erkannte das Problem in den falschen Versprechen, die dem Volk durch das Hartz-IV-Gesetz gegeben wurden. Er diagnostizierte die Genesis des Problems in einem antiken Verhalten: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zur spätrömischen Dekadenz ein.«(3) Ob es sich bei dieser Kampagne um den Versuch einer angeschlagenen Partei handelt, aus dem Umfragetief zu kommen, bleibt unklar.(4) Klar ist jedoch seit Jahren die immer gleiche Stoßrichtung der FDP: »Leistung muss sich lohnen.« Auch hier ist die Realität eine andere als die Parole. Heute lohnt sich Leistung aus Arbeit nicht in dem Maße, wie sich »Leistung« aus Spekulation auszahlt. Und die Rede vom »anstrengungslosen Wohlstand« führt sich ad absurdum, stellt man die Anstrengung ins Verhältnis zu den absurden »Wohlstandsgewinnen«, die mittlerweile in der Finanzbranche gemacht werden. Der Leistungsbegriff wird nun schon seit Jahren ausgehend vom Einkommen definiert. Nur wer ein hohes Einkommen hat, der leistet demnach etwas, egal wie viel oder wenig er arbeitet. In diesem Sinne sind die Bezieher von Hartz-IV für die neue Geldelite keine Leistungsträger, weil sie kein selbstständiges Einkommen aus Arbeit erwirtschaften. Das eigentliche Problem jedoch ist ihr Ausschluss vom Recht auf Arbeit und Leistung durch die strukturellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt.(5) Diese Beschäftigten heute für unsere Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen, grenzt an geistige Tollheit, oder hat vielleicht Methode?

Schuldig sind immer die anderen

Immer dann, wenn Gesellschaften in schwere Krisen fielen, erkannten sie die Ursachen für den inneren Verfall im hohen Konsum, in der Korruption, im Leistungsgewinn, der in keinem Verhältnis zur Leistung durch Arbeit stand. So war es in Athen und in Rom. Sallust, der die »römische Dekadenz« als erster anprangert, tut dies zur Zeit Caesars (46 v. Chr.), also weit vor den »spätrömischen« Verhältnissen. Sallust weiß, dass der »Fisch vom Kopf zu faulen beginnt«. Er greift den »inneren Verfall der Staatsauffassung« der römischen Eliten auf dem Höhepunkt Roms an.(6) Ihre Genuss-, Bereicherungs- und Machtsucht hält er für kulturzerstörerisch. Um von dieser Kritik abzulenken, haben die Kaiserfamilien das Volk mehr und mehr bestochen. Die Zirkusse waren Propagandaveranstaltungen der Macht. Sie sorgten für Ablenkung und waren doch schon die Einladung zur »kleinen Korruption« (panem et circenses). Hieraus entstand die Mär, ursächlich an der Staatskrise seien die nichtsnutzigen, nur Kinder erzeugenden Proletarier. Tatsächlich ist die These, sie hätten den »Untergang Roms verursacht«, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Im antiken Rom war man über die vielen Bauern- und Proletarierlegionäre froh. Ohne sie hätten Roms Feldzüge nie stattgefunden. Das Märchen von der »spätrömischen Dekadenz« hat also tatsächlich einen »frührömischen« Hintergrund. Was wir von Sallust lernen können, ist die Furcht vor dem Verlust des guten Anfangs. Sallust wusste: Nicht das Volk, sondern er und seine Freunde waren hochkorrupt, schon am Anfang des Kaiserreichs. Deshalb gilt: Nur der kann vor der Korruption warnen, der sie kennt. So ist die Furcht vor der Korruption eine Anfangsfurcht jeder Kulturentwicklung. Sie schwingt als Wissen um den Untergang der Vorgängerkultur mit. Als Furcht vor der unseligen Wiederholung strahlt sie in jeden Neubeginn hinein.

Hier aber stoßen wir auf das größte Miss-Verstehen und die mächtigste Umdeutung. Die römische Oberschicht begann die eigene Gier in die Bevölkerung zu spiegeln, um sie dort als tierisches Verhalten im Menschen zu deuten. Das Tier im Menschen war geboren: Der »Mensch ist des Menschen Wolf« (Homo homini lupus(7)), so wird Hobbes später diesen Satz aufnehmen. Der zweite Akt der Gierverschiebung lautete: Die Proletarier wollen nicht arbeiten. Tatsächlich ruinierten die Adligen mit ihrer Großlandwirtschaft die mittelständischen Bauern und machten sie zu landlosen Proletariern. Und drittens führte ein gigantisches Besteuerungssystem zu einer Konzentration der Geldvermögen in der Hand von Steuerpächtern und den römischen Kaiserfamilien. Die strukturellen Parallelen zu heute stechen ins Auge.

Der Mensch als gutes oder verdorbenes Tier

Die Idee vom Tier im Menschen hatte zu allen Zeiten einen hohen Abschreckungs- und gleichzeitig Diffamierungswert. Wer wollte schon ein Tier sein? Trotzdem hing an dieser Idee eine zwiespältige Faszination. Vom bocksbeinigen Mephistopheles im Faust reicht die Spur bis zu Nietzsches Tier-Mensch-Metapher. Er erst prägt den neuzeitlichen Décadence-Begriff. Und deckte mit ihm gleichzeitig einen Widerspruch in der französischen Kulturdiskussion auf. Dort versteht Montesquieu die Naturvernunft als Quelle des besten kulturellen Zustandes. Für Rousseau hingegen geht die »Verderbtheit des Menschengeschlechts« ursächlich aus der Künstlichkeit der Kultur hervor. Die Parole »Zurück zur Natur«(8) funktioniert fast wie ein biblisches Programm. Trotzdem, so Rousseau, könne man »nicht fragen, was die Quelle der natürlichen Ungleichheit ist, weil die Antwort sich in der einfachen Definition des Wortes ausgedrückt fände.«(9) Rousseau will die »politische Ungleichheit« bekämpfen, die »von einer Art Übereinkunft abhängt. Sie ist durch die Zustimmung der Menschen gesetzt … Diese Ungleichheit besteht in den verschiedenen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen … oder gar Gehorsam von ihnen verlangen.« Der Weg zur Französischen Revolution ist nicht ohne das Rousseau’sche Programm zu denken.

In der Konfrontation mit Rousseau ist sich Nietzsche über die Differenzen auf dem Weg zurück zur Natur im Klaren. Es gebe, so schreibt er, zwei Wege. »Fortschritt in meinem Sinne. Auch ich rede von Rückkehr zur Natur«, und die »Rousseau’sche Moralität – die sogenannten Wahrheiten der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit!«(10)

Nietzsche Zorn richtet sich gegen den Versuch Rousseaus, die natürliche Ungleichheit durch gesellschaftliche Mittel zu beheben. Sein Programm sucht keine Abmilderung gesellschaftlicher Gegensätze. Es sucht deren Verschärfung im Namen der Natur. Diese Wendung trifft den schwachen Punkt aller bisherigen Theorien über die Naturvernunft. Denn es steht ja die Frage im Raum: Warum hat die Natur in ihrer Vernunft ein missratenes Tier erzeugt? »Wir haben umgelernt. … Wir leiten den Menschen nicht mehr vom Geist … ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt.« Es ist also für Nietzsche nicht, wie bisher angenommen, die »größte Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen, die den Menschen als Krone der Schöpfung« hervorgebracht hat. Im Gegenteil. Für ihn ist »der Mensch, relativ genommen, das missratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich mit alledem, auch das interessanteste!«(11)

Auch Nietzsche spricht über keinen Grund für diese Unvernunft der Naturvernunft. Er löst sich aus dieser Frage durch die trickreiche Wendung vom missratenen Doppelwesen. In seiner dionysischen Form ist es der schöpferische Tatmensch, der im Rausch seiner Triebe neue Welten schafft.(12) Am Ende dieses Weges, hoch oben in den Berner Alpen, lässt Nietzsche durch seinen Zarathustra neue Gesetzestafeln schaffen. Dort ist der »Urzustand« wieder hergestellt. Und unten in der Ebene müht und irrt der apollinische Traummensch, nur geleitet von seinem »Instinkt-Hass gegen die Realität«,(13) gegen die große Natur. Der Durchschnittsmensch rebelliert gegen die Tatmenschen, die nehmen dürfen, weil sie nehmen können. Gegen den »Übermenschen«(14) machen sie kleinliche Gesetze des Alltags, in denen es ihm um Gerechtigkeit geht. Das tun sie, weil sie bei der Verteilung der göttlichen Gaben, die jetzt Triebe heißen, »schlecht-weg-gekommen« sind. Nietzsche nennt die Normalmenschen »kleine Mucker« die sich unter dem Christentum einbilden dürfen, »dass um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden«. Diese Durchbrechung der Natur geschehe durch »die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit, die jede Vernunft zerstöre, jede Natur im Instinkt«.(15) Dies sei die größte Décadence, der Abfall von der Natur, der sich im Wunsch nach Gerechtigkeit zusammenfasse.

Nietzsches Fehler

Drei Vorstellungen von Gerechtigkeit stehen im Raum: Rousseau will Gerechtigkeit durch die Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit. Nietzsche fordert die Anerkennung der natürlichen Ungleichheit und hält das dann für Gerechtigkeit. Und die Kirche will die Ungerechtigkeit auf Erden ausgleichen durch den Himmel und die jenseitige, ewige Gleichheit. Sind dort alle gleich, so stirbt die Ungleichheit den himmlischen Tod. Glaubt man an diese himmlische Pointe, so löst sich die Frage nach der Gerechtigkeit im Nichts auf. Für die Frage nach der Gerechtigkeit ist dieser himmlische Schluss natürlich ein Trugschluss.

Nietzsches ganze Polemik gegen die Kirche fasst sich im Kampf gegen diesen Trugschluss zusammen. Dort allerdings macht er seinen entscheidenden Fehler. Nietzsche übersieht die enorme geistige Macht, die gerade die Kirche aus der existenziellen Unsicherheit des Menschen zieht. Es ist die Fragilität des Lebens, die tägliche Möglichkeit des Scheiterns, die Ausgesetztheit an ein Leben, das ständig gegen das Nichts kämpft. Hannah Arendt hat diese »allgemeinste Bedingtheit menschlichen Lebens« genannt. Zwischen Geburt (Natalität) und Tod (Mortalität) ereignet sich ein Leben als Handeln im Arbeiten, das »das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung … in einer künstlichen Welt« ermöglicht.(16) Doch in der Natalität als Geburtsfähigkeit des Menschen liegt auch seine Geburtsschwäche. Der existenzielle Kern des Problems liegt in der menschlichen Mängelhaftigkeit, in seiner Schwäche von Geburt. Nicht nur im Vergleich zum Tier – das hat Nietzsche richtig gesehen – sondern hinsichtlich seiner selbst. Sein Neuanfang in der Welt ist auf eine künstliche Umwelt und Mitwelt angewiesen. Ohne sie ist er nicht lebensfähig. Dies eint alle Menschen. Wir alle tragen dieses Zeichen als untergründiges Wissen und als größte Kränkung mit uns. Wir sind nicht lebensfähig wie Tiere in ihrer abgeschlossenen Umwelt. Die moderne Anthropologie sagt: Wir sind von Anfang an auf einen »zweiten Uterus«, die Kinderstube, angewiesen. »Das neugeborene Kind (ist) geradezu als eine normalisierte, typische Frühgeburt, (aufzufassen, dessen) entscheidende Reifungsvorgänge in der Wahrnehmung, in der Bewegung ein ganzes Jahr lang als Lernsituation vor sich gehen, unter gezieltem Einfluss der Umgebung.«(17) Es gibt in der Kinderstube keine starken, dionysischen und keine schwachen, apollinischen Menschen. Die Urschwäche ist mitgeboren und bildet das gleichmachende existenzielle Erbe von Natur. Der Rückzug der Natur, wann immer geschehen, wie immer verursacht, er ist das Faktum der menschlichen Existenz. Das »missratenste Tier« zu erkennen, aber dann die eigene Erkenntnis zu verdrängen, das war »Murks auf höchstem Niveau«. Statt diesem negativen Faktum ins Auge zu sehen, geht Nietzsche darüber hinweg. Die »negative« Gleichheit von Natur, die das Mängelwesen erzeugt, bildet eine gemeinsame Lebensnot. Sie ist unser existenzielles Grundproblem und konstituiert unsere Gleichheit. Helmuth Plessner hat diese Einsichten der modernen Anthropologie um die Erkenntnis der »exzentrischen Positionalität« erweitert. Wie das Tier ist auch der Mensch »frontal« auf sein »Umfeld gerichtet«. Doch im Gegensatz zum Tier »weiß er, dass er in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.«18) Der Mensch lebt damit in sich als seinem Zentrum. Er kann es nicht verlassen »und ist doch zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.« Er erlebt immer wieder die innere Bodenlosigkeit seiner Existenz, seiner Gründungssituation, die sich in jedem Lebensvollzug wiederbelebt. So ist er aus sich heraus, in der Sorge um sich, immer auch auf dem Weg, diese Grundschwäche verlassen zu wollen. Doch wie eine Schildkröte ihr Haus, so trägt er als ein Wesen, das um seine Schwächen weiß, diese Grunderfahrung der Angewiesenheit immer mit sich. Dass er sie gerne verdrängt, entspricht also nicht nur einem Fluchtverhalten, sondern auch der gleichen Grundsituation, aus der wir alle kommen. Wir sind also beständig auf dem Sprung (exzentrisch) aus der Position der Schwäche heraus, in die wir damals hineingeboren wurden, in die nächste Lebensposition hinein, in der wir uns mit anderen wieder selbst gestalten müssen. Das ist die »exzentrische Positionalität« des Menschen.

Der gordische Knoten des Sozialen

Obwohl Nietzsche sieht, dass wir »als »missratenes Tier« eine »gleiche Grundproblematik von Natur« haben, lässt er das Grundproblem liegen und spricht nur noch von einer Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Natur. Tatsächlich aber ist die Natur nicht »gerecht«, schon weil sie gesunde und kranke, schwache und starke Lebewesen und eben auch Mutationen schafft. Die Frage der Gerechtigkeit ist deshalb eine künstliche Frage. Sie stellt sich erst, wenn es die menschliche Kultur gibt. Sie sucht einerseits natürliche Ungleichheit auszugleichen.(19) Indem sie andererseits bewusst Gesetze schafft, erzeugt sie durch eine Kunstwelt die Möglichkeit des sozialen Lebens. Auch im Herstellen und Handeln taucht die grundsätzliche Angewiesenheit der Menschheit wieder auf. Die Kunstwelt braucht Gerechtigkeit um die Ungleichheit, die Differenzen auszugleichen, nicht um sie vollständig zu beseitigen.

Auf diesem Feld begeht Nietzsche seinen zweiten Kardinalfehler. Wenn es in der Natur keinen Gerichtshof gibt, der über die angeborenen Unterschiede entscheidet, dann kann die Existenz dieser Unterschiede nicht Ursache der Gerechtigkeit oder der Ungerechtigkeit sein. Dann gibt es Unterschiede von Natur, die auf der grundlegenden menschlichen Mangelhaftigkeit beruhen, mit der wir alle behaftet sind. Dieses Faktum wird ständig übersehen. Es ist aber der innere Ort der größten menschlichen Kränkungen. Wir sind und bleiben in dieser Hinsicht »imperfekt«.

Daraus folgt sein dritter Fehler. Wenn es keine Gleichheit von Natur gibt, die zur Gerechtigkeit führt, dann gibt es auch keine Ungleichheit von Natur, aus der die Ungerechtigkeit entsteht. Doch Nietzsche macht mit seiner »Dekadenz-Theorie« genau dieses. Erzeugt die Natur ungleiche Menschen, so sind das bei Nietzsche zwei Grund-Typen. Ihnen lässt er dadurch »Gerechtigkeit« zukommen, dass er sie scheinbar so nimmt, wie sie sind: »Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.«(20)

Dieser geistige Gewaltstreich fand zu allen Zeiten konservative Bewunderer. Sie sahen die Statik dieses Modells. Für einen Philosophen vom Rang Nietzsches ist dieser Fehlschluss ein Armutszeugnis. Tatsächlich konstruiert er eine Begründung, die ihre Grundlagen selbst erzeugt. Er erfindet sich aus den natürlichen Unterschieden ein natürliches Macht-Subjekt, den Zarathustra. Im Rausch oder als Zauberer zaubert der Macht-Mensch die »wahre Gerechtigkeit« aus der Formel: »Du sollst werden, der du bist.«(21) Wer wird, der er war, der wird nie ein anderer. Er bleibt im Zirkel seiner selbst eingeschlossen. Nietzsche weiß natürlich um diesen Zirkelschluss. Er sucht ihm zu entkommen durch eine weitere Konstruktion: die Idee der »ewigen Wiederkehr«.(22) Sie täuscht in ihrem tragischen Ton über ihren Ursprung hinweg. Nietzsche, der die Jenseitsgötter ablehnt, nimmt hier selbst eine göttliche Sichtweise ein. Woher weiß er von der Ewigkeit, von der ewigen Statik?

Dieser pseudoreligiöse Ansatz vom »Übermenschen« liefert die Berechtigung, die im Handeln der Welt eingebundenen Menschen als die »Schlecht-Weggekommenen« zu diffamieren, denen es eben nur an den richtigen Machttrieben mangelt. Die Rede von der »spätrömischen Dekadenz« baut auf Nietzsches falscher Argumentation auf. Wir haben die sogenannten natürlichen Unterschiede zu akzeptieren und dürfen sie nicht künstlich, durch Gesetze ausgleichen. Der »Sozialstaat« ist für diese Theorie ein »dekadentes« Gebilde. Er sucht ja nach einer irdischen Gerechtigkeit, für die es weder im Himmel noch in den Trieben eine Vorlage gibt. Dass es schon deshalb keine »einfache Gerechtigkeit«(23) gibt, darin haben alle Zweifler Recht. Zu einem gordischen Knoten wird diese Frage jedoch, wenn man ihre Voraussetzung in der Naturverlassenheit des Menschen vergisst. Und völlig unlösbar wird die Gerechtigkeitsfrage schließlich, wenn mit Nietzsche in den rechtsfreien Naturraum auch noch ein ewiges Recht von Tatmenschen hineingezaubert wird. Hier schließt sich der Kreis und wir sind bei der neuen Geldelite. Sie richtet diese Gesellschaft deshalb zugrunde, weil ihr bei dem Wort Leistung nie eine gemeinsame Anstrengung im Sinne des Gemeinwohls einfällt. Seit Jahren ist das neoliberale Credo gewesen: Bereichert euch und ihr seit die angesehenen »Master of the Universe«! Wird dieses System der Gemeinschaftsvergessenheit nicht gestoppt, so richtet es sich selbst zugrunde. Dabei würde jedoch die Zukunft der Völker verspielt, weil wir alle Teil eines vielfach geknoteten gesellschaftlichen Zusammenhangs sind. Der gordische Knoten löst sich, wenn wir die Naturverlassenheit als Freiheit akzeptieren, die Angewiesenheit auf das soziale Leben in der Welt anerkennen und die Frage nach der Gerechtigkeit als eine beständige Aufgabe in einer nicht festgelegten Welt verstehen.

1
»Karlsruhe schafft Grundrecht für die Armen«, SZ, 10.2.10.
2
»Macht Hartz IV faul? Für immer mehr Menschen lohnt es sich nicht mehr zu arbeiten.«, Bild, 22.1.10.
3
»Vergleich des Sozialsystems mit ›spätrömischer Dekadenz‹. Westerwelle irritiert die Kanzlerin«, SZ, 13./14.2.10.
4
Claus Hulverscheidt: »Der Richtige muss helfen«, SZ, 2.3.10.
5
Der Working poor-Effekt – zuerst in den USA festgestellt – besagt, dass im Niedriglohnsektor selbst Vollarbeitskräfte von ihrer Arbeit nicht leben können.
6
Sallust (86–43 v. Chr.). In seinem zweiten Brief an Caesar sucht er zu zeigen, dass »Caesar der Einzige ist, der das Chaos der Gegenwart noch zum Guten wenden kann«, Lexikon der alten Welt, Bd. 3, S. 2690.
7
Ausspruch des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus (ca. 250–184 v. Chr.). Th. Hobbes (1588–1679) wandelt den Spruch ab. In seinem Werk De Cive (Vom Bürger) schreibt er, dass der Satz den »vorstaatlichen Naturzustand« beschreibe. Wäre der reine Naturzustand nicht überwindbar, so wäre das Werk Hobbes reiner Unsinn. Weil er deshalb »die Lehre von der Volkssouveränität neben die Lehre von der Selbsterhaltung als dem fundamentalen Gesetz der Natur« (H. Maier: Politische Denker, II., München 1977, S. 136) stellt, ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: »Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: der Mensch ist ein Wolf für den Menschen.« (In der Widmung des Werkes De Cive an Cavendish).
8
Diese Parole steht nicht bei Rousseau. Sie geht jedoch aus seinem Erziehungsroman Émile hervor.
9
J. J. Rousseau: »Zweiter Discours: Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist diese Ungleichheit in den Naturgesetzen begründet?« (1755).
10
F. Nietzsche: Götzendämmerung, Aphorismus 48.
11
F. Nietzsche: Der Antichrist, Aphorismus 14, S. 376.
12
F. Nietzsche: Götzendämmerung, Aphorismus 10: »Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. … Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und gesteigert: Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehen, … er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinkts, … Das der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand (ist) ...«
13
F. Nietzsche: Der Antichrist, S. 399.
14
F. Nietzsche: Der Antichrist, Aphorismus 4: »Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar ... Der Fortschritt ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. … In einem andren Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: Etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist.«
15
F. Nietzsche: Der Antichrist, Aphorismus 43.
16
Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1994, S. 15.
17
Das »erste Lebensjahr wird als ein ›extra-uterines‹, außerhalb des Uterus verbrachtes Embryonaljahr beschrieben.« Arnold Gehlen: Anthropologische Forschung, Hamburg 1968, S. 21.
18
Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975, S. 291.
19
Siehe dazu meinen Artikel: »Die Hybris der Eliten«, Kommune 1/10, S. 69.
20
F. Nietzsche: Götzendämmerung, Aphorismus 48.
21
F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, III. Buch, Aphorismus 270.
22
F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, IV. Buch, Aphorismus 341.
23
Siehe Josef Joffe: »6 Fragen an den Sozialstaat. Kann der Sozialstaat zugleich einfach und gerecht sein?«, Zeit, 25.2.10.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2010