Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Globale Ungleichheiten

Was haben Griechenland-Krise und globale Ungleichheiten miteinander gemein? Als Paradebeispiel der letzteren gilt das Verhältnis USA-China, wo sich, oft als bilaterales Problem behandelt, das Leistungsbilanzdefizit der USA und der Leistungsbilanzüberschuss Chinas gegenüberstehen. Neuerdings spielt, wenngleich eher symptomatisch, das kleine Griechenland mit. Es bereitet in der eleganten Bostoner Vorstadt Cambridge zwei Harvard-Professoren große Sorgen. Stephen M. Walt fragt in Foreign Policy (Mai 2010): »The end of the world as we know it?« Das »Ende der atlantischen Ära« verbindet sich bei ihm mit dem »fehlgeschlagenen Versuch, eine gemeinsame Währung auf einer unzulänglichen Institutionsgrundlage gestartet zu haben, kombiniert mit unverantwortlicher Haushaltspraxis (die Labour-Ära in England), fiskalischen Machenschaften (Griechenland) oder spekulativen Blasen (Spanien und Irland)«. Den Vereinigten Staaten wirft er die Hybris vor zu glauben, dass »die Märkte immer wachsen würden und die Schulden nicht bezahlt werden müssten«. Nun nähere sich »das Ende der Party«, die Geschichte schlage um. Griechenland hat auf den Knopf gedrückt, Europa wackelt, die USA stolpern. So ist das mit Epochenbrüchen.

Sekundiert wird Walt von seinem Kollegen, dem Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson. Dieser publizierte kürzlich einen Essay (»Complexity and Collapse. Empires on the Edge of Chaos«, Foreign Affairs, März/April 2010), worin er Beispiele für den raschen Sturz von Imperien mit Anspielungen auf die USA anführt. Staat und Politik sind die zentralen Akteure des historischen Geschehens, die Banken und Märkte »nützen« nur den Staaten. Diese wiederum, ob Demokratien oder Diktaturen, sind hochkomplexe, rational nicht durchschaubare Gebilde. Selbst kleinere Krisen können durch Politikversagen zum Kollaps auswachsen, dem von Historikern erst im Nachhinein begreifbare Wirkungszusammenhänge unterstellt werden, um den Vorgang überhaupt »erzählen« zu können. Seine Geschichtsauffassung nährt den Eindruck, dass es im Grunde nichts zu verstehen gibt; es ist, wie es ist.

In der Eurokrise seien Europas Politiker, so Ferguson, endlich »aufgewacht« (Handelsblatt, 13.5.). Aber das Paket sei nur eine »Notlösung«: »Griechenland wird irgendwann pleitegehen. Portugal und Spanien könnten sich anstecken. Europa kann nicht alle diese Staaten retten. Es sieht also düster aus für den Euro.« Er mag sich vielleicht wieder stabilisieren, doch nichts an der Schuldenkrise wäre gelöst. Die Währungsunion ist nichts als ein »instabiles Gebilde«, das die ihm zugrundeliegenden Ungleichheiten kaschiert und »kontraproduktiv auf die politische Einigung Europas gewirkt hat«. Den LeserInnen der Newsweek (17.5.) verkündet Ferguson ungleich drastischer »das Ende des Euros«. Er legt die »griechische Tragödie« dar, Schwachpunkte der EWU, das Fehlen politischer Verbindlichkeiten. Dann, unvermittelt, steht Europa vor der Wahl, »Vereinigte Staaten von Europa« zu werden, sonst würde draus eine Art »modernes Durcheinander eines Heiligen Römischen Reiches ..., das früher oder später auseinanderfällt«.

Man muss sich mit den Gedanken der beiden Professoren nicht anfreunden. Eines fällt schon auf: Der globale Kontext, bei den Auslassungen deutscher »Weiser« oft in weiter Ferne, wird, wie auch immer, ganz selbstverständlich mitreflektiert. Das Strukturelle jenseits des katastrophisch Groben kann der New Yorker Ökonom Nouriel Roubini besser erhellen, der von der zweiten – »u-förmigen« – Phase der Finanzkrise spricht. Von vielen schon für beendet oder überwunden erklärt, wendet sie sich nun mit aller Macht dorthin, wo sie bislang am wenigsten effektiv bekämpft worden war: ins »Zentrum« – ein »weißer Schwan«, wie Roubini in Anlehnung an Nassim Talebs Metaphorik sie benennt, jedoch im Unterschied zu den »Schwarzen Schwänen« vorhersehbar. In seinem Buch Crisis Economics. A Crash Course in the Future of Finance (New York 2010), worin er Ursachen und Verlaufsformen von Finanzkrisen untersucht, bringt er die Dinge auf den Punkt: »Erst kam die Rettung privater Unternehmen, dann kommt die Rettung der Retter, also der Regierungen.«

Das Phänomen überhöhter Staatsverschuldung sei von der Peripherie in die Zentren »gewandert«. Roubini entwickelt ein Modell globaler Ungleichheiten sowohl räumlich als auch in ihrer Entwicklung. Er verweist auf Schwellenländer wie Russland, Argentinien und Ecuador, die ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten, und Pakistan, Ukraine und Uruguay, die sie restrukturieren mussten. Länder in Ost- und Mitteleuropa seien gefolgt, während sich die Schuldenquoten einer Reihe von Ländern an den Peripherien verbessert hätten. »Die waghalsigen Reichen« aber haben viel zu wenig getan. Sie ließen den freien Markt brummen, der zugleich ein ungleichgewichtiger ist in seinen nationalen Segmentierungen. Länder des Zentrums mit ganz unterschiedlicher ökonomischer Potenz haben dieselben Wirtschaftspolitiken betrieben. »In Ländern, die bereits in der Vergangenheit strukturelle Finanzprobleme hatten, eine lockere Fiskalpolitik beibehielten und Finanzreformen während der Jahre des Aufschwungs ignorierten, waren die Auswirkungen gravierender. In Zukunft werden eine schwache wirtschaftliche Erholung und eine älter werdende Bevölkerung die Schuldenlast vieler Industrieländer wahrscheinlich erhöhen, so etwa in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Japan und mehreren Ländern der Eurozone.« (project syndicate, 18.1.10) Benachteiligt sind die »Club Med-Mitglieder« zudem durch Verluste von »Anteilen am Exportmarkt an China und andere asiatische Länder« sowie den (bis vor Kurzem) dauerhaft hohen Euro-Kurs, der »zu einer weiteren Verringerung des Wachstums führt und die Unausgeglichenheit der Haushalte noch erhöht«.

Das sind, bei entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, schwierige, aber lösbare Probleme. Der nun niedrigere Euro-Kurs begünstigt, so nebenbei, wieder EU-Exporte nach USA und Asien. Roubini sieht das Hauptproblem daher nicht in Europa, wo nun, vielleicht, die Dinge – teilweise – angepackt werden. Er schaut vielmehr recht pessimistisch auf die Vereinigten Staaten. Politische Zwänge, Steuerfeindlichkeit, zunehmende Vorsicht ausländischer Anleger und Gläubiger, eine Wahlniederlage der Demokraten bei den nächsten Zwischenwahlen – Roubini zeichnet das Szenario einer sich rundum verschlechternden Lage, die auf einen Kollaps des US-Dollars hinauslaufen könnte. Ein Gläubiger taucht in diesem Bild namentlich nicht auf: China und seine Banken, die größten der Welt und die größten Dollarbesitzer der Welt, natürlich nicht vor Krisen gefeit, aber mit einer Reihe anderer Länder besser dagegen gesichert.

Von der indischen »Peripherie« aus nimmt C. P. Chandrasekhar, Professor an der Jawaharlal Nehru Universität in New Delhi, in seinem Beitrag »Big Finance and the Greek Drama« im Intercontinental-Blog TripleCrisis (11.5.) sich auf ähnliche Weise des Problems an. Angefangen von der mexikanischen Schuldenkrise 1982, haben in die Schuldenfalle geratene Entwicklungsländer immer dasselbe erlebt: harte Sparmaßnahmen, Entlastung der globalen Banken, »Belastung nur auf der Seite des Geldnehmers«. Nun muss mit Griechenland erstmals ein Land am Rande des Zentrums diese Erfahrung machen.

In einem Artikel in The Hindu (14.5.) greift Chandrasekhar das große Ganze auf. Er bezieht sich auf eine IWF-Studie, derzufolge 108 Defizitländer 55 Überschussländern gegenüberstehen. Hier geht es um die Leistungsbilanz. Das ist fast der »Welthaushalt«. An der Spitze der beiden Gruppen: USA mit der Hälfte des Gesamtdefizits (es folgen: Spanien, Großbritannien, Australien, Italien) und China mit 22 Prozent der Gesamtüberschüsse (dahinter: Deutschland, Japan, Saudi-Arabien, Russland). Heraus kommt, dass sich Defizite und Überschüsse nicht ausgleichen – die Welt steckt im Minus, das liegt in erster Linie an den USA. Die Welt braucht einen Wachstumsschub. Nachjustieren? Für Chandrasekhar gibt es nur den Weg der »Wiederherstellung eines dynamischen Wachstums«.

Der indische Professor kennt allerdings die auf einer Bankenkonferenz im Februar in Mumbai präsentierten Analysen der Bank for International Settlements (Indien). Das Papier »Die Zukunft der Staatsschuld« von Stephen G. Cecchetti, M. S. Mohanty und Fabrizio Zampolli auf der IMF-Grundlage unterschiedlicher Projektionen der Demografie, Steuern, Inflation et cetera sieht für die alten Industrieländer durchwegs exponential steigende Defizitkurven vor, »die Aussicht auf Wachstum ... ist bestenfalls bescheiden«. Sie lassen, mit einen Verweis auf Reinharts und Rogoffs This Time is different, auch die Finanzmärkte nicht gut aussehen. Denn »schuld« ist nicht einfach die Staatsschuld. Explizit wird der Wildwuchs der Finanzprodukte in einigen Kernländern moniert, mit »nichtlinearen Effekten« zwischen Staaten und Märkten. Das ist eine noch in Samt gekleidete Kritik am »Zentrum«.

Unerwartete Schützenhilfe bekommt sie durch einen »special report« (15.5.) des Economist. Die Beilage setzt sich mit Finanzmärkten und Bankenwesen der Schwellen- und Entwicklungsländer auseinander. Vorrangig geht es um die BRIC-Länder, allesamt Länder mit hohem Staatsanteil am Bankensektor, zwischen 95 Prozent (China) und 42 Prozent (Brasilien). Kräftig kritisiert werden staatliche Eingriffe, Geschäftseinschränkungen und Ähnliches. Alles Friedman. Doch plötzlich nur noch Keynes: Diese Länder und ihre Banken sind bisher besser durch die Krise gekommen als jene des Westens. Sie waren vorsichtiger, haben kluges deficit spending betrieben, haben weit weniger toxische Papiere im Giftschrank, haben mehr in Rohstoffe, den Zukunftsmarkt, angelegt. Liegt hier ein Schlüssel für den Abbau globaler Ungleichgewichte? Denn beim Economist lautet der Schluss: »Learning to love state banks«.

Noch einmal Cambridge, Harvard, Gelehrtenrepublik. In seinem Aufsatz »Weltwirtschaftliche Lehren aus der Eurokrise« (Infobrief Weltwirtschaft & Entwicklung, 11.5.) stellt Dani Rodrik, Professor für Politische Ökonomie, die These auf, dass wirtschaftliche Globalisierung, Demokratie und Nationalstaat nicht zusammengehen, sondern »das politische Trilemma der Weltwirtschaft« bilden: »Wir können höchstens zwei gleichzeitig haben. Demokratie ist nur dann mit nationaler Souveränität vereinbar, wenn wir die Globalisierung einschränken. Wenn wir die Globalisierung vorantreiben, während wir gleichzeitig den Nationalstaat beibehalten, müssen wir die Demokratie fallen lassen. Und wenn wir Demokratie zusammen mit Globalisierung wollen, müssen wir den Nationalstaat beiseiteschieben und eine stärkere internationale Regierungsführung anstreben.«

Trilemma bedeutet die Wahl zwischen drei unerwünschten Resultaten. Mindestens eines, die Demokratie, ist für viele Gesellschaften inzwischen nicht nur erwünscht, sondern auch Realität, und zwar innerhalb der Gestalt des Nationalstaats. Überhaupt geht es hier nicht so sehr um Wahlmöglichkeiten als um den Stand einer historischen Entwicklung. Sehr unterschiedliche Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Ideen und Praktiken von Staat und Staatengemeinschaft treffen sich mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand auf dem globalen Marktplatz und müssen einen Modus Vivendi finden. Rodrik gibt zwar kursorische Hinweise auf die jüngste Geschichte, argumentiert aber, nicht unähnlich seinen beiden Harvard-Kollegen, scharf dichotomisch. Zum Nationalstaat schweigt er sich aus, für Europas Perspektiven gibt es nur Hü oder Hott: »Die Entscheidung, vor der die EU steht, ist dieselbe wie in anderen Teilen der Welt: entweder politische Integration oder geringere ökonomische Einheit.«

Ein Investmentbanker, Jonathan Wilmot von der Credit Suisse, denkt da prozesshafter und gibt, auch wenn Analogien mit den USA immer problematisch sind, nach der Brüsseler Hilfspaket-Entscheidung einen positiv-synthetischen Ausblick: »Rom wurde nicht an einem Tag errichtet. Ebenso wird es den neuen Euro-Frühling nicht nach einer Nacht geben. Doch was hier geschieht, wird in die Geschichte eingehen: eine beschleunigte Version jenes langen Kampfes, in dem das Verhältnis zwischen föderaler Autorität und den einzelnen Staaten in Amerika definiert wurde. Aus unserer Sicht ... markiert das Dringlichkeitspaket ... den Umschlagpunkt, an dem de facto die politische und steuerliche Union implizit beginnt, ein formales System zu werden: eine Kodifizierung der Interdependenz.«

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2010