Lothar Probst


Der Abstieg der Volksparteien


Die neue Beweglichkeit im Fünfparteiensystem




Auch die Wahlen in NRW haben den Trend des Abstiegs der Volksparteien bestätigt. Er betrifft nämlich nicht allein die SPD. Unser Autor zeigt die Gewichtsveränderungen und die Etablierung eines Fünfparteiensystems. Die erzwingt geradezu eine Umorientierung bei den Mustern der Koalitionsbildung. Eine vorsichtige neue Beweglichkeit hat die Parteien erfasst – und begünstigt die Grünen als »Scharnierpartei«. Kann die FDP da weiter auf nur einen Partner setzen? Ein Lagerabseits kann aber auch durch andere Blockaden entstehen.

In den Anfängen der Geschichte der Bundesrepublik war aufgrund der starken Fragmentierung des Parteiensystems nach der Bundestagwahl 1949 die Befürchtung groß, dass das auf neuer verfassungsrechtlichter Grundlage normierte Gemeinwesen in die Probleme der Weimarer Republik zurückfällt und instabile Regierungen zum Wegbegleiter der neuen Republik werden. Im Gegensatz zu den Befürchtungen kam es bekanntlich, nicht zuletzt durch einige Wahlrechtsänderungen, zu einer relativ schnellen Konzentration und Konsolidierung des Parteiensystems im Laufe der 1950er-Jahre.

In den folgenden Jahrzehnten galt das westdeutsche Parteiensystem bis weit in die 1980er-Jahre dann sogar als hyperstabil. Diese Stabilität verdankte sich in erster Linie der Rolle der Volksparteien, die auf dem Zenit ihrer Integrations- und Bindungsfähigkeit Anfang der 1970er-Jahre mehr als 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten – und das bei einer Wahlbeteiligung, die ebenfalls über 90 Prozent lag. CDU/CSU und SPD konnten also damals gemeinsam mehr als 80 Prozent der Wahlberechtigten erreichen.

Erste Erosionserscheinungen des hyperstabilen Parteiensystems deuteten sich mit der Etablierung der Grünen in den 1980er-Jahren an. Das Erfolgsmodell »Volksparteien« stand zu diesem Zeitpunkt aber noch keinesfalls in der Krise, sondern der SPD war zunächst einmal nur eine Konkurrenzpartei erwachsen, die ihre Fähigkeit zur strukturellen Mehrheitsbildung einschränkte – solange sie zu Koalitionen mit den Grünen noch nicht bereit oder in der Lage war. In den 1980er-Jahren waren sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene Wahlergebnisse der beiden Volksparteien von 40 Prozent und mehr aber nach wie vor die Regel; als starke Ankerparteien des Parteiensystems sorgten CDU und SPD auch in der bipolaren Lagerkonstellation dafür, dass das im Parteiensystem etablierte Modell der kleinstmöglichen Gewinnkoalition aus einer großen und einer kleinen Partei noch reibungslos funktionierte. Selbst absolute Mehrheiten für SPD und CDU waren zu diesem Zeitpunkt in einzelnen Bundesländern keine Seltenheit (von der hegemonialen Stellung der CSU in Bayern ganz abgesehen). Lediglich die sich herausbildende bipolare Lagerstruktur unterschied sich vom Zweieinhalbparteiensystem, das zwischen 1957 und 1983 die Interaktionsbeziehungen zwischen den Parteien bestimmt hatte.

Einen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Erosion des konsolidierten und stabilen Parteiensystems hatten zum einen die Deutsche Einheit, zum anderen der Wandel der sozialen Umwelten, in denen sich die Parteien bewegten. In der Parteien- und Wahlforschung werden die Merkmale und Auswirkungen dieser Veränderungen ausführlich beschrieben: sozialstruktureller Wandel (Tertiarisierung und Pluralisierung der Gesellschaft), abnehmende Parteiidentifikationen und Milieubindungen, zunehmende Volatilität des Wahlverhaltens (Anstieg der Wechselwahlbereitschaft und Protestwahl, sinkende Wahlbeteiligung), Verdichtung sozialer Problemlagen (Prekarisierung), Abschwächung des religiösen Cleavage, nachlassendes Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit von Parteien sowie Abnahme der Demokratiezufriedenheit. Am stärksten wurden die beiden Volksparteien von diesen Veränderungen getroffen. Ihre klassischen Milieus, aus denen sie ihre Stammwähler rekrutieren, sind seit den 1990er-Jahren zahlenmäßig einem Schrumpfungsprozess ausgesetzt, der sich negativ sowohl auf ihre Wähleranteile als auch auf ihre Mitgliederstruktur ausgewirkt hat. Zudem war der SPD – zunächst nur in Ostdeutschland – mit der PDS eine weitere Konkurrenzpartei erwachsen, die ihre Stimmenanteile in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland (nicht nur) auf Kosten der SPD steigern konnte und dort in einigen Bundesländern die SPD sogar als zweitstärkste Kraft abgelöst hat.

Der seit den 1990er-Jahren beginnende und sich seit 2000 beschleunigende Abstieg der beiden Volksparteien verhält sich gleichzeitig wie kommunizierende Röhren zu den Stimmanteilen für die kleinen Parteien. Die beiden Volksparteien schrumpfen zu mittleren Großparteien und die Kleinparteien wachsen in Richtung kleinere Mittelparteien. Der Ausgang der Bundestagswahl 2009 war in diesem Zusammenhang der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die sich seit Langem abgezeichnet hat. CDU/CSU und SPD erreichten zusammen weniger als 57 Prozent, die »kleinen« Parteien kamen zusammen auf fast 40 Prozent der Stimmanteile. Zählt man noch die Stimmen für die sogenannten Kleinstparteien dazu sowie die Stimmen der Ungültigwähler, dann wird der Vertrauensverlust noch deutlicher, den CDU und SPD bei der Bundestagswahl 2009 erlitten haben. (Siehe Tabelle 1: Ausgewählte Wahlergebnisse für CDU/CSU und SPD bei Bundestagswahlen)

Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit aufgrund der desaströsen Wahlniederlage zunächst auf den Abstieg der SPD konzentriert hat, hat der Absturz der CDU bei der NRW-Wahl einmal mehr deutlich gemacht, wie tief beide Volksparteien in der Krise stecken. Zieht man die Nichtwähler von den Wahlberechtigten ab, dann haben CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl 2009 zusammen nicht mehr als 39,5 Prozent der Wahlberechtigten erreicht, bei der Wahl in NRW CDU und SPD zusammen nicht mehr als 40,4 Prozent. Dass nicht nur die SPD, sondern auch die CDU seit Langem deutlich Federn lässt, hatte sich im Wahljahr 2009 bereits bei der Europawahl und bei den Landtagswahlen in Thüringen und im Saarland gezeigt. Bei all diesen Wahlen hat die CDU kontinuierlich und deutlich an Wählerzuspruch verloren, und seit der Bundestagswahl 1998 hat sie (ohne CSU) kein einziges Mal mehr auf Bundesebene ein Wahlergebnis über 30 Prozent erreicht.

Ein noch stärkeres Menetekel der Krise der christdemokratischen Parteien war das letzte Landtagswahlergebnis für die CSU (43,4 Prozent), der es seit den 1950er-Jahren gelungen war, zur unangefochtenen hegemonialen Volkspartei in Bayern zu werden und dabei sogar Wählerschichten zu integrieren, die normalerweise eher zur SPD tendieren würden. Der Absturz der CSU (-17,3 Prozent), der sich auch bei der Bundestagswahl 2009 mit einem der schlechtesten Wahlergebnisse (6,5 Prozent) seit 50 Jahren fortsetzte, zeigt wie kaum ein anderes Ereignis, dass die christdemokratischen Parteien sich nicht von den strukturellen Faktoren des Abstiegs der Volksparteien abkoppeln können.

Was die CDU und ihre Vorsitzende vor allem alarmieren muss, ist die Tatsache, dass die CDU kontinuierlich an Wählerzuspruch verliert, obwohl sich das Parteiensystem in Deutschland seit Längerem durch eine asymmetrische Parteienkonstellation auszeichnet. Im Parteienwettbewerb hatte es die CDU in den letzten Jahren zwar mit der FDP als Auffangbecken für enttäuschte wirtschaftsliberale Wähler zu tun, aber nicht mit zwei Konkurrenzparteien wie im Fall der SPD, die schon seit den 1980er-Jahren Stimmen an die Grünen verloren hat und seit 2005 auf Bundesebene und in den Bundesländern zusätzlich mit der Partei DIE LINKE konkurrieren muss. Obwohl den Unionsparteien also bisher am rechten Rand keine ernsthafte Konkurrenzpartei erwachsen ist, die rechtskonservative Wähler integrieren könnte, gelingt es ihr nicht, aus der Schwäche der SPD entscheidende Vorteile für die eigene Wählermobilisierung zu ziehen.

Der Verlust der stabilisierenden Wirkung, die die beiden Volksparteien lange Zeit auf das Parteiensystem ausgeübt hatten, zeigt sich auch in der Veränderung der Interaktionsbeziehungen zwischen den Parteien (siehe Tabelle 2: Koalitionen außerhalb der üblichen Lager auf Landesebene seit Anfang der 1990er-Jahre). Aufgrund der Sonderstellung der PDS setzte in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland geradezu eine Flut von Großen Koalitionen ein. Aber auch in einigen westdeutschen Bundesländern war die Bildung Großer Koalitionen unausweichlich geworden, zum Beispiel 1992 in Baden-Württemberg, wo die Republikaner als fünfte Partei in den Landtag einzogen und 1995 in Bremen, als die regionalpolitische Wählervereinigung Arbeit für Bremen aus dem Stand fast zehn Prozent der Stimmen erreichte. Zwischen 1970 und 1990 war es dagegen nicht zu einer einzigen Großen Koalition in der alten Bundesrepublik gekommen. Aber auch Experimente mit neuen Koalitionsformaten begannen bereits Anfang der 1990er-Jahre: Ampelregierungen in Brandenburg und Bremen und 1994 die Etablierung einer Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt. Seit 2000 folgten weitere Bündnisse, die die bis dahin etablierten Koalitionsmuster auch in Westdeutschland immer stärker aufweichten: zunächst 2001 eine Dreier-Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP, dann 2008 Schwarz-Grün in Hamburg; 2009 schließlich kam es zum ersten Mal zu einer Jamaika-Koalition im Saarland.

Einen weiteren Indikator für die Suche nach einem Ausweg aus den koalitionspolitischen Dilemmata im veränderten Parteiensystem stellten auch die Versuche von Heide Simonis und Andrea Ypsilanti dar, in ihren Bundesländern rot-grüne Minderheitsregierungen zu implementieren – in einem Fall mithilfe des Südschleswigschen Wählerverbandes, in dem anderen Fall mithilfe der Partei DIE LINKE. Da in beiden Fällen das Experiment gescheitert ist und sowohl Heidi Simonis als auch Andrea Ypsilanti beschädigt aus diesen Versuchen hervorgegangen sind, ist das Modell »Minderheitsregierung« vorerst zwar ad acta gelegt worden; es ist aber aufgrund der unübersichtlicher gewordenen Mehrheitsverhältnisse nicht ausgeschlossen, dass man zu einem späteren Zeitpunkt auch diese Option wieder verfolgen wird.

Bei allen neuen Koalitionsformaten fällt auf, dass entweder SPD, CDU oder Grüne vorsichtige Versuche unternommen haben, aus den etablierten Mustern der Koalitionsbildung auszubrechen und Neuland zu beschreiten. Die SPD hat bereits 1998 bei der Bildung der rot-roten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern ihr Koalitionsrepertoire in alle Richtungen erweitert. Und die Grünen haben nach der Bundestagswahl 2005, als das rot-grüne Projekt abgewählt worden war, begonnen, ihre Fixierung auf die SPD zu lockern und sich für neue Bündnisoptionen zu öffnen. Ole von Beust schließlich hat mit ausdrücklicher Billigung der CDU-Parteispitze die Pforte für schwarz-grüne Bündnisse aufgestoßen, nachdem die CDU bereits nach der Bundestagswahl 2005 begonnen hatte, sich mit programmatischen Lockerungsübungen für neue Wählerschichten in der Mitte zu öffnen – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen und innerhalb der CDU nicht unumstritten ist. Ohne diese tastenden Schritte in Richtung neue Beweglichkeit wäre 2009 weder die Jamaika-Koalition im Saarland zustande gekommen, noch hätte es überhaupt vor der Wahl in NRW Spekulationen über ein eventuelles Bündnis von CDU und Grünen gegeben.

Die Linkspartei kann man im Hinblick auf die neue Beweglichkeit als Sonderfall einordnen. In Ostdeutschland hatte sich die PDS schon in den 1990er-Jahren längst für Bündnisse mit der SPD entschieden, und in Thüringen wäre im letzten Jahr eine rot-rot-grüne Koalition, die als Alternative zur Großen Koalition im Gespräch war, mit Sicherheit nicht am dortigen Landesverband der Linkspartei gescheitert. In den westlichen Landesverbänden der Linkspartei sind dagegen die grundsätzlichen Vorbehalte gegen Koalitionen nach wie vor relativ groß. Aber sowohl das Tolerierungsangebot nach der Hessenwahl 2008 als auch die jetzt signalisierte Koalitionsbereitschaft in NRW zeigen, dass die Linkspartei sich vom Vorwurf der Koalitionsverweigerung befreien will. Ob es dabei tatsächlich um den ernsthaften Versuch geht, berechenbare und politisch vertretbare Koalitionen auszuhandeln oder ob es darum geht, den Vorwurf der Koalitionsverweigerung an SPD und Grüne weiterzureichen, ist gegenwärtig noch nicht ausgemacht. Man kann jedoch unterstellen, dass die Parteispitze bestrebt ist, durch weitere Regierungsbeteiligungen auf Landesebene die Ausgangssituation für eine Regierungsbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 zu verbessern, zumal der Abgang von Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender eine mögliche Hürde für eine Linkskoalition beiseite geräumt hat. Auf jeden Fall ist die Linkspartei dabei, zumindest im linken Parteienspektrum mehr Beweglichkeit zu praktizieren.

Die einzige Partei, die sich der neuen Beweglichkeit im Fünfparteiensystem bisher grundsätzlich verweigert, ist die FDP. Sowohl bei der Bundestagswahl 2005 als auch bei der hessischen Landtagswahl 2008 hat die FDP jedes Angebot in Richtung einer Ampelkoalition ausgeschlossen. Der Ausgang der Landtagswahl in NRW dürfte allerdings auch auf die FPD einen Lerneffekt ausüben. Bereits seit dem Start der schwarz-gelben Bundesregierung haben sich die beiden Wunschpartner CDU und FPD zunehmend voneinander entfernt. Beobachter sprechen sogar von einer Art atmosphärischem Kulturbruch zwischen Union und FDP. Und erstaunlich viele Wähler in NRW haben in einer Umfrage vor der Landtagswahl geäußert, dass sie glauben, dass CDU und FDP nicht gut zueinanderpassen. Außerdem haben die Liberalen erfahren müssen, dass CDU und CSU die FDP auf Granit beißen lassen, wenn es – wie bei der Steuerreform oder der Gesundheitspolitik – um die Durchsetzung zentraler Anliegen der Liberalen geht, die aber in der Wählerschaft der Volksparteien CDU und CSU nur schwer zu vermitteln sind. Nicht zuletzt hat die FDP 2008 in Hamburg feststellen müssen, dass ihr Lieblingspartner CDU nicht zögert, »fremdzugehen«.

Vor diesem Hintergrund setzt sich auch in der FDP langsam die Erkenntnis durch, dass sich eine Bündnisstrategie, die im Fünfparteiensystem auf einen einzigen Partner festgelegt ist, in Zukunft nicht mehr auszahlen wird. Die FPD ist also im Begriff eine längst überfällige Korrektur vorzunehmen, um gegenüber allen anderen Parteien, die inzwischen koalitionspolitisch sehr viel beweglicher geworden sind, nicht ins Hintertreffen zu geraten. Nach Jamaika im Saarland wäre eine Ampelkoalition in NRW vor diesem Hintergrund nicht nur eine logische Fortschreibung der neuen Beweglichkeit aller Parteien im Fünfparteiensystem gewesen, sondern auch ein Ausweg aus dem wahlpolitischen Dilemma der NRW-Wahl. Da der FDP zudem das Thema »Steuersenkung« aufgrund der nunmehr veränderten Mehrheiten im Bundesrat sowie aufgrund der Entwicklung der immens ansteigenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte weggebrochen ist, wäre eine Ampelkoalition für die FDP zugleich eine Chance gewesen, die thematische Engführung auf das Thema »Steuersenkung« zu beenden und wieder stärker an sozialliberale Programmelemente in ihrer Geschichte anzuknüpfen.

Die FDP könnte dabei durchaus von den Grünen lernen: Deren koalitionspolitische Beweglichkeit seit 2005 hat der Partei keineswegs geschadet. Weder hatte die Bildung des schwarz-grünen Senats in Hamburg bei den folgenden Landtagswahlen oder bei der Bundestagswahl 2009 einen negativen Einfluss auf die Wahlergebnisse der Grünen noch hat ihnen die Jamaika-Koalition im Saarland bei der NRW-Wahl Stimmen gekostet. Im Gegenteil: Nicht zuletzt das Offenhalten der Koalitionsfrage hat ihnen von allen anderen Parteien – wie die Wählerwanderung zeigt – Stimmen zugeführt.

Natürlich ist die koalitionspolitische Offenheit nicht der einzige und wahrscheinlich nicht einmal der wichtigste Grund für den gegenwärtigen Auftrieb der Öko-Partei. Der jetzt vielfach erhobene Vorwurf, die Grünen degenerierten zur beliebigen Funktionspartei, läuft jedoch ins Leere, weil er die produktive Funktion, die die Grünen als lagerüberbrückende Scharnierpartei im Fünfparteiensystem spielen können, in das alte Schema der Funktionspartei presst. Die Grünen haben bisher nicht nur glaubhaft vermitteln können, dass sie es je nach Situation sogar vorziehen, Oppositionspartei zu bleiben, wenn von grünen Inhalten zu viele Abstriche bei Koalitionsverhandlungen gemacht werden müssen, sondern sie haben im Gegenteil als Scharnierpartei jeweils viel grüne Inhalte durchsetzen können, weil die Beweglichkeit zwischen den Lagern sie in die Lage versetzt, von ihren Koalitionspartnern viel einzufordern. Die Koalitionsverträge in Hamburg und im Saarland enthalten jedenfalls sehr viel mehr Grün, als man angesichts der realen Wahlergebnisse in beiden Bundesländern hätte erwarten können.

Eines scheint jedenfalls sicher zu sein: Auch wenn sich die FDP in Nordrhein-Westfalen ein weiteres Mal einer Ampelkoalition verweigert, wird sie sich in Zukunft kaum der neuen Beweglichkeit der anderen Parteien im Parteiensystem verschließen können, wenn sie nicht ins machtpolitische Abseits geraten will.

Die neue Beweglichkeit im Fünfparteiensystem bedeutet übrigens keineswegs, dass die Parteien ihre Erstpräferenzen aufgeben und ihre jeweiligen strategischen Interessen vernachlässigen. In der Regel werden sie ihre Erstpräferenzen auch zukünftig weiterverfolgen – wie etwa die CDU 2006 nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg, als die Christdemokraten die Wahl zwischen FDP und Grünen als Koalitionspartner hatten. Und dass die SPD gegebenenfalls ihre Eigeninteressen vor ihre bevorzugten Bündnisoptionen stellt, zeigt das Beispiel Berlin, wo Klaus Wowereit nach der letzten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus die Fortsetzung des Bündnisses mit der Linkspartei einer ebenso möglichen Koalition mit den Grünen vorgezogen hat.

Außerdem steht die neue Beweglichkeit bei allen Parteien im Zeichen der Risikominimierung. Nicht nur die FDP ziert sich (noch) bei Ampelkoalitionen, sondern auch die Grünen haben ihre Probleme mit der Jamaika-Koalition und schließen diese im Vorfeld von Wahlen meistens aus. Für beide Parteien sind diese Koalitionen weniger attraktiv als ein Bündnis mit je einer der beiden mittleren Großparteien aus dem »anderen« Lager, weil Zweier-Koalitionen den beiden kleineren Parteien mehr Profilierungsmöglichkeiten unter den eigenen Anhängern bieten. Schwarz-Grün und Rot-Gelb gehen besser als Dreierkoalitionen, in denen entweder die Grünen oder die FPD in eine Sandwich-Position zwischen zwei Parteien des anderen Lagers geraten und um ihr Profil fürchten.

Im Hinblick auf eine Linkskoalition wiederum geht es bei SPD, Grünen und Linkspartei nicht mehr um eine Grundsatzentscheidung, sondern vor allem für die SPD, aber auch für die Grünen, um eine möglichst risikoarme Konstellation, in der man dieses Bündnis ausprobieren kann, ohne dass es in einem Desaster endet. NRW gehört definitiv nicht zu dieser risikoarmen Konstellation, weil der Landesverband der Linkspartei nicht nur ein schwieriger, sondern auch ein unberechenbarer Partner sein würde. Sollte eine Linkskoalition in NRW schon in den Koalitionsverhandlungen oder erst recht in der laufenden Legislaturperiode scheitern, wäre diese Option damit für die nächste Bundestagswahl in umso weitere Ferne gerückt – für alle drei Parteien. Auch für die Linkspartei steht letzten Endes also viel auf dem Spiel, denn wenn sie zu viel von ihren hochgesteckten Zielen in den Koalitionsverhandlungen aufgibt, meutert die Basis; stellt sie jedoch unrealistische Forderungen, werden SPD und Grüne erst recht ihre Behauptung aus dem Vorwahlkampf wiederholen, dass sie nicht koalitionsfähig sei – eine Deutung, die sicherlich auch die öffentlichen Medien schnell teilen werden. Man wird also vorläufig noch mit der einen oder anderen Blockade leben müssen, bevor die neue Beweglichkeit für alle Parteien zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Anm. der Red.: Die beiden Tabellen sind nur in der Printausgabe enthalten.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2010