Kurt Edler


Aufruhr an der Elbe


Ein Schulreform-Konflikt eskaliert zum Plebiszit




Spezifische Bedingungen sorgten dafür, dass eine schwarzgrüne Koalition im Stadtstaat eine Reform der Schulbildung ins Zentrum stellen konnte. Doch kaum liegt ein auf breiter Basis beschlossener Reform-Vorschlag vor, da tritt eine Bürger-Initiative – wider die Erkenntnisse von Leistungs- und Gerechtigkeitsdefiziten – gegen die Neugestaltung des gegliederten Schulwesens an. Unser Autor zeigt, wie sich dieser Konflikt entwickelt hat – und warum die Volksabstimmung in Hamburg sowohl eine Nagelprobe für politische und pädagogische Vernunft als auch ein Ausweis für die zweifelhaften Elemente des Plebiszits werden könnte.

Ausgerechnet Hamburg wird in diesen Monaten zum Theater eines Schulstreits, der seinen Höhepunkt in einem Volksentscheid findet, zu dem alle politischen Kräfte der Hansestadt und das gesamte sozialpolitische Spektrum mobilisieren. Ein Bündnis von seltener Breite plädiert für die Primarschule – vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und den Gewerkschaften bis hin zur Handwerkskammer und zur nordelbischen Diakonie. Die verschiedensten Berufsgruppen melden sich mit Resolutionen zu Wort. Eine paradoxe Situation: Dem bürgerschaftlichen Konsens aus CDU und GAL als Senatsparteien, aber auch SPD und Linkspartei als Opposition steht eine kleine Bürgerinitiative gegenüber, die unter der Führung eines gewieften Anwalts das Kunststück fertiggebracht hat, 184.000 Unterschriften zur Verteidigung des Gymnasiums ab Klasse 5 zu sammeln. Das war das Dreifache dessen, was einem Volksbegehren genügte, um damit wiederum die nächste Stufe der Volksgesetzgebung auszulösen.

Die gesellschaftspolitische Option dieser Bürger-Initiative ist sicherlich eine ganz andere, als die der Bürgerinitiativen aus der Zeit der »neuen sozialen Bewegungen« der Achtzigerjahre. Aber ansonsten haben sie alles von ihnen gelernt – auch so manches Schlechte. Das ungefilterte Standesinteresse verbindet sich mit elterlicher Overprotection und entfaltet im schulpolitischen Raum eine emotionale Radikalität, die sich in Verunglimpfungskampagnen, fragwürdigen Unterschriften-Sammelmethoden und Saalauftritten à la K-Gruppen realisiert. Facebook, Twitter, Youtube – kein modernes Kommunikationsmittel ist den »Volksinitiatoren« ungewohnt. Tragisch für die Hamburger GAL – denn gerade sie war nicht nur die hauptsächliche Protagonistin des Plebiszits als neues Element in der Hamburgischen Verfassung, sondern hat seine Anschärfung auch noch dem Koalitionspartner abgerungen: Was das Hamburger Wahlvolk im Volksentscheid beschließt, gilt ohne Abstriche.

Das alles ist erstaunlich in einer Stadt, wo bis in die Neunzigerjahre hinein die Mehrheit des Landesparlaments so sicher bei der Sozialdemokratie war, dass diese die Elbmetropole gleichsam als ihren Privatbesitz betrachtete. Dass die großen Veränderungen von der Schulpolitik kommen würden, konnte die Demoskopie nicht vorhersehen. Noch Anfang der Neunzigerjahre rangierten Bildungsfragen bei der Hamburger Wählerentscheidung eher auf unbedeutenden Rängen.

Krise eines Politikfelds

Der Umbruch in den 1990er-Jahren war dadurch gekennzeichnet, dass die schulpolitischen Lieblingsspielzeuge der Parteien nicht richtig funktionierten: Die Gesamtschule war nicht egalitär, das Gymnasium nicht leistungsstark, und die Hauptschule führte nicht zum Berufseinstieg. Das schuf eine neue Nachdenklichkeit. Der bürgerschaftliche Diskurs wurde pragmatischer. Es begann eine Welle von Schulleistungs-Evaluationen, die vor allem einen wichtigen Effekt hatten: Die Apologeten des gegliederten Schulwesens bekamen einen gewaltigen Dämpfer. Mit den Tests, deren Ergebnisse in den Zeitungen standen, entstand ein Rechtfertigungsdruck auf letztlich unhaltbare schulpolitische Positionen. Der schulpolitische Fundamentalismus besonders der alten CDU-Truppe wurde erschüttert.

Auch der Druck der nationalen und internationalen Schulqualitätsdiskussion ließ Hamburg nicht unberührt. Das System Bildungspolitik reagierte auf die Systeme Wissenschaft und Medien. Auf Vorträgen und bei Talkrunden stand die Parteipolitik beim Thema Schule als mental retardiertes System da. Es entwickelte sich mit dem Schuldiskurs ein parteienkritischer Diskurs, in dessen Verlauf sich die Parteien entweder bestätigt oder verunsichert sahen.

Die grünen-interne Kurswende kam von der Beratergruppe um Christa Goetsch, der heutigen Schulsenatorin. Bei den Grünen hatte sich bis dahin die Ansicht gehalten: »Es gibt keine guten und schlechten Schulformen, es gibt nur gute und schlechte Schulen«. Aber die Degeneration der Hauptschule zum Sozialgetto war derart offenkundig, dass sich gegenüber dem »realpolitischen« Pragmatismus das tiefer liegende Gerechtigkeitsmotiv durchsetzte. Bei den realpolitisch gewendeten Grünen setzte sich bundesweit eine radikale Kurswende durch, die letztlich vom »kleinen Parteitag« der Grünen, dem Länderrat, abgesegnet wurde. Das Ziel war nun die Gemeinschaftsschule bis Ende neun, und die GAL-Kampagne hieß deshalb »neun-macht-klug«.

Alte Gewissheiten zerbröseln

Der Kontext, in dem sich diese Umorientierung vollzog, begünstigte neue schulreformerische Koalitionen. Die ideologische Aufgeladenheit etwa des alten Gesamtschulstreits verblasste. Gefragt wurde nun, wie die real existierende Schule wirklich lief. Auch die Gesamtschule musste sich harte Fragen gefallen lassen. Erziehungswissenschaftler/-innen, innovative Praktiker/-innen, Schulinspektoren und -inspektorinnen et cetera enthüllten der Öffentlichkeit immer deutlicher, warum an deutschen Schulen nicht gelernt wird – ob nun an Gymnasien, Gesamtschulen oder Haupt- und Realschulen. Die Medien griffen Leidensgeschichten von Lehrkräften und Selektionsschicksale von migrantischen Jugendlichen auf. Dass Unterricht nicht immer Lernen bedeutet, sickerte als Erkenntnis auch in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit.

Die Schulreformkampagne der GAL war von dem strategischen Bemühen geprägt, die Frage der Bildungsgerechtigkeit mit dem Leistungsthema zu verbinden. Dabei kamen den Grünen die Ergebnisse der empirischen Schulforschung zugute. Nicht nur PISA hatte die Leistungsfähigkeit des deutschen Schulwesens in Zweifel gezogen. Ausgerechnet das Gymnasium, so zeigten es die Hamburger Vergleichstests, ließ Begabungen verkümmern. Das leistungsstärkste Viertel der untersuchten Fünftklässler-Generation hatte nach zwei Jahren nichts dazugelernt. Die Leistungen der Schüler verschiedener Gymnasien klafften weit auseinander, und ihre Benotung erwies sich als willkürlich: Was an der einen Schule mit einer Zwei bewertet wurde, war an der anderen nur eine Vier wert.

Ungewohnte Unterstützung

Diese und andere ernüchternde Erkenntnisse über den Zustand des Schulwesens wurden in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Die Diskussion half der GAL, die Frage aufzuwerfen, wozu denn die Schulformen eigentlich gut seien. Im Bericht der Bürgerschaftskommission gab es denn auch eine parteiübergreifende Einigkeit: Es gibt zu viele Schulformen; und besonders, wer an einer Hauptschule landet, ist allein hierdurch benachteiligt. Die GAL konnte mit einer langen Liste von prominenten Kronzeugen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Bildungspolitik aufwarten, die genau diese Position unterstrichen. Mächtige Partner wurden nun zu Kronzeugen grüner Bildungspolitik. Sie kamen aus einem den Grünen fernen Feld: der Wirtschaft. Reihenweise liefen Wirtschaftsvertreter mit Wirklichkeitssinn in das Lager derjenigen über, die die mangelnde Berufsfähigkeit von Hauptschulabsolventen bedauerten. Die GAL konnte in die Enquetekommission der Bürgerschaft eine umfangreiche Liste von Zitaten aus Wirtschafts- und Wissenschaftskreisen einbringen, die die Option des gemeinsamen Lernens für alle unterstützten. Gerade der Applaus aus den sonst eher grünenfeindlichen Milieus wurde zum Rückenwind für die grüne Option.

Ein weiterer Umstand hat den Umbruch in Hamburg begünstigt. Der längst fällige Generationswechsel bei der CDU führte zur Ablösung der bildungspolitischen Ideologen alter Schule. Zum ersten Mal konnte man CDU-Bürgerschaftsvorlagen lesen, die den Realismus der Expertisen nicht mehr ignorierten, etwa auch in dem Konflikt um die Integration. Der Prozess wurde auch dadurch gefördert, dass einige wichtige Leute der Hamburger CDU (atypisch) Lehrer waren oder sind.

Ideologische Lockerungsübungen

Die GAL nutzte die Gunst der Stunde. Sie rammte Pflöcke ein, die noch fünf Jahre früher tabu waren. Als äußerst wirksam erwies sich dabei ein Motiv-Verbund. Es waren die Motive Leistungsfähigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Die Hamburger Grünen konnten damit die bisherige politische Dichotomie aushebeln, derzufolge die CDU für die Leistung zuständig war und die SPD für die Gerechtigkeit. Nicht was der Schüler, sondern was die Schule leistet und gesellschaftlich verantwortet, wurde zum Fokus der öffentlichen Debatte. Das Wort Schulleistung bekam einen ganz neuen Sinn. Damit war der tradierte Selektionsmechanismus von zwei Seiten auf den Prüfstand gestellt – von seiner Moralität her und von der Effizienz.

Aus dieser politischen Konstellation ergaben sich sowohl ein Gerechtigkeitsdiskurs als auch ein Leistungsdiskurs. Zunächst bildeten die beiden eine Einheit. Die Kernbotschaft der Schulreformer lautete: Das gegliederte Schulwesen fördert die Kinder und Jugendlichen in ungleichem Maße, bringt ihre Leistungsmöglichkeiten nicht zur Entfaltung und ist daher ungerecht. Auf dieser Grundlage konnte sich eine Allianz unter anderem zwischen dem progressiv-pädagogischen Milieu und fortschrittlichen Wirtschaftskreisen herausbilden. Und erst durch diese Allianz rückte in der Schulpolitik die Option Schwarz-Grün in den Bereich des Möglichen – und kam das Thema Schule als Thema immer mehr nach vorn und konnte zur »Chefsache« werden.

Ein Bürgermeister als Modernisierer

Ole von Beust war in der CDU schon immer für eine Überraschung gut. Mit der jüngeren Generation der CDU-Politiker verbindet ihn das Anti-Ideologische. Er bekennt sich gegen den Mainstream seiner Partei zum längeren gemeinsamen Lernen und hat seine Schulzeit nicht vergessen. Er erzählt, dass der Weg zum Gymnasium ihm auch deshalb geebnet wurde, weil sein Vater Bezirksamtsleiter war. Er thematisiert somit als CDU-Mann das mit der Schulform verbundene Klassenprivileg. Damit erscheint der Bürgermeister in den Augen vieler CDU-Stammwähler als angegrünt. Politiker sind jedoch im Volk umso beliebter, je umstrittener sie in ihrer eigenen Partei sind. Nach einem populären Konkurrenten halten seine innerparteilichen Gegner bisher vergeblich Ausschau.

Die Koalitionsverhandlungen offenbarten dann die kommunikative Kompetenz der Grünen. Dem gemütlichen CDU-Herrenquartett saß eine doppelt so große grüne Delegation beiderlei Geschlechts gegenüber, die über Kompetenzen auf so manchem Feld verfügte: Gender Mainstreaming, Diversity Management, Kommunikationspsychologie, Diskurstheorie, Supervision, Moderation, Streitschlichtung und Staatstheorie. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Niemand in Hamburg – auch kein Sozialdemokrat – bestreitet heute, dass die GAL bei dieser Koalition mehr herausgeholt hat, als bei der rot-grünen mit dem sozialdemokratischen Bürgermeister Ortwin Runde 1997.

Mit der Hamburger Koalition von 2008 konnten die Grünen ein Schiff zu Wasser lassen, an dem sie lange gebaut hatten: das gemeinsame Lernen aller Schüler in derselben Schulform. Allerdings fiel das Boot kürzer aus, als von der GAL geplant. Nach sechs Schuljahren sollten sich doch wieder zwei Schulformen anbieten. Aber immerhin – jede der beiden, also auch die Stadtteilschule, lässt den Weg zum Abitur offen. Und – eine kleine Revolution – das Gymnasium muss mit leistungsschwachen Schülern umgehen lernen und darf sie nicht mehr abschieben.

Die schwarz-grüne Arbeitsteilung

Mit der Realisierung der neuen, von ihren Milieus her heterogenen Koalition musste Schwarz-Grün aber in differenzierte Teilöffentlichkeiten hineinkommunizieren. Die Koalitionäre sahen sich ganz verschiedenen Kritikern und Gegnern gegenüber. Und wahrscheinlich blieb auch aus diesem Grund der argumentative Grundtenor nicht stehen. Er differenzierte sich aus. Die Kernbotschaft Leistungsfähigkeit und Bildungsgerechtigkeit zerlegte sich, und es begannen zwei Diskurse ein Eigenleben zu führen. Zu jedem dieser Diskurse gehört eine thematisch spezifische Botschaft der Schulreformer. Wenn man beide zugespitzt formuliert, lauten sie:

Erstens: Unser Schulwesen ist ungerecht, weil es Kinder im Alter von zehn Jahren sortiert und so um die optimalen Bildungschancen bringt.

Zweitens: Hamburg kann es sich nicht leisten, mit seinem Bildungskapital verschwenderisch umzugehen; deshalb muss sein Schulwesen leistungsfähiger werden.

Zu diesen beiden Positionen verhalten sich die progressiven Senatskritiker und die konservativen Reformgegner scheinbar symmetrisch. Die Anhänger der Gemeinschaftsschule (»Eine Schule für alle«) würden dem Satz eins zustimmen, die »Wir wollen lernen«-Volksentscheid-Betreiber (WWL) dem Satz zwei.

Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied, und insofern besteht in der realen politischen Konstellation keine Symmetrie. Der politische Dialog mit den Gemeinschaftsschul-Befürwortern geht gar nicht darum, ob Satz eins zutrifft oder nicht. Er geht um die Frage, ob der schwarz-grüne Kompromiss akzeptabel ist oder nicht. Dies ist jedoch keine Gerechtigkeitsfrage, sondern eine Frage pragmatisch-politischer Vernunft. Es bedurfte hier also gar nicht des öffentlichen Streits um den Wert Gerechtigkeit. Selbst wenn der interessierte Journalismus es gewollt hätte, hätte er hier nichts begleiten oder verstärken können.

Der Streit mit der Gruppe um den WWL-Aktivisten Walter Scheuerl – wenn er denn auf der Basis des Satzes zwei ausgetragen wird – geht ebenfalls nicht um die Gerechtigkeitsfrage. Er geht um die Frage, ob ein gegliedertes Schulwesen überhaupt leistungsfähig sein kann oder ob es Talente verschwendet. Das Motto der Schulbehörde »Eine kluge Stadt braucht alle Talente« versucht die Allgemeinheit des Bildungsanspruchs mit dem Wohl der Stadt zu verbinden, versucht also eine Brücke zwischen der Gerechtigkeit beziehungsweise der Inklusion und dem Nutzen (»braucht«) zu schlagen – bewusst doppelsinnig, denn »brauchen« heißt nicht nur »gebrauchen«. Klug ist sie, wenn sie alle mitnimmt. »No child left behind« klingt hier bewusst mit an.

Meister des Framings

Jedoch ist es den Primarschulanhängern nicht gelungen, den Wertestreit offensiv zu führen. Nach dem Scheitern der Volksinitiative »Eine Schule für alle« ist es sehr schnell still geworden um die Vision einer vollständigen Gemeinschaftsschule. Der Wertestreit hätte also mit denjenigen ausgetragen werden müssen, die das Volksbegehren im November 2009 gewonnen haben. Jedoch gewann die Kontroverse um die Schülerleistungen rasch die Oberhand. Die Schulstudien nahmen breiten Raum ein, und jede Seite bemühte die Matadoren der Schulforschung. Namhafte Professoren traten in den bildungspolitischen Zeugenstand, aber nicht, um über Bildungsgerechtigkeit zu philosophieren, sondern um die Frage zu erörtern, ob die sechsjährige Grundschule der Leistungsentwicklung bei Schülern förderlich oder hinderlich ist. In dieser Frage aber liegt bereits eine Defensive.

So gewann »Wir wollen lernen« Oberwasser. Die WWL-Akteure konnten ihre Verdächtigung, die Primarschule werde Leistungsdefizite verursachen, indirekt sogar in der Nachbesserung des Schulgesetzes unterbringen, obwohl die Verhandlungen zwischen der Bürgerinitiative und der schwarz-grünen Koalition scheiterten. Diese Nachbesserung sieht eine Evaluation der Primarschule vor. Völlig außer Sicht gerieten dabei die Leistungsschwächen der bisherigen Schulformen, auch des Gymnasiums. Nicht dieses, sondern die neue Schulform soll sich nun legitimieren. Handwerklich akkurat haben es die Reformgegner geschafft, die PISA-Problematik der bestehenden Schulformen, die ja auch eine des Gymnasiums ist, aus dem Augenmerk der Öffentlichkeit zu entfernen.

Der sachliche Kern des Konflikts

Das ist für die Reformanhänger umso ärgerlicher, als sich die »Volksinitiatoren« in der gesamten Debatte an keiner Stelle genötigt sahen, ihren Leistungsbegriff zu erläutern. Längst steht jedoch das alte, gymnasiale Wissensdogma(1) in der Kritik. Die OECD, die Kultusminister, die Erziehungswissenschaftler und Didaktiker sind viel weiter. Soziale Kompetenz nur im herkunftsspezifischen Raum, in der eigenen Schicht, entwickeln zu wollen, käme einer Taucherqualifikation im Nichtschwimmerbecken gleich. Gerade in Hamburg gibt es eine solide Kaufmannstradition der lebensnahen Realbildung, in der Schulgeschichte der Stadt etwa vertreten durch den Schulgründer Albrecht Thaer, der verstanden hatte, dass man die Kinder mit dem praktischen Leben, mit der »weiten Welt« konfrontieren muss.

Diese pädagogische Grundhaltung findet sich heute in den OECD-Schlüsselkompetenzen(2) wieder, die allen PISA-Studien zugrunde liegen: »To relate well to others«; der konstruktive Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt; die Fähigkeit, mit gesellschaftlichen Widersprüchen umzugehen und Fremdheit als Bereicherung zu erleben – das alles sind Kompetenzen, die im Schonraum der Bürgerschule, in der man unter Seinesgleichen ist, nur begrenzt erworben werden können. So betrachtet, ist das WWL-Konzept des separierten Lernens und Aufwachsens eine Absage an die Notwendigkeit, mit der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auch im eigenen Leben zurechtzukommen.(3) Diese Absage ist dumm; denn sie beschert nicht nur den Kindern anderer Leute ein Defizit, sondern auch den eigenen. Dass sich bei den Befürwortern der Hamburger Schulreform so viele Menschen aus Wirtschaftskreisen einreihen, liegt daran, dass sie die WWL-Option als rückständig, als Standortnachteil erkannt haben.

Die Tatsache, dass es in der Hamburgischen Bürgerschaft am 3. März 2010 zu einem historischen Bündnis – von CDU bis Linkspartei – für die Schulreform gekommen ist, zeigt, dass man politisch nicht progressiv orientiert sein muss, um das längere gemeinsame Lernen zu befürworten. Auch von einer dezidiert konservativen Position aus kann ich die Gemeinschaftsschule verteidigen, wenn ich das Ziel verfolge, Bedingungen des Zusammenlebens herzustellen, die den Fortbestand der demokratischen Ordnung sichern. Die Demokraten von morgen müssen heute lernen, erfolgreich in heterogenen Gruppen zu interagieren. Gefragt ist interkulturelle Kompetenz. Diese aber erwirbt man nicht an der monokulturellen Schule.

Wenn man sich dies alles bewusst macht, dann können die Diskursverläufe der letzten anderthalb Jahre in mancher Hinsicht kaum zufriedenstellen:

– Knietief wurde mit WWL in den Zahlenbergen von Gutachten und Expertisen gerungen, ohne die Kontrahenten ein einziges Mal nach ihrem Leistungsbegriff zu fragen.

– Die Kinderrechtsfrage und das Menschenrecht auf (chancengerechte) Bildung spielten kaum eine Rolle, sodass der Gerechtigkeitsdiskurs in den Hintergrund trat.

– Anstelle dessen hat es WWL geschafft, »Gerechtigkeit« neu zu rahmen – beim Elternwahlrecht und bei dem Umgang mit den Siebtklässlern am Gymnasium.

– Der Leistungsdiskurs hätte in erster Linie als Diskurs über die Leistung von Schulen – und nicht von Schülern – geführt werden müssen, und man hätte klarmachen müssen, dass sich in diesem Konflikt zwei Leistungsbegriffe gegenüberstehen: die Wissens- und die Kompetenzorientierung.(4)

Konstellationen der Medienprovinz

Als politischer Marktplatz hat Hamburg eine Besonderheit: Die drei größten Stände gehören einem einzigen Händler. Mit dem Abendblatt, der Welt und der Bild dominiert der Springer-Konzern erhebliche Bereiche der Meinungsbildung. Gegengründungen sind nie gelungen. Wer auf die Bürgerschaftswahlen der letzten zwei Jahrzehnte zurückblickt, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass das Hamburger Abendblatt gleichsam als ungewählte Partei mitregiert. Diese Zeitung hat Ronald Schill hochgepäppelt, als dessen rechtspopulistische Opa-APO noch bei zwei Prozent war, hat ihn 2003 wieder klein geschrieben und Ole von Beust – nach dem Befreiungsschlag gegen Schill – zu seiner absoluten Mehrheit verholfen. Auch der WWL-Initiative gegen das längere gemeinsame Lernen bot das Abendblatt eine bequeme Plattform. Alle drei Springer-Blätter machen aus ihrer Abneigung gegen die Primarschuleinführung keinen Hehl, auch wenn sie neuerdings vorsichtiger sein müssen: Gegen den Konsens des gesamten Landesparlaments eine Position zu vertreten, die im Parteienspektrum nur von der (in Hamburg bedeutungslosen) NPD und der (außerparlamentarisch organisierten) FDP verteidigt wird, ist auf dem Zeitungsmarkt nicht ohne Risiko.

Plebiszit – es steht viel auf dem Spiel

Nach den Bestimmungen des Hamburger Volksabstimmungsgesetzes geht die Stadt nun auf einen Volksentscheid zu, der am 18. Juli – in den Hamburger Sommerferien – stattfindet. Viele Wahlberechtigte werden daher, wenn sie abstimmen wollen, von den Briefwahlunterlagen Gebrauch machen. Wahlberechtigt sind nur deutsche Staatsangehörige mit Hamburger Wohnsitz – also keineswegs alle Schuleltern. Im Gegenteil: Gerade diejenigen, deren Kinder heute an den Hamburger Grundschulen 50 Prozent der Jahrgänge ausmachen, sind vermutlich in sehr großer Zahl von der Abstimmung ausgeschlossen. Es ist – das liegt in der Logik des Konflikts – halt keine Schulfrage mehr. Abstimmungsberechtigt sind auch all diejenigen, die keine Kinder oder keine Kinder mehr an der Schule haben. Doch nur jeder fünfte Haushalt in Hamburg zählt Minderjährige zu seinen Mitgliedern. Wenn man sich dann auch noch vor Augen führt, dass in den vom bisherigen Schulsystem benachteiligten Milieus die Wahlabstinenz besonders hoch ist, könnte am Abend des 18. Juli in Deutschland schlagartig ein neues Problembewusstsein in Bezug auf Bürgerbeteiligung und plebiszitäre Demokratie entstehen. Das würde besonders für den Fall gelten, dass die Volksinitiatoren sich gegen die einmütige Empfehlung der Bürgerschaft durchsetzen könnten, der Primarschuleinführung zuzustimmen.

Vielleicht sollten wir so klug sein, diese Debatte nicht nur dann zu führen, wenn sich die Reformgegner durchsetzen. Der Hamburger Volksentscheid sollte, wie auch immer er ausgeht, uns zum Nachdenken darüber veranlassen, ob wir mit dem möglichen Konstrukt »Volk gegen Parlament« eine unmilitärische Form der Doppelherrschaft etablieren, die letztlich nur zu einem führt: zur Delegitimation der abwägenden, kompromissbildenden Verfahren, wie sie eben nur auf dem parlamentarischen Weg möglich sind. Mit dieser Delegitimation verbunden ist die Verstärkung der Tendenz zu einer Ja-Nein-Politik im Sinne eines Alles-oder-Nichts. Eine Interessenaushandlung ist auf dieser Basis kaum möglich. Im Gegenteil – die Unbeschwertheit von interner Deliberation verleiht den Betreibern des Volksentscheids eine Beweglichkeit, auf die große Tanker nur neidvoll herabschauen können. Die Volksinitiatoren können im Tagesstreit auftauchen, zuschlagen und verschwinden – das Konstrukt der Volksabstimmung lässt alle Fragen der internen demokratischen Legitimation offen, und wenn die Tagespresse um sieben Uhr morgens auf dem Tisch liegt, ist der E-Mail-Verteiler »Besseres Lernen« um neun Uhr mit einer punktgenauen Lagebewertung bei seinen Adressaten. Die Beziehung der Volksinitiatoren zu ihren zwar namentlich bekannten, aber im weiteren Verfahren rechtlosen Unterstützern ist imperial. Eine Nachjustierung im Plebiszit kann es nicht geben.

Dem plebiszitären Traum vom unmittelbare Gerechtigkeit erzwingenden Volk, wie er in links-alternativen, aber auch rechts-völkischen Politikfantasien vorkommt, steht eine moderne Realität gegenüber, in der sich machterfahrene Cliquen in republikanischer Pose zeigen, um – im Namen des Volkes – ihre gesellschaftlichen Privilegien zu sichern. Ist die Schlacht geschlagen, wenden sie sich wieder ihrem Alltagsgeschäft zu.

1
In ihrer regelmäßigen Rundmail »Besseres Lernen« polemisiert WWL z. B. am 19.1.10 unter dem Motto »Beliebigkeit statt Wissen« gegen die neuen Bildungspläne der Schulbehörde, die konkrete verbindliche Inhalte zugunsten von Kompetenzen zurückstutzten.
2
Vgl. Rychen/Salganik: Key competencies for a successful life and a well-functioning society (2003).
3
»The need to deal with diversity in pluralistic societies« ist für die OECD-Experten die Begründung für eine von drei Kompetenz-Kategorien, nämlich »Interacting in Heterogeneous Groups« (a. a. O.).
4
Die heute gängigen Kompetenzbegriffe sind komplexer als der Wissensbegriff. Sie gehen davon aus, dass Wissen, Können und Wollen zusammenkommen müssen, wenn das Individuum eine offene, unvorhersehbare Lebenssituation zu bewältigen hat. Sie orientieren auf Handeln. Der Sinn der Schule liegt nicht darin, ein Wissensmonopol zu verwalten – das hat sie schon lange nicht mehr –, sondern Lerngemeinschaften junger Menschen zur Entwicklung von Kompetenzen zu verhelfen. Lernen ist immer auch Interaktion mit anderen, so wie Bildung aus der Begegnung mit Fremdem hervorgeht.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2010