Michael Ackermann

Editorial

Setzt man die bei der Bundestagswahl für Schwarz-Gelb abgegebenen Stimmen ins Verhältnis zu denen für die anderen Parteien und die Zahl der Nichtwähler, dann wird klar, dass die Bundesrepublik von einer politischen »Minderheit« regiert wird. Deren Zustimmungswerte sinken auch wegen einer doktrinär agierenden FDP. Und trotz rechnerisch linker Mehrheit bei den NRW-Wahlen drückt sich in Umfragen das Bedürfnis nach einer Großen Koalition aus. Das hängt gewiss mit dem Tempo zusammen, in dem sich in der »Griechenlandkrise« verbreitete politische und ökonomische Grundannahmen auflösen. Der Euro-Rettungsplan und der Meinungswandel bei der Finanztransaktionssteuer sind dafür Beispiele. Die Politik einer nationalen Sonderstellung der Bundesrepublik im Euro-Raum ist unhaltbar geworden, und die Debatte wird anhalten, ob die Staatsverschuldung selbst oder die Wetten auf sie schuld am europäischen Chaos sind. Es sollte auch eine Debatte darüber werden, in welchen Verhältnissen wir leben (wollen) und mit welchen Faktoren und Mentalitäten wir es zu tun haben (siehe Joscha Schmierer und Rainer Emschermann im »Thema«).

Was zeichnet haushaltspolitisch eine Nachhaltigkeitskultur aus? Sind alle Schulden schlecht oder gibt es vorausschauende, etwa in Infrastruktur, mit denen kommende Generationen leben können? Weiter ins Zentrum rückt auch die Frage, ob und wie die Deregulierung der Finanzmärkte zurückgeführt werden kann. Oder gehören Renditejagd und Spekulation genuin zu einer »Marktkultur«? Bilden sie nur eine persönliche Beziehung zwischen Spekulierendem und dem griechischen Staat oder dem Euro-Raum? Oder agieren hier extrem kleine Minderheiten auf Kosten der Mehrheit? Hat nicht auch die Propaganda eines »gesunden Egoismus« wider den permanenten Würgegriff von Staat und Gemeinwesen etwas Dekadentes (siehe Xaver Brenner, S. 65)? Die Protagonisten des Eigennutzes sehen die »Mehrheit der Deutschen« nur als Kompromissler und Konfliktscheue – versehen mit einem Attest über ihr Angstlustverhältnis zu jeder Art von Katastrophe.

Diese Sichtweise steht in einer langen Tradition der Beschwörung einer »deutschen Identität«. Die Lektüre der Neuausgabe des 1954 erschienenen Buches Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene (Eichborn Verlag) erschließt diese Tradition. Friedrich Sieburg (1893–1964), Korrespondent und dann Literaturteil-Leiter der FAZ, klagt dort, stilistisch brillant, über den Verlust des Willens und des Zusammenhalts des deutschen Volkes »nach der Katastrophe«. Die Kriegsschuldfrage und den Zivilisationsbruch im Hintergrund, sieht Sieburg, keineswegs ein Apologet der Nazis, in der jungen Bundesrepublik einen Mangel an »Gesittung«, an Geist und Zielen über das »Wirtschaftswunder« hinaus. In vollen Tönen lobt Herausgeberin Thea Dorn nun Sieburgs Ausführungen als Anregungen für unsere Zeit und zieht den roten Faden der Untergangssehnsucht und Lustfeindlichkeit der Deutschen gleich bis heute durch.

Diese Art der Verwesentlichung »der Deutschen« kennt keine Brüche. Wo Sieburg überall nur den Kulturpessimismus walten sah, fanden, noch schleichend, gravierende Umwälzungen der sozialen und mentalen Verhältnisse im »Volksbewusstsein« statt. Hilfreich sind hier Überlegungen zum veränderten Verständnis von Nationalkultur in Wiedervorlage: Nationalkultur (Steidl Verlag). Sie bewegen sich auf der Höhe des internationalen Kontextes. Saskia Sassen reflektiert etwa über die grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Mehrheit und Außenseitern in der europäischen Entwicklung. In ihr sind die Nationalstaaten und »Nationalkulturen« schon länger einem wechselseitigen Überlappungsprozess in einer auch kulturellen Globalisierung ausgesetzt.

Mark Terkessidis fragt dazu passend in Interkultur (edition suhrkamp), was denn »Deutschsein« heißen soll in einer Gesellschaft, in der es in mittleren und großen Städten häufig keine »Mehrheitsgesellschaft« und kein konsistentes »Wir« mehr gibt. »Es wird Zeit, sich von alten Ideen wie Norm und Abweichung, Identität und Differenz, von Deutschsein und Fremdheit zu trennen und einen neuen Ansatzpunkt zu finden: die Vielheit, deren kleinste Einheit das Individuum als unangepasstes Wesen ist, als Bündel von Unterschieden.« Diesen Gedanken führt Konrad H. Jarausch in »Gebrochene Geschichtskultur« (in Wiedervorlage: Nationalkultur) im europäischen Kontext fort. Zunehmend zeige sich ein »Verständnis von Identität als in mehreren Ebenen angesiedeltes Zugehörigkeitsgefühl«, »in dem sich die Bürger teils lokal, teils regional, teils national, teils transnational verorten und je nach Notwendigkeit den Bezug wechseln können«. Diese freundliche Aussicht auf ein gedeihliches Zusammenspiel in einer geschichtlich neuen Kooperation zwischen souveränen Staaten und ihren Bevölkerungen trübt sich jedoch nicht erst mit den jetzigen Turbulenzen gewaltig ein. Der Vorstellung von einer multiplen Zugehörigkeit steht ein verbreitetes Bedürfnis nach einfachen Identitätsmustern gegenüber (wie auch Gregor Mayers Blick nach Ungarn zeigt, S. 39). Die Gefahr, dass chauvinistische Tendenzen der Renationalisierung sich verstärken, ist also groß. Der »Euro« ist mehr als ein zu verteidigendes Zahlungsmittel.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2010