Xaver Brenner

Von Freunden und Feinden

Über das Wesen des Kulturellen im Gegensatz zum rein Politischen

 

Die Eroberung des Raumes, lange Zeit das Merkmal des Politischen, neigt sich ihrem Ende zu. Mit der wechselseitigen Durchdringung der Kulturen beginnt ein neues Zeitalter, die kulturelle Gleichzeitigkeit von Prozessen. Auf der Oberfläche erscheint diese Gleichzeitigkeit als eine ungeheure politische, soziale und technische Dynamik. Langsam dämmert den Bürgern, dass sie in einer globalen, vielfach vernetzten Welt leben. In der einen Welt zu leben, bedeutet auf vielfache Weise mit den Sorgen und Nöten der fernen Nachbarn verbunden zu sein. Es ist also höchste Zeit, über die Innenpolitik der einen Welt nachzudenken und sich über die Ursachen dieses Wandels Gedanken zu machen.

 

Auf der Außenseite dieses Prozesses sehen wir eine Welt in ungeheurer Beschleunigung. Technische Prozesse werden global vermittelt, Informationen in Echtzeit ausgetauscht. Mit dem Jahr 1989 leiten der Zerfall des »Ostblocks« und seine Einbindung in das kapitalistische Wirtschaftssystem das Entstehen eines wirklichen Weltmarktes ein. Es gibt nur noch einen Block, nur noch eine Weltökonomie und eine Supermacht, aber eine Menge Illusionen. Die erste sprach von der Versöhnung der Welt und vom Ende der Geschichte der Gegensätze und Konflikte.(1) Die eine Welt hat im Zeichen des Kapitalismus zur Demokratie gefunden. Lästige Ausnahmen werden als exterritoriale Gebiete der Rückständigkeit verstanden.

Doch unter der Oberfläche ereignet sich seit zwanzig Jahren ein erstaunlicher Wandel. Der rasante Abstieg der einzigen Supermacht USA und der Aufstieg neuer Mächte. Phänomenal, weil die Weltgeschichte keinen Fall kennt, in dem ein Imperium in so kurzer Zeit die unbestrittene Vormachtstellung auf fast allen Gebieten besitzt und wieder verliert. Am Ende dieser zwanzigjährigen Phase stehen wir vor dem paradoxen Ergebnis, dass wir heute nicht die Stärke, sondern die Schwäche der USA zu fürchten haben. Von der Finanzkrise über die Staatsverschuldung, von der maroden Autoindustrie bis zum Verfall der Infrastruktur zieht sich die Spur des Niedergangs der alten Supermacht. Der Dollar, einst der Stolz der Nation und die Reservewährung der Welt, ist heute so schwach wie nie. Zuerst wurde er benutzt, einen ungeheuren Konsumrausch zu organisieren. Was in Rom Brot und Spiele (panem et circenses) hieß, das waren in den USA arabisches Öl und chinesische Waren. Über den maßlosen Einkauf in der Volksrepublik China gelangte der amerikanische Staatsschatz von 1,8 Billionen Dollar in deren Tresore. Absurd aber scheint, dass heute das kommunistische China und die westliche Welt gemeinsam nichts mehr fürchten, als die gezielte Inflationierung eben dieses Dollars.

Zwei Ereignisse unterbrechen und überdecken den Verfallsprozess. Zum einen der Terroranschlag am 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Auftreten von al-Qaida. Zum anderen der Krieg gegen die Achse des Bösen, den Bush Jr. in Afghanistan begann und im Irak fortsetzte. Bereits im Irak-Krieg hat nur noch eine Koalition der Willigen die USA bei der Raumeroberung(2) unterstützt. Die Distanzierung Frankreichs, Deutschlands, Russlands und Chinas markierte das Ende des Alleinvertretungsanspruchs der USA als einziger Weltmacht (Brzezinski). Vorbei waren die Zeiten, in denen ein US-Präsident durch vorbeugende Kriegsführung Feinde markierte und Freunde in Bündnisse zwang. Der erste Teil des Wandels (change) vollzog sich bereits vor der Wahl 2009 durch die militärpolitische Wende, die der US-Generalstab im Irak vollzogen hatte. Hatte man früher »zuerst geschossen und dann gefragt«, so sah sich die US-Armee im Irak gezwungen »zuerst zu fragen und Koalitionen mit den Irakern zu bilden, und dann erst zu schießen«.(3)

Der zweite Teil des Wandels wird nun im Auftrag Obamas durch den ehemaligen Oberkommandierenden im Irak, General Petraeus, in Afghanistan vollzogen. Seine Irak-Strategie soll im Kampf gegen al-Qaida und die Taliban den Erfolg bringen.

Doch der dritte Teil des eigentlichen Wandels zeigt sich in der Rückkoppelung all dieser Ereignisse auf die USA selbst. Dort erleben wir mit der Wahl Obamas zum Präsidenten den kulturellen Change. Er bedeutet das Ende der Vorherrschaft der weißen, meist protestantischen Oberschicht. Diese Wahl steht für das definitive Ende der Rassentrennung und den Aufstieg der ehemals farbigen Unterschicht, mithin für ihre Teilhabe an der Macht. Im Zentrum des kulturellen Wandels steht das Versprechen des ersten farbigen Präsidenten, Amerika zur Wiedergeburt seiner Ideale zu führen. Doch neu ist: Die Renaissance der amerikanischen Macht sucht er im Einklang mit den Verbündeten. Mit dieser Wende akzeptiert die neue Administration den grundlegenden Wandel der Weltpolitik.

 

Die Abkehr vom rein Politischen

Stellte schon die Wahl Obamas einen kulturellen Bruch im Inneren dar, so sucht seine Politik nach außen diesen politischen Wandel durch einen kulturellen Neuanfang mit den alten Freunden und Feinden fortzusetzen. Einerseits ist der politische Wandel das Ergebnis der totalen Erfolglosigkeit im Krieg gegen die Achse des Bösen. Andererseits entspringt er aber auch der wieder gewachsenen Macht des neuen »Freundes« Russland und des alten Feindes in Asien, China. Die Agenda für den Neuanfang findet sich in einem offenen Brief der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright vor der Wahl.(4) Sie forderte von beiden Kandidaten den »Kampf der Ideen« und damit die Abkehr vom »Kampf der Kulturen«(5).

Obamas kulturpolitischer Ansatz in der Weltpolitik lässt sich nur verstehen, wenn wir den Pferdefuss des alten Kulturkampfes verstehen. Die Bush-Administration hat begierig zu Huntingtons These gegriffen, weil sie Kultur mit Religion in einer bestimmten Region gleichsetzte. Dieser Dreischritt geht im Prinzip auf die Idee des Augsburger Religionsfriedens (von 1555) zurück. »Wessen das Land, dessen (ist) die Religion (cuius regio, eius religio)«(6) Nach diesem Grundsatz musste ein Protestant ein katholisches Territorium verlassen, und ein Katholik umgekehrt ein protestantisches, oder sie mussten den Glauben wechseln. Gewaltsam suchte die Politik über die Bestimmung des Raumes, den Geist zu beherrschen. Die Übereinstimmung von Raum als Region und Geist als Religion findet sich exakt in der Theorie vom religiös bestimmten Kulturraum bei Huntington. Nach diesem Muster konnte die Bush-Administration die Länder der Achse des Bösen in einer Region mit fundamentalistischer Religion lokalisieren.(7) War der Feind einmal so verräumlicht und kulturell als das Böse markiert, war er grundsätzlich das total Andere. Mit ihm konnte und musste nicht geredet werden.

Der zweite Fehler dieser Theorie lag in der Gleichsetzung von Religion und Kultur. Für die fundamentalistischen amerikanischen christlichen Sekten war das aber die notwendige Konsequenz ihres Glaubens. Der Krieg gegen das Böse im anderen Land ist einerseits an den anderen Raum gebunden. Gottes gesegnetes Land gegen das Wüstenland (wasteland). Ohne Frage ist dies ein Rückfall hinter die Säkularisierung,(8) weil nicht nur die segensreiche Entwaffnung der Gläubigen damit wieder aufgehoben wurde. Der Krieg gegen das Böse war als »gerechter Krieg gegen den anderen Glauben« in der anderen Region wieder klar geordnet. Für den islamischen Fundamentalismus liegt darin nichts Falsches. Auch er nutzte das religiös-räumliche Freund-Feind-Muster. Allerdings ist dort das Böse der christlich-dekadente Westen.

 

Die Hintergründe des rein Politischen – die Theorie des politischen Körpers

Bei der Suche nach den Fundamenten der amerikanischen Theorie des Politischen, die in der neokonservativen Politik der letzten Jahre maßgeblich waren, stößt man auf eine Debatte aus dem Deutschland der Dreißigerjahre. Sie wird geführt vom konservativen deutsch-amerikanischen Philosophen Leo Strauss – dem theoretischen Übervater der heutigen amerikanischen Neokonservativen – und dem deutsch-konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt.(9) Inspiriert vom Kulturpessimismus macht Schmitt das liberale Denken und die »Kultur« als geistigen Raum für den Verfall der Autorität des Staates und damit des Politischen verantwortlich.

Schon sein erster Satz: »Der Begriff des Politischen setzt den Begriff des Staates voraus« beruht auf einer Annahme des 19. Jahrhunderts. Die Trennung von Privat- und Staatsrecht setzte den Staat als idealen Raum dem Privaten und damit der Kultur voraus. Die Annahme vom idealen Staatsraum ergänzt er durch Beobachtungen der Massendemokratie. Tatsächlich spielt der Geist eines Kulturraumes die grundlegende Rolle bei der Identitätsbestimmung von Menschen. Sie beginnt aber nicht im Staat, sondern in der Familie (Hegel(10)). Genauer gesprochen dort, wo Menschen Gemeinschaften bilden. Hier glaubte Schmitt, seine erste Annahme durch den Rückgriff auf Heraklit fundieren zu können. Aus dem griechischen Begriff für Streit und Krieg, pólemos leitet er seine berühmte Freund-Feind-Dualität ab. Die Griechen hätten nämlich nie den öffentlichen Feind (pólemos) mit dem privaten Feind (echthrós) gleichgesetzt. Tatsächlich hatten die Griechen wie jede Gemeinschaft nicht das Problem des Staatsraumes und des Staatsvolkes. Deshalb ist auch der Satz Heraklits: »Der pólemos ist der Vater aller Dinge!« immer mit Krieg übersetzt worden. Heraklit geht es jedoch um den pólemos als Streit. Er führt dann zum Krieg, wenn die versammelten Griechen durch ihr streitendes Reden (pólemos) den vereinigenden Logos nicht entwickeln.

Der Krieg, für uns eine Sache zwischen Staaten, beginnt dann in der Gemeinschaft.(11) Die »spezifisch politische Unterscheidung … die Unterscheidung von Freund und Feind«(12) braucht die Staatsgrenze. Verliert sie diese Grenze, weil sie sich in Zeiten der »Massendemokratie« auflöst, wie Schmitt selbst feststellt, dann fällt auch diese starre Definition.

Schmitts zweiter Fehler liegt in der Absolutheit der Freund-Feind-Unterscheidung. Hier kommt nun Leo Strauss ins Spiel. Er sucht, als Konservativer, den anderen Konservativen behutsam auf seinen Fehler hinzuweisen. Schon der alte Hobbes habe doch mit seiner Definition des Menschen als Wolf nichts anderes im Sinn, als die Bedrohung polemisch ins Extreme zu steigern. Sinn des Manövers sei es gewesen, den Krieg zu verhindern. Es ginge Hobbes also darum, dem jeweiligen »Individuum«, nicht den »Verbänden« klarzumachen, was eine extreme Möglichkeit des Krieges für ihn bedeutet.(13) Das wiederum solle dem Einzelnen klarmachen, wie er Feind und Feindschaft nur wollen könne. Nicht als totale Gefährlichkeit, weshalb er sich selbst als Feind zurücknehmen müsse. Strauss argumentiert hier sokratisch, wenn er fragt: »bejaht eine ›kämpfende Gesamtheit von Menschen‹ in der Gefahr, im ›Ernstfall‹ die Gefährlichkeit ihres Feindes? Wünscht sie sich gefährliche Feinde?«(14) Nein, sagt Strauss. Auch in der Gefahr wünscht selbst ein Volk seine »eigene Gefährlichkeit nicht um der Gefährlichkeit, sondern um der Rettung aus der Gefahr willen.«

Tatsächlich übernimmt Schmitt diese Argumentation inhaltlich in die Ausgabe von 1932. Er erkannte nämlich, dass die Feindschaft in dieser Form zur »absoluten Feindschaft« führt. In ihrem Namen wird dann, ob im Zeichen des »Humanismus«, des Faschismus oder einer Religion, der Gegner um seiner Idee willen als »Feind … der gesamten Menschheit bekämpft« und so zum »Unmenschen«.(15) Ob Schmitt verstand, dass er selbst den zentralen inneren Widerspruch seiner eigenen Theorie vom politischen Feind formulierte, bleibt offen. Klar ist aber, dass er selbst das starre Freund-Feind-Schema vom »politischen Körper« des Feindes als reine Metaphysik auflöst. Es kann nicht mehr die Grundlage des Politischen sein.

 

Die neokonservative Gegenrevolte des Leo Strauss

Hier setzt nun die eminente Bedeutung des Denkens von Leo Strauss für die Neokonservativen in den USA ein. Strauss, der konservative Jude, muss aus Deutschland emigrieren, weil die liberale Demokratie der Weimarer Republik gescheitert war. Strauss macht letztlich die Kultur des Liberalismus, ihre übertriebene Toleranz gegen Nationalsozialismus und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der moralischen Unordnung für den Holocaust an den Juden verantwortlich. Dabei ist der Faschismus ein politisches Problem im Land. Für Strauss, der vor 1933 zeitweilig Anhänger Mussolinis war,(16) entsteht die Aufgabe, »die rechten Prinzipien« nicht aufzugeben und trotzdem gegen den Faschismus zu sein.(17)

Daraus aber folgt für Strauss die Verlagerung der Freund-Feind-Linie vom Rande des Staates bei Carl Schmitt zurück ins Innere der Gesellschaft. Auch der Freund gleicher Gesinnung kann nun der Feind sein. Carl Schmitt, der Leo Strauss zu einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung in Paris verholfen hatte, antwortet ihm nach 1933 nicht mehr.(18) Der Irrsinn der Rassenvernichtung durch die Nazis erzwingt eine neue Freund-Feind-Unterscheidung. Warum wird der Freund zum Feind? Gibt es nur Freunde, weil es Feinde gibt? Gibt es ein politisches Binnenland, in dem auch die Feinde leben? Und schließlich: Bestimmt der Feind durch seine aggressive Abgrenzung mich? Werden also die Freunde nur durch den Feind zu Freunden: »Der Feind meines Feindes ist mein Freund!« Für Strauss gewinnt die moralische Frage nach »Gut und Böse« in ihrer antiken Form wieder an Bedeutung. Zum rettenden Anker werden für Strauss das Naturrecht und die eine, ewig gültige philosophische Lebensweise bei Platon.

Das neue, Strauss’sche Freund-Feind-Muster findet sich in Platons Ständelehre. Sie geht von der Teilung der Welt in eine wissende Elite und ein gläubiges Volk aus. Der wahrhaft wissenden Elite ist der Zugang zum esoterischen/inneren Wissen vorbehalten. Umgekehrt gilt für die Masse dieses als Vorbehalt oder Ausschluss. Sie verweigern sich dem Wissen durch ihr Unwissen. Nach Strauss kann sie nur leben, wenn sie eine Offenbarungsreligion hat. Der Glaube ist für Strauss die erste Kultur, der exoterische äußerliche Teil des Wissens. Diese »Kultur« steht dem politisch-philosophischen Wissen der Elite feindlich gegenüber. So muss die Elite ihre Lehren und Botschaften in Texten und Gesetzen verstecken. Für die These von der versteckten Bedeutung (hidden meaning) alter Texte ist Strauss bekannt geworden. An dieser Theorie ist die neue Frontstellung von Freund und Feind bedeutsam. Über die Linie von Gut und Böse hinaus hat Strauss mit ihr eine neue innergesellschaftliche Grenzlinie gefunden.

Strauss zufolge hat Platon mit dem Bild des Sokrates eine Chiffre geschaffen. Mit ihr kann der innergesellschaftliche unwissende Feind vom gleich-denkenden Freund unterschieden werden. Es gebe nämlich nach dem ewigen Naturrecht »zwei Lebensweisen«. Ein »politisches Leben und eines, welches das politische Leben transzendiert«.(19) Diese Teilung sei von Natur gegeben. Es existieren erste Dinge, die unvergänglich sind. Mit der Annahme eines unabänderlichen Naturrechts macht Strauss aus Sokrates »den politischen Erzieher par excellence«. Eine geradezu abenteuerliche Unterstellung, hat sich doch Sokrates nie in die aktive Politik eingemischt. Hier wird er über den Umweg seiner Kritik an der athenischen Politik zum platonischen Gesetzgeber. Strauss schreibt: »Der Mann von der höchsten politischen Weisheit ist ein sehendes Gesetz, wohingegen jedes eigentliche Gesetz in einem gewissen Ausmaß blind ist. Die Gerechtigkeit des wahren Herrschers kann deshalb nicht in Gesetzestreue oder rechtlicher Gerechtigkeit bestehen. Er muss von einer translegalen Gerechtigkeit geleitet sein, von der Gewohnheit, menschliche Wesen zu nutzen, ihnen zu helfen, so gut wie möglich zu werden und so glücklich wie möglich zu leben.«(20)

Um die Menschen des Kulturraumes glücklich zu machen, dürfen, ja müssen sie, von den Weitsichtigen belogen werden. Die »wahre Lüge«(21) aus Platons Politeia wird zum Muster für das doppelbödige Verhalten zu den Massen und zur Wahrheit. Die Lügenpolitik der Neokonservativen um Karl Rove, den Berater von G. W. Bush, hat hier ihre Legitimation gefunden.(22) Hier liegt der Bruch mit Sokrates und dem, was Philosophie will. Dem Wortsinne nach bedeutet Philo-sophie die »Freundschaft (Philia) zum Sophós (der Klugheit)«. Sie ist im Sinne von Sokrates immer ein wahrhaftiges Kritisieren und Sorgen um den besten Zustand der Seele seiner Freunde. Und Freunde waren sie ihm in Athen alle, weil er sich mit ihnen verwandt sah. Das war der Ausdruck für die Form der Vereinigung,(23) die in der Polis nur zustande kam, wenn um die Ordnung der Demokratie gestritten wurde. Dem Anderen durfte die Wahrheit nicht vorenthalten werden, denn das hätte die gemeinsame Sorge um das Gemeinwohl geschädigt. Diese Sorge erzeugt zuerst eine Selbstkultur. Sie entsteht in der inneren Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit sich selbst. Die existenzielle Wendung auf das Subjekt macht die Frage nach dem Freund zuerst zu einer Frage nach der Befreundung mit sich selbst. Anders ausgedrückt: Nur wer in der Lage ist, sein inneres Anderes anzunehmen und zu lieben, der ist auch in der Lage, mit sich selbst Freund zu sein und die innere Feindschaft zu sich zu überwinden.

 

Kultur der Freundschaft – Freundschaft der Kulturen

Die neue sokratische Selbstkultur entsteht im eigenen Innenverhältnis und wird über die Befreundung zum Innenverhältnis der Polis. Als geistiges Verhalten war diese Selbstkultur ein Wesensmerkmal des Sokrates. Ihm versagte sich die Sprache (sein daimónion), wenn er nicht aussprach, was er wirklich dachte.(24) Sokrates ging davon aus, dass derjenige, der dem Anderen die eigene Einsicht vorbehält, von sich glaubt, dass er die absolute Wahrheit kennt. Diese Wahrheit aber kennen nur diejenigen, die die Zukunft kennen, also über absolutes Wissen verfügen. Wer von sich behauptete, die Zukunft zu kennen, der lebte für Sokrates im größten Unverstand, weil der Mensch nicht erkennen kann, was noch nicht geschehen ist. »Zu glauben, man wisse, was man nicht weiß«,(25) war also Scheinerkenntnis. Sie ist Glaube an die Offenbarung des Jenseits. Wird die Scheinerkenntnis des Glaubens als Wahrheit ausgelegt, führt sie zum Dogmatismus der Religionen oder zu dogmatischen, ewigen Wahrheiten.

An dieser Stelle wendet sich die Argumentation des Sokrates. Sokrates kennt diese Wahrheit nicht, weil sie eigentlich eine Selbstlüge ist. Sie hält sich im Dunst der Ewigkeit auf und entzieht sich so dem zeitlichen Auge. Ihren illusorischen Kern hat diese Wahrheit in der Behauptung, die vorausliegende Zeit finden zu können, weil sie immer schon fest stehe.

Dieses Denkmuster der Konservativen ist durchgängig. Es bezieht seine Kraft aus dem Wünschen und dem Hang zur Illusion. Hätte man dieses Wissen, so würde man alles vorauswissen und könnte vorbeugend handeln. Die Polizei wäre schon vor dem Verbrecher am Tatort. Die Börsenhaie würden das Platzen jeder ihrer Spekulationsblasen vorhersehen.

Das Fremde als Offenheit der Zeit könnte dann überwältigt werden. Dazu muss es allerdings zum Feind erklärt werden, der in einem fremden Raum lebt. So absurd dieser Wunsch auch ist, als Konstruktion einer feindlichen Welt jenseits der Grenze hat er die Brücke gebildet, über die das neokonservative Denken der letzten Jahre die Welt in Atem hielt.

Durchbrochen wird diese Feindillusion durch die globale Auflösung der Grenzen. Die Globalisierung erzeugt eine nahe Ferne von Waren und Dienstleistungen. Sie bringt es mit sich, dass wir mit anderen Kulturen in einer fernen Nähe wohnen. »Anatolien ist nach Kreuzberg gezogen!« Das führt zu Streit. Oswald Spengler, bekannt für die These vom »Untergang des Abendlandes«, hat eine zweite, leider vergessene Erkenntnis entwickelt. Nach ihr entstehen Kulturen immer nur in der Begegnung mit der anderen Kultur und der Übernahme des Besten aus dem Fremden. Das deckt sich mit Sokrates’ Einsicht. Wir begehren die beste Regierung, die Regierung der Freunde, nicht der Feinde, obwohl der Andere für uns immer der Fremde ist. Warum begehren wir die Freundschaft? Weil sie uns fehlt, nicht weil wir sie haben. Folglich entsteht der Wunsch nach Freundschaft aus dem Fremden, das wir begehren. Wir müssen uns allerdings entschließen, es in der Zeit zu wollen. Die Selbstkultur führt zur Selbstregierung, die nicht den Feind wünscht. Wir begehren den Freund und sollten uns angewöhnen, im Konflikt mit dem Anderen, das Gute an ihm zu suchen und nicht das Schlechte herauszukehren.(26)

In seiner Kairoer Rede geht es Obama darum, »einen Neuanfang zwischen den Vereinigten Staaten und den Muslimen in aller Welt zu versuchen«. Er müsse »gegründet sein auf gemeinsame Interessen und gegenseitigen Respekt … und auf der Wahrheit, dass sich Amerika und Islam nicht ausschließen und nicht in Konkurrenz zueinander stehen müssen. Vielmehr überschneiden sich beide und teilen gemeinsame Prinzipien – Prinzipien von Gerechtigkeit und Fortschritt, Toleranz und Menschenwürde.«(27)

Das ist ein Freundschaftsangebot. Es nimmt die Tendenz der Globalisierung ernst. Es begründet einen neuen Realismus, weil es die Notwendigkeit und die Probleme der Menschheit begreift, die nicht gegeneinander, sondern miteinander gelöst werden müssen. Damit beendet Präsident Obama zumindest für sich die Zeit des rein Politischen und öffnet den Kulturen die Tür zur Zusammenarbeit. Im philosophischen Sinne stehen wir vor dem Zeitalter der kulturellen Vereinigung in der einen Welt.

 

 

1

Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992.

2

Die geopolitische Betrachtung der Welt dominiert in dieser Zeit den Blick der USA auf die Welt. In seinem äußerst einflussreichen Buch Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft stellt Zbigniew Brzezinski diese Entwicklung 1997 als alternativlos dar. Die USA seien »eine Hegemonie neuen Typs«, S. 17 ff., die »nicht hierarchisch organisiert« sei, deren »Machtpoker« aber »nach amerikanischen Regeln« gespielt wird, S. 49/50.

3

In diesem Sinn äußerte sich General Petraeus im Spiegel-Interview zum Strategiewechsel der USA, Spiegel, 10.4.08.

4

Madeleine Albright: »Aufräumen und sortieren. Washington, 20. Januar 2009: Was der neue US-Präsident am ersten Tag seiner Amtszeit in Angriff nehmen muss«, in: SZ, 14.10.08.

5

Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, München 1997.

6

Siehe meinen Artikel »Leitkultur und Weltkultur?«, in: Kommune 2/08, S. 61 ff.

7

Im Falle Nordkoreas und Kubas, die aus Bushs Sicht auch zur Achse des Bösen gehörten, wird diese Einteilung absurd, es sei denn, man setzt Religion und Ideologie gleich.

8

Siehe Hermann Lübbe: Säkularisierung, München 2003.

9

Waldemar Gurian nennt ihn nach dem Krieg wegen seiner Parteinahme für den deutschen Faschismus »Kronjurist des Dritten Reiches«. Er begründete das Führerprinzip mit der These von der Identität von Wille und Gesetz (siehe Alfons Söllner: »Kronjurist des Dritten Reiches – Das Bild Carl Schmitts in den Schriften der Emigranten«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 1992, Band I).

10

G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §158–181, Frankfurt am Main 1970.

11

Interessant ist vor diesem Hintergrund der Streit um den Begriff »Kriegseinsatz« in Afghanistan oder »bewaffnete Aufbauhilfe gegen Terroristen«. Verteidigungsminister Jung besteht auf der Definition des Krieges zwischen völkerrechtlich anerkannten Staaten. Das spricht der Erfahrung der Soldaten Hohn, die jeden Tag einen Kriegseinsatz erleben. Ihre Realität kollidiert mit der Definition und macht allemal die Definition lächerlich, weil sie eine Realität behauptet, die es auf dem Papier von Staatsverträgen gibt, nicht aber in der Kriegsrealität.

12

Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 26.

13

Siehe Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«, Stuttgart 1998, S. 107.

14

Siehe ebd., S. 114.

15

»Die Führung des Namens ›Menschheit‹, die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahmung dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, dass dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen, dass er hors-la-loi (außerhalb des Rechtes, d. Verf.) und hors l´humanité (außerhalb der Menschheit, d. Verf.) erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit erklärt werden soll.« C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 55.

16

Siehe Hans Jonas: Erinnerung, Frankfurt am Main 2003, S. 262: »... immerhin war Strauss frühzeitig Mussolini-Anhänger gewesen, als dieser noch nicht antisemitisch war.«

17

Leo Strauss im Brief vom 19. Mai 1933 aus Paris an Karl Löwith: »... daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns (Juden) nicht toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen die rechten Prinzipien.«

18

Siehe Heinrich Meier, a. a. O., S. 131. Dankesbrief von Strauss vom 13.3.1932 an Carl Schmitt für dessen positives Gutachten.

19

Leo Strauss: Das Problem des Sokrates, S. 157.

20

Clemens Kauffmann: Leo Strauss zur Einführung, Hamburg, 1997, S. 185 und S. 176.

21

Platon: Politeia 414 c. »heilsame Täuschung«, übersetzt von Schleiermacher.

22

SZ, 13.7.05. Bushs Berater in Bedrängnis. Rove enttarnt eine CIA-Agentin, nur weil deren Ehemann gegen Bushs Irakpolitik war. Halbe Wahrheiten und ganze Lügen. Mit diesem Rezept hat Rove die Präsidentschaft von John Kerry verhindert.

23

Kant greift diesen Gedanken in der Idee zum Ewigen Frieden als eine Grundbedingung der Republik auf. Gegen die Idee der »Absonderung« setzt er die Idee der »Vereinigung«, 2. Abschnitt, 1. Zusatz, Hamburg 1964, S. 147.

24

Platon: Apologie des Sokrates, 30 a. Siehe auch »Socrates contra Socrates in Plato«, in: Gregory Vlastos: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge,1991, S. 44 ff.

25

Platon: Apologie, 29 b.

26

Alaa al-Aswani hat in der SZ, 10.7.09, »Hasst der Westen den Islam? Von Demokratie und Ignoranz«, die Notwendigkeit des wechselseitigen Verstehens beschrieben.

27

»Obamas Rede in Kairo: Für einen Neuanfang mit der muslimischen Welt. ›Amerika und der Islam schließen sich nicht aus‹«, FAZ, 5.6.09.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009