Auf der Außenseite dieses
Prozesses sehen wir eine Welt in ungeheurer Beschleunigung. Technische Prozesse
werden global vermittelt, Informationen in Echtzeit ausgetauscht. Mit dem Jahr
1989 leiten der Zerfall des »Ostblocks« und seine Einbindung in das
kapitalistische Wirtschaftssystem das Entstehen eines wirklichen Weltmarktes
ein. Es gibt nur noch einen Block, nur noch eine Weltökonomie und eine Supermacht,
aber eine Menge Illusionen. Die erste sprach von der Versöhnung der Welt und
vom Ende der Geschichte der Gegensätze und Konflikte.(1) Die eine Welt
hat im Zeichen des Kapitalismus zur Demokratie gefunden. Lästige Ausnahmen
werden als exterritoriale Gebiete der Rückständigkeit verstanden.
Doch unter der Oberfläche
ereignet sich seit zwanzig Jahren ein erstaunlicher Wandel. Der rasante Abstieg
der einzigen Supermacht USA und der Aufstieg neuer Mächte. Phänomenal,
weil die Weltgeschichte keinen Fall kennt, in dem ein Imperium in so kurzer
Zeit die unbestrittene Vormachtstellung auf fast allen Gebieten besitzt und
wieder verliert. Am Ende dieser zwanzigjährigen Phase stehen wir vor dem paradoxen
Ergebnis, dass wir heute nicht die Stärke, sondern die Schwäche der USA zu fürchten
haben. Von der Finanzkrise über die Staatsverschuldung, von der maroden Autoindustrie
bis zum Verfall der Infrastruktur zieht sich die Spur des Niedergangs der alten
Supermacht. Der Dollar, einst der Stolz der Nation und die Reservewährung der
Welt, ist heute so schwach wie nie. Zuerst wurde er benutzt, einen ungeheuren
Konsumrausch zu organisieren. Was in Rom Brot und Spiele (panem et
circenses) hieß, das waren in den USA arabisches Öl und chinesische
Waren. Über den maßlosen Einkauf in der Volksrepublik China gelangte der
amerikanische Staatsschatz von 1,8 Billionen Dollar in deren Tresore. Absurd
aber scheint, dass heute das kommunistische China und die westliche Welt
gemeinsam nichts mehr fürchten, als die gezielte Inflationierung eben dieses
Dollars.
Zwei Ereignisse unterbrechen
und überdecken den Verfallsprozess. Zum einen der Terroranschlag am 11.
September 2001 auf das World Trade Center und das Auftreten von al-Qaida. Zum
anderen der Krieg gegen die Achse des Bösen, den Bush Jr. in Afghanistan
begann und im Irak fortsetzte. Bereits im Irak-Krieg hat nur noch eine Koalition
der Willigen die USA bei der Raumeroberung(2) unterstützt. Die
Distanzierung Frankreichs, Deutschlands, Russlands und Chinas markierte das
Ende des Alleinvertretungsanspruchs der USA als einziger Weltmacht
(Brzezinski). Vorbei waren die Zeiten, in denen ein US-Präsident durch
vorbeugende Kriegsführung Feinde markierte und Freunde in Bündnisse zwang. Der
erste Teil des Wandels (change) vollzog sich bereits vor der Wahl 2009
durch die militärpolitische Wende, die der US-Generalstab im Irak vollzogen
hatte. Hatte man früher »zuerst geschossen und dann gefragt«, so sah sich die
US-Armee im Irak gezwungen »zuerst zu fragen und Koalitionen mit den Irakern zu
bilden, und dann erst zu schießen«.(3)
Der zweite Teil des
Wandels wird nun im Auftrag Obamas durch den ehemaligen Oberkommandierenden im
Irak, General Petraeus, in Afghanistan vollzogen. Seine Irak-Strategie soll im
Kampf gegen al-Qaida und die Taliban den Erfolg bringen.
Doch der dritte Teil
des eigentlichen Wandels zeigt sich in der Rückkoppelung all dieser Ereignisse
auf die USA selbst. Dort erleben wir mit der Wahl Obamas zum Präsidenten den kulturellen
Change. Er bedeutet das Ende der Vorherrschaft der weißen, meist protestantischen
Oberschicht. Diese Wahl steht für das definitive Ende der Rassentrennung und
den Aufstieg der ehemals farbigen Unterschicht, mithin für ihre Teilhabe an der
Macht. Im Zentrum des kulturellen Wandels steht das Versprechen des ersten
farbigen Präsidenten, Amerika zur Wiedergeburt seiner Ideale zu führen. Doch
neu ist: Die Renaissance der amerikanischen Macht sucht er im Einklang mit den
Verbündeten. Mit dieser Wende akzeptiert die neue Administration den
grundlegenden Wandel der Weltpolitik.
Die Abkehr vom rein
Politischen
Stellte schon die Wahl
Obamas einen kulturellen Bruch im Inneren dar, so sucht seine Politik nach
außen diesen politischen Wandel durch einen kulturellen Neuanfang mit den alten
Freunden und Feinden fortzusetzen. Einerseits ist der politische Wandel das
Ergebnis der totalen Erfolglosigkeit im Krieg gegen die Achse des Bösen.
Andererseits entspringt er aber auch der wieder gewachsenen Macht des neuen
»Freundes« Russland und des alten Feindes in Asien, China. Die Agenda für den
Neuanfang findet sich in einem offenen Brief der ehemaligen US-Außenministerin
Madeleine Albright vor der Wahl.(4) Sie forderte von beiden Kandidaten den
»Kampf der Ideen« und damit die Abkehr vom »Kampf der Kulturen«(5).
Obamas kulturpolitischer
Ansatz in der Weltpolitik lässt sich nur verstehen, wenn wir den Pferdefuss des
alten Kulturkampfes verstehen. Die Bush-Administration hat begierig zu
Huntingtons These gegriffen, weil sie Kultur mit Religion in
einer bestimmten Region gleichsetzte. Dieser Dreischritt geht im Prinzip
auf die Idee des Augsburger Religionsfriedens (von 1555) zurück. »Wessen das
Land, dessen (ist) die Religion (cuius regio, eius religio)«(6) Nach
diesem Grundsatz musste ein Protestant ein katholisches Territorium verlassen,
und ein Katholik umgekehrt ein protestantisches, oder sie mussten den Glauben
wechseln. Gewaltsam suchte die Politik über die Bestimmung des Raumes,
den Geist zu beherrschen. Die Übereinstimmung von Raum als Region und Geist
als Religion findet sich exakt in der Theorie vom religiös bestimmten Kulturraum
bei Huntington. Nach diesem Muster konnte die Bush-Administration die Länder
der Achse des Bösen in einer Region mit fundamentalistischer Religion
lokalisieren.(7) War der Feind einmal so verräumlicht und kulturell als
das Böse markiert, war er grundsätzlich das total Andere. Mit ihm konnte und
musste nicht geredet werden.
Der zweite Fehler
dieser Theorie lag in der Gleichsetzung von Religion und Kultur. Für die
fundamentalistischen amerikanischen christlichen Sekten war das aber die
notwendige Konsequenz ihres Glaubens. Der Krieg gegen das Böse im anderen Land
ist einerseits an den anderen Raum gebunden. Gottes gesegnetes Land gegen das
Wüstenland (wasteland). Ohne Frage ist dies ein Rückfall hinter die
Säkularisierung,(8) weil nicht nur die segensreiche Entwaffnung der Gläubigen
damit wieder aufgehoben wurde. Der Krieg gegen das Böse war als »gerechter
Krieg gegen den anderen Glauben« in der anderen Region wieder klar geordnet.
Für den islamischen Fundamentalismus liegt darin nichts Falsches. Auch er
nutzte das religiös-räumliche Freund-Feind-Muster. Allerdings ist dort
das Böse der christlich-dekadente Westen.
Die Hintergründe des rein
Politischen – die Theorie des politischen Körpers
Bei der Suche nach den
Fundamenten der amerikanischen Theorie des Politischen, die in der
neokonservativen Politik der letzten Jahre maßgeblich waren, stößt man auf eine
Debatte aus dem Deutschland der Dreißigerjahre. Sie wird geführt vom
konservativen deutsch-amerikanischen Philosophen Leo Strauss – dem theoretischen
Übervater der heutigen amerikanischen Neokonservativen – und dem
deutsch-konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt.(9) Inspiriert vom
Kulturpessimismus macht Schmitt das liberale Denken und die »Kultur« als
geistigen Raum für den Verfall der Autorität des Staates und damit des
Politischen verantwortlich.
Schon sein erster Satz: »Der
Begriff des Politischen setzt den Begriff des Staates voraus« beruht auf einer
Annahme des 19. Jahrhunderts. Die Trennung von Privat- und Staatsrecht setzte
den Staat als idealen Raum dem Privaten und damit der Kultur voraus. Die
Annahme vom idealen Staatsraum ergänzt er durch Beobachtungen der
Massendemokratie. Tatsächlich spielt der Geist eines Kulturraumes die grundlegende
Rolle bei der Identitätsbestimmung von Menschen. Sie beginnt aber nicht im
Staat, sondern in der Familie (Hegel(10)). Genauer gesprochen dort, wo Menschen
Gemeinschaften bilden. Hier glaubte Schmitt, seine erste Annahme durch den
Rückgriff auf Heraklit fundieren zu können. Aus dem griechischen Begriff für
Streit und Krieg, pólemos leitet er seine berühmte Freund-Feind-Dualität
ab. Die Griechen hätten nämlich nie den öffentlichen Feind (pólemos) mit
dem privaten Feind (echthrós) gleichgesetzt. Tatsächlich hatten die
Griechen wie jede Gemeinschaft nicht das Problem des Staatsraumes und des
Staatsvolkes. Deshalb ist auch der Satz Heraklits: »Der pólemos ist der
Vater aller Dinge!« immer mit Krieg übersetzt worden. Heraklit geht es
jedoch um den pólemos als Streit. Er führt dann zum Krieg, wenn
die versammelten Griechen durch ihr streitendes Reden (pólemos) den
vereinigenden Logos nicht entwickeln.
Der Krieg, für uns eine
Sache zwischen Staaten, beginnt dann in der Gemeinschaft.(11) Die »spezifisch
politische Unterscheidung … die Unterscheidung von Freund und Feind«(12)
braucht die Staatsgrenze. Verliert sie diese Grenze, weil sie sich in Zeiten
der »Massendemokratie« auflöst, wie Schmitt selbst feststellt, dann fällt auch
diese starre Definition.
Schmitts zweiter Fehler
liegt in der Absolutheit der Freund-Feind-Unterscheidung. Hier kommt nun
Leo Strauss ins Spiel. Er sucht, als Konservativer, den anderen Konservativen
behutsam auf seinen Fehler hinzuweisen. Schon der alte Hobbes habe doch mit
seiner Definition des Menschen als Wolf nichts anderes im Sinn, als die
Bedrohung polemisch ins Extreme zu steigern. Sinn des Manövers sei es gewesen,
den Krieg zu verhindern. Es ginge Hobbes also darum, dem jeweiligen
»Individuum«, nicht den »Verbänden« klarzumachen, was eine extreme Möglichkeit
des Krieges für ihn bedeutet.(13) Das wiederum solle dem Einzelnen klarmachen,
wie er Feind und Feindschaft nur wollen könne. Nicht als totale Gefährlichkeit,
weshalb er sich selbst als Feind zurücknehmen müsse. Strauss argumentiert hier
sokratisch, wenn er fragt: »bejaht eine ›kämpfende Gesamtheit von Menschen‹ in
der Gefahr, im ›Ernstfall‹ die Gefährlichkeit ihres Feindes? Wünscht sie sich
gefährliche Feinde?«(14) Nein, sagt Strauss. Auch in der Gefahr wünscht selbst
ein Volk seine »eigene Gefährlichkeit nicht um der Gefährlichkeit, sondern um
der Rettung aus der Gefahr willen.«
Tatsächlich übernimmt
Schmitt diese Argumentation inhaltlich in die Ausgabe von 1932. Er erkannte
nämlich, dass die Feindschaft in dieser Form zur »absoluten Feindschaft« führt.
In ihrem Namen wird dann, ob im Zeichen des »Humanismus«, des Faschismus oder
einer Religion, der Gegner um seiner Idee willen als »Feind … der gesamten
Menschheit bekämpft« und so zum »Unmenschen«.(15) Ob Schmitt verstand, dass er
selbst den zentralen inneren Widerspruch seiner eigenen Theorie vom politischen
Feind formulierte, bleibt offen. Klar ist aber, dass er selbst das starre
Freund-Feind-Schema vom »politischen Körper« des Feindes als reine Metaphysik
auflöst. Es kann nicht mehr die Grundlage des Politischen sein.
Die neokonservative
Gegenrevolte des Leo Strauss
Hier setzt nun die eminente
Bedeutung des Denkens von Leo Strauss für die Neokonservativen in den USA ein.
Strauss, der konservative Jude, muss aus Deutschland emigrieren, weil die
liberale Demokratie der Weimarer Republik gescheitert war. Strauss macht
letztlich die Kultur des Liberalismus, ihre übertriebene Toleranz gegen
Nationalsozialismus und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der moralischen Unordnung
für den Holocaust an den Juden verantwortlich. Dabei ist der Faschismus ein politisches
Problem im Land. Für Strauss, der vor 1933 zeitweilig Anhänger Mussolinis
war,(16) entsteht die Aufgabe, »die rechten Prinzipien« nicht aufzugeben und
trotzdem gegen den Faschismus zu sein.(17)
Daraus aber folgt für
Strauss die Verlagerung der Freund-Feind-Linie vom Rande des Staates bei Carl
Schmitt zurück ins Innere der Gesellschaft. Auch der Freund gleicher Gesinnung
kann nun der Feind sein. Carl Schmitt, der Leo Strauss zu einem Stipendium der
Rockefeller-Stiftung in Paris verholfen hatte, antwortet ihm nach 1933 nicht
mehr.(18) Der Irrsinn der Rassenvernichtung durch die Nazis erzwingt eine neue
Freund-Feind-Unterscheidung. Warum wird der Freund zum Feind? Gibt es nur
Freunde, weil es Feinde gibt? Gibt es ein politisches Binnenland, in dem auch
die Feinde leben? Und schließlich: Bestimmt der Feind durch seine aggressive
Abgrenzung mich? Werden also die Freunde nur durch den Feind zu Freunden: »Der
Feind meines Feindes ist mein Freund!« Für Strauss gewinnt die moralische Frage
nach »Gut und Böse« in ihrer antiken Form wieder an Bedeutung. Zum rettenden
Anker werden für Strauss das Naturrecht und die eine, ewig gültige philosophische
Lebensweise bei Platon.
Das neue, Strauss’sche
Freund-Feind-Muster findet sich in Platons Ständelehre. Sie geht von der
Teilung der Welt in eine wissende Elite und ein gläubiges Volk aus. Der
wahrhaft wissenden Elite ist der Zugang zum esoterischen/inneren Wissen
vorbehalten. Umgekehrt gilt für die Masse dieses als Vorbehalt oder Ausschluss.
Sie verweigern sich dem Wissen durch ihr Unwissen. Nach Strauss kann sie nur
leben, wenn sie eine Offenbarungsreligion hat. Der Glaube ist für Strauss die
erste Kultur, der exoterische äußerliche Teil des Wissens. Diese »Kultur«
steht dem politisch-philosophischen Wissen der Elite feindlich gegenüber. So
muss die Elite ihre Lehren und Botschaften in Texten und Gesetzen verstecken.
Für die These von der versteckten Bedeutung (hidden meaning) alter Texte
ist Strauss bekannt geworden. An dieser Theorie ist die neue Frontstellung von
Freund und Feind bedeutsam. Über die Linie von Gut und Böse hinaus hat Strauss
mit ihr eine neue innergesellschaftliche Grenzlinie gefunden.
Strauss zufolge hat Platon
mit dem Bild des Sokrates eine Chiffre geschaffen. Mit ihr kann der
innergesellschaftliche unwissende Feind vom gleich-denkenden Freund unterschieden
werden. Es gebe nämlich nach dem ewigen Naturrecht »zwei Lebensweisen«. Ein
»politisches Leben und eines, welches das politische Leben transzendiert«.(19)
Diese Teilung sei von Natur gegeben. Es existieren erste Dinge, die
unvergänglich sind. Mit der Annahme eines unabänderlichen Naturrechts macht
Strauss aus Sokrates »den politischen Erzieher par excellence«. Eine geradezu
abenteuerliche Unterstellung, hat sich doch Sokrates nie in die aktive Politik
eingemischt. Hier wird er über den Umweg seiner Kritik an der athenischen
Politik zum platonischen Gesetzgeber. Strauss schreibt: »Der Mann von der
höchsten politischen Weisheit ist ein sehendes Gesetz, wohingegen jedes
eigentliche Gesetz in einem gewissen Ausmaß blind ist. Die Gerechtigkeit des
wahren Herrschers kann deshalb nicht in Gesetzestreue oder rechtlicher
Gerechtigkeit bestehen. Er muss von einer translegalen Gerechtigkeit geleitet
sein, von der Gewohnheit, menschliche Wesen zu nutzen, ihnen zu helfen, so gut
wie möglich zu werden und so glücklich wie möglich zu leben.«(20)
Um die Menschen des
Kulturraumes glücklich zu machen, dürfen, ja müssen sie, von den Weitsichtigen
belogen werden. Die »wahre Lüge«(21) aus Platons Politeia wird zum Muster
für das doppelbödige Verhalten zu den Massen und zur Wahrheit. Die Lügenpolitik
der Neokonservativen um Karl Rove, den Berater von G. W. Bush, hat hier ihre
Legitimation gefunden.(22) Hier liegt der Bruch mit Sokrates und dem, was
Philosophie will. Dem Wortsinne nach bedeutet Philo-sophie die
»Freundschaft (Philia) zum Sophós (der Klugheit)«. Sie ist im
Sinne von Sokrates immer ein wahrhaftiges Kritisieren und Sorgen um den besten
Zustand der Seele seiner Freunde. Und Freunde waren sie ihm in Athen alle, weil
er sich mit ihnen verwandt sah. Das war der Ausdruck für die Form der Vereinigung,(23)
die in der Polis nur zustande kam, wenn um die Ordnung der Demokratie
gestritten wurde. Dem Anderen durfte die Wahrheit nicht vorenthalten werden,
denn das hätte die gemeinsame Sorge um das Gemeinwohl geschädigt. Diese Sorge erzeugt
zuerst eine Selbstkultur. Sie entsteht in der inneren Auseinandersetzung
jedes Einzelnen mit sich selbst. Die existenzielle Wendung auf das Subjekt
macht die Frage nach dem Freund zuerst zu einer Frage nach der Befreundung mit
sich selbst. Anders ausgedrückt: Nur wer in der Lage ist, sein inneres Anderes
anzunehmen und zu lieben, der ist auch in der Lage, mit sich selbst Freund zu
sein und die innere Feindschaft zu sich zu überwinden.
Kultur der Freundschaft –
Freundschaft der Kulturen
Die neue sokratische Selbstkultur
entsteht im eigenen Innenverhältnis und wird über die Befreundung zum
Innenverhältnis der Polis. Als geistiges Verhalten war diese Selbstkultur ein
Wesensmerkmal des Sokrates. Ihm versagte sich die Sprache (sein daimónion),
wenn er nicht aussprach, was er wirklich dachte.(24) Sokrates ging davon aus,
dass derjenige, der dem Anderen die eigene Einsicht vorbehält, von sich glaubt,
dass er die absolute Wahrheit kennt. Diese Wahrheit aber kennen nur diejenigen,
die die Zukunft kennen, also über absolutes Wissen verfügen. Wer von sich behauptete,
die Zukunft zu kennen, der lebte für Sokrates im größten Unverstand, weil der
Mensch nicht erkennen kann, was noch nicht geschehen ist. »Zu glauben, man wisse,
was man nicht weiß«,(25) war also Scheinerkenntnis. Sie ist Glaube an die
Offenbarung des Jenseits. Wird die Scheinerkenntnis des Glaubens als Wahrheit
ausgelegt, führt sie zum Dogmatismus der Religionen oder zu dogmatischen,
ewigen Wahrheiten.
An dieser Stelle wendet sich
die Argumentation des Sokrates. Sokrates kennt diese Wahrheit nicht, weil sie
eigentlich eine Selbstlüge ist. Sie hält sich im Dunst der Ewigkeit auf und
entzieht sich so dem zeitlichen Auge. Ihren illusorischen Kern hat diese
Wahrheit in der Behauptung, die vorausliegende Zeit finden zu können, weil sie
immer schon fest stehe.
Dieses Denkmuster der
Konservativen ist durchgängig. Es bezieht seine Kraft aus dem Wünschen und dem
Hang zur Illusion. Hätte man dieses Wissen, so würde man alles vorauswissen und
könnte vorbeugend handeln. Die Polizei wäre schon vor dem Verbrecher am Tatort.
Die Börsenhaie würden das Platzen jeder ihrer Spekulationsblasen vorhersehen.
Das Fremde als Offenheit der
Zeit könnte dann überwältigt werden. Dazu muss es allerdings zum Feind erklärt
werden, der in einem fremden Raum lebt. So absurd dieser Wunsch auch ist, als
Konstruktion einer feindlichen Welt jenseits der Grenze hat er die Brücke
gebildet, über die das neokonservative Denken der letzten Jahre die Welt in
Atem hielt.
Durchbrochen wird diese
Feindillusion durch die globale Auflösung der Grenzen. Die Globalisierung
erzeugt eine nahe Ferne von Waren und Dienstleistungen. Sie bringt es
mit sich, dass wir mit anderen Kulturen in einer fernen Nähe wohnen. »Anatolien
ist nach Kreuzberg gezogen!« Das führt zu Streit. Oswald Spengler, bekannt für
die These vom »Untergang des Abendlandes«, hat eine zweite, leider vergessene Erkenntnis
entwickelt. Nach ihr entstehen Kulturen immer nur in der Begegnung mit der
anderen Kultur und der Übernahme des Besten aus dem Fremden. Das deckt sich mit
Sokrates’ Einsicht. Wir begehren die beste Regierung, die Regierung der
Freunde, nicht der Feinde, obwohl der Andere für uns immer der Fremde ist.
Warum begehren wir die Freundschaft? Weil sie uns fehlt, nicht weil wir sie
haben. Folglich entsteht der Wunsch nach Freundschaft aus dem Fremden, das wir
begehren. Wir müssen uns allerdings entschließen, es in der Zeit zu wollen. Die
Selbstkultur führt zur Selbstregierung, die nicht den Feind wünscht. Wir begehren
den Freund und sollten uns angewöhnen, im Konflikt mit dem Anderen, das Gute an
ihm zu suchen und nicht das Schlechte herauszukehren.(26)
In seiner Kairoer Rede geht
es Obama darum, »einen Neuanfang zwischen den Vereinigten Staaten und den
Muslimen in aller Welt zu versuchen«. Er müsse »gegründet sein auf gemeinsame
Interessen und gegenseitigen Respekt … und auf der Wahrheit, dass sich Amerika
und Islam nicht ausschließen und nicht in Konkurrenz zueinander stehen müssen.
Vielmehr überschneiden sich beide und teilen gemeinsame Prinzipien – Prinzipien
von Gerechtigkeit und Fortschritt, Toleranz und Menschenwürde.«(27)
Das ist ein
Freundschaftsangebot. Es nimmt die Tendenz der Globalisierung ernst. Es
begründet einen neuen Realismus, weil es die Notwendigkeit und die Probleme der
Menschheit begreift, die nicht gegeneinander, sondern miteinander gelöst werden
müssen. Damit beendet Präsident Obama zumindest für sich die Zeit des rein
Politischen und öffnet den Kulturen die Tür zur Zusammenarbeit. Im philosophischen
Sinne stehen wir vor dem Zeitalter der kulturellen Vereinigung in der einen
Welt.
1
Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München
1992.
2
Die geopolitische Betrachtung der Welt dominiert in dieser
Zeit den Blick der USA auf die Welt. In seinem äußerst einflussreichen Buch Die
einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft stellt Zbigniew
Brzezinski diese Entwicklung 1997 als alternativlos dar. Die USA seien »eine
Hegemonie neuen Typs«, S. 17 ff., die »nicht hierarchisch organisiert« sei,
deren »Machtpoker« aber »nach amerikanischen Regeln« gespielt wird, S. 49/50.
3
In diesem Sinn äußerte sich General Petraeus im Spiegel-Interview
zum Strategiewechsel der USA, Spiegel, 10.4.08.
4
Madeleine Albright: »Aufräumen und sortieren. Washington,
20. Januar 2009: Was der neue US-Präsident am ersten Tag seiner Amtszeit in
Angriff nehmen muss«, in: SZ, 14.10.08.
5
Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, München
1997.
6
Siehe meinen Artikel »Leitkultur und Weltkultur?«, in: Kommune
2/08, S. 61 ff.
7
Im Falle Nordkoreas und Kubas, die aus Bushs Sicht auch zur
Achse des Bösen gehörten, wird diese Einteilung absurd, es sei denn, man setzt
Religion und Ideologie gleich.
8
Siehe Hermann Lübbe: Säkularisierung, München 2003.
9
Waldemar Gurian nennt ihn nach dem Krieg wegen seiner Parteinahme
für den deutschen Faschismus »Kronjurist des Dritten Reiches«. Er begründete
das Führerprinzip mit der These von der Identität von Wille und Gesetz (siehe
Alfons Söllner: »Kronjurist des Dritten Reiches – Das Bild Carl Schmitts in den
Schriften der Emigranten«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung,
1992, Band I).
10
G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts,
§158–181, Frankfurt am Main 1970.
11
Interessant ist vor diesem Hintergrund der Streit um den
Begriff »Kriegseinsatz« in Afghanistan oder »bewaffnete Aufbauhilfe gegen
Terroristen«. Verteidigungsminister Jung besteht auf der Definition des Krieges
zwischen völkerrechtlich anerkannten Staaten. Das spricht der Erfahrung der
Soldaten Hohn, die jeden Tag einen Kriegseinsatz erleben. Ihre Realität
kollidiert mit der Definition und macht allemal die Definition lächerlich, weil
sie eine Realität behauptet, die es auf dem Papier von Staatsverträgen gibt,
nicht aber in der Kriegsrealität.
12
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 26.
13
Siehe Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der
Begriff des Politischen«, Stuttgart 1998, S. 107.
14
Siehe ebd., S. 114.
15
»Die Führung des Namens ›Menschheit‹, die Berufung auf die
Menschheit, die Beschlagnahmung dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun
einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur
den schrecklichen Anspruch manifestieren, dass dem Feind die Qualität des
Menschen abgesprochen, dass er hors-la-loi (außerhalb des Rechtes, d.
Verf.) und hors l´humanité (außerhalb der Menschheit, d. Verf.) erklärt
und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit erklärt werden soll.« C.
Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 55.
16
Siehe Hans Jonas: Erinnerung, Frankfurt am Main 2003,
S. 262: »... immerhin war Strauss frühzeitig Mussolini-Anhänger gewesen, als
dieser noch nicht antisemitisch war.«
17
Leo Strauss im Brief vom 19. Mai 1933 aus Paris an Karl
Löwith: »... daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns (Juden) nicht
toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen die rechten Prinzipien.«
18
Siehe Heinrich Meier, a. a. O., S. 131. Dankesbrief von
Strauss vom 13.3.1932 an Carl Schmitt für dessen positives Gutachten.
19
Leo Strauss: Das Problem des Sokrates, S. 157.
20
Clemens Kauffmann: Leo Strauss zur Einführung,
Hamburg, 1997, S. 185 und S. 176.
21
Platon: Politeia 414 c. »heilsame Täuschung«,
übersetzt von Schleiermacher.
22
SZ, 13.7.05. Bushs Berater in Bedrängnis. Rove enttarnt
eine CIA-Agentin, nur weil deren Ehemann gegen Bushs Irakpolitik war. Halbe
Wahrheiten und ganze Lügen. Mit diesem Rezept hat Rove die Präsidentschaft von
John Kerry verhindert.
23
Kant greift diesen Gedanken in der Idee zum Ewigen
Frieden als eine Grundbedingung der Republik auf. Gegen die Idee der
»Absonderung« setzt er die Idee der »Vereinigung«, 2. Abschnitt, 1. Zusatz,
Hamburg 1964, S. 147.
24
Platon: Apologie des Sokrates, 30 a. Siehe auch
»Socrates contra Socrates in Plato«, in: Gregory Vlastos: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge,1991, S. 44 ff.
25
Platon: Apologie, 29 b.
26
Alaa al-Aswani hat in der SZ, 10.7.09, »Hasst der
Westen den Islam? Von Demokratie und Ignoranz«, die Notwendigkeit des
wechselseitigen Verstehens beschrieben.
27
»Obamas Rede in Kairo: Für einen Neuanfang mit der
muslimischen Welt. ›Amerika und der Islam schließen sich nicht aus‹«, FAZ,
5.6.09.