Ereignisse & Meinungen


Balduin Winter
Sonnenflecken des Kapitalismus

Der Kapitalismus ist die hellste aller Sonnen, sagt Klimaexperte Michael Miersch von der »Achse des Guten« in der Welt (28.6.) in elf Argumenten, die an die Ziehung der Lottozahlen erinnern. Sein einziges Gegenargument, »Kapitalismus macht unglücklich«, lässt einen nur hilflos die Achseln zucken: »In den reichen, entwickelten Ländern ist die Zahl der Schwermütigen und Zukunftsängstlichen wesentlich höher als in armen aufstrebenden Gesellschaften.« Dass arme Gesellschaften nicht immer aufstrebende sind, sondern durch diverse Krisen ziemlich geknebelte, ist seinem den Schattenseiten abholden Sonnenblick unzugänglich. Immerhin verbucht er als Fortschritt, dass 120 der 192 UN-Staaten gewählte Regierungen haben, in 85 Ländern »sogar vollwertige liberale Demokratien mit allen Grundfreiheiten«. Gnadenlos hingegen sein radikaler Kollege Hannes Stein: »Schafft die UN ab!« Sie sei »zu einer Bühne für Despoten und Antisemiten verkommen«. »Die Vereinten Nationen wurden in New York vor allem auf Betreiben eines einzigen Politikers gegründet: Alger Hiss … ein Agent des sowjetischen Geheimdienstes.« Drei Spalten lang suggeriert er, die UN schaffe alles Übel dieser Welt, Bühne dazu ist wiederum, am 21.4., Springers Welt.

In dieser Staatenwelt treten freilich durch die globale Krise viele Schattenseiten des Kapitalismus schärfer zutage, haben sich doch für eine Reihe armer Länder des »Südens« in den letzten Jahren drei Großkrisen miteinander verkoppelt: Ernährungskrise, Klimakrise, Finanz- und Wirtschaftskrise. Der UNO-Sonderbeauftragte Olivier De Schutter spricht von einer Milliarde Menschen, die täglich Hunger leiden, und von Zehntausenden, die täglich sterben. »Die globale Finanzkrise, die Energiekrise, die Folgen des Klimawandels, vor allem aber die starke Volatilität der Lebensmittelpreise seien Faktoren, die ausgerechnet die Armen der Welt am stärksten träfen«, zitiert ihn (7.4.) der Spiegel. In Le Monde diplomatique prangert Ignacio Ramonet die enormen Landkäufe von Staaten und transnationalen Konzernen an: »Südkorea seinerseits kontrolliert inzwischen mehr fruchtbares Land außerhalb seiner Grenzen, als im Land selbst zu finden ist.« In Madagaskar führte dies zum Sturz des Präsidenten, der gegen die Interessen der Kleinbauern die Hälfte des Bodens der fruchtbaren Insel dem südkoreanischen Konzern Tiko überlassen hatte.
Nun war es eine der Erfolgsmeldungen des G-8-Gipfels von L’Aquila, in den nächsten drei Jahren 20 Milliarden Dollar zur Bekämpfung des Hungers locker machen zu wollen, fünf Milliarden mehr als zunächst vorgesehen. Lobenswert ist der angedachte Paradigmenwechsel von der Nahrungsmittelhilfe weg und hin zu verstärkten Investitionen in die heimische Landwirtschaft sowie, von Barack Obama angemahnt, in infrastrukturelle Maßnahmen (Rainer Falk, »Baustellen der Globalisierung«, Blog 10.7.).
Das sei zu wenig und reihe sich nur in die Liste der von Gipfel zu Gipfel gemachten und nicht gehaltenen Versprechungen, kritisiert der Kommentator der Neuen Osnabrücker Zeitung. Von einer Reihe NGOs kam massive und detaillierte Kritik. Oxfam legte zum Gipfel eine Studie vor, die mit OECD-Statistiken belegte, dass die Entwicklungshilfe für den Agrarsektor in den letzten 25 Jahren um 75 Prozent gesunken ist. Während zwischen 1986 und 2007 die USA und die EU jährlich im Schnitt 17765 sowie 7614 US-Dollar in einen eigenen Bauernhof investierten, unterstützten USA und EU im selben Zeitraum einen Bauernhof in den armen Ländern im Schnitt mit 1,01 und 2,46 US-Dollar (Oxham: Investing in Poor Farmers Pays, http://www.oxfam.de/download/studie_investitionen_landwirtschaft.pdf). Das sei, jenseits von freier und sozialer Marktwirtschaft, alltäglicher Protektionismus der reichen Länder.
Die NGO »World Vision« verwies darauf, dass die Zusagen von Gleneagles (2005) für Afrika bisher deutlich unterschritten wurden. Durch das Aufstocken von Zusagen würde das »Ziel wahrscheinlich um zwei Drittel verfehlt« werden. Ebenso weit verfehlt wird das Ziel eines allgemeinen Zugangs zur AIDS-Behandlung – Ende 2007 hatten ihn erst drei Millionen Menschen, laut WHO würden ihn bis 2010 aber zehn Millionen benötigen. Ähnliches gilt für den Zugang zu Medikamenten für die Seuchenbekämpfung: Hier fehlen dem »Global Fund« noch drei Milliarden Dollar. Die laufenden Zielunterschreitungen fallen auch dem Tagesspiegel (11.7.) auf. Eingewandt wird, es sei »auch nicht ganz einfach, das Geld in Afrika vernünftig auszugeben«. Natürlich muss man es in nicht korrupte Regimes hineinstecken, aber allzu leicht redet man sich auf Korruption heraus. Kandeh K. Yumkella, sierraleonischer Generaldirektor der UN-Organisation für Industrielle Entwicklung (UNIDO), warnt: »Die Armut ist nicht bloß ›deren‹ Problem. Sie ist auch ›unser‹ Problem. Falls es zu einem Zusammenbruch der Entwicklungsländer kommt, werden Millionen von Menschen an unsere Türen klopfen, und ihr erster Anlaufpunkt wird Europa sein. Diese Massenmigration wird die bereits jetzt angespannten gesellschaftlichen Beziehungen in einigen Ländern belasten und unvorhersehbare Folgen haben. Nur eine koordinierte globale Reaktion kann gewährleisten, dass die zur ärmsten Milliarde gehörenden Menschen Europa langfristig als Touristen und Geschäftsleute besuchen und nicht als Asylsuchende.«
Richard York, Brett Clark, und John Bellamy Foster weisen in ihrem Essay »Capitalism in Wonderland« (Atlantic Monthly 5/09) auf die in den USA vorherrschende Ethik, Ideologie und Unwissenschaftlichkeit der Ökonomie hin: »Die orthodoxe Volkswirtschaft … führt zu einer Après Moi le Déluge!-Philosophie.« Sie explizieren ihre Kritik am Zusammenspiel von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, wobei naturwissenschaftliche Grundbegriffe sträflich, weil wissentlich außer Acht gelassen werden. »Es gibt hier keine materialistische Auffassung der Natur, … es existiert hier eine nahezu komplette Unwissenheit in Sachen Physik (dem zweiten Gesetz der Thermodynamik wird ständig zuwidergehandelt) und über die Verminderung der Biosphäre. Man sieht die Welt einfach in einem Modell des endlosen, sich vergrößernden ›Kreislauf‹ von Wirtschaftsbeziehungen ausgedrückt.« Im ideologischen Kampf gegen den Kommunismus habe nur noch »das unendliche Wachstum des Mehrwerts und des Bruttosozialprodukts gezählt, nicht mehr das menschliche Wohl oder der tatsächliche Wert von Ökosystemen.« Dazu bringen sie zahlreiche Beispiele aus der Klimapolitik und der Verbetriebswirtschaftlichung der Entwicklungspolitik. Der Graben zwischen dem Norden und dem Süden sei nicht zuletzt der ökonomischen Ethik geschuldet. Die hellste aller Sonnen hat reichlich Flecken bekommen, von Menschen gemachte.

Der Süden will aus dem Schatten treten. Eine Reihe von Staaten befand sich gerade in einem Aufholprozess, andere wollten eben durchstarten. Die Finanzkrise des Nordens trifft die meisten von ihnen hart. Aber die Welt hat sich in den letzten zwanzig Jahren gründlich verändert. Neue regionale Zentren haben sich gebildet oder sind im Entstehen begriffen. Das relativiert das alte Nord-Süd-Abhängigkeitsverhältnis. Nicht einmal Afrika ist nur der Patient am Tropf. In Asien haben sich mit China und Indien zwei neue, große, selbstbewusste Mächte herausgebildet. Es gibt eine Reihe Länder mit gut entwickelten Volkswirtschaften, die Netzwerke untereinander gebildet haben. Ein neuer Geist ist entstanden, zu spüren bis in kleine Medien wie der maledivischen Haveeru Daily, dessen Kolumnist die Leser auffordert, Politikerversprechen nachzufragen, egal ob er ein Distriktchef oder Präsident eines mächtigen Staates ist.
Das sind die Partner Europas und der USA – nicht erst von morgen, sondern von heute. Ihre Stimmen haben sie zuletzt auf dem UN-Finanzgipfel in New York vom 24. bis 26. Juni erhoben, über den die SZ (24.6.) mit »Kritiker am Katzentisch« titelte. Der Infodienst »epo.de« (24.6.) schrieb im Vorfeld: »Westliche UN-Diplomaten hatten die UN-Konferenz hinter den Kulissen als ›Witz‹ oder ›Zeitverschwendung‹ bezeichnet. … Als geeignete Gremien, über eine Reform des Weltfinanzsystems zu beraten, betrachten sie die exklusiven Zirkel der G-8- und der G-20-Konferenzen.« Tatsächlich gab es eine kleine, leicht arrogante Debatte, ob man und wer nach New York gehen sollte, wo doch nur »Imperialistenschelte« einzuheimsen wären. Deutschland war dann immerhin durch die Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vertreten, andere Länder des »Nordens« schickten nur subalterne Ministerialbeamte. Denn zwischen dem Krisenbefund des Nordens und jenem des Südens klafft ein Graben.
Letztendlich kam auch nicht umwälzend viel heraus: Auf eine »fundamentale Reform der globalen Ökonomik und der Finanzregeln und -architektur« konnte man sich nicht einigen, schreibt das Brüsseler »European Network on Debt & Development«, ein Verbund von 59 christlichen bis gemäßigt linken NGOs. Ein besonderes Insolvenzrecht für aus Krisengründen zahlungsunfähige Entwicklungsländer wurde gefordert, so der Focus (26.6.): »Wenn Unternehmen wie Chrysler und General Motors in der Insolvenz geholfen werde, müsse dies auch für Länder mit Milliarden Menschen gelten, sagte der Direktor des ›South Centers‹, Martin Khor. … Auch der Generalsekretär der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), Supachai Panitchpakdi, regte eine Insolvenzregelung nach dem Vorbild von Chapter 11 des amerikanischen Konkursrechts an. Nach einer … Studie der Weltbank sehen sich etwa 40 Länder aufgrund der globalen Rezession mit massiven Zahlungsschwierigkeiten konfrontiert.«
Nur am Rande berichtet wurde über die substanzielle Forderung, initiiert von der Stiglitz-Kommission, nämlich nach einem Wirtschaftsrat bei den UN, analog zum Sicherheitsrat und mit starken Kompetenzen ausgerüstet. Einige deutsche Grüne haben diese Idee inzwischen aufgegriffen, vier Bundestagsabgeordnete verfassten ein Positionspapier (10.7.): »Für eine bessere Koordination der internationalen Wirtschaftspolitik«. Vorbild ist das IPCC, das in Klimafragen schon einiges bewegt hat; interessant auch, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel einen UN-Wirtschaftsrat gefordert hat, allerdings ohne weitere Konkretisierungen. Hier ginge es um einen institutionellen internationalen Ordnungsrahmen, den die stürmisch verlaufende Globalisierung mit all ihren Fehlentwicklungen und Krisen bisher noch nicht hat.

In diesem Wirtschaftsrat könnte unter Beteiligung aller auch das in den letzten Monaten mit zunehmender Häufigkeit angesprochene Problem des Dollars als Weltleitwährung weiter diskutiert werden. Diese Debatte gibt es schon seit Längerem. Jüngster Stein des Anstoßes war die Stellungnahme von Zhou Xiaochuan, Leiter der chinesischen Zentralbank, am 23. März. Darin geht er auf Unsicherheiten mit dem unter Inflationsdruck stehenden Dollar ein, macht einen historischen Ausflug zum keynesianischen Versuch einer Währungslösung und schlägt einen langfristigen Prozess der Umstellung vor, an dessen Anfang der IWF mit der Herausgabe von Sonderziehungsrechten stehen soll. Das zentralisierte Management könnte eine Art Krisenausgleichsfaktor herstellen und allzu krasse Ausschläge von Finanzkrisen mildernd korrigieren (http://www.cfr.org/publication/18916/).
China hat alleine 2,1 Billionen in US-Schatzbriefen und 750 Milliarden US-Dollar in Staatsanleihen. Diese Sonne des Kapitalismus wird ihm in der Krise zu heiß. Auch Russland und einige Golfstaaten haben enorme Dollarreserven. Im Rahmen der UN-Finanzkonferenz erklärte Joseph Stiglitz: »Das Dollar-System bröckelt. Die Frage ist nur, ob wir den Übergang vom gegenwärtigen in ein alternatives System in geordneter oder strukturierter Weise schaffen, oder ob alles planlos vonstatten geht. Die Inhaber riesiger Reserven wissen, dass der Dollar ein schlechtes Geschäft ist: keine oder nur geringe Erträge und hohes Inflations- und Abwertungsrisiko. Beides würde den realen Wert ihrer Reserven mindern.« (http://www.project-syndicate.org/commentary/stiglitz114/)
Manche Geschäfte tätigt China bereits am Dollar vorbei: Der bilaterale Handel mit Argentinien wird mit dem eigenen Yuan durchgeführt, obwohl der Yuan offiziell nicht frei konvertierbar ist. Die chinesische Peoples Daily berichtet, dass ein Abkommen der beiden Länder in der Höhe von 70 Milliarden Yuan (etwa zehn Milliarden US-Dollar) in der jeweiligen Währung abgewickelt werde, ohne dass Dollars gekauft werden müssten. Weiterhin sollen für »Südkorea, Malaysia, Indonesien und Weißrussland Yuan-Kredite gewährt werden, falls dies bei einer finanziellen Notlage erforderlich ist«.
Noch wehren sich die Amerikaner. Beim G-8-Treffen sagte Obamas Sprecher Robert Gibbs, »er sehe nicht, dass die Stellung des Dollars infrage gestellt werde« (FAZ, 11.7.). In Asien aber möchte man Taten sehen. Der Finanzexperte der Asia Times, Henry C. K. Liu, berichtet von den großen Sorgen, die sich China über die Finanzpolitik der USA macht und von Plänen eines »Commonwealth unabhängiger Staaten« jenseits des Dollars.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009