Hamid Ongha
Systemkrise im Iran
Der Republikanismus wird zu einer Gefahr für das Regime
Dreißig Jahre nach der Revolution, gut zehn Jahre nach
der Wahl Chatamis zum Staatspräsidenten und den ersten erfolglosen
Reformversuchen hat der »Gletscher nun endlich gekalbt«, ein gutes Stück hat
sich vom Hauptmassiv des islamischen Establishments gelöst. Erstmals stehen
sich Altgediente des Systems, Politiker, Milliardäre, Revolutionsgardisten und
mächtige Geistliche in variabler Zusammensetzung unversöhnlich gegenüber. Die
Proteste der Bevölkerung verschärfen die Konfrontation. Die parallele Existenz
von extrem religiösem Konservativismus und moderner zivilgesellschaftlicher
Entwicklung ist nur ein allgemeiner Indikator dieser Systemkrise. Dazu gehört
auch die offensiv geführte Debatte über den republikanischen Gehalt der
Islamischen Republik.
Ich beginne diesen Beitrag
mit der Kritik eines Begriffs, der jetzt auch im Zusammenhang mit den Vorgängen
in Iran oft dazu dient, heterogene Gesellschaften, insbesondere nicht
europäische, wie ein geschlossenes Ganzes darzustellen, um sie dann
gewissermaßen mundgerecht in eine zurechtgezimmerte Ideologie einordnen zu
können. Stimmen aus den Reihen der Linken und aus der Organisation Attac als
Reaktionen auf die Aufstände in Iran, zeigen das deutlich. Sie sprechen von der
»Klasse der Armen« und erheben den Obskurantisten und Großlügner Ahmadinejad
zum »Helden der Entrechteten«, dessen Wahlsieg nun von einer »reichen,
prowestlichen Schicht« in Frage gestellt werde. Das alles manchmal vorgetragen
mit einem Ausdruck der Selbstgewissheit, der einem durch die offenkundige
Ignoranz nicht nur die Sprache, sondern auch jedes Erbarmen mit solchen
starrsinnigen Ideologen verschlägt.
Als André Gorz Anfang der
Achtzigerjahre sein Buch Abschied vom Proletariat herausgab, richtete
sich sein Hinweis an jenen harten Kern der Linken, die von der Klassentheorie,
zumal ihrer ideologisch simplifizierten Sorte, nicht lassen wollte. Er hat
ihnen, wie es in einer persischen Redewendung bildhaft heißt, zugerufen:
»Steigt ab von diesem störrischen Esel!«
In unseren Tagen hat der
Begriff allerdings wieder zu sich selbst gefunden. Neben der Schulklasse, der
Klasse der Wolken und Säugetiere, vollführt er mit der »politischen Klasse« nur
noch einen verschämten Schlenker. Geblieben ist allerdings die
pseudowissenschaftliche Attitüde, die sich hinter dem Gebrauch von »Klasse« und
»Schicht« verbirgt, und die meist als hilfloser Reflex gegenüber komplizierten
sozialen Zusammenhängen auftaucht. Vorzugsweise Demagogen und Populisten dient
er dazu, Rattenfängerei zu betreiben. Auch im Falle der iranischen Verhältnisse
und beim Kandidaten Ahmadinejad funktioniert eine solche Schablone sehr gut.
Beobachtet man dessen
politische Inszenierungen seit seiner Kandidatur
vor den Wahlen im Jahre 2005, hat man unwillkürlich
viele Déjà-vus im Kopf ? historischer und
literarischer Art ? aus der
Geschichte der faschistischen Bewegung in Italien und Deutschland, wie
auch aus
Brechts zahlreichen Darstellungen dieses Politikertypus des
»Wie-heißt-er-doch-gleich-Wieder«, des
»Anstreichers« oder des
»Weißwäschers«
et cetera, wie er Hitler gerne in Variationen nannte.
Ähnlichkeiten, die sich
aufdrängen, wenn man sieht, wie Ahmadinejad und der hinter ihm stehende
religiös-militärische Komplex ? ein Bündnis von schwerreichen Stiftungen unter
der Verwaltung der militärisch auf hohem Niveau und in allen Gattungen
bewaffneten Pasdaran, der paramilitärischen Verbände der Bassiji, mit extrem
konservativen religiösen Geheimbünden ? in den rund zehn vergangenen Jahren versuchten,
mit allen Mitteln der Propaganda, mit offenen Drohungen, mit zur Abschreckung
dienenden Morden an oppositionellen Politikern und Intellektuellen und mithilfe
einer populistischen Klientelwirtschaft und einer demagogischen Außenpolitik,
die mit einem mittlerweile hohen zivilgesellschaftlichen Bewusstsein
ausgestattete Volksbewegung, die überwiegend auch eine Jugendbewegung ist, zu
zerschlagen.
Daher ist es auch für uns
besonders schmerzhaft, wenn die von Ahmadinejad mit Geld und Kartoffeln
bezahlte Klientel, die er und seine Helfer vorwiegend aus den Reihen der in den
Vorstädten gestrandeten landflüchtigen und arbeitslosen Menschen rekrutiert,
vielen Linken als »Entrechtete« gilt, die zu Recht gegen die sich empörende
Bevölkerung vorgeht, die sie, der Schablone folgend und in Unkenntnis oder
Verkennung tatsächlicher ökonomischer und kultureller Verhältnisse, als
privilegierte Oberklasse darstellt. Das ist bitter und ein Hohn für eine zivile
Opposition aus allen Teilen der iranischen Gesellschaft, die gewaltlos den
Messern, Knüppeln und Knarren wohlgenährter Schläger ausgeliefert ist und die
im Übrigen auch zum größten Teil um das tägliche ökonomische Überleben kämpft.
Die offenkundigen
Wahlmanipulationen waren jedoch nur Teil eines seit Jahren reifenden Plans innerhalb des oben
genannten extremistischen Bündnisses, Reformen im System der Islamischen
Republik zu unterbinden, wohl ahnend, dass Rechtsstaatlichkeit und
republikanische Tugenden ihre Vorstellung von »Islamischer Herrschaft« nach und
nach aushöhlen würden. Trotzdem war der dreiste und letztendlich
schiefgegangene Versuch ein wichtiger Auslöser für die Empörung der Menschen,
die auf ihren individuellen und zivilen Rechte bestehen und dafür auf die
Straßen geströmt sind.
Knapp eine Woche nach der
offiziellen Verkündung der Ergebnisse zu den iranischen Präsidentschaftswahlen
gab das britische »Chatham House«, das »Royal Institute of Foreign Affairs«
eine Analyse des Wahlverhaltens der iranischen Bevölkerung heraus. Der Bericht
wurde von Prof. Ali Ansari, dem Direktor des »Institute of Iranian Studies« an
der University of St. Andrews, in Zusammenarbeit mit Daniel Berman und Thomas
Rintoul vom erwähnten Institut erstellt. Er stützt sich auf jene offiziellen
Zahlen und Statistiken seit dem Jahre 2005, die das iranische Innenministerium
herausgegeben und auf seiner Website veröffentlicht hat. Die Zahlen beziehen
sich auf die letzten vier Wahlperioden (1997?2009) und auf die jeweiligen
iranischen Landesprovinzen.
Auf der Ebene der
Landesprovinzen ? und das ist die erste Erkenntnis aus dem Wahlverhalten ? ist
kein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Wahlbeteiligung und dem
Stimmenzuwachs für Ahmadinejad zu erkennen. Dieser Sachverhalt stellt die
allgemein verbreitete Vorstellung in Frage, wonach Ahmadinejad auch bei den
Präsidentschaftswahlen im Jahre 2005 seinen Sieg der verstärkten
Wahlbeteiligung einer »schweigenden konservativen Mehrheit« verdanke.
Geht man von der offiziell
bekannt gegebenen Stimmenanzahl aus, muss ? so die Wahlanalyse ? Ahmadinejad in
einem Drittel aller Landesprovinzen nicht nur alle Stimmen der Konservativen
auf sich verbucht haben, sondern auch die von Gemäßigten, alle Stimmen der
Neuwähler und darüber hinaus auch 44 Prozent der Stimmen aus dem sogenannten
»Reformlager«.
Die Analyse des
Forschungsinstituts »Chatham House« spricht davon, dass bei den Wahlen im Jahre
2005 ? und auch bei den beiden vorangegangenen Präsidentschaftswahlen im Jahre
2001 und 1997 ? die Kandidaten der extremen Konservativen, darunter speziell
Ahmadinejad, in den ländlichen Gebieten ganz offensichtlich weit abgeschlagen
waren.
Dass in den ländlichen
Regionen gemeinhin konservativ gewählt würde, sei daher eine Fehldeutung, die
Fakten sprächen eindeutig gegen die aus verschiedenen politischen Milieus
heraus vorgebrachte Argumentation, dass Ahmadinejad und ideologisch ähnlich
auftretende Kandidaten in den ländlich geprägten Gebieten Irans bei diesen und
den früheren Wahlen die Mehrheit der Stimmen erlangt hätten.
Den veröffentlichten Zahlen
nach fiel die Wahlbeteiligung in den Landesprovinzen Yazd und Mazandaran, die
als »konservativ« eingestuft werden, über 100 Prozent aus. In weiteren vier
Landesprovinzen bei über 90 Prozent. Zwischen dem Gesamtanstieg der
Wahlbeteiligung und dem Stimmenzuwachs für Ahmadinejad seien jedoch keine
Zusammenhänge erkennbar.
Der Analyse nach sei bei den
Präsidentschaftswahlen im Jahre 2005 in den Landesprovinzen eine
unterschiedliche Wahlbeteiligung festzustellen gewesen. In sieben
Landesprovinzen habe die Wahlbeteiligung unter 60 Prozent gelegen, in zehn
Landesprovinzen über 70 Prozent.
Bei den vor Kurzem
abgehaltenen Wahlen jedoch habe die Wahlbeteiligung lediglich in zwei
Landesprovinzen unterhalb von 70 Prozent, aber in den übrigen 24 Landesprovinzen
über 80 Prozent gelegen. Der Statistik nach seien keine weiteren regionalen
Unterschiede bei der Wahlbeteiligung feststellbar.
Der Studie nach lassen auch
die offiziell bekannt gegebenen Wahlergebnisse einige Zweifel aufkommen. In den
zwei Landesprovinzen Yazd und Mazandaran sind mehr Stimmen in den Urnen gezählt
und bekannt gegeben worden, als es Wahlberechtigte gibt, und in vier
Landesprovinzen habe die Wahlbeteiligung bei mehr als neunzig Prozent gelegen.
Die in Iran übliche Benutzung der Personalausweise von Verstorbenen, so der
Hinweis der Analysten, sei auch bei diesen Wahlen verstärkt zur Wirkung
gekommen. Allerdings, wird auch darauf hingewiesen, dass eine solche Praxis
nicht erst mit dem Auftauchen Ahmadinejads üblich wurde und durchaus voraussehbar
gewesen sei.
Nun zu den Stimmen für
Ahmadinejad: Laut den offiziell bekannt gegebenen Wahlergebnissen hat Ahmadinejad 13 Millionen Stimmen
mehr als bei den Wahlen von vor vier Jahren erhalten. Angenommen, er habe die
von ihm gewonnenen 11,5 Millionen Stimmen bei den Wahlen im Jahre 2005 halten
können, dann kommen für die nun hinzugekommenen 13 Millionen weiteren Stimmen
nur drei Quellen in Frage:
? Etwa 10,6 Millionen
Bürger, die sich 2005 nicht an den Wahlen beteiligt haben, müssen nun
geschlossen zur Wahl gegangen sein.
? 6,2 Millionen Stimmen, die
bei den besagten Wahlen in 2005 Hashemi Rafsanjani zugesprochen worden waren.
? 10,4 Millionen, die vor
vier Jahren ihre Stimmen den Kandidaten aus dem Reformlager gegeben hatten.
Wenn die offiziell bekannt
gegebenen Zahlen richtig sein sollen, dann müsste Ahmadinejad die Stimmen aller
Neuwähler, die des Kandidaten Hashemi Rafsanjani und 44 Prozent der Stimmen des
Reformlagers aus den Wahlen von vor vier Jahren ganz auf sich vereinigt haben,
um auf einen solch erdrutschartigen Sieg zu kommen.
Ein weiterer interessanter
Punkt in diesem Bericht betrifft das Abschneiden des zweiten Reformkandidaten
und Geistlichen Mehdi Karroubi. Er erhielt bei den Wahlen in 2005 in einigen
Landesprovinzen, insbesondere in seiner eigenen Landesprovinz Lorestan, die
meisten Stimmen. Er galt damals schon als ein profilierter, wenn auch
eigenwilliger Reformer. Den jetzt offiziell bekannt gegebenen Ergebnissen der
Wahlen nach müssen jedoch seine früheren Anhänger dieses Mal weder ihm noch,
wie zu erwarten gewesen wäre, Mir Hossein Mousavi, ihre Stimme gegeben haben,
sondern geschlossen in das Lager von Ahmadinejad übergegangen sein.
Dieser Stimmungsumschwung
wirft angesichts der Tatsache, dass Mehdi Karroubi sich in fast allen wichtigen
Bereichen der Gesellschaftspolitik, der Kultur, der Frage der zivilen
Freiheiten, der Wirtschaft- und Außenpolitik und sogar der religiösen Praxis,
von den Positionen Ahmadinejads erheblich unterscheidet ? und das seit Jahren ?
viele Fragen auf.
Ein solcher Umschwung
widerspricht nebenbei auch der Mentalität vieler Iraner, insbesondere der
nichtstädtischen Bevölkerung, bei der Treue und Verbundenheit zur Familie, zur
Volksgruppe oder zum geistlichen Führer und »Vorbild« (bei gläubigen Schiiten
ein Geistlicher als »Quelle der Nachahmung«) eine große Rolle spielen.
Die Statistiken und
offiziellen Zahlen bei den Wahlen im Jahre 2005 zeigen eindeutig, dass
Ahmadinejad seine Stimmen insbesondere aus den städtischen Randgebieten
erhalten hat und nicht, wie es nach landläufiger Meinung auch vieler
ausländischer Analysten heißt, aus den ländlichen Regionen, wo er angeblich
beliebt sei und über viele Anhänger verfüge. Die Zahlen sprechen auch hier eine
deutlich andere Sprache. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass über 70
Prozent der iranischen Bevölkerung in den Städten, darunter neben Teheran in
vier weiteren Millionenstädten (Mashhad, Tabriz, Isfahan, Shiraz), lebt.
Chatham House kommt bei
dieser ausführlichen Analyse zu dem klaren Ergebnis: Die ländliche Bevölkerung
zählt nicht zur Anhängerschaft von Ahmadinejad. Diese setzt sich nämlich
überwiegend aus den Angehörigen der Volksgruppen der Loren, Beluchen, Kurden,
Araber und Azarbaijaner zusammen, die gewöhnlich ihre Stimmen entweder den
Kandidaten der Reformer oder dem ihrer eigenen Volksgruppe geben. Bei den
Wahlen in den Jahren 1997, 2001 und 2005 haben sie beispielsweise ihre Stimmen
überwiegend Mehdi Karroubi und Mostafa Moin gegeben.
Die Stimmen für Mehdi
Karroubi, der in der Umgebung seiner Heimatregion bei den Wahlen stets vorne
lag, sind praktisch versiegt. Er hat sogar in seiner Heimatregion, in der er im
Jahre 2005 440.247
Stimmen geholt hatte, nun, im Jahre 2009, nur noch 44.036 Stimmen erhalten, während
erdrutschartig 50,9 Prozent der Stimmen Ahmadinejad zugesprochen wurden, der
somit 47,7 Prozent der früheren Stimmen aller Reformkandidaten in dieser Region
auf sich vereinigen konnte.
Die hastige Absegnung des
Wahlergebnisses durch die »Führung«, wie Khameneis Posten und Person als
mittlerweile absoluter Herrscher genannt wird, dessen prompte Unterstützung der
»Partei der Kaserne«, wie der inzwischen festgenommene Reformpolitiker
Saharkhiz das undurchsichtig strukturierte Bündnis mit dem Kandidaten
Ahmadinejad an der Spitze nennt, ließ zahlreiche politische Persönlichkeiten im
System selbst vom »kalten Staatsstreich« sprechen und führte unmittelbar zu
einer Diskussion über den republikanischen Gehalt der Staatsverfassung
der Islamischen Republik.
Khomeini hatte, laut
Zeitzeugen in Paris nach der Form befragt, in der ein islamischer Staat verfasst sein sollte, keine klaren Vorstellungen. Er
sprach allgemein von einer »Republik«. Konkreter befragt, sagte er lapidar,
»eine Republik, wie sie eben überall, beispielsweise hier in Frankreich
existiert!« Die Idee einer Islamischen Republik war neu. Ein Khalifat nach
islamischer Tradition zu begründen wäre für seine explizit politisch und
kämpferisch orientierte Theologie nicht infrage gekommen. Die Nachfolge des
Propheten anzutreten, wäre in seinen Augen ein Sakrileg gewesen. Andererseits
wäre das Sultanat als Staatsform in den Augen der islamischen Revolutionäre,
die ihre Hauptlegitimation aus dem Kampf gegen das Kaiserregime des Schahs
bezogen, abwegig gewesen. Insofern bot sich die Republik mangels konkreter
Vorstellung und quasi als eine technische Lösung an.
Damals war es allerdings nur
sehr wenigen Menschen klar, welches Kuckucksei sich die Pioniere eines
islamischen Staates mit der »Republik« ins Nest gesetzt hatten. Allein schon
die formale Konstruktion des republikanischen Staates mit seinen legalistischen
Verfassungsvorstellungen musste mit der Zeit mit der religiösen Ideologie und
ihrer nach Tradition und Nachahmung orientierten Idee des rechtgeleiteten
Staatsführers kollidieren.
Die Präambeln republikanischer
Verfassungen sind kurz und erläutern in der Regel mit einigem Pathos den
kulturellen und vielleicht auch religiösen Hintergrund der nun folgenden
Grundgesetze. Anders verhält es sich bei Staatssystemen, die ihre Legitimation
direkt mit dem Islam begründen. Hier ist die Präambel, nämlich Gottes
Offenbarung und Wort wichtig, die daraus folgenden Gesetze weniger bindend.
Wenn Khomeini in den
Anfangsmonaten der Islamischen Republik noch andeutete, es gehe um die Existenz
der Islamischen Republik, dann könne man sogar einige Grundprinzipien des Islam
vorübergehend außer Kraft setzen, so schlagen die Ideologen um oder hinter
Khamenei nun genau die umgekehrte Richtung ein. Für sie gelten die Prinzipien
des Republikanismus und damit die von Menschen verfassten Gesetze wenig. Sie
streben eine absolute Herrschaft des »Vali-e-Faqih« (des Rechtsgelehrten) an,
was in vielen Punkten schon gegen die existierende Verfassung der Islamischen
Republik verstößt.
Im Republikanismus sehen sie
eine schleichende Gefahr der Verweltlichung und mithin Zivilisierung des
Staatswesens. Als selbst ernannte Stellvertreter des verborgenen Imam wollen
sie aus der undurchschaubaren Tiefe der religiösen Mythologie heraus regieren.
Ihr klandestines und verschwörerisches Verhalten entspricht denn auch einer
solchen Haltung. Aus dieser Position erwächst auch ihr brutales und gnadenloses
Vorgehen.
Von ihnen haben sich nun
endgültig die Reformkräfte mit Mir Hossein Mussavi und Karroubi und Dutzenden
anderen politischen und geistlichen Figuren, die selbst das System jahrelang
getragen und ausgebaut haben und an einer funktionierenden
islamisch-republikanischen Staatsverfassung glauben, abgespalten, wobei die
Flügel der Reformkräfte weit auseinanderliegen.
Die protestierenden Menschen
fordern aber, unabhängig von der Spaltung innerhalb des Systems, ihre zivilen
Rechte und drängen die Reformkräfte auf der politischen Bühne zu
Entscheidungen, die vorher, in der Wahlkampfphase, nicht denkbar waren. Keiner
hat beispielsweise mit dieser Form der Unnachgiebigkeit von Mussavi gerechnet.
Die Parole »Wo ist meine
Stimme« ist das Symbol für einen Prozess der Bewusstwerdung über die
persönlichen legitimen Rechte, der fast alle Gruppen der iranischen
Gesellschaft in irgendeiner Form erfasst hat und sie zusammenführt. Die
verschiedenen, individuell verfassten Plakate, die bei den
Massendemonstrationen mitgeführt wurden, zeigen auch, dass das System nicht nur
gespalten ist, sondern Tausende Löcher vorzuweisen hat. Sowohl der öffentliche
als auch der virtuelle Raum wird von den Bürgern mit vielen kreativen Mitteln,
mit Bildern und Zeichen immer wieder und wellenartig erobert, wobei jedes Mal
sozusagen Land gewonnen wird.
Eine in Iran drohende
Diktatur hat vor diesem Hintergrund eine ganz andere Bedeutung. Sie will nicht
die Macht erobern, sondern angesichts des forcierten Zerfalls an allen Rändern
des politischen Systems die Macht mit Gewalt erhalten. Das ist ein großer
Unterschied und im Kern eine große Schwäche.
In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009