Michael Jäger


Wir Kleinbürger (1)
Kommunizierbarkeit eines sozialökologischen Programms in der Klassengesellschaft

Kapitalistisches Wachstum, das ist unendliche Mehrwertproduktion, die auch vor der Sintflut nicht zurückschreckt. Die entscheidende Kritik der Grünen war es, die ökologische Endlichkeitsschranke aufgezeigt zu haben. Nun ginge es darum, so unser Autor, diese Erkenntnis in einer Gesellschaft zu kommunizieren, die nach wie vor eine Klassengesellschaft ist. Könnte in der kleinbürgerlichen Bewegung der Grünen das intellektuelle und materielle Potenzial vorhanden sein, Keimzellen für den Transfer in eine klassenlose Gesellschaft zu entfalten?

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Als Helmut Wiesenthal kürzlich über wechselnde Mehrheiten schrieb und dabei auch meinen vorausgegangenen Beitrag streifte, tat er das unter dem Vorbehalt, meine Politikbeschreibung mit »klassentheoretisch lokalisierbaren ?Trägern?«, also der Gesellschaft als einer Klassengesellschaft sei ja längst unhaltbar geworden.(2) Dass er wie einer sprach, der gezwungen wird, allgemein Bekanntes nochmals aufzutischen, war vor allem im Jahr der Veröffentlichung des fünften Bandes von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte erstaunlich. Der Bielefelder Historiker hatte doch eindringlich gezeigt, dass von einem Verschwinden der sozialen Ungleichheit überhaupt keine Rede sein kann, und sich dabei eben des Begriffs der Klassen bedient.(3)

Wie will man es auch anders nennen, wenn die Statistik beispielsweise zeigt, dass Oberschicht nur Oberschicht, Arbeiterklasse fast ausschließlich Arbeiterklasse, Kleinbürgertum ganz überwiegend Kleinbürgertum heiratet? Oder dass die verschiedenen Klassen nach wie vor verschiedenen Zugang zur Bildung haben, diesen auch pflegen und durch subtile Mechanismen vor Konkurrenten abschotten, was etwa zur längeren Lebenserwartung der Oberschicht führt, weil sie über die Notwendigkeit von Gesundheitsvorsorge besser Bescheid weiß? Oder dass sich in der Justiz meistens Kleinbürger als Richter und Arbeiter als Delinquenten gegenübersitzen?(4) Warum nehmen wir nicht zur Kenntnis, dass sich an derlei Verhältnissen, deren Aufzählung bei Wehler sehr viele Seiten füllt, in der ganzen Geschichte der Bundesrepublik nichts Wesentliches geändert hat?(5) Der Sarkasmus, mit dem er die Modetheorien der »Individualisierung«, den fragwürdigen Ersatz von Klassen- durch »Lebensstil«-analyse geißelt, ist nur allzu überzeugend. Es macht ihn fassungslos und sollte auch uns fassungslos machen, dass diese Theorien gerade hierzulande so erfolgreich waren, während in allen anderen westlichen Gesellschaften bedeutende Wissenschaftler bei der angeblich »unhaltbaren« Klassenanalyse geblieben sind und sie, wie Bourdieu, noch weiterentwickelt haben.(6)

Ein Hauptgrund dafür, dass in Deutschland auch diejenigen, die in ihrer Jugend Neomarxisten waren, von Klassenanalyse heute nichts mehr wissen wollen, ist wahrscheinlich ihre Unterstellung, es könne dabei nur wieder um die Arbeiterklasse und womöglich immer noch um deren »führende Rolle« gehen. Aber das ist durchaus nicht der Fall. Der Begriff der Klasse impliziert weiter nichts, als dass es mehrere Klassen gibt, er impliziert nicht notwendig eine Rangordnung der Klassen. Obwohl der Ausdruck »Klasse« häufig so verwendet wird, etwa wenn von Schul- und Lotterieklassen die Rede ist, ja obwohl Wehler selbst diesen Gebrauch auf die sozialen Klassen überträgt, muss gesagt werden, auch gegen alle marxistische Tradition: Klassenanalyse wird erst wirklich fruchtbar, wenn man keine Klasse a priori auf- oder abwertet. Es ist besser, die Klassen bloß in ihrer politikrelevanten Verschiedenheit zu betrachten, einer Verschiedenheit in der Gleichrangigkeit, wobei sich die Politikrelevanz an der je vorausgesetzten politisch-intellektuellen Strategie misst, die interessiert sein muss, über alle Klassen die Hegemonie zu gewinnen.

Als diese Strategie unterstelle ich hier die sozialökologische. Was geschieht, wenn die sozialökologische Botschaft auf die Arbeiterklasse, auf das Kleinbürgertum, auf die Großbourgeoisie trifft? Was lässt sich jeweils erreichen? Sind verschiedene Kommunikationsmethoden erforderlich? Und wer ist es, der die Botschaft aussendet? Die Grünen selbst werden auch eine Klassenlage haben ? welchen besten Umgang können sie mit ihr pflegen? Wenn sie freilich Klassenlagen für ein Märchen halten, werden sie sich solche Fragen nicht stellen.

I  Zur Geschichte des Kleinbürgertums

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Ich möchte die Untersuchung nahe bei der Existenz der Grünen durchführen und sie deshalb ganz besonders auf die Frage des Kleinbürgertums fokussieren. Mit ihr steht die Frage der »Intellektuellen« in enger Beziehung.

Unter einem Intellektuellen verstehe ich einen Menschen, der über sein Spezialwissen hinaus den Zustand der ganzen Gesellschaft reflektiert. Wenn er eine öffentliche Sprecherposition hat, ist solche Reflexion bereits eine Orientierungshilfe, also ein Beitrag zum Regieren, eine politische Tat. Deshalb leuchtet es ein, wenn der italienische Marxist Antonio Gramsci auch kollektive Intellektuelle kennt, das sind die Parteien, und als gemeinsamen Bezugspunkt der individuellen und kollektiven Intellektuellen die »intellektuelle Funktion« benennt, die in jeder Gesellschaft, bei Strafe ihres Untergangs, hinreichend realitätsadäquat wahrgenommen sein muss.(7) Politik muss sich auf generelle Einsichten stützen, seien sie mehr oder weniger klar, seien sie durch soziale Sonderperspektiven erleichtert, wie manche es der Arbeiterperspektive zuschreiben wollten, oder getrübt. Die sich um solche Einsichten bemühen, sind jedenfalls die Intellektuellen. Intellektuelle sind aber meistens Kleinbürger.

Das heißt nicht, dass damit schon die kleinbürgerliche Sozialperspektive der meisten, auch der meisten führenden Intellektuellen präjudiziert wäre. Im Gegenteil, gerade die Väter des Marxismus urteilen, dass Intellektuelle durch ihre Klassenherkunft nicht daran gehindert sind, für jede Klasse zu reflektieren. Keineswegs stehen kleinbürgerliche Intellektuelle nur an der Spitze von Kleinbürgerparteien. Es können ja, wie wir bei Gramsci lesen, »traditionelle Intellektuelle« in den Organismus jeder Klasse aufgenommen werden, wo sie dann mit deren »organischen Intellektuellen« verschmelzen.(8) Und schon Marx schrieb über »das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten«, »dass sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber« der zu vertretende klassenzugehörige Mensch »nicht im Leben hinauskommt, dass sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben«.(9) Damit ist gesagt, dass der theoretischen Arbeit der Intellektuellen eine relative Autonomie zukommt, dass also ihre »organische« Klassenbestimmtheit nicht Quelle, sondern kontingentes (wenn auch durch sozialen Druck beeinflussbares) Resultat ihrer theoretischen Arbeit ist. Dass aber solche Vertreter, dass Intellektuelle überhaupt meistens Kleinbürger sind, ist eine davon unbenommene Tatsache, und sie wird Gründe und Folgen haben, die uns noch beschäftigen müssen.

Was ist nun die Bedeutung dieser Frage für die Grünen? Ihre Gründungsgeneration kommt weitgehend von der 68er-Studentenbewegung her. Waren die 68er-Studenten Kleinbürger? Für die meisten ist die Frage schon von ihrer Herkunft und Alimentierung her zu bejahen. Wichtiger noch ist aber die Beobachtung, dass sie Intellektuelle waren. Intellektuelle kommen nicht nur meistens aus dem Kleinbürgertum. Kleinbürger können umgekehrt ihre Lebensbahn als Intellektuelle beginnen ? als Studenten.

Wie wir uns sattsam erinnern, wollten viele Studenten viel lieber proletarische Intellektuelle werden. Es gelang ihnen nicht. Die Beziehung zwischen ihnen und der Arbeiterklasse war fundamental gestört und ließ sich durch die vorhandenen studentischen Kommunikationsstrategien nicht überbrücken. Schon deshalb konnte es zu der revolutionären Situation, von der sie träumten, nicht kommen. Sie waren aber so sehr auf dem klassischen Weg dahin, dass ihr Scheitern ein interessantes Problem darstellt.(10) Wäre die Bewegung nicht bald wieder zerfallen, hätte sie in einem nächsten Schritt die Gründe der Kluft und ihre Überwindbarkeit erforschen müssen, wie es Gramsci hinsichtlich der vergleichbaren notorischen Isoliertheit italienischer Intellektueller unternahm.

Die heutigen Grünen, die jener Bewegung so sehr entwachsen sind, dass sie gleichsam gar nicht mehr wahr ist, können nach einer solchen Kluft kaum auch nur fragen, wenn sie nicht mehr glauben, dass es Klassen gibt, verschiedene Klassen. Aber ist die Kluft nicht immer noch da? Ist es nicht sogar dieselbe Kluft geblieben ? auch wenn die Botschaft dieser Intellektuellen und Kleinbürger sich vom Marxismus zur Ökologie verschoben hat? Und vor allem: Ist sie nicht auch dann ein Problem, wenn nicht mehr die Revolution, sondern »nur« eine demokratische Mehrheit für das sozialökologische Programm angestrebt wird? Übrigens hat sich dieselbe Kluft auch in der DDR aufgetan, als die dortige Bürgerbewegung zuerst die friedliche Revolution anführte, dann aber in der Volkskammerwahl 1990 nur 2,9 Prozent der Stimmen erhielt.

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Nun zum Kleinbürgertum als solchem. Es ist in der bisherigen Geschichte die eigentlich revolutionäre Klasse. Schon als der Revolutionsbegriff seine heutige Bedeutung annahm, bezeichnete er ganz eindeutig eine Revolution der Kleinbürger ? das wird nicht einmal von Traditionsmarxisten bestritten. Die Jakobiner waren eine Kleinbürgerbewegung, Robespierres Programm war ein Kleinbürgerprogramm.(11) Zwar könnte daran erinnert werden, dass Kleinbürger die politische Macht an die Großbourgeoisie weitergegeben haben, damals schon und dann immer wieder. Aber das haben spätere Arbeiterparteien auch getan. Es tut nichts zur Sache: Jedenfalls waren sie revolutionär, ja sie haben das Paradigma der Revolution geschaffen, auf das auch noch die Bolschewiki in vielem zurückgriffen.(12)

Die Revolutionsgeschichte des Kleinbürgertums nachzuzeichnen, wäre eine spannende Angelegenheit, leider kann ich es aus Raumgründen nicht tun. Doch erinnern wir uns: Auch die 1830er-Revolution war eine kleinbürgerliche. Wir lesen, dass Studenten, Drucker und andere Handwerker in Paris die Barrikaden errichteten.(13) 1848 war es nicht anders, auch wenn sich daneben erstmals das Proletariat meldete; Marx hob es hervor, aber es darf uns nicht verleiten, die Gewichte zu verschieben. Und auch in der Pariser Commune wirkten Arbeiter- und Kleinbürgermassen zusammen. Wie Rosa Luxemburg 1905 verallgemeinerte, hatte das Kleinbürgertum »in allen bisherigen modernen Revolutionen die größte, die führende Rolle« gespielt.(14)

Man muss gleich hinzufügen, dass bis 1848, jedenfalls in Frankreich, immer auch die Massen der Kleinbauern mitwirkten. Das war überhaupt der Grund, weshalb Revolutionen dort siegreich sein konnten. In andern Ländern, wo ein Bündnis von Stadt und Land nicht gelang, scheiterten Revolutionen kläglich. Im Grunde gehören Kleinbürger und -bauern ja auch zusammen: als städtische und ländliche Fraktion ein und derselben Klasse der Kleineigentümer. Aber sie taten sich stets nur zusammen, wenn es kleinbürgerlichen Intellektuellen gelang, für beide eine gemeinsame Perspektive auszuarbeiten. In Frankreich war das mustergültig gelungen.

Auch die russische Revolution war ohne Teilnahme der Bauernmassen undenkbar. Sie setzte freilich für Europa einen Endpunkt. Denn alle europäischen Bauern sahen das Schicksal ihrer russischen Leidensgenossen in den 1930er-Jahren mit an. Zu diesem Zeitpunkt war es in der Arbeiterbewegung auch längst obsolet geworden, sich von Kleinbürgern anführen zu lassen. Marx und Engels, Lenin und Trotzki, das waren Bürger gewesen, die ihre ganze bürgerliche Individuation und freie Intellektualität ausspielten; wenn spätere Kleinbürger sich dasselbe anmaßten, reichte der Hinweis auf ihre Kleinbürgerlichkeit, um sie zu diffamieren und zu beseitigen. Man konnte sich auf verächtliche Worte berufen, die schon Marx und Engels gegen Kleinbürger hatten fallen lassen. Doch es waren auch andere Worte überliefert. Der Rekurs auf die Klassiker war selektiv, ja mutwillig.(15)

Die physische Vernichtung der bolschewistischen Partei von 1917 durch Stalin hatte auch die Seite, eine Vernichtung von Kleinbürgern zu sein. Man kennt die stalinistische Methode, Abweichler als »kleinbürgerlich« zu diffamieren, doch hat man vielleicht zu rasch geglaubt, sie verstanden zu haben. Es könnte sein, dass Stalin nicht nur die »Kulaken«, sondern auch die bolschewistische Partei sozialer viel mehr als politischer Gründe wegen vernichtete, deshalb eben, weil sie aus Kleinbürgern bestand. Jedenfalls war alles darauf angelegt, dass er selbst als einziger und letzter Kleinbürger übrig bleiben würde.

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Obwohl die Entwicklung nicht primär daraus erklärt werden kann, dass die Kleineigentümermassen sich inzwischen nach rechts gewandt hatten, hängt sie auch damit zusammen. Diese Menschen waren Gegner der Arbeiterbewegung geworden. Frankreich gab das Muster, wie sich besonders die Bauernmassen nach und nach auf die politisch »rechte« Seite ziehen ließen. Aufgrund ihrer Zersplitterung hatten sie sich stets an einem symbolischen Zentrum orientiert: Das war erst »Paris« überhaupt, dann Napoleon, dann Louis Bonaparte. Man muss auch das Umgekehrte sehen: Stets musste sich das Zentrum auf die Bauern stützen. So Napoleon auf bäuerliche Soldaten, indem er für ihre Feldzüge eine neue, die Eigeninitiative stärker berücksichtigende Struktur erfand.(16) Als sich in Europa das dichotomische Parteiensystem herausbildete, war es der rechte Flügel des Zentrums, dem die Rolle der Bauernintegration zufiel. Louis Bonaparte leitete mit seiner Politik hierzu über.

Auch die städtischen Kleinbürger entwickelten sich nicht nur in Frankreich mehr und mehr nach rechts. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1873 geschah das häufig unter der Fahne des Antisemitismus. Schmerzlich grell fällt der Auftritt der Kleinbürger- und -bauernmassen im Jahr 1933 ins Auge. Er spricht eben nicht dafür, dass Kleinbürger per se rechts wären, sondern zeigt das Kleinbürgertum in einer bestimmten Phase seiner Geschichte, auch seines kollektiven Erkenntnisprozesses. Es hat sich mehrheitlich von links nach rechts entwickelt, bis zum furchtbaren Höhepunkt der Hitler-Jahre. Die nächste kleinbürgerliche Generation, die der »68er«, zog die Konsequenz, kehrte zunächst zu den linksrevolutionären Wurzeln zurück und blieb auch dann noch links, als die Revolutionsträume gescheitert waren.

Man kann hieran, wie Götz Aly oder schon Rudolf Bahro es taten, eine »tiefere« Identität von Nazis und 68ern hervorheben, doch worin soll sie bestehen, wenn nicht in dem ziemlich banalen Umstand, dass es sich eben um verschiedene Generationen von Kleinbürgern handelt? Immerhin aber auch darin, und das ist weit weniger banal, dass spätere Generationen das Schicksal früherer reflektieren, dass es sich also bei der Kleinbürger-Geschichte auch um eine Geschichte der Erkenntnis, eine Intellektuellen-Geschichte handelt. Dabei hat Bahro lobend und mahnend hervorgehoben, dass die spätere Generation mit der früheren gebrochen hatte, und ist doch als sich offenbarender Nazi gescholten worden. Für unsere Betrachtung ist wesentlich: Die gesamte Kleinbürger-Geschichte war immerzu revolutionär; mal links-, mal rechtsrevolutionär, je nach historischem Erkenntnisstand dieser Klasse.

II  Kleinbürger und andere Klassen

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Zur Fundierung meiner weiteren Argumentation muss ich eine »Klassenanalyse« zu skizzieren versuchen, da das Kleinbürgerliche zuletzt nur bestimmt werden kann, wenn man es im Feld aller Klassen verortet. Dass es nach wie vor den Unterschied der Klassen gibt, Kapitalisten, Arbeiter und eben Kleinbürger, diese Behauptung ist es, die auf dem Prüfstand steht, zumal wir uns mit Wehlers Methode, die Klassen nur nach ihrem Status zu unterscheiden, nicht zufrieden geben können. Im Übrigen ist aber auch die marxistische Begründung des Klassenunterschieds mangelhaft. Sich klarzumachen, warum das so ist, führt wohl am ehesten weiter: weil man die Definition dessen, was eine Klasse ist, aus relativ frühen Schriften von Marx herzuleiten pflegt statt aus dem Hauptwerk, wo sie sich faktisch geändert hat. Das Problem impliziter theoretischer Verschiebungen in der Entwicklung des Marxschen Gesamtwerks ist der Forschung nicht fremd, wurde aber, was speziell die Frage der Klassen angeht, noch kaum berücksichtigt.

Man kennt die Definition der frühen Schriften: Klassen werden nach ihrer Stellung zum »Eigentum an den Produktionsmitteln« bestimmt. Arbeiter sind abgesehen von ihrer Arbeitskraft eigentumslos; sie können deshalb »ausgebeutet« werden von den Kapitalisten, die sich fast alle Produktionsmittel »angeeignet« haben; wenn jemand noch Produktionsmittel geringen Umfangs besitzt, Handwerkszeug oder eine Parzelle Land, ist er Kleineigentümer, also Bauer oder Kleinbürger, und wird bald ebenso »enteignet« sein wie jetzt schon die Arbeiter. Diese Bestimmungen sind deshalb unzureichend, weil sie ausschließlich auf Kategorien zurückgreifen, die in allen vorkommunistischen Gesellschaften gültig sind ? denn immer, vom sagenhaften Frühkommunismus einmal abgesehen, hat es »Eigentum«, »Ausbeutung«, »Produktionsmittel« gegeben ?, sie bemühen sich noch nicht, die Klassen im Kapitalismus spezifisch aus dem Kapitalismus herzuleiten.

Es ist doch klar, man muss zuerst die Kapitalisten definieren, daraus ergibt sich alles andere, und das heißt mit anderen Worten, man muss wissen, was das Kapital ist. Das Kapital ist aber nicht als Eigentum von irgendwem bestimmbar, auch wenn immerzu irgendwelche Glücksritter auf seinem Tigerrücken reiten, bevor sie abgeworfen werden. Nein, es gehört, wie Marx nicht müde wird zu betonen, vor allem sich selbst. Es ist ein »automatisches Subjekt«, wie kann es da jemandes Eigentum sein? Und statt einfach ein Produktionsmittel zu sein, ist es vielmehr ein Modus der »Selbstverwertung«, der sich je und je in einem Kreislauf des Geldes, der Produktion, des Warenverkaufs und wieder des Geldes bewegt.

Nicht dass in der genannten Produktion Produktionsmittel vorkommen, definiert das Kapital, sondern dass es in diesem seinem Gesamtmodus der Selbstverwertung ins Unendliche läuft, ohne Rücksicht auf den »Genuss« weder der Arbeiter noch, was sogar auch die Bedeutung des Faktors »Ausbeutung« relativiert, der Kapitalisten selber:(17) »Das Kapital als solches«, schreibt Marx, »setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung mehr davon zu schaffen.«(18) »Unendlicher Mehrwert«, so etwas hat es vorher noch nie gegeben!

Und die Arbeiterklasse? Die Definition, sie bestehe aus allen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um überleben zu können, bleibt richtig. Ihre wichtigste Fraktion jedoch, ohne welche die Gesamtklasse nicht spezifisch bestimmbar wäre, besteht aus allen, die vom Kapital dazu gebraucht werden, jenen unendlichen Mehrwert zu schaffen. Das sind die »produktiven Arbeiter«. Neben ihnen kommen »unproduktive« vor, sie sind in dieselbe kapitalistische Modernität hineingerissen. Man kann den Unterschied, so sehr er von Marx hervorgehoben wird, nicht in eine politische Rangfolge übersetzen. Auch die »unproduktiven Arbeiter« unterliegen einer »unendlichen« Ausbeutung, die es nur im Kapitalismus gibt und die dazu führt, dass mit der Entwicklung der Maschinerie und Gewinnung »relativen« Mehrwerts immer mehr Menschen arbeitslos werden, während man die Arbeitszeit derer, die noch beschäftigt sind, nach Kräften verlängert.

So stehen sich zwei Klassen mit scharf gegensätzlichen Interessen gegenüber. Gerade Ökologen müssten den Gegensatz bedeutsam finden: Es gibt eine Klasse, die sich für Geld und Lebensmittel verkauft, weil sie qua Klasse das Überleben will, und eine andere, in deren Klassencharakter ein solches Ziel, so selbstverständlich es scheint, nicht eingeschrieben ist. Kein Mensch ist nur »Kapitalist«, statt auch noch etwas anderes zu sein ? Unternehmer, Familiengründer oder Single, Christ oder Atheist, vom Programm dieser oder jener Partei beeinflusster Wähler ?, aber soweit er »Kapitalist« ist, das heißt als »Charaktermaske« des sich selbst verwertenden Kapitals agiert, kann und darf ihm nur am Überleben des »automatischen Subjekts« etwas liegen. Mehr noch, das Ziel unendlicher Verwertung ist als solches ein Ziel über das Leben hinaus, das nun einmal immer endlich ist, wie leicht kann es da passieren, dass das Leben zur Zielscheibe wird.

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Die Klassen sind scharf unterschieden, aber es dringt kaum ins Bewusstsein. Schon Marx zeigt ja, dass die Form, in der die beschäftigten Arbeiter bezahlt werden, den Charakter ihrer Beziehung zum Kapital verhüllt. Er zeigt es anhand des »Arbeits«-Lohns, an dem nicht ersichtlich wird, dass nur der dem Wert der Arbeitskraft entsprechende Teil der Arbeit entlohnt wird, den Rest eignet sich der Kapitalist ohne Gegenleistung an. Aber die Mystifikation geht heute viel weiter. Die Soziologie kennt gar keine Klassen mehr. Sie spricht nur noch von »Abhängigen« und »Selbständigen«. Diese Unterscheidung verdeckt, dass nicht nur »Lohnabhängige« zur Arbeiterklasse gehören, sondern auch »Selbständige« zu ihr gehören können. Beim Phänomen der Scheinselbständigkeit ist das auch allgemein bekannt. Das Kriterium »abhängig oder selbstständig« erlaubt zwar zu sehen, dass die meisten Menschen der Arbeiterklasse angehören, nicht aber, dass sie über den Kreis der »Lohnabhängigen« sogar noch hinausreicht, und auch nicht, dass sich hinter einem »Selbständigen« ein Kapitalist, ein Kleinbürger oder ein Arbeiter verbergen kann.

Ebenso unbrauchbar ist das Kriterium »Eigentum«. Dabei ist nicht der vorhin genannte Umstand entscheidend, dass das Kapital Eigentümer immer nur zeitweise duldet. Vielmehr müsste begriffen werden, dass die Menschen, welche die Bezeichnung »Charaktermasken des Kapitals« am meisten verdienen, die Manager an der Spitze der Aktiengesellschaften sind. Also gerade nicht deren Eigentümer, die Aktienbesitzer, sondern die von Marx so genannten »fungierenden« Kapitalisten. Wer soll denn auch »Charaktermaske des Kapitals« sein, einer Strategie, die für Marx der Versuch ist, eine unendliche Potenz zu verwirklichen, wenn nicht jene, die mit dem Verwirklichen beschäftigt sind, die also »fungieren«? Marx selbst glaubte zwar, das Auseinandertreten von Kapitalfunktion und Eigentumsfunktion sei schon der Anfang vom Ende des Kapitalismus gewesen, aber das Gegenteil ist wahr, der Kapitalismus begann so erst richtig.(19)

Man kann aber auch sagen, damals habe sich erst zu zeigen begonnen, was die Eigentumsfunktion eigentlich sei, und dass Marx, wenn er es schon gleich begriffen hätte, im Gegenteil hätte schreiben können, die Manager seien viel eher Eigentümer als die Aktienbesitzer. Denn was ist »Eigentum«? Das war keine Frage, die sich Marx stellte. Er schrieb bloß, man dürfe über die juridische Form die Sache nicht verkennen. Was die Sache hinter der Form ist, kann man heute besser formulieren, als er es konnte. Es ist der Umstand, dass Eigentum den Eigentümer mit einer Verfügungsmacht ausstattet, deren Kriterium die Macht des Zugangs ist.

Indem Niklas Luhmann das hervorgehoben hat, ist er gerade so verfahren, wie Marx es fordert, er hat nämlich Eigentum nicht überhistorisch, sondern in seiner aufs Kapital bezogenen Spezifik bestimmt. Früher, so Luhmann, waren dominium und proprietas, Herrschaft und rechtliche Zuordnung, die Kategorien, die das Eigentum bestimmten, weshalb man diese Institution als eine »rechtlich gedeckte Sachherrschaft« habe begreifen können.(20) Heute jedoch dominiere Geldlogik über Eigentumslogik, was zur Folge habe, dass Eigentum unter dem Primat von »Profitorientierungen« oder anderer »wirtschaftssysteminterne[r] Kriterien« stehe. Deshalb sei es nunmehr zu definieren als »eine ausdifferenzierte Knappheitsmenge, die andere als den Eigentümer vom Zugriff ausschließt«.(21)

Die den Zugriff auf die »Knappheitsmenge« haben, sind nicht die Aktienbesitzer, sondern die Manager, und so sind sie nach Luhmanns Definition die »Eigentümer«. Sie mögen selbst Aktien besitzen, aber das ist es nicht, was ihren Zugriff begründet. Es ist vielmehr ihr profitorientiertes Fungieren, ihre praktische Brillanz in der Anwendung der wirtschaftsinternen Kriterien. Der Zugriff selber ist aber Zugriff auf den Wert jener Menge, den sie zu reproduzieren haben, und namentlich auch auf den darin enthaltenen Mehrwert, über dessen Reinvestition sie entscheiden.

Dass sie insofern die Eigentümer sind, wird bis heute durch die offizielle juridische Form, die noch immer an dominium und proprietas orientiert ist, verhüllt. Da konnte ein Jeremy Rifkin sogar behaupten, das Eigentum sei jetzt im Verschwinden begriffen, da es von der Macht des Zugriffs ersetzt werde. Man sieht, dass Manager ein hohes Einkommen haben, dieses erscheint aber nicht als Profit, sondern als »Abfindung«, »Bonus«, »Managergehalt« und so weiter, und statt über die dabei anfallenden gigantischen Geldsummen zu staunen, was bekanntlich der Anfang der Erkenntnis wäre ? zum Beispiel lässt sich der Vorstandsvorsitzende von Porsche mit fast einem Prozent des jährlichen Vorsteuerergebnisses dieser Firma »honorieren« ?,(22) zieht man es vor, sich darüber, und natürlich folgenlos, zu empören.

Bezeichnend ist auch, dass sie oft von Firma zu Firma wandern; sie sind Manager nicht eines besonderen Kapitals, sondern des Kapitals im Allgemeinen. Wenn sie in einem bestimmten Unternehmen tätig sind, geht ihre Identifikation nicht weiter als die eines Fußballtrainers mit seiner Mannschaft. Solche Springreiter bringen das Kapital voran und können sich auf seinem Rücken halten.

Wieder müssten jetzt gerade Ökologen etwas begreifen. Wir sahen oben, dass die Arbeiterklasse das Überleben, die Kapitalistenklasse das Unendliche ohne Rücksicht auf Erfordernisse des Lebens wollen muss. Und nun finden wir zudem bestätigt, dass die Klasse, die das Unendliche will, den Zugriff auf Wert und Mehrwert hat, weshalb sie nicht nur den Willen hat, sondern ihn auch realisieren kann, während die Klasse, die überleben will, vom Zugriff ausgeschlossen ist und also ohnmächtig bleibt. Sie kann das ökologische Desaster, das mit dem marxschen Begriff »Verelendung« viel zu harmlos beschrieben ist, nicht abwenden, weil ihr die Entscheidungsmacht fehlt. Und das, obwohl fast die ganze Gesellschaft aus ihr besteht.

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Dies mag zur Vorbereitung der Frage genügen, was es mit der Klasse der Kleinbürger und anderen Kleineigentümer auf sich hat. Das erste, was auffällt: Es gibt kaum noch welche. In Deutschland ist ihre Zahl bis zur Wiedervereinigung drastisch gesunken. Gab es bei Gründung der Bundesrepublik noch fast zwei Millionen Höfe, so sind 1990 nur 780000 übrig geblieben. Das Bildungsbürgertum wird mit 0,8 Prozent der Erwerbsbevölkerung angegeben. Die Zahl der Handwerksbetriebe war schon bis 1958 auf 460000 gesunken.(23) Nimmt man die traditionell einschlägigen Kategorien, Handwerker, Bauern, Bildungsbürger, zusammen, kommt man auf weniger als fünf Prozent der Erwerbsbevölkerung. Es ist verlorene Vergangenheit, dass diese Klasse eine Revolutionsgeschichte haben konnte: damals, als sie noch in Massen auftrat.

Nun hat es viele Debatten über eine angebliche Ausdifferenzierung in »altes« und »neues Kleinbürgertum« gegeben, denen zufolge die genannten Kategorien durch andere ergänzt und die Reihen dieser Klasse dadurch wieder aufgefüllt worden wären. Besonders die Angestellten wollte man, will auch Wehler zum »neuen Kleinbürgertum« zählen. Das mag bei seiner den Status betonenden Klassendefinition auch Sinn machen. Nach dem marxschen Kriterium gehören sie jedoch zur Arbeiterklasse, wenn sie an der Produktion des Mehrwerts beteiligt sind. Das soll nicht heißen, dass ihnen keine besondere Rolle zugeteilt ist, aber worin besteht diese? Angestellte mögen sich von Fabrikhallenarbeitern unterscheiden, jedenfalls in der Vergangenheit klar unterschieden haben: aber nur so, wie sich eine Klassenfraktion von der anderen unterscheidet. Ich sehe mit Poulantzas in einer Klassenfraktion das Ergebnis einer bereits politischen Formung der Klassen, welches auch revidierbar ist. Und gerade beim Unterschied von »white and blue collars« springt der politische Hintersinn ins Auge: Zwei Teile der Arbeiterklasse wurden gegeneinander ausgespielt.

Bildungs- und Kleinbürger, Kleinbürger und -bauern bringen es auf keine beachtliche Zahl. Aber abgesehen davon scheinen sie nicht einmal zusammenzugehören. Dass sie weder Kapitalisten noch Proletarier sind, ist klar; kann man sie nun auch positiv bestimmen? Weil das schwierig ist, wird oft nur von »Zwischenschichten« gesprochen. Es handelt sich aber durchaus um eine Klasse, die über ihren besonderen Eigentumsbezug definiert werden kann: In dieser Klasse hat man Eigentum, und es ist vorkapitalistisch. Das Handwerkszeug oder die Parzelle Land, das sind keine sich verwertenden »Knappheitsmengen«, über sie wird vielmehr noch »rechtlich gedeckte Sachherrschaft« ausgeübt. Anders gesagt, deren Eigentümer suchen sie so dinglich zu bewahren, wie sie sind. Sie haben es nicht mit abstrakten Mengen, bloßem Geld zu tun, sondern mit Dingen. Wenn sie an der Verwertungslogik teilnehmen, dann nur, weil sie dazu in einer kapitalistischen Gesellschaft gezwungen sind. Sie wollen trotzdem ihr Eigentum nicht »erweitern«, sondern nur »einfach reproduzieren«. Eben weil das in einer kapitalistischen Gesellschaft nur schlecht gelingen kann, schrumpft ihre Zahl.

Die Ausdrücke »Kleinbürger«, »Kleinbauern« führen in die Irre, weil Kleinheit nur die Folge dessen ist, was sie definiert, eben des noch an dominium und proprietas orientierten Eigentums.

Worin liegt aber der Zusammenhang zwischen diesen Kategorien und der des »Bildungsbürgertums«? Darin, dass Bildung traditionell Eigentum, und zwar ein solches Eigentum voraussetzte. Das ist am Ausgangspunkt der Entwicklung völlig klar gewesen, und man muss sich an ihn erinnern, auch wenn die Verhältnisse heute komplexer geworden sein sollten. Die theoretische Erfassung des Zusammenhangs hat im Grunde schon John Locke geleistet, als er behauptete, Freiheit setze Eigentum voraus. Freiheit, das war die Kraft zur Aufklärung und Selbstaufklärung, zur Individuation, zum Kampf für eine Gesellschaft aus Individuierten. Damit haben wir schon das Bildungsprogramm. Noch Hannah Arendt applaudiert dieser Kontextualisierung. Übersetzen wir sie aber in die moderne Zeit, so sehen wir den Zusammenhang von Kleinbürgern und Intellektuellen: Es ist eben der, den Locke erörtert hat, nur dass er noch keine kapitalistische Selbstverwertung kennt, die freie Bürger zu freien »Kleinbürgern« herabsetzen könnte, und auch noch nicht jene gesellschaftliche Abgehobenheit, die seit dem 19. Jahrhundert zum Begriff des »Intellektuellen« gehört.(24)

Um die Verhältnisse heute zu erfassen, erinnern wir uns am besten an die fragwürdige Kategorie der »Selbstständigkeit«. Nicht alle ökonomisch »Selbständigen« sind Kleinbürger oder Intellektuelle. Aber umgekehrt sind alle Kleinbürger und die meisten Intellektuellen ökonomisch »selbständig«. Das ist der von Locke erfasste Zusammenhang, und das ist es, was sich in der Revolutionsgeschichte dieser Gruppen gezeigt hat. Welche Rolle die alte Eigentumsform heute genau spielt in einem Geflecht von Kleinbürgern und Intellektuellen mit »kleinbürgerlichem Hintergrund«, will ich hier nicht im Detail untersuchen. Aber dass sie eine Rolle spielt, ist klar. Es gelingt nur wenigen, anders Intellektuelle zu werden als so, dass sie an »altem« Eigentum partizipieren.

Diese Aussage muss allerdings durch Einbeziehung der Rolle des Staates relativiert werden. Der Staat kann Klassenfraktionen hervorrufen, haben wir gesehen; er kann auch Intellektuelle hervorrufen. So kann er einen Typus von Bildungsbürgern schaffen, die auch im ökonomischen Sinn Kleinbürger sind. Denn auch ein »Lehrstuhl« ist dominium und proprietas, wenn man ihn hat ? rechtlich gedeckte Sachherrschaft. Der Beamtenstatus ändert nichts: Lehrstuhlinhaber sind im Unterschied zu anderen Beamten nahezu weisungsunabhängig. Aber der Staat tut viel mehr. Er wird von Parteien getragen, und Parteien sind als solche, wie wir von Gramsci gehört haben, »kollektive Intellektuelle«. Wer eine Partei nicht nur wählt, sondern ihr Aktivist wird, hat die Chance, Intellektueller zu werden, egal welcher Klasse er angehört, und kann es unter Umständen sein Leben lang bleiben, selbst wenn die Partei längst verschwunden ist. In der Vergangenheit jedenfalls ist es so gewesen, dass die Parteiform Arbeitern den Halt gegeben hat, der zur Intellektualität notwendig ist und den sonst nur das Kleineigentum spendete.

Doch die meisten Intellektuellen kommen aus dem Kleinbürgertum. Sie bilden in dieser Klasse eine Fraktion: Es gibt Kleinbauern und Kleinbürger, und letztere haben einen Teil ihrer Söhne in intellektuelle Funktionen entsandt. Die wichtigsten dieser Funktionen werden in den Staatsapparaten verwirklicht. Dort ist das Kleinbürgertum überrepräsentiert. Vor allem deshalb bleibt es trotz seines Schrumpfens so wichtig. Wir finden die Überrepräsentation in fast allen Staatsapparaten. Auch der parlamentarische Apparat macht nur dann eine Ausnahme, wenn man nicht nur die Gewählten, sondern auch die Wähler zu ihm rechnet; dann wirkt sich die überwältigende Bevölkerungsmehrheit der Arbeiter aus. Ansonsten spielen Abgeordnete mit Kleineigentümerhintergrund sogar in der Führung der »Volksparteien« eine Hauptrolle: Man denke an Figuren wie Merkel, Tochter eines Pfarrers, Steinbrück, Sohn eines Architekten, und Müntefering, Sohn eines Landwirts.

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Gemäß meinem Argumentationsziel habe ich mich nicht für die mannigfaltigen Mischformen interessiert, die im Feld der Klassen vorkommen. Aber auf zwei Mischformen, die man sonst nicht behandelt findet, weil sie mehr der Vergangenheit und Zukunft angehören als der Gegenwart, will ich aufmerksam machen: die, in der Arbeiter und Kleinbürger/-bauern aufhören, ein und dieselbe Klasse zu sein, und die, in der sie es wieder werden.

Die ersten Generationen der Arbeiterklasse sind noch ganz und gar Handwerker oder Bauern, die sich im Gefängnis der Werkhallen wieder finden. Das Verhalten der Gefangenen ergibt sich aus ihrer Herkunft. Sie geben sich noch »selbständig«, müssen deshalb umerzogen werden durch die kapitalistischen Disziplin-Techniken. Spätere Generationen entsprechen mehr dem Begriff einer reinen Arbeiterklasse, weil sie anderes als die Werkhalle nicht mehr kennen. Allerdings zeigt sich dann auch, dass die Kapitalistenklasse mit einer solchen Arbeiterklasse nicht koexistieren kann. Nicht einmal, wenn Angestellte gegen Werkhallenarbeiter ausgespielt werden. Den Angestellten suggeriert das Kapital, sie seien immer noch Kleinbürger oder stiegen schon wieder zu solchen auf. Diese Illusion wird durch Statuszuschreibung, oft auch durch mehr Konsummöglichkeiten erreicht. Doch gerade im Konsumland wird der Abgrenzungsversuch prekär, denn bald muss man auch die Arbeiter hereinlassen.

Der »Fordismus« definierte sich durch diese Öffnung. Er bewirkte eine gewisse symbolische Verkleinbürgerlichung vieler Arbeiter. Durch Urlaub, Auto und eigenes Haus wurde der Unterschied von Arbeitern und Kleinbürgern verwischt.

So viel zur Vergangenheit, nun zur Zukunft. Wenn wir in der Perspektive der klassenlosen Gesellschaft denken, ist klar, dass die in ihr lebenden Menschen Züge heutigen Arbeiter- und Kleinbürgertums in sich verschmelzen werden. Sie werden diszipliniert arbeiten und zugleich unternehmende Individualisten sein. Auch wenn es oft geleugnet wurde, ist das ganz klar die Zielvorstellung von Marx. Er sagt nicht, Eigentum werde in der klassenlosen Gesellschaft abgeschafft sein. Es wird vielmehr vergesellschaftet, das heißt alle bekommen »individuelles Eigentum« zurück. Ob man es glaubt oder nicht, so steht es im Kapital geschrieben.(25)

III  Klassenbewusstsein und Zielbewusstsein

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Wir fragen jetzt nach der Verschiedenheit des Bewusstseins der Klassen und fangen mit den Kleinbürgern an. Was wir über sie lesen, ist widersprüchlich: Mal erscheinen sie als wilde Vereinzelte, Anarchisten, dann wieder als in Konventionen befangene Spießer. Friedrich Engels scheint als Kleinbürger überhaupt nur solche anzusehen, die auf dem Land leben und dessen geistige Enge ausstrahlen.(26) Das entspricht der verbreiteten Auffassung der zeitgenössischen Dichter. E. T. A. Hoffmanns Spießer muss man sich zweifellos als in Provinzstädtchen lebend vorstellen. Doch erst die Erinnerung an Jean Paul führt weiter. Wenn man diejenigen Figuren, deren Leben er humoristisch als »Idylle« zeichnet, als seine Version der Kleinbürger nimmt, dann sagt er zwar dasselbe über sie wie die Romantik und Engels, nämlich dass sie geistig beschränkt seien. Er kann aber als Anhänger Friedrich Heinrich Jakobis eine philosophische Begründung beisteuern: Geistige Beschränktheit meint keinen Intelligenzmangel, sondern ist die Schranke, sich im Endlichen eingerichtet zu haben, statt zum Unendlichen hin vorzustoßen.

Diese Bestimmung spricht vom Geist der Klassen in denselben Ausdrücken, mit denen Marx deren ökonomische Basis beschreibt: Der Unterschied der Klassen lässt sich gerade ökonomisch als einer in der Haltung zum Endlichen/ Unendlichen bestimmen. Ich habe es oben zitiert: »Das Kapital als solches«, definiert Marx, »setzt einen bestimmten Mehrwert, weil es nicht den unendlichen at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung mehr davon zu schaffen.«(27) Das Kleinbürgertum setzt auch einen Mehrwert, aber wie von vornherein klar ist, bloß einen endlichen; es übt sich in »einfacher Reproduktion«, nicht in »erweiterter«.

Dass endliche Produktion auf Endlichkeit im Geistigen hinauslaufe, ist eine plausible Annahme. Man kann erwarten, dass in den Diskursen der Kleinbürger, die zu Intellektuellen ihrer eigenen Klasse werden, ein Grundzug geistiger Endlichkeit waltet. Diesen sogleich als »Beschränktheit« zu buchstabieren, wäre aber nicht fair. Nach der philosophischen Tradition wird man zunächst einmal sagen, dass ein endlicher Geist auf Ziele hindenkt und -handelt, denn wie es in dem griechischen Wort telos vorgedacht ist, gehören Zielhaftigkeit und Endlichkeit zusammen, ist ein Ziel immer auch ein Ende, wenn auch ein Ende nicht immer ein Ziel. Ausdrücke wie Voll-Endung oder der »Schluss«, womit Abgeschlossensein, ja Verschließen gemeint sein kann, aber ebenso die Schlussfolgerung oder ein Gebilde wie der »Reichsdeputationshauptschluss«, erinnern an diese Zusammenhänge.

Was da vorschnell als Beschränktheit denunziert wird, ist nüchtern betrachtet das Merkmal, durch das eben gerade Kleinbürger bevorzugt zu Intellektuellen werden, sei es ihrer eigenen Klasse oder anderer Klassen: Besonders sie sind imstande, die Ziele zu formulieren, die ihrer eigenen oder auch einer anderen Klasse auf den ökonomischen Leib geschnitten sind.

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Es ist andererseits nicht zu leugnen, dass besonders Kleinbürger, die nicht zugleich Intellektuelle sind, dazu neigen werden, sich beschränkte Ziele zu setzen oder setzen zu lassen, solche nämlich, die schon da und bereits überholt sind: die auf einem Ziel/ Ende beharren, über das die Welt schon hinweg geschritten ist. Das kleinbürgerliche Denken kann also tatsächlich in Gefahr sein, der Sehnsucht nach untergegangenen Welten zu erliegen. Übrigens ist nicht einmal solche Sehnsucht schlankweg »reaktionär«, denn wie Ernst Bloch gezeigt hat, können Ziele zwar vergangen, aber zugleich unabgegolten sein; die Aufgabe besteht dann darin, sie durch bewahrende Umformulierung in die Gegenwart zu holen.(28) Dass auch kleinbürgerliche Intellektuelle übergenug vorkamen, die Ziele solcher Art nur reaktionär aktualisieren konnten und wollten, ist zwar namentlich aus der Zeit zwischen den Weltkriegen bekannt. Aber das waren diejenigen, die für ihre eigene statt für andere Klassen sprachen.

Werfen wir auch auf deren Haltung zum Endlichen/ Unendlichen einen Blick. Bei den Hauptklassen ist die Sache klar: Die Mitglieder der Kapitalistenklasse müssen als »Charaktermasken des Kapitals« ins Unendliche streben, die Arbeiterklasse, weil von ihr abhängig, muss es ebenfalls tun. Marx hebt hervor: Nicht nur die kapitalistische Produktion ist »gleichgültig gegen den bestimmten Gebrauchswert, überhaupt gegen die Besonderheit der Ware, die sie produziert«, sondern »es liegt ebenso in der Natur der dem Kapital unterworfnen Lohnarbeit, dass sie gleichgültig ist gegen den spezifischen Charakter ihrer Arbeit, sich nach den Bedürfnissen des Kapitals umwandeln und sich von einer Produktionssphäre in die andre werfen lassen muss«.(29) Allerdings ist das rein struktural gesprochen, und man muss zweierlei bedenken. Erstens sind Kapitalisten zugleich Unternehmer und als solche in der Regel zielbewusst ? sie definieren sich von ihrer »Unternehmeridee« her, auch wenn diese gegen die Logik der Selbstverwertung unterliegen mag. Es gibt hier also immerhin einen Konflikt. Zweitens sind auch die Beschäftigten nicht nur Geschöpfe des ökonomischen Zwangs, sie sind zugleich Schöpfer, insofern sie politischen Parteien angehören, hier können sie mit politischen Zielen gegen die erzwungene ökonomische Ziellosigkeit ankämpfen.

Dies ist eine Gemeinsamkeit der beiden Hauptklassen, es gibt auch einen Unterschied: Jedem, der die Funktion des Kapitals ausübt, wird die Dimension des Unendlichen mit Sicherheit bewusst, sei es als Problem oder als Kitzel. Arbeitern indessen kann es geschehen, dass sie zur Selbstbetäubung durch Freizeit-Ziele, die nun wirklich »beschränkt« sind, gedrängt werden. Und auch in der Produktion müssen sie, um ein stets bedrohtes Arbeitsleben aushalten zu können, ihre offene Flanke zum Unendlichen hin, eben die permanente Gefahr, entlassen zu werden, sich illusionär verdecken.

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Grundsätzlich jedoch besteht das Problem nicht darin, dass es beschränkt oder illusionär wäre, Ziele zu haben, sondern umgekehrt darin, dass in einem Klima der unbeschränkten Unendlichkeit, wie die kapitalistische Produktionsweise es notwendig erzeugt, die Fähigkeit zur Zielsetzung immer mehr beschädigt sein wird. Bei den Hauptklassen sowieso ? aber auch bei den Kleinbürgern. Unter der Bezeichnung »Nihilismus« wurden die Auswirkungen des Problems, wenn auch nicht seine Wurzeln, bereits von Nietzsche thematisiert, und es hat seitdem viele der größten Intellektuellen teils bewusst, teils »objektiv« beschäftigt.

Man denke an Sartres linken Dezisionismus, an Gorz? Emphase für die neuen sozialen Bewegungen ? deren »Ein-Punkt«-Charakter wurde hervorgehoben, als läge in ihm ein Mangel, dabei bedeutet »ein Punkt« nichts weiter, als dass sie noch ein Ziel hatten, statt wie die meisten Parteien ziellos zu werden (Parteien berufen sich inzwischen nicht mehr auf Ziele, sondern auf »Werte«) ? und auch an seine Sorge, nicht nur der Intellektuelle, sondern der Mensch überhaupt könnte ausgerechnet in der »Wissensgesellschaft« zum Auslaufmodell werden, der sogenannten »künstlichen Intelligenz« unterliegen.(30)

Man denke, in einer anderen Traditionslinie, an Günther Anders, den dieselbe Angst peinigte wie Gorz. Man denke vor allem an Hannah Arendt, die mit der Figur des Neuen, das bereits durch jede Geburt in die Welt komme, und mit der Definition des kommunikativen Handelns, es sei zielsetzungsfähig, Nietzsches Problematik in der Weise aufnimmt, dass sie der Zielsetzung eine sowohl natürliche als auch gesellschaftliche Einbettung zu geben versucht. Mit Arendt entfernt vergleichbar hat auch Bloch Ziele als unvorhanden, nur der Hoffnung zugänglich und doch irgendwie naturfundiert zu denken versucht.

Man denke schließlich an Michel Foucault, der Ziele als täuschende Sinnmaschinerie darstellt, denn er will zeigen, dass ein Diskurs verschiedene, auch gegensätzliche Wahlen zulässt, die alle hauptsächlich nur dazu dienen, den Diskurs selber zu perpetuieren.(31)

Im Kontext meiner Untersuchung sticht Arendts Philosophie deshalb heraus, weil sie als Einzige die nietzscheanische Zielsetzungs- mit der Marxschen Klassenfrage verknüpft hat, und zwar in derselben Weise, wie das auch hier versucht wird; so gesehen bewege ich mich ? in voraussetzungsvoller Lektüre ? auf ihrer Spur. Sie stellt nämlich beide Tätigkeitsformen, die sich vom zielsetzungsfähigen kommunikativen Handeln unterscheiden, als klassenbestimmte Tätigkeiten dar: »Arbeit«, die blind getan wird, als wenn eine Körperfunktion sich äußerte, und die offenbar auf die Arbeiterklasse im Kapitalismus verweist, sowie »Herstellung«, die zwar auf Ziele hin geschieht, über solche jedoch nur verfügt, weil sie aus ungreifbaren »letzten« Zielen bereits abgeleitet sind, und die ausdrücklich als Tätigkeit von Handwerkern, also von Kleinbürgern gekennzeichnet ist. Der Witz ist, dass Arendt das überlegene kommunikative Handeln nicht mehr als klassenbestimmtes ausweist, zu ihm aber eben nur im Durchgang durch die beiden klassenbestimmten Tätigkeiten gelangt.(32)

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Auf dem Weg in eine andere Gesellschaft ist Zielbewusstsein vonnöten, in welchem wir zuvörderst eine kleinbürgerliche Eigenschaft erkennen. Zielbewusstsein, nicht »Klassenbewusstsein«. Die marxistische Tradition sah hier gar keinen Unterschied. Bezeichnend das folgenreiche Buch Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukacs, in dem behauptet wird, ein klassenbewusstes Proletariat sei ein Proletariat, das den Kommunismus, also die eigene Abschaffung als Klasse intendiere.(33) Wenn aber das Sein das Bewusstsein bestimmt, kann eine Klasse nicht ihre eigene Abschaffung wollen.

Dass Lukacs das kommunistische Ziel dem proletarischen Bewusstsein einfach zuschreibt, zeigt, wie er noch der aristotelischen Tradition verpflichtet ist. Dabei hatte Nietzsche bereits nachgewiesen, dass Ziele, auch gesellschaftliche Ziele nie in der Natur der Sache schon vorgegeben sind; sie müssen immer erst erfunden werden. So gesehen war Lenins Diagnose, Arbeiter könnten von sich aus nur zu einem »trade-unionistischen« Bewusstsein gelangen und es bedürfe der Überzeugungsarbeit der Partei, sie kommunistisch zu machen, vollkommen richtig.

Ja, man begreift erst von Nietzsche her die Absurdität jener bekannten Debatte um »Determinismus« oder »Voluntarismus« der Arbeiterbewegung. War Lenin ein »Voluntarist«? Etwa weil er ein Ziel setzte und zu realisieren versuchte? Sind dann alle Menschen, die von der Geisteskrankheit der Ziellosigkeit verschont geblieben sind, »Voluntaristen«? Eben diese Geisteskrankheit hat Nietzsche als die »Dekadenz« seiner Zeit und als nihilistische Gefahr diagnostiziert. Auch die Mehrheit der Arbeiterbewegung war von ihr betroffen, was sich eben in ihrem Determinismus äußerte. Genauer gesagt in ihrem umfassenden Determinismus. Denn was die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten als solche betraf, war natürlich auch Lenin Determinist ? was ja nur heißt, dass er nicht bestritt, dass es ökonomische Gesetzmäßigkeiten gibt.

Dennoch war auch er zu kurz gesprungen. Er sah nicht, dass in dem Moment, wo Klassen- und Zielbewusstsein getrennt werden, es keinen Grund mehr gibt, Zielbewusstsein so einzusetzen, dass man eine besondere Klasse hinter ihm sammelt. Mit dem Bewusstsein eines Ziels kann man sich doch nur an alle wenden, die imstande sind, in es Einsicht zu erlangen, egal welcher Klasse sie angehören.

IV  Die Klassen in der Kommunikation

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Die Kommunizierung der ökologischen Botschaft wird auf die Infragestellung der Produktionsweise der drei Klassen zielen. Das Medium, in dem sich die Kommunikation bewegt, und zugleich deren Thema werden die (Un-)endlichkeitsdiskurse sein.

Ökologie hat den Klassen Verschiedenes zu sagen. Den Arbeitern, um mit ihnen zu beginnen, dass sie die Realität des unendlichen Sogs zur Kenntnis nehmen möchten. Ihre gegenwärtige Verkleinbürgerlichung, die sich um Eigenheim, Tourismus oder Auto dreht, läuft in der Tat noch auf »geistige Beschränktheit« hinaus. In der Freizeit ist der Zielwille der Arbeiter kommerziell eingehegt. Er passt nicht zur Unendlichkeit, der sie sich in der Produktion unterwerfen. Dieser Widerspruch müsste der kommunikative Anknüpfungspunkt sein, statt dass man zuschaut, wie die Freizeit-Situation geistig und praktisch als Ideologie funktionieren kann. Ökologie braucht Ziele. Sie ist das, was sich dem schlechten Selbstlauf entgegenstemmt. Es ginge darum, die Gleichgültigkeit der Arbeiter gegen die Ziele ihrer Produktion zu brechen.

Der Ort, wo es vor allem zu geschehen hätte, ist das Parlament, denn dort ist die Arbeiterklasse institutionalisiert, wie wir gesehen haben. Man muss sich immer vor Augen halten, dass keine Parlamentspartei Anhänger und Wähler haben kann, die nicht mehrheitlich Arbeiter wären. Es kann unter diesem Aspekt keine bevorzugte Koalitionspartei geben. Jede Partei muss über die Frage der Produktionsziele zur Rede gestellt werden.

Den Kleinbürgern ist zu sagen, dass sie ihrer Aufgabe, die intellektuelle Funktion zu realisieren, gerecht werden sollen. Wir haben gesehen, wie groß ihr Einfluss in allen Staatsapparaten ist ? trotz ihrer geringen Zahl. Dem Staat nun, wenn er als der Ort der Politik aufgefasst wird, wäre nach der Soziologie von Parsons die Zielfunktion zuzuschreiben, so dass man sagen könnte, die Kleinbürger befinden sich dort, wohin sie gehören. Doch der Staat setzt nicht die »richtigen« Ziele. An der Ökologie zeigt sich das so handgreiflich, dass ich es nicht weiter ausführen muss.

Von Kleinbürgern, wenn man sie anspricht, wäre daher zweierlei zu verlangen. Erstens dass sie auf Beteiligung der ganzen Gesellschaft an radikaler kreativer Politik dringen. Zweitens sollen sie das Ihre zur Veränderung der Staatsziele beitragen. Denken wir in diesem Zusammenhang auch an die kleinbürgerlichen Intellektuellen, die sich abseits vom Staat halten, ihn von außen kritisch beurteilen. Sie sind aufgefordert, letzteres wieder vermehrt zu tun, denn seit Jahren hört man wenig von ihnen.

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Wir sehen nun schon, ein und dieselbe ökologische Botschaft muss zu ganz verschiedenen, ja direkt gegensätzlichen Ansprachen führen, je nachdem ob sie an Kleinbürger oder Arbeiter adressiert wird. Es geht in beiden Fällen um das »richtige« Zielbewusstsein, aber im einen Fall handelt es sich darum, den entscheidenden Anwendungsbereich nicht auszublenden (nämlich die Produktionssphäre), im andern darum, die Ziele zu verändern (Bewusstsein ihrer Bedeutung ist hier vorhanden). Noch wieder anders wäre mit den Kapitalisten als der herrschenden Klasse, dem »Machtblock«, wie Nicos Poulantzas es nannte, zu kommunizieren.

Was den Machtblock eint, bestimmt der Staat, und der Staat, wie gesehen, hat immer schon Ziele. Wenn man tatsächlich von einem »bürgerlichen« Staat sprechen kann (im Sinn von bourgeois, nicht von citoyen), dann deshalb, weil alle Staatsführungen der letzten Jahrhunderte das Staatsziel der Staatsbereicherung auf Grundlage einer vorhandenen und unkritisch hingenommenen kapitalistischen Produktionsweise verfolgt haben, wobei der so erworbene Reichtum teils nationalistischen Zielen, teils der kompensatorischen sozialen Umverteilung zugeleitet werden sollte. Diese Zielsetzung ist es genau, durch welche die Bourgeoisie zur »herrschenden Klasse« und eben zum Machtblock eingesetzt wurde. Einmal aber eingesetzt, verfolgt der Machtblock ein Programm: die abgesicherte Fortsetzung des Wachstums ins Unendliche. Von den Kleinbürgern im Staat ist nun einfach zu verlangen, dass sie andere Staatsziele setzen, solche, die auf die Implikation dieses Machtblocks nicht mehr hinauslaufen.

Die Kräfte des Machtblocks müssen aber auch selber und als solche angesprochen werden. Man muss versuchen, in ihm eine Fraktion hervorzurufen, die das unendliche Wachstum nicht mehr freiwillig betreibt ? ein Unternehmertum, das aufhört, der Selbstverwertung des Kapitals dienen zu wollen, das vielmehr bereit ist, sich auf die neue Rolle eines Dienstleisters der Gesellschaft einzulassen. Wie Letzteres funktionieren könnte, ist anderswo skizziert worden.(34)

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Es bleibt zu fragen, wie ein politisches Subjekt, beispielsweise eine ökologische Partei, die vorwiegend kleinbürgerlich geführt wird oder deren sozialer Hintergrund vorwiegend ein kleinbürgerlicher ist, sich um der Kommunikation mit anderen Klassen willen zu ihrer eigenen Klassenbestimmtheit verhalten kann. Sie muss jedenfalls auch mit sich selbst kommunizieren, welchen Vorgang man Selbstreflexion nennt, und gerade das Verhältnis zwischen ihrem Ziel- und ihrem Klassenbewusstsein muss dabei zum Hauptthema werden. Was »von Kleinbürgern zu verlangen wäre«, ist eben schon allgemein skizziert worden. Hier wollen wir etwas näher darauf eingehen, vor welcher Wahl eine Kleinbürgerpartei steht, die von sich weiß, dass ihre »kollektive Intellektualität« auf das Projekt des ökologischen Umbaus gerichtet ist. Wie wird sie ihre Ziele formulieren?

Wird sie sagen, es müsse »Maß gehalten werden«, weil ökologische Verschwendung den Planeten bedrohe? Einen solchen Diskurs hat es gegeben. Das Richtige an ihm war, dass er das ökologische Heil nicht allein in äußerlich (vom Staat) gesetzten Wachstumsgrenzen sah, sondern an den eigenen Willen der Beteiligten appellierte und diesen zu verändern versuchte. Es war nicht falsch, die Beteiligten als die sehr vielen Individuen zu sehen, die sie tatsächlich sind. Wenn man eine solche Herangehensweise »moralisch« nennt, macht sie auch das noch nicht falsch. Dennoch lag in ihr etwas von »kleinbürgerlicher Beschränktheit«. Denn völlig unverändert wiederholte sie einen Grundsatz, den schon Platon gelehrt hatte, ohne zu fragen, ob er in der Welt von heute noch durchführbar ist.

Die Wahrheit einer moralischen Maxime hängt doch auch davon ab, wie wahr die Aussagen über die umgebende Welt sind, auf die sie sich stützt. Man soll so handeln, schreibt Kant, dass die Handlung zur Grundlage einer »allgemeinen Gesetzgebung« werden kann. Ein Gesetz aber muss so beschaffen sein, dass ihm alle folgen können und die Wirklichkeit der Welt es nicht verhindert. Und nun zwingt diese Wirklichkeit allen, die im Kapitalismus leben, ein Mitgerissensein im unendlichen Sog der »Selbstverwertung«, der »erweiterten Reproduktion« des Kapitals auf. Der Zwang wirkt auf die drei Klassen in verschiedener Weise.

Am schlimmsten ist die Arbeiterklasse dran. Wenn sie in einer ins Unendliche strebenden Produktion beschäftigt ist, muss sie mitmachen, auch wenn die Welt darüber in Scherben fällt: weil sie anders nicht überleben kann. Sie kann in dieses unendliche Streben kein »Maß« einbauen. Natürlich kann jeder Arbeiter außerhalb der Produktion Maß halten, aber das ändert die Produktion nicht. Marx zufolge geht es der Kapitalistenklasse kaum anders. »Bei Strafe des Untergangs« muss jeder Kapitalist alles tun, wozu ihn die Konkurrenz zwingt, und es ist eben sein unendliches Streben, wozu er gezwungen wird. Die Konkurrenz zwingt den Kapitalisten, der Kapitalist den Arbeiter. Bleibt der kleinbürgerliche Unternehmer. Er vielleicht kann Maßhalten. Oft ist sein Maß nur ein von außen gesetzter Zwang. Doch selbst wenn das nicht so wäre, sein Maßhalten ändert nichts an der von den Hauptklassen geschaffenen, ins Unendliche strebenden Welt. Wenn er nun auch noch aus dieser seiner Klassenlage eine Politik macht und das Maßhalten predigt, dann lügt er sich und den anderen etwas vor.

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Eine Moral muss gelehrt werden, aber eine ganz andere: Moral in einer Welt, die mich zu einem Verhalten zwingt, das ich ablehne. Wenn man die Frage so stellt, ist sie zwar im ersten Schritt leicht zu beantworten. Die Moral gebietet natürlich den Versuch, eine solche Welt zu verändern. Aber das heißt nur, dass sie an diesem Punkt sogleich Politik wird. Zum eigentlich Moralischen, auf die individuelle Handlungsvernunft Bezogenen führt eine andere Frage: Wenn ich sage, ich sei gezwungen, Dinge zu tun, die ich ablehne, wie unterscheidet man mich dann von einem Heuchler? Heißt es doch »An ihren Taten sollt ihr sie erkennen«. Bin ich doch in einem strikten Sinn niemals gezwungen, gegen meine Überzeugung zu handeln; immer kann ich mich fürs Märtyrertum entscheiden. Ich will hier dennoch nicht für dieses allein plädieren. Denn es muss keine Heuchelei sein, anders zu wollen als zu tun. Jemand, der nicht die Marionette seines ihm aufgezwungenen Verhaltens ist ? was doch so nahe liegt, weil das Sein das Bewusstsein bestimmt ?, hat bereits moralische Kraft gezeigt und verdient schon dafür Respekt.

Dies gilt besonders in der Demokratie, wo sich ein Verhalten, wie wir es gerade erörtern, mit dem Spruch »An ihren Taten sollt ihr sie erkennen« auch gar nicht erfassen lässt. Denn hier kann mein Wille, der von meinem ökonomischen Verhalten abweicht, sehr wohl zur Tat werden, nämlich zu meiner politischen Tat. Arbeiter können Tag für Tag die kapitalistische Produktion reproduzieren und sich ebenfalls Tag für Tag der Parteiform bedienen, um dieselbe Produktion zu bekämpfen, indem sie zum Beispiel demonstrieren, Flugblätter verteilen und Zeitungen verkaufen, um die demokratische Mehrheitsmeinung zu verändern. Obwohl als Anbieter auf dem Arbeitsmarkt gezwungen, gegen die Ziele der Produktion gleichgültig zu sein, können sie als politisch Handelnde eben diese Gleichgültigkeit bekämpfen. An ihren verschiedenen Taten, am System ihrer Taten werden sie erkannt.

Ich sage damit nichts grundstürzend Neues, aber es ist doch erstaunlich, dass zwei nahe liegende Schlussfolgerungen selten gezogen werden. Erstens könnte auch die ökologische Moral mehr die Schwierigkeit betonen, die entsteht, wenn man sich politisch gegen sein eigenes antiökologisches Verhalten wendet, als dass sie über dieses Verhalten die Nase rümpft. Es ist zum Beispiel besser, gegen die Mobilität qua motorisiertem Individualverkehr eine andere Form individuierter Mobilität zu setzen ? ihre Möglichkeit zu erforschen, für das Ergebnis politisch zu kämpfen ?, dabei selber vorerst weiter Auto zu fahren und dies auch anderen nicht übel zu nehmen, weil sich das gegenwärtige Leben anders nicht leicht bewältigen lässt, als entweder eine kleine Sektierergruppe zu gründen, deren Mitglieder bereit sind, das Auto sofort stehen zu lassen, oder umgekehrt sich zum Autobefürworter umzuerziehen, weil es angeblich anders nicht gehe.

Zweitens, wenn Arbeiter immer schon in der Situation waren, in einer Politik ihr Heil zu suchen, das ihrem ökonomischen Verhalten widersprach, warum soll dasselbe nicht zukünftig auch Kapitalisten gelingen? Könnte eine Parteiung von Kapitalisten ins Leben gerufen werden ? eine neue »Kapitalfraktion« ?, die, während sie der Dynamik der Selbstverwertung ökonomisch unterliegt, politisch gegen sie aufträte und ihre eigene Unterordnung unter einen neuen gesellschaftlichen Imperativ der Rationalität forderte, die Verwirklichung, die Realität des Geforderten würde nicht lange auf sich warten lassen.

V Die Grünen als Kommunikator

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Die kleinbürgerliche ökologische Partei hat nicht wenige Wahlmöglichkeiten. Sie kann selbstbezügliche Kleinbürgerpartei werden, dann kommt als Politik die »reaktionäre« Propagierung des platonischen Maßes heraus. Sie kann stattdessen kleinbürgerliche mit kapitalistischer Politik oder auch mit arbeiterfreundlicher Politik oder, soweit es geht, mit beidem gleichzeitig auf »moderne« Weise verbinden. Bei den Grünen hat die Strömung des platonischen Maßes nie bestimmenden Einfluss gewonnen. Ihre Politik war in den Achtzigerjahren eher arbeiterfreundlich, seit der Wende von 1990 wurde Zug um Zug eine »Marktorientierung« in den Vordergrund gestellt: von der Propagierung der Ökosteuer bis zur Festschreibung einer »Grünen Marktwirtschaft« im Parteiprogramm. Marktwirtschaft, das war schon immer das Kriterium des vollzogenen Bündnisses von Kleinbürgern und Kapitalisten. Denn auf den angeblich freien Markt können sie sich immer einigen ? in der Ideologie wenigstens.

Die Grünen versuchen auch von einer solchen Position aus dem Arbeiterinteresse so nahe wie möglich zu kommen. Jedenfalls gilt das für die immer noch dominante Strömung, deren Politik bestrebt ist, die Sozialdemokratie auf deren eigenem Feld zu überbieten. Aber die Wandlung zur »bürgerlichen« Partei ist doch unübersehbar. Klassenanalytisch gesehen, läuft sie ziemlich schlicht mit der Entwicklung einer kleinbürgerlichen Jugend, darunter der studentischen von 1968, zum »Erwachsenwerden« parallel; wobei man sich erinnert, dass der Partei die Forderung, sie müsse »erwachsen werden«, in den Achtzigerjahren auch ständig entgegengehalten wurde.

Diese Wahl hat sie also getroffen. Und hätte sie denn eine andere gehabt? Ja und nein. Man muss unterscheiden: Eine bürgerliche, nämlich kleinbürgerliche Partei im sozialen und politischen Sinn »musste« sie werden, was aber trivial und unproblematisch ist. Eine Partei, die sich mit der Arbeiterklasse oder der Großbourgeoisie oder mit beiden verbündet, musste sie nicht werden, denn solche Bündnisse ergeben sich erst als Implikation der Strategien und Taktiken, die eine Partei entwickelt und die kontingent sind. Aber hier ist hinzuzufügen, dass sie es vielleicht noch gar nicht geworden ist ? wenn man nämlich ihre bisherige Geschichte als Stadium der Durcharbeitung traditioneller Typen kleinbürgerlicher Politik deutet.

Es gäbe jedenfalls noch einen dritten Weg: den einer Kleinbürgerpartei, die sich auf den Weg zu einer neuen, klassenlosen Gesellschaft aufmacht und deshalb weder mit der Kapitalisten- noch mit der Arbeiterklasse zusammengeht, sondern die nur eine Gruppierung von Individuen ist, denen sich Individuen anschließen, andere und immer mehr Individuen mit sich entsprechend wandelnder politischer Überzeugung.

Sie wäre dann eine »bürgerliche Partei« in einem dritten Sinn, dem einer Partei, die auf dem politischen Standpunkt des Citoyens, aber nicht des Bourgeois stünde, wobei sie ihre kleinbourgeoise kontemporäre Wirklichkeit freilich nicht verkennen würde, weder als Hemmnis noch als Inspirationsquelle. Es wäre eine »Assoziation« nicht von klassenlosen, wohl aber von klassenlos werden wollenden Individuen. Diese Individuen hätten erkannt, dass eine auf solche Selbstveränderung angelegte Partei nicht nur Arbeitern »erlaubt« ist, die dergleichen in der klassischen kommunistischen Bewegung längst ausprobiert haben, sondern auch ihnen. Und dass der Umstand, dass sie Kleinbürger sind, diesen Versuch in keiner Weise prekärer macht, als es der Versuch der Arbeiter war.

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Ihre Politik hätte einen sozialen und einen ökologischen Hauptaspekt. Der letztere bestünde in der Beseitigung aller Mechanismen, die die Wirtschaft zum unendlichen Wachstum um des Wachstums willen zwingen. Beseitigung also der unendlichen Profitmaximierung, des Kapitals selber, seine Reduktion auf freies, der Gesellschaft dienendes Unternehmertum. Mit dieser Tat tritt die Politik aus der Klassenbestimmtheit von Arbeit und Kapital heraus, da, wie wir sahen, beide Hauptklassen dem Unendlichkeitsdiskurs unterliegen. Wenn dann auch noch die Falle einer selbstbezüglichen Kleinbürgerpolitik vermieden ist, die wir als Politik des platonischen Maßhaltens identifiziert haben, tritt die Politik aus der Klassenbestimmtheit überhaupt heraus, die Partei ist dann auf dem Weg zur klassenlosen ökologischen Gesellschaft.

Das bedeutet positiv, die Grenze, die dem kapitalistischen Unendlichkeitsdiskurs gezogen werden muss, darf nicht zur Einhegung einer nur psychologisch aufgefassten unendlichen »Gier« verharmlost werden. Die Beteiligten müssen sich klarmachen, eine Gier kann gar nicht unendlich werden, da ihr die Objekte ausgehen oder Sättigung eintritt. Aber das Kapital könnte es wenigstens solange, bis alles in Trümmer fiele. Ein »Maß« ist deshalb nicht irgendwelchen subjektiven Intentionen, sondern der objektiven ökonomischen Bewegung aufzuerlegen. Der ökonomischen Bewegung ein Maß setzen kann aber nicht einfach heißen, eine unendliche Bewegung durch eine nur endliche, endende zu ersetzen. Das hieße ja der angstvollen Erwartung der Kapitalverteidiger Recht geben, sie sollten ihre »dynamische« Wirtschaft gegen eine »stationäre« vertauschen.

Die Lösung liegt nicht in der Konfrontation von Unendlichkeit und Endlichkeit, sondern in der Unterscheidung zweier Unendlichkeiten, will sagen zweier Begriffe vom Un-Ende. Wenn ein Ende überschritten wird, ist es ein Un-Ende geworden. Das wird man immer wieder erleben. Es zu beklagen wäre »reaktionär«. Aber »Unendlichkeit« im heute systemischen, historisch bestimmten Sinn bedeutet mehr. Unter »ins Unendliche streben« wird verstanden, dass jedes Ende immer wieder überschritten wird. Den Mechanismus, der das erzwingt ? also das Kapital ? sollte man abschaffen. Dann bleibt als Alternative die fallweise Grenzüberschreitung: nicht das Un-Ende um seiner selbst willen, das sich automatisch vervielfältigt, sondern das Un-Ende um des Falls willen, wo Überschreitung Bewältigung des Falls ist und mit ihm erlischt, bis der nächste Fall nach der nächsten Überschreitung ruft.(35) Hiermit ist für »Dynamik« gesorgt ? so aber, dass sie rückgebunden bleibt an den selbstbestimmten Willen der Gesellschaft.

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Der soziale Hauptaspekt wäre die Erkämpfung eines »Bürgergelds«, verstanden als Geld des Citoyens. Indem man dieses bedingungslos existenzsichernde Grundeinkommen als Anfangsprinzip und Grundkonstante des ökonomischen Systems ansehen würde statt als Restgröße dessen, was unter der Voraussetzung aller sonstigen Zahlungsflüsse noch übrig bleibt, hätte man sich ein wesentlich »sozialistisches« Prinzip der Einkommensverteilung zu Eigen gemacht, wie es von dem polnischen Wirtschaftstheoretiker Oskar Lange schon vor Jahrzehnten skizziert wurde.(36)

Man mag sich bei dieser Gelegenheit klarmachen, inwiefern Bürgergeld in derart radikalisiertem Verständnis tatsächlich ein Vorgriff auf Sozialismus, ja Kommunismus wäre, oder wie man die Andere Gesellschaft immer bezeichnen mag. Arbeiter- und kleinbürgerliches Einkommen/ Eigentum wären in ihm bereits verschmolzen. Als stetig wiederkehrendes Einkommen wäre das Bürgergeld zum einen das neue individuelle Eigentum, Monat für Monat aus dem gesellschaftlichen Eigentum verteilt. Das ist der »kleinbürgerliche« Aspekt. Was ich als »altes« Eigentum bezeichnet habe, wäre zum Vorbild des neuesten geworden.

Zum andern ginge es aus der gesellschaftlichen Arbeit hervor, und dass diese, so sehr sie immer mehr abnimmt, unbedingt geleistet wird, muss sichergestellt sein. Das ist der »proletarische« Aspekt. Da die Gesellschaft die Arbeitsziele bewusst reflektiert und sie danach beschließt, statt dass es nur darum geht, durch beliebige Arbeit Einkommen zu erzielen, wird man davon ausgehen können, dass »Faulheit« die Teilnahme der Individuen an der gesellschaftlichen Arbeit noch weniger behindert als heute. Dies bringt Marx mit der Annahme zum Ausdruck, dass dann »die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden«. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass zu wenige Individuen sich beteiligen wollen, muss es freilich Nötigung geben. Diese braucht aber nicht über das Mittel des Geldentzugs ausgeübt zu werden, es gibt humanere Mittel. Bürgergeld würde auf jeden Fall, also »bedingungslos« an alle verteilt.(37)

Seine Höhe ergäbe sich aus den Kosten der gesellschaftlichen Grundbedürfnisse. Worin diese bestehen, würde wiederum die gesamte Gesellschaft durch Wahl entscheiden. Es wäre dann genau die marxsche Definition des Kommunismus erreicht: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«(38) Zum einen nämlich nach den Grundbedürfnissen, die durchs Bürgergeld abgedeckt würden, und zum anderen durch das zusätzliche Geld, das jeder durch den Einsatz seiner Fähigkeiten erzielen kann.

Aber vergessen wir nicht: So sehr im ideal verwirklichten Bürgergeld Arbeiter- und Kleinbürgeraspekte verschmolzen wären, so wenig kann man es heute propagieren, ohne ins Feld ihrer Trennungen geworfen zu sein. Diejenigen Arbeiter, die heute ihr Geld vom Kapital erhalten, haben darin vor Augen, dass es letztlich aus der gesellschaftlichen Gesamtarbeit stammt; darauf beharren sie und wehren sich gegen den Anschein von isoliertem Individualismus, wie er mit der Idee des Bürgergelds verbunden ist. Man muss ihnen deutlich machen, dass und wie auch ein Bürgergeld aus der Gesamtarbeit käme, nur ohne Vermittlung durch das Kapital, dessen Griff ins Unendliche verheerende Folgen hat.

Die Kleinbürger wiederum müssen dazu gebracht werden, den isolierten Individualismus aufzugeben und ihn nicht etwa im Bürgergeld bestätigt und gerechtfertigt zu sehen. Ihnen kann gesagt werden, dass Eingefügtsein in die Gesamtarbeit nicht zur Gefährdung und Beseitigung, sondern zur Rückgabe und Sicherung individuellen Eigentums führt, vorausgesetzt, jene Gesamtarbeit wird nicht mehr unter kapitalistischer Regie betrieben.


1

Dies war bereits der Titel des Kursbuchs 45/1976, in dem H. M. Enzensberger einschätzte, das Kleinbürgertum verfüge »in allen hochindustrialisierten Gesellschaften heute über die kulturelle Hegemonie« (S. 6). Ich greife das Thema unter völlig veränderten Bedingungen ? nicht zuletzt denen einer schweren, grundsätzlichen Wirtschaftskrise ? wieder auf.

2

»Vor uns die schwierigen Jahre«, in: Kommune 4/08, S. 6?15, hier S. 6.

3

Ich setze mich daher im Folgenden nicht mit Wiesenthal, sondern mit Wehler auseinander: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949?1990, München 2008. Ein zusammenfassendes Kapitel heißt »Die deutsche Sozialhierarchie: Klassendisparitäten in der Marktgesellschaft«, S. 207 ff.

4

Vgl. ebd., S. 179 f., 193 ff., 197 ff., 128 f.

5

Vgl. ebd., S. 207 ff.

6

Vgl. ebd., S. 113.

7

Vgl. Gefängnishefte, Bd. 7, Hamburg 1996, S. 1500, 1506.

8

Vgl. ebd., S. 1504 f.

9

MEW 8, S. 142.

10

Es war keine Anmaßung, dass Studenten sich eine revolutionäre Rolle zutrauten, denn dies war in den vorausgegangenen 150 Jahren schon etliche Male geschehen. Der revolutionäre Impuls der deutschen Studenten in der Metternich-Ära, auch der russischen am Ende des 19. Jahrhunderts ist bekannt, aber das Phänomen ist viel allgemeiner. So begann die erste Erhebung in Piemont, dem späteren Hegemon der italienischen Einigung, 1812 mit studentischen Unruhen; Studenten, Drucker und Handwerker errichteten 1830 in Paris Barrikaden (Reinhart Koselleck: »Die Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge 1815?1830«, in: Louis Bergeron, Francois Furet, ders. (Hrsg.): Das Zeitalter der europäischen Restauration 1780?1848, Frankfurt am Main 1969, S. 225, 271).

11

Vgl. Nicos Poulantzas: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, 2. überarb. Aufl., Frankfurt am Main 1975, S. 174, 177.

12

Wenn es ein originär proletarisches Konzept der Revolution gibt, dann ist es der Generalstreik. Dieses Konzept ist aber niemals realisiert worden. Und sein wichtigster Theoretiker ist wiederum ein Kleinbürger ? Georges Sorel.

13

Siehe Note 10.

14

Gesammelte Werke I/2, Berlin 1974, 480. Das Kleinbürgertum, schreibt sie weiter, »war zweifellos der lebendige Kitt, der in den europäischen Revolutionen die verschiedensten Schichten zu einer Aktion zusammenschweißte, der in Klassenkämpfen, die ihrem geschichtlichen Inhalt nach Bewegungen der Bourgeoisie waren, als Schöpfer und Träger der notwendigen Fiktion vom gesamten ?Volke? fungierte. Dasselbe Kleinbürgertum war auch der politische, geistige, intellektuelle Erzieher des Proletariats.« (Ebd.)

15

»Die Kleinbürgerschaft ist nächst den Bauern die miserabelste Klasse, die zu irgendeiner Zeit in die Geschichte hineingepfuscht hat«, kann Engels schreiben (MEW 4, S. 47). Marx kritisiert indessen am Gothaer Programm der SPD gerade die Formulierung, die Mittelstände bildeten »mit Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse« (MEW 19, S. 23).

16

»Jetzt zerfiel eine Schlacht in getrennte, vielleicht sogar zahlreiche getrennte Akte«: Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Band 4: »Neuzeit«, Berlin/New York 2004, S. 537.

17

Von Kapitalismus kann keine Rede sein, wenn »der Genuss als treibendes Motiv wirkt, nicht die Bereicherung selbst«, schreibt Marx in MEW 24, S. 123.

18

Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1974, S. 240.

19

Vgl. MEW 25, S. 384 ff.

20

Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 192 f.

21

Ebd., S. 207 f.

22

Vgl. FAZ, 19.5.09.

23

Wehler, a. a. O., S. 169, 137, 150. Vgl. dort die Literaturangaben: S. 482, 484.

24

Vgl. Arendts Bemerkungen zur Entstehung der jüdischen Intellektuellen-?Klasse?: Die Krise des Zionismus, Berlin 1989, S. 68 f.

25

Vgl. MEW 23, S. 791.

26

Vgl. MEW 4, S. 53.

27

Siehe Note 18.

28

Eins der Hauptthemen in Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 (Erstausg. Zürich 1935).

29

MEW 25, S. 205.

30

Damit ist in Kürze der Bogen beschrieben, der mit Abschied vom Proletariat, Frankfurt am Main 1980, beginnt und mit Wissen, Wert und Kapital, Zürich 2004, endet.

31

Vgl. Verf.: »Die Gefährdung der Intellektualität. Bemerkungen zur Bedeutung Foucaults«, in: Das Argument 280 (2009), S. 93?102.

32

Es ist natürlich von ihrem Buch Vita ativa oder Vom tätigen Leben, München 1967, die Rede.

33

Vgl. Amsterdam 1923, S. 82. Klassenbewusstsein wird hier als »Bewusstsein des Proletariats über seine geschichtliche Sendung« definiert.

34

Verf.: »Ökologischer Umbau durch Befreiung des Markes«, in: Kommune 9/96, 10/96, 11/96. Vgl. auch Michael R. Krätke: »Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle der Finanzmärkte«, in: Widerspruch 55 (2008), S. 5?16.

35

Was das bedeutet, kann man sich an der besonderen Logik des Fragespiels klarmachen: Wenn eine Frage als falsch gestellt zurückgewiesen wird, wird die Grenze des Raums der von ihr ermöglichten Antworten zum Un-Ende, denn sie wird überschritten. Damit steht der Überschreitungsprozess erst einmal still, wenn auch nicht der Prozess überhaupt: Die aus der Zurückweisung entsprungene neue Frage wird nicht gleich selbst wieder über Bord geworfen, im Gegenteil sucht man nun ihren Raum so lange wie möglich nach Antworten ab. Irgendwann gelingt das nicht mehr, dann erst wird sie ihrerseits zurückgewiesen.

36

Vgl. Oskar Lange: »Zur ökonomischen Theorie des Sozialismus«, in: ders.: Ökonomisch-theoretische Studien (Hrsg. Halina Jaroslawska), Frankfurt am Main/Köln 1977, S. 259?322, hier S. 271 f., 278 f., 289 ff.

37

Vorstellbar wäre die Androhung von Bußgeldern. Das ist nichts Besonderes im bürgerlichen Leben, es hätte nicht den Charakter einer quasi existenziellen Rache, wie sie in dem Gedanken »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« immer mitschwingt. Fruchtet die Androhung nichts, werden die Bußgelder verhängt. Dadurch entstehen Schulden, sie müssen abgezahlt werden durch Teilnahme an Arbeitsmaßnahmen, die zugleich Ausbildung sind.

38

Beide Marx-Zitate: MEW 19, S. 21.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009