Ernst Köhler
Wo die EU sich
erweitert
Erscheinungsformen des Wandels ? ein Besuch in Belgrad und Zagreb
Widersprüchliche Eindrücke aus den beiden ehemaligen jugoslawischen
Zentren hat unser Autor aufgenommen und deutet an: Europa wird es nicht leicht
haben, die »balkanische Lücke« zu schließen. In Serbien bewegt sich wenig,
seine führenden Politiker kreisen im provinziellen Nationalismus um sich
selbst. Zieht dieses Kreisen auch die wenigen demokratischen Politiker hinein?
In Kroatien liegen, auch wenn es viele Widerstände zu überwinden gilt, die
Dinge anders. Verbrecherische Politiker können nicht mehr mit dem Schutz der
Immunität vor mutigen Richtern rechnen. Und allmählich setzt allenthalben eine
Geschichtsdebatte ein.
Das Helsinki-Komitee in
Belgrad ist vor ein paar Monaten umgezogen: aus der Zmaj Jovina, einer Seitenstraße der Kneza Mihaila ? der
Flaniermeile der Belgrader City, einer eleganten, den ganzen Tag
menschendurchströmten Fußgängerzone ?, in eine abgelegene Straße am Rande des
Kalemegdan-Parks. Keine Tafel draußen neben der Eingangstür des Hauses. Der
Besucher weiß nicht einmal, wo er schellen soll. Nun ja, die neuen Räume seien
größer, geeigneter für den Verlag; zudem seien sie billiger, sagt uns Sonja
Biserko, die langjährige Präsidentin des Komitees. Aber sie leugnet nicht, dass
dabei auch ein Bedürfnis nach Selbstschutz, nach mehr Distanz und Abschirmung
mitgespielt hat. Der Druck sei zu groß geworden. Vor allem der Druck auf sie
persönlich. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, spricht Frau Biserko von sich
selbst ? einen Augenblick lang.
Das Bild, das sie uns dann
von der gegenwärtigen serbischen Politik zeichnet, ist an sich nicht
überraschend. Europa weiß, dass Serbien sich nicht bewegt ? auch wenn Brüssel
unentwegt suggeriert und sich selbst einredet, Serbien bewege sich, und zwar in
die richtige Richtung. Es bewegt sich nicht ? nicht in der Kosovo-Frage, nicht
in der NATO-Frage. Und auch die offiziellen Erklärungen zur Ungreifbarkeit
Mladics sind nach dem jahrelangen Versteckspiel Belgrads im Fall Karadzics nur
schwer zu glauben. In den liberalen Kreisen Belgrads kursiert eine ironische
Formel, die diesen verblendeten Immobilismus ganz gut auf den Punkt bringt:
»Serbien muss auf jeden Fall nach Europa, aber Europa darf auf keinen Fall nach
Serbien.« Es ist die besondere Konkretheit des bis zum Überdruss bekannten
Bildes, für die man in dieses Büro kommen muss. Es ist die intime und
schmerzliche Nahsicht auf Zustand und Charakter der politischen Eliten
Serbiens. Fast möchte man von einer Innenansicht sprechen ? vernichtend aus
Vertrautheit und altem Verständnis.
Anknüpfungspunkt diesmal:
der eintägige Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Joseph Biden im Mai ?
»der erste vergleichbar hochrangige Besuch aus den USA seit fast drei
Jahrzehnten«, wie Biserko in einer Presseerklärung des Komitees schreibt. Er
»hat die Unfähigkeit der politischen Klasse Serbiens enthüllt, die
außenpolitische Orientierung des Landes und seine strategische Position auf der
regionalen, europäischen und globalen Ebene klar zu definieren«. Für den
wohlvernetzten rechten Populismus und seine lautstarke Boulevardpresse ist da
einfach nur der »Prokonsul« gekommen: um Serbien in die NATO zu pressen ? und
damit auch gleich in die Selbstdemütigung, in die Anerkennung der Bombardements
von 1999 als legitim; um Serbien zur Anerkennung des unabhängigen Kosovo zu
zwingen ? und damit auch gleich zur Aufgabe seiner nationalen Identität; um von
Serbien die Disziplinierung von Milorad Dodik einzufordern, des Regierungschefs
der Republika Srpska in Bosnien ? und damit auch gleich die Aufgabe jener
besonderen Beziehungen zu den bosnischen Serben, wie sie in Dayton
festgeschrieben worden sind.
Beim Wiederlesen des Textes
frage ich mich, ob Sonja Biserko diesem peinlich selbstverliebten Gerede hier
nicht zu viel Raum widmet. Doch es scheint nur die Billigausgabe eines
Diskurses zu sein, der sich ? in anderer sprachlicher Form ? etwa auch in einer
seriösen Zeitung wie Politika findet. Der Sermon der fensterlosen
nationalistischen Selbstbezogenheit dominiert offenbar nach wie vor die
veröffentlichte Meinung in Serbien ? ungeachtet einer Mehrheit in der
Gesellschaft, die an der Wahlurne bereits deutlich genug gemacht hat, dass sie
einen antieuropäischen Kurs nicht länger akzeptiert. Auch die maßgebliche
Denkschule der serbischen Außenpolitik, wie sie sich zum Beispiel im »Forum für
Nationale Strategie« organisiert, bleibt dieser abgehobenen, oberhalb der
breiten Bevölkerung und ihrer Interessen um sich selbst kreisenden Denkungsart
verhaftet. Sonja Biserko erwähnt Svetozar Stojanovic, so etwas wie das
Sprachrohr dieser Gedankenwelt. Anscheinend glaubt er von Amerika entschiedenen
Rückhalt etwa für den EU-Beitritt Serbiens erwarten zu dürfen ? eine große
Unterstützung der serbischen Sache, wie er und seinesgleichen sie definieren,
ohne Gegenleistung, ohne Konzession in einem der für unverzichtbar gehaltenen
Eckpunkte serbischer Außenpolitik.
Es verhält es sich gerade
andersherum ? in allen Punkten. Ohne Eintritt in die NATO wird Serbien seinen
Staat im Staat kaum zerschlagen können ? also jenen bislang von keiner zivilen
Instanz und Institution in seine Schranken verwiesenen Verbund bewaffneter Apparate
und krimineller Unternehmen, denen auch Zoran Djindjic zum Opfer gefallen ist.
Ohne Anerkennung des Kosovo verstellt sich Serbien selbst den Weg von einer
imaginären oder surrogathaften Politik zu einer realistischen,
interessengeleiteten. Ohne Verzicht auf ein unverantwortliches Spiel mit der
strukturellen Misere Bosniens wird Serbien auch weiterhin der Unruhestifter der
Region bleiben ? jedenfalls für die Region selbst. Es wird »das Herz aller
Instabilität auf dem Balkan« bleiben, wie es ein Sprecher der
Liberaldemokratischen Partei formuliert hat. Mag die EU unter der Führung von
Solana und Rehn auch ihre Standards verwässern und in ihrer Uneinigkeit Serbien
im Kosovo viel zu weit, gefährlich weit entgegenkommen ? die politische
Aufgeschlossenheit und Verhandlungsbereitschaft der neuen amerikanischen
Regierung dürfte kaum unerschöpflich sein. Ein kleines Warnzeichen dafür war
schon, dass Biden bei seiner Stippvisite in Belgrad ausgerechnet für Vuk
Jeremic keine Zeit zu haben schien: den Außenminister des gastgebenden Landes,
Hans Dampf in allen Gassen der serbischen Kosovopolitik.
Cedomir Jovanovic, der
Chef der Liberaldemokratischen Partei, empfängt uns in seinem Büro im Parlament, dessen Mitglied er ist.
Bei den Wahlen im vergangenen Jahr hat die Partei acht Prozent der Stimmen
erhalten. Sie befindet sich in der Opposition ? zusammen mit einer Reihe
nationalistischer Parteien, mit denen es keine gemeinsame Basis gibt. In
Belgrad selbst toleriert Jovanovic die von der Demokratischen Partei geführte
Koalition. Wie uns ein Kenner der Belgrader Verhältnisse erläutert, ist es
genauer gesagt eine aktive Unterstützung aus der zweiten Linie heraus. Die
Partei hat ihre Leute in wichtigen Positionen.
Als Journalist fühle ich
mich hier befangen. Mich verbindet mit Cedomir Jovanovic unsere frühere
Freundschaft zu Zoran Djindjic. Es war keine »gemeinsame« Freundschaft,
versteht sich, es waren zwei ganz unterschiedlich gelagerte Freundschaften,
dennoch knüpfen sie ein Band zwischen uns.
Die mutige Position
Jovanovics in der Kosovofrage ist bekannt. Wir sind mit Krieg gekommen, und mit
Krieg hat man uns auch wieder verjagt, hat er sinngemäß einmal in Novi Sad
gesagt. Aber was er hier jetzt sagt, befremdet auch mich einigermaßen: »Ich war
vor der Unabhängigkeit in Pristina. Sie müssen sich das so vorstellen: Hier
sitze ich, links von mir sitzt Haradinaj, rechts Thaci (beides ehemalige Führer
der UCK, E. K.). Ich sage ihnen: Das wird ein unabhängiger Staat sein.
Es ist Ihr Staat, sagen Sie mir, wie Sie ihn entwickeln, modernisieren,
demokratisieren wollen. Und die beiden neben mir fangen an zu zittern.« Sie
haben ganz bestimmt nicht gezittert. Wer mit diesen albanischen Politikern
einmal gesprochen hat, muss diese Geschichte albern finden. So sieht es auch
eine Kollegin, eine Radio-Journalistin aus Köln, die mich in Belgrad begleitet.
Sie hat einige Jahre im Kosovo gearbeitet. Was ist das ? »Präpotenz« etwa, wie
man ihr hier nicht so selten begegnet? Die öffentlichen Auftritte Jovanovics
seien regelmäßig als eine »Ein-Mann-Show« inszeniert, so später einer unserer
Gewährsleute. Egozentrisch hat Cedomir Jovanovic auch bei früheren Begegnungen
auf uns gewirkt, aber da war es die enorme Aufgabe, die Anspannung der
Exponiertheit. In Serbien kann Zivilcourage bekanntlich lebensgefährlich sein.
»In den letzten Jahren
basierte das starke Wachstum in Serbien vor allem auf ausländischen
Investitionen, die nun immer stärker zurückgehen. Die einzige gute Nachricht
der vergangenen Monate ist die Übernahme der Autofabriken Zastava in Kragujevac
durch Fiat Ende 2008. Der erste in Serbien produzierte Punto wurde Ende März
präsentiert. Doch der italienische Konzern hat bereits angekündigt, auf weitere
Investitionen in Höhe von umgerechnet über 300 Millionen Franken zu verzichten.
Seit Anfang des Jahres werden immer mehr Investitionen annulliert oder
hinausgeschoben, während Serbien im gleichen Zeitraum 31.000 neue offizielle
Arbeitslose verzeichnete.« (Jean-Arnault Dérens, Wochenzeitung, 23.4.09)
Wir fragen nach der Antwort der Liberaldemokratischen Partei auf die
gegenwärtige Wirtschaftskrise. Im Kopf haben wir dabei das Bild von einer
wirtschaftsliberalen, gesellschaftspolitisch am ehesten unserer FDP nahe
stehenden Partei, die sich ? wie auch schon die Demokratische Partei unter dem
späten Zoran Djindjic ? in erster Linie an jüngere, besser qualifizierte,
städtische Wähler wendet.
Jovanovic geht nicht direkt
auf unsere Frage ein. Stattdessen spricht er gleich von einer Partei, in der
»alles anders werden muss«. Man habe die verheerende Politik der Regierung
unter Vojislav Kostunica bekämpft. Das habe man als die vorrangige Aufgabe
betrachtet. Inzwischen sei Kostunica in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Die
alte Frontstellung habe sich erledigt. Die alte Politik der Negation sei
überholt, sie sei gegenstandslos geworden, und in dieser Situation stehe die
Partei ohne Politik da ? ohne klaren Entwurf für die Zukunft Serbiens. Es ist
eine erstaunliche Offenheit. In diesem Moment ist Cedomir Jovanovic für mich
wieder der alte. Der Ernst, der ihn in meinen Augen ausgezeichnet hatte, ist
wieder da. Er setzt wieder bei der politischen Klasse an ? bei dem Angebot, das
sie der Gesellschaft schuldig ist und schuldig bleibt. Er setzt bei sich selbst
an. Er spricht über die eigene Partei fast mit den gleichen Worten, wie wir sie
im privaten Rahmen dann auch von einem unabhängigen Kopf, einem jungen
Naturwissenschaftler, zu hören bekommen.
Wer ist Cedomir Jovanovic
heute? In unseren Gesprächen gewinnen wir den Eindruck, dass er in der
Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit verloren hat. Frühere politische Freunde,
Bewunderer, Sponsoren, die sich enttäuscht von ihm abzuwenden beginnen (Sonja
Biserko gehört übrigens nicht zu ihnen, aber etwa Zarko Korac, Psychologieprofessor
in Belgrad und unter Zoran Djindjic Stellvertretender Ministerpräsident),
halten sich aber öffentlich noch zurück. Man verweist uns auf die Handhabung
der Kandidatenlisten durch den Parteichef. Sie sei so autokratisch wie in
anderen Parteien auch. Der Parteiführer setze etwa eine angesehene
Persönlichkeit an die Spitze der Liste, nur um sie nach den Wahlen in der
Versenkung verschwinden zu lassen und durch einen namenlosen Gefolgsmann zu
ersetzen. Gelegentlich klingt die Kritik aber auch voreingenommen ? so wenn
jemand, dem Jovanovic vor ein paar Jahren noch zu rigoros, zu
»draufgängerisch«, zu »moralistisch« war, jetzt zu bedauern scheint, dass er
sich »langsam in das Establishment hineinziehen« lasse. Was er auch macht, er
macht es falsch. Oder die Kritik ist so maßlos und apodiktisch, dass man sie
nur als Ausdruck der Entpolitisierung begreifen kann. Wie die eines Belgrader
Historikers (etwa 40): Er hat einmal zu den Dissidenten der Demokratischen
Partei gehört, aus denen die Liberaldemokratische Partei hervorgegangen ist.
Heute schlägt er Jovanovic schlichtweg der »Mafia« zu. Daneben ließe sich eine
Wertung aus hiesigen OSZE-Kreisen halten: »Er führt eben kein einfaches Leben.
Und steht öffentlich zu seiner teuren Wohnung im Belgrader Villenviertel Dedinje.
Er könne sie aus eigenen Mitteln bezahlen. Aber man glaubt es ihm nicht. Man
unterstellt ihm, dass er sich die Wohnung und überhaupt seinen Luxus von
irgendjemand anderem finanzieren lässt. Wenn ich als Politiker wüsste, dass ein
solcher Schatten auf mir liegt ? seit jeher übrigens ?, würde ich mich doch in
meinem Lebensstil zurückhalten.« Im Zug zurück nach Zagreb lerne ich dann einen
jungen Offizier der Belgrader Militärpolizei (etwa 30) kennen. Er fährt zum
Wochenende nach Hause. In Sid, Vojvodina, steigt er aus. Für ihn jedenfalls ist
Jovanovic »eine politische Figur der Zukunft«. Er sagt es ohne Zögern.
Es gibt ein Thema, das
den Reisenden nicht verlässt. Es begleitet ihn von Zagreb nach Belgrad und wieder zurück. In beiden Städten, in beiden Ländern
ist es aktuell, ist es ein öffentliches Streitthema von offenbar zunehmender
Virulenz: Tito und sein Regime. Ausgerechnet Tito! Für den Ankömmling ist es
eine Überraschung, eine Irritation. Man versteht zunächst nicht. In Belgrad
kriegen wir gerade noch die Tito-Ausstellung im Musej »25 maj« in Dedinje mit.
Wie uns der Assistent des Museumsdirektors darlegt, ist die Ausstellung dem
»Charisma« des Herrschers gewidmet. Aus dem inzwischen gewonnenen zeitlichen
Abstand heraus versuche man, sich ein historisches Bild des Staatsmannes und
seiner Ära zu erarbeiten. Das sei auch das Anliegen dieser Ausstellung. 30.000
Besucher hätten sie sich angesehen ? Menschen aus der Provinz, aus den
Nachbarländern, aus aller Welt, aus Belgrad selbst auffallend die wenigsten.
Ich kann mich nicht entschließen, die zahllosen kleinen, selbst gefertigten
Gegenstände anzuschauen, die das Volk Tito im Laufe der Jahre geschenkt hat.
Ich kann mich nicht von den Videos lösen. Die Begeisterung, die Verehrung, die
Liebe in den Augen aller dieser jungen Menschen ist nicht gespielt. Was man
hier sieht, ist nicht das Ergebnis von obrigkeitlicher Dressur, sondern von
»totaler Herrschaft«, um mit Hannah Arendt zu sprechen. Diese Filmausschnitte
bezeugen, was totalitär bedeutet: Die Macht ist so groß, dass die Liebe echt
ist. Der webersche Begriff »Charisma« kommt mir hier wie eine Klamotte vor ?
Soziologie von vorgestern. Wie will man mit einem solchen Rüstzeug an die
Realität des Tito-Regimes herankommen?
Tito ist das jedenfalls
nicht. Die in der Ausstellung vorgeschlagene historiographische Sachlichkeit
ist nicht sachlich. Die Dokumente und Überreste bleiben unkommentiert. Der
Führerkult sieht sich als Kommunikationsgenie weichgespült. Der Stalinismus
fehlt ? etwa der oft unterschlagene nach dem Bruch mit Stalin von 1948. Der
Einparteienstaat fehlt. Die Unterdrückung aller genuin demokratischen Ansätze
fehlt. Der Polizeistaat fehlt. Die Massenmorde von 1945 fehlen. Es fehlt alles.
So bleibt auch die
Auseinandersetzung über den Zweiten Weltkrieg und die anschließende Epoche des
jugoslawischen Sozialismus außen vor, wie sie die Belgrader Intelligenz
gegenwärtig entzweit. Im Belgrader Büro der Heinrich-Böll-Stiftung stößt man
uns auf die neue, unerwartete Frontbildung. Wolfgang Klotz aus Frankfurt am
Main, der das Büro seit Kurzem leitet, ist über die Feindseligkeit des Disputs
geradezu besorgt. Er fürchtet mit seinen öffentlichen Diskussionsangeboten, in
dieser vergifteten Atmosphäre zerrieben zu werden.
Ausgewiesene, integre Liberale
stehen da gegen ausgewiesene, integre Liberale. Die eine Position ließe sich
vielleicht so umreißen: Auf die »antifaschistische Tradition« kann dieses Land
nicht verzichten ? und ein Land wie Kroatien schon gar nicht. (Gemeint ist
damit der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, gegen die italienischen
Faschisten, gegen die Ustashe ? nicht, was die Kommunisten dann daraus gemacht
haben.) Warum rückt jetzt auf einmal das Tito-Regime in den Fokus der
historischen Erinnerung? Niemand bestreitet, dass die Verbrechen von 1945
systematisch erforscht werden müssen ? jedes einzelne der über ganz Jugoslawien
verstreuten tausend Massengräber. Aber man kann diese Untaten auch
ausschlachten, politisch instrumentalisieren ? zum Beispiel für die Verdrängung
und Verharmlosung der Bestialitäten in den Kriegen der Neunzigerjahre. Die
jüngsten Kriege sind von Serbien ausgegangen. Die serbische Gesellschaft ist
weit davon entfernt, diese Verantwortung anzuerkennen. Das ist das Problem ?
für uns als die Erben des moralischen Ruins unseres Landes, für uns als
Europäer serbischer Nation ? und nicht die dunklen Seiten der Tito-Zeit.
Die Gegenposition, die wir
dann freilich eher in Zagreb ausformuliert und durchfochten finden, kann man so
paraphrasieren: Die Aufarbeitung der Tito-Ära steht noch aus. Sie ist
überfällig. Kein Zweifel, der Nationalismus von 1990 ff. hat sich begierig auf
die Katastrophe von »Bleiburg« geworfen und erinnerungspolitisches Kapital aus
dem selbstverständlich nie vergessenen, aber unter Tito jahrzehntelang
tabuisierten Mord an Zehntausenden einfachen kroatischen und slowenischen
Soldaten und Zivilisten geschlagen. Aber das ist durchaus zweitrangig. Weil die
Rechte ein Thema besetzt hat, ist es darum noch kein rechtes Thema. Das
eigentliche Problem ist heute nicht die strategische Nutzung dieser und anderer
Verbrechen der Tito-Partisanen von rechts, sondern die Verklärung, mindestens
Beschönigung der Tito-Ära von links. Das Ärgernis, die Belastung, die
entscheidende Hypothek eines freien, vorurteilslosen Umgangs mit der
Zeitgeschichte ist diese anscheinend kritikresistente, forschungsimmune
Geschichtsklitterung, wie sie von der Mehrzahl der liberalen Intellektuellen
Kroatiens nach wie vor aufrechterhalten wird. Auch Stipe Mesic, das
Staatoberhaupt, der »Volkspräsident«, vergisst in Sachen
»Vergangenheitsbewältigung« gern sein Amt und strickt nach Kräften an dieser
Lüge mit. Kein rechtlich denkender Mensch wird die Entartungserscheinungen und
die Kriegsverbrechen der Tudjman-Ära vertuschen wollen. Die kroatische
Erinnerungskultur ? wie in ihrem speziellen Erfahrungskontext auch die
serbische ? wird sich beiden Epochen stellen müssen, nebeneinander, und endlich
zu lernen haben, sie nicht unentwegt gegeneinander auszuspielen.
Zu Titos Begräbnis in
Belgrad kamen vier Könige, 31 Staatspräsidenten, sechs Prinzen, 22 Ministerpräsidenten und 47 Außenminister aus
beiden Blöcken des Kalten Krieges und aus Ländern der Dritten Welt. ... Das war
ein Indiz dafür, wie sehr sich die Welt bewusst war, dass mit Titos Tod einer
der letzten großen Heerführer und zugleich ein verdienter Staatsmann der
Nachkriegszeit abgetreten war.« Diese Stilblüte politischer Publizistik findet
sich in dem Buch Die Geschichte Kroatiens 1918?2008 von Ivo Goldstein
(2009, zitiert nach: Phantom der Freiheit 1/09, Zagreb, Durieux Verlag).
Anders als die stumme
Ausstellung in Belgrad kennt und bemüht Ivo Goldstein (geb. 1958), Jude,
Mediävist an der Universität Zagreb, Autor eines weithin beachteten Buches über
den Holocaust in Zagreb (2001), das Wort »totalitär« durchaus. Aber es
bleibt ein Wort. Es bleibt isoliert. Gegen das goldsteinsche Gesamtbild der
politischen Verhältnisse unter Tito kommt es nicht an. Der Text darum herum
entleert, entschärft den Begriff: »Keinesfalls unbegründet sind die Thesen,
dass es in erster Linie Tito zu verdanken war, wenn das Blutvergießen zwischen
den Völkern auf dem Gebiet Jugoslawiens/Kroatiens im Zweiten Weltkrieg, wenn
schon nicht eingestellt, so doch zumindest deutlich eingedämmt wurde.
Allerdings bleibt die Frage offen, ob nach dem Krieg zwischen den
jugoslawischen Völkern ein höherer Grad an Vertrauen hergestellt wurde und
inwiefern dieses Vertrauen gegenüber neuen Prüfungen resistent war.« Wenig
überraschend bleiben die Verbrechen bei Kriegsende wieder unerwähnt.
Offenkundig gehören sie nicht zum Gesamtbild.
Mühsam gezügelte Apologetik,
Ausgewogenheit bis zur Zerfaserung der Aussage, selektive Willkür im Umgang mit
den Fakten. Aber lohnt es sich überhaupt, sich mit einem Geschichtsbild dieses
provinziellen Zuschnitts noch auseinanderzusetzen? Ich erlaube mir, dazu aus
der privaten Mail eines Freundes aus Zagreb zu zitieren: »Mein Eindruck ist
inzwischen, dass in Kroatien gar nicht die historischen Ereignisse selbst
Gegenstand der Aufmerksamkeit sein können, sondern allem voran die Bedingungen,
unter denen sie gegenwärtig thematisiert werden. Insbesondere die Existenz der
die Öffentlichkeit dominierenden Wächter, die ein einseitiges Geschichtsbild
aufrechterhalten wollen und dabei nicht vor Einschüchterung, Erpressung und
Diffamierung zurückschrecken.« Ivo Banac, Autor von The National Question,
drei Jahrzehnte lang Geschichtsprofessor in Yale, heute Professor an der
Universität von Zagreb und Präsident des Helsinki-Komitees in Zagreb, bekommt
einiges davon ab. Von distinguierter Seite bekommen wir gesagt, dass Ivo Banac
aus der Zeit gefallen sein müsse. Seine unvermittelte Fixierung auf
Tito-Jugoslawien sei nur »anachronistisch«, »sklerotisch« zu nennen. Das
Komitee erlebt in diesen Wochen einen regelrechten Exodus von Mitgliedern, die
den geschichtspolitischen Kurs ihres Vorsitzenden nicht mehr mittragen zu
können glauben. »Große ethische Säuberung« überschreibt der bekannte Lyriker
Boris Dezulovic geschmackvoll einen Artikel dazu im Wochenmagazin Globus
(22.5.09) Vom eigenen Wortspiel begeistert reitet der Text dann genüsslich die
Metapher von der Massenflucht der Serben aus der Krajina 1995 zu Tode. Im
Gespräch wischt Ivo Banac die peinliche Polemik dann beiseite ? das sei »ein
Nichts« in der zurzeit gegen ihn laufenden massiven Kampagne. Von außen
betrachtet ist die Treibjagd unverständlich. Für Banac war Tito, wie er uns bei
dem dennoch gelösten Mittagessen sagt, »alles, nämlich nacheinander der Lenin,
der Stalin, der Chruschtschow und zuletzt dann auch noch der Breschnew
Jugoslawiens«. Wir fragen uns, was man gegen diesen schlagenden Aphorismus denn
ernsthaft einwenden will. Es sei denn, man vermisse Gorbatschow in der
illustren Reihe und wolle aus Tito auch noch einen Reformer machen.
Woher kommt die Leidenschaftlichkeit,
die Wut, die Infamie? Es muss um existenzielle Fragen gehen. Dem Besucher
drängt sich auf, dass hier alle über politische Kontinuität nachdenken ?
genauer: darüber, wie die Kontinuität in Wahrheit verläuft; was sie wirklich
miteinander verbindet und was nicht. Die linken Liberalen in Belgrad scheinen
eine Kontinuität zwischen den Tschetniks des Zweiten Weltkriegs und dem
nationalistischen Sumpf von heute ausmachen zu wollen. Wolfgang Klotz ? in
seinem vom Streit umbrandeten Büro ? möchte ihnen entgegenhalten, dass die
reale Kontinuität viel eher zwischen den Kommunisten von gestern und dem
nationalistischen Sumpf von heute anzusetzen ist.
Auf die letztere These
trifft man auch in Zagreb. Und wenn man Freunde dort hat, die rückhaltlos mit
einem sprechen, kann man ihr hier in einer lebensgeschichtlich gesättigten,
aber auch gezeichneten Ausprägung begegnen. Die Kommunisten sind danach in
Kroatien immer an der Macht geblieben. Die viel beschworenen Zäsuren von 1990
oder 2000 sind nichtig. Die realen Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft
haben sie nicht unterbrochen, nicht einmal tangiert. Die Eliten von vorgestern
und gestern sind auch die von heute. Der Generationswechsel ist nur ein
biologischer. Die Verfügung über den Reichtum des Landes, der Zugang zu enormen
Privilegien auf Kosten aller anderen ist seit inzwischen mehr als einem halben
Jahrhundert immer bei derselben Oberschicht geblieben. Auch wenn sich dieses
verdüsterte Denkbild gelegentlich blitzartig von einem anderen konterkariert sieht,
in dem die Tudjman-Zeit als unvergleichlich weniger unterdrückerisch, weniger
erstickend erscheint als die langen Jahre des Sozialismus, so überwiegt doch
das alte Bedrohungsgefühl, die alte Angst vor den Mächtigen. Als Bürger mit
Rechten und Handlungschancen kann man sich nur schwer sehen.
Auch hinter dem kroatischen
»Historikerstreit« mag sich eine Art Kontinuitätsfrage verbergen. Wo liegen die
Wurzeln des neuen Staates von 1990? Man kann ihn in dem historischen Moment
entstehen lassen, in dem der titoistische Parteistaat ? nicht erst mit dem Tod
Titos ? in mehrere nationalistische Parteistaaten auseinanderdriftet, einer in
jeder Republik. Es wäre ein dunkler, fragwürdiger Ursprung. Sein eigentliches
Kennzeichen wäre der verschärfte, entfesselte Nationalismus einer Phase des
wirtschaftlichen Niedergangs (1980er-Jahre). In dieser Perspektive kann die
bessere Zeit, die »klassische« Phase der Tito-Ära, durchaus als eine lebendige
Vergangenheit erscheinen ? als eine historische Erfahrung, die der neue, demokratische,
aber von der Erbschaft eines aggressiven, die eigene Nation absolut setzenden
Nationalismus nachhaltig belastete Staat besser in Ehren halten und sogar als
ein wertvolles, unverzichtbares Korrektiv seiner selbst werten und würdigen
sollte.
Man kann dem unabhängigen
Kroatien aber auch eine ganz andere Vorgeschichte geben oder zuordnen. In
dieser Version ist der 1943 gegründete sozialistische Staat (wie alle anderen
sozialistischen Staaten Osteuropas) irgendwann nur noch als ein System der
künstlichen Abtrennung vom Westen, der destruktiven Selbstaussperrung aus dem
Westen wahrgenommen worden ? wann genau, wann speziell in Kroatien und von wem,
das heißt von welchen Segmenten der Gesellschaft, kann hier dahingestellt
bleiben. Hier kommt es nur darauf an, dass der Zerfall Jugoslawiens ? so viele
Menschen er auch das Leben gekostet, so viele weitere Menschen er auch
irreversibel ruiniert hat ? in dieser Sicht eine Variante von »1989« war. So
betrachtet, kann sich der heutige kroatische Staat vom sozialistischen
Jugoslawien nur scharf und unversöhnlich abgrenzen. Im Interesse seiner
demokratischen und rechtsstaatlichen Kultur muss er es sogar tun. (Vgl. dazu
auch: Dunja Melcic: »Rückblick auf den Krieg im Lichte neuerer
Veröffentlichungen und manche offenen Fragen«, in: dies. (Hrsg.): Der
Jugoslawien-Krieg, Wiesbaden, 2. Aufl. 2007)
Wer sich dem heutigen
Kroatien annähern möchte, muss über einen Bruch und über eine Wende nachdenken: den Bruch von 1990/1991 und die Wende von 2000. Die
Entscheidung des Landes für seine staatliche Unabhängigkeit zu verstehen,
heißt, sie in ihren geschichtlichen Kontext zu stellen. Kroatien in seiner
aktuellen politischen Realität wahrzunehmen, heißt, den Wandel nach Tudjman
anzuerkennen. Für Fragen dieses Schwierigkeitsgrads gibt es jetzt eine
Handreichung erster Güte: den monumentalen Doppelband der Literaturzeitschrift Phantom
der Freiheit (fantom slobode), den der Durieux Verlag in Zagreb auf
Deutsch zur Leipziger Buchmesse 2008 herausgebracht hat (1-2/08.) Das Seltene
daran ist, dass es keine literarische Anthologie ist (ungeachtet der
ungekürzten Aufnahme des Theaterstücks »Kroatischer Faust« von Slobodan
Snajder). Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung kroatischer Essays und
vergleichbarer Werke. Kroatische Essays bekommt der Interessierte hierzulande
sonst nie zu lesen. Ich wähle zwei Passagen aus, die mir besonders erhellend
erscheinen.
»Einen Teil dieser
internationalen Öffentlichkeit bildeten jene, die aus verschiedenen Gründen das
zweite, sozialistische Jugoslawien als das faktisch gelungene Beispiel des
?dritten Weges? und als eine eigenartige multikulturelle Idylle erlebt hatten.
Auf diese stürzten sich plötzlich zerstörerische, primitive Ethnonationalisten,
und zwar mit der Absicht, im Gegensatz zu der sich integrierenden und
globalisierenden Welt ihre klaustrophobischen Feudalbesitzungen nach Maßgabe
eigener krimineller Interessen zu errichten ... Den anderen Teil bildeten
diejenigen, die die Meinung vertraten, das zweite Jugoslawien sei per
definitionem eine hochexplosive Mischung, die nur durch die kommunistische
Diktatur zusammengehalten wird, sodass es nur allzu natürlich und unvermeidlich
war, dass, war sie einmal verschwunden, die über mehrere Generationen
tradierten Abneigungen mit aller Gewalt an die Oberfläche drängen. Deshalb sei
sie in den Kategorien der modernen westlichen politischen Theorie und des
wissenschaftlichen Diskurses weder zu bändigen noch zu begreifen.« Das ist ein
Zitat aus dem Text »Kroatien: zwischen Amnesie und Nostalgie« von Ivo Zanic
(geb. 1954), Politikprofessor in Zagreb, Autor des Buches Betrogene
Geschichte (Prevarena povijest,1998; englische Ausgabe unter dem
Titel Flag on the Mountain, 2007), Mitherausgeber (mit Branka Magas) von
The War in Croatia and Bosnia-Herzegovina 1991?1995 (2001). Zunächst
einmal sollte man sich vielleicht nur fragen, ob die Analyse sitzt ? ob der
Spiegel, der uns vorgehalten wird, scharf ist. Denn wenn die Analyse treffend
ist und das Spiegelbild unverzerrt, dann haben wir ein Problem. Dann sind wir
mit unserem Urteilsvermögen (und unserer Theoriebildung) Teil des Problems ?
nicht etwa nur jemand wie Peter Handke (für die Variante von der Idylle) oder
jemand wie Eric Hobsbawm (für die Variante von der Diktatur).
»Ex-Jugoslawiens Gegenwart
lässt sich ebenso wenig als eine Phase des Nachkriegs beschreiben wie als eine
Phase der Transition. Es ist in seiner Gründerepoche angekommen. Dunkle
Geschäfte, skrupellose Bereicherung, Ausplünderung von nationalen Ressourcen,
mafiose Systeme, Usurpation von öffentlichen Geldern und Staatsaufträgen,
Monopole und Kartelle, plötzliche Prachtentfaltung, Luxus, der Aufstieg aus dem
Nichts, Verachtung von menschlichen und sozialen Regeln, der überreiche Tycoon
und seine Familie einerseits und die arme, sozial heruntergekommene Masse
andererseits, das sind weder exklusive Bilder der Transition vom Kommunismus
zur Demokratie und freien Wirtschaft noch typische Balkanbilder. Das sind
Stereotypen der Gründerjahre aus Frankreich, England, Belgien oder Deutschland
des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Samt einer Literatur, von der sie
ausführlich beschrieben worden sind, etwa von Charles Dickens, Emile Zola,
Maxim Gorki oder Gerhart Hauptmann. ... Kein Grund also, auf den Balkan
herablassend zu schauen oder mit dem Kopf zu schütteln. 2006 sind die
Zivilgesellschaften auf dem Balkan so schwach wie in den dortigen
Gesellschaften der Wille dominant ist, sich nach dem Ebenbild des neoliberalen
Modells Europas umzubauen, neu zu gründen.« Das stammt von Nenad Popovic,
Verleger und Übersetzer in Zagreb (aus dem Text »Slobodan Milosevic ist tot«,
einer Rede von 2006 in Wien). Eine wüste Szenerie fürwahr ? aber keine, die
sich mit allzu viel »Kontinuität« in Verbindung bringen ließe. Wieder nur eine
erste Frage: Sollten wir vergessen haben, was wir kennen? Vergessen haben, was
wir sehen? Der Beitrag der »vierten Gewalt« zur Kontrolle der politischen und
ökonomischen Macht in den Balkanländern erscheint jedermann suspekt. Zu Recht,
es gibt, wie man uns auch unterwegs öfters bestätigt und anschaulich
illustriert, mehr Skandalgeschichten als gut recherchierte Hintergrundberichte.
Nur sind es zum guten Teil Investoren aus dem Westen, die die hiesige Medien-
und Presseindustrie kontrollieren. Wären sie nicht mitverantwortlich für den
eklatanten Mangel an Transparenz?
Bei einem Treffen in seinem
Verlag macht Nenad Popovic die kroatische Zivilgesellschaft dann aber stärker.
Er hat soeben einer Vollversammlung der in diesen Tagen gegen die
Studiengebühren streikenden Studenten an der Universität Zagreb beigewohnt und
zeigt sich beeindruckt von der unaufgeregten Sachlichkeit und dem souveränen
Prozedere der Debatte. Das sei augenscheinlich eine andere Generation, die
wisse, was ein demokratisches Verfahren, was eine demokratische Institution
ist. Eine unbelastetere Generation auch, die nicht mehr so viel zurückblicke
wie die Generationen der Eltern und Großeltern. Vielleicht hat den Verleger
auch ein anderer Punkt des Gesprächs erwärmt: die jungen Schriftsteller
Kroatiens, die er entdeckt hat, die er herausbringt, die er ins Deutsche
übersetzt. Es sei dies zwar eine »Wirklichkeitsliteratur«, aber nicht etwa eine
naturalistische. Zum Beispiel: Wenn es in diesen Texten immer wieder um den
schnellen Sex gehe, dann gehe es nicht um Sex. Auch in Kroatien habe sich
herumgesprochen, dass man damit niemand mehr schockieren könne. Es gehe um
Beziehungslosigkeit. Der Sex sei hier ein »Philosophem«, also, wenn wir Nenad
Popovic recht verstehen, eine Form, eine Sprache, eine Sprache der Trauer.
Auch wir suchen nach Erscheinungsformen
des Wandels in Kroatien. Die
Paradigmen von einer alles durchdringenden, alles herabziehenden Stagnation,
von einer wie immer herzuleitenden historischen Determiniertheit der aktuellen
Lage können uns nicht überzeugen. Nicht immer muss man nach dem Wandel suchen
und forschen. Im Mai ist Branimir Glavas von einem Gericht in Zagreb zu zehn
Jahren Haft verurteilt worden. Der Prozess hat anderthalb Jahre gedauert.
Glavas ist der erste rechtspopulistische Politiker Kroatiens überhaupt, der wegen
Kriegsverbrechen ins Gefängnis muss. Als ein prominentes Mitglied der HDZ
(Kroatische Demokratische Gemeinschaft), der Partei Tudjmans, war er lange
Jahre unantastbar. Aber auch nach seinem Ausschluss aus dieser Partei (2005)
konnte er weiter Politik machen. Er gründete eine neue Partei, die »Kroatische
Demokratische Vertretung von Slawonien-Baranja«, die bei den Parlamentswahlen
Ende 2007 auch gleich drei Mandate gewann ? eines davon erhielt er selbst. Die
Verbrechen hat Glavas während des Krieges zwischen Kroatien und serbischen
Verbänden Anfang der Neunzigerjahre verübt. Er war damals militärischer
Befehlshaber von Osijek ? seine politische Basis bis heute. Im Fall »Klebeband«
(selotejp) sah das Gericht seine Verantwortung ? die Verantwortung des lokalen
Diktators ? für die Misshandlung und Ermordung von acht serbischen Zivilisten
am Ufer der Drava als erwiesen an. Im Fall »Garage« befand man ihn für
mitschuldig an der Folterung und Ermordung von zwei weiteren serbischen
Zivilisten.
Ist die Strafe angemessen ?
für einen Mörder, der zehn Menschen auf dem Gewissen hat? War das Gericht mit
Blick auf die höhere Instanz übervorsichtig? Um die Verantwortung des Täters zu
gewichten, hat das Gericht zu Konstruktionen wie Nichteingreifen (bei
Folterung) oder »Beihilfe« zum Mord gegriffen ? strafrechtliche Instrumente,
die einen an die unrühmliche deutsche Rechtssprechung zu Nazi-Verbrechen
erinnern mögen. Zweifel dieser Art kann man gerade in Zagreb hören. Niemand,
den wir sprechen, stellt aber die Leistung des Gerichts in Abrede. Es ist die
Durchsetzung rechtsstaatlicher Normalität ? wenn sie in diesem Fall auch arg
verspätet kommt. Die Unabhängigkeit der Richter tritt umso eindrucksvoller
hervor, als das Parlament bei der Aberkennung der dem Parlamentarier garantierten
strafrechtlichen Immunität im Fall Glavas nicht die beste Figur gemacht hat.
Auch die öffentlichen Kommentare einiger Politiker spiegeln den Druck, dem das
Gericht ausgesetzt war. So hat der Parlamentspräsident sich nicht entblödet,
den Zeitpunkt des Urteils unmittelbar vor der kroatischen Kommunalwahl zu
kritisieren. Auch Ivo Sanader selbst, der Regierungschef, weiß sich nur etwas
eher Verdrucktes abzuringen:»Wir müssen alle vor Gericht bringen, die Kroatien
mit Dreck beworfen haben ? jene, die mit ihren Verbrechen den Heimatkrieg
(Domovinski rat, der Krieg 1991?1995) beschmutzt haben, ebenso wie jene, die
auf die gleiche Weise die antifaschistische Bewegung entwürdigt haben.« (Jutarnji
List, 23.5.09)
Neven Budak, Professor für
die Geschichte des Mittelalters an der Universität Zagreb, erinnert im Gespräch
an einen früheren Kriegsverbrecher-Prozess in Kroatien: 2003 hatte das
Landgericht von Rijeka unter anderen den kroatischen General Mirko Norac zu
einer Gefängnisstrafe von 12 Jahren verurteilt. Er war zusammen mit einigen
seiner Komplizen für schuldig befunden worden, im Oktober 1991 im Gebiet um
Gospic die Entführung und Exekution von mindestens 50 Zivilisten organisiert
und durchgeführt zu haben. Politisch betrachtet war dieses Urteil vielleicht sogar
der eigentliche Durchbruch, das eigentlich historische Ereignis im
Nachkriegsland Kroatien. Neven Budak scheint es jedenfalls so gewichten zu
wollen. Man müsse sich das politische Klima dieser Zeit vergegenwärtigen:
Hunderttausende Kroaten haben damals in Split und anderswo gegen die
Verurteilung eines »Kriegshelden« demonstriert. »Das ganze Land war
zuplakatiert.« Wie dem auch sei: In der inneren Geschichte Kroatiens, auf dem
Weg seiner Selbstdemokratisierung war das Urteil von Rijeka zweifellos ein Meilenstein.
In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009