Ernst Köhler


Wo die EU sich erweitert

Erscheinungsformen des Wandels ? ein Besuch in Belgrad und Zagreb


Widersprüchliche Eindrücke aus den beiden ehemaligen jugoslawischen Zentren hat unser Autor aufgenommen und deutet an: Europa wird es nicht leicht haben, die »balkanische Lücke« zu schließen. In Serbien bewegt sich wenig, seine führenden Politiker kreisen im provinziellen Nationalismus um sich selbst. Zieht dieses Kreisen auch die wenigen demokratischen Politiker hinein? In Kroatien liegen, auch wenn es viele Widerstände zu überwinden gilt, die Dinge anders. Verbrecherische Politiker können nicht mehr mit dem Schutz der Immunität vor mutigen Richtern rechnen. Und allmählich setzt allenthalben eine Geschichtsdebatte ein.

Das Helsinki-Komitee in Belgrad ist vor ein paar Monaten umgezogen: aus der Zmaj Jovina, einer Seitenstraße der Kneza Mihaila ? der Flaniermeile der Belgrader City, einer eleganten, den ganzen Tag menschendurchströmten Fußgängerzone ?, in eine abgelegene Straße am Rande des Kalemegdan-Parks. Keine Tafel draußen neben der Eingangstür des Hauses. Der Besucher weiß nicht einmal, wo er schellen soll. Nun ja, die neuen Räume seien größer, geeigneter für den Verlag; zudem seien sie billiger, sagt uns Sonja Biserko, die langjährige Präsidentin des Komitees. Aber sie leugnet nicht, dass dabei auch ein Bedürfnis nach Selbstschutz, nach mehr Distanz und Abschirmung mitgespielt hat. Der Druck sei zu groß geworden. Vor allem der Druck auf sie persönlich. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, spricht Frau Biserko von sich selbst ? einen Augenblick lang.
Das Bild, das sie uns dann von der gegenwärtigen serbischen Politik zeichnet, ist an sich nicht überraschend. Europa weiß, dass Serbien sich nicht bewegt ? auch wenn Brüssel unentwegt suggeriert und sich selbst einredet, Serbien bewege sich, und zwar in die richtige Richtung. Es bewegt sich nicht ? nicht in der Kosovo-Frage, nicht in der NATO-Frage. Und auch die offiziellen Erklärungen zur Ungreifbarkeit Mladics sind nach dem jahrelangen Versteckspiel Belgrads im Fall Karadzics nur schwer zu glauben. In den liberalen Kreisen Belgrads kursiert eine ironische Formel, die diesen verblendeten Immobilismus ganz gut auf den Punkt bringt: »Serbien muss auf jeden Fall nach Europa, aber Europa darf auf keinen Fall nach Serbien.« Es ist die besondere Konkretheit des bis zum Überdruss bekannten Bildes, für die man in dieses Büro kommen muss. Es ist die intime und schmerzliche Nahsicht auf Zustand und Charakter der politischen Eliten Serbiens. Fast möchte man von einer Innenansicht sprechen ? vernichtend aus Vertrautheit und altem Verständnis.
Anknüpfungspunkt diesmal: der eintägige Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Joseph Biden im Mai ? »der erste vergleichbar hochrangige Besuch aus den USA seit fast drei Jahrzehnten«, wie Biserko in einer Presseerklärung des Komitees schreibt. Er »hat die Unfähigkeit der politischen Klasse Serbiens enthüllt, die außenpolitische Orientierung des Landes und seine strategische Position auf der regionalen, europäischen und globalen Ebene klar zu definieren«. Für den wohlvernetzten rechten Populismus und seine lautstarke Boulevardpresse ist da einfach nur der »Prokonsul« gekommen: um Serbien in die NATO zu pressen ? und damit auch gleich in die Selbstdemütigung, in die Anerkennung der Bombardements von 1999 als legitim; um Serbien zur Anerkennung des unabhängigen Kosovo zu zwingen ? und damit auch gleich zur Aufgabe seiner nationalen Identität; um von Serbien die Disziplinierung von Milorad Dodik einzufordern, des Regierungschefs der Republika Srpska in Bosnien ? und damit auch gleich die Aufgabe jener besonderen Beziehungen zu den bosnischen Serben, wie sie in Dayton festgeschrieben worden sind.

Beim Wiederlesen des Textes frage ich mich, ob Sonja Biserko diesem peinlich selbstverliebten Gerede hier nicht zu viel Raum widmet. Doch es scheint nur die Billigausgabe eines Diskurses zu sein, der sich ? in anderer sprachlicher Form ? etwa auch in einer seriösen Zeitung wie Politika findet. Der Sermon der fensterlosen nationalistischen Selbstbezogenheit dominiert offenbar nach wie vor die veröffentlichte Meinung in Serbien ? ungeachtet einer Mehrheit in der Gesellschaft, die an der Wahlurne bereits deutlich genug gemacht hat, dass sie einen antieuropäischen Kurs nicht länger akzeptiert. Auch die maßgebliche Denkschule der serbischen Außenpolitik, wie sie sich zum Beispiel im »Forum für Nationale Strategie« organisiert, bleibt dieser abgehobenen, oberhalb der breiten Bevölkerung und ihrer Interessen um sich selbst kreisenden Denkungsart verhaftet. Sonja Biserko erwähnt Svetozar Stojanovic, so etwas wie das Sprachrohr dieser Gedankenwelt. Anscheinend glaubt er von Amerika entschiedenen Rückhalt etwa für den EU-Beitritt Serbiens erwarten zu dürfen ? eine große Unterstützung der serbischen Sache, wie er und seinesgleichen sie definieren, ohne Gegenleistung, ohne Konzession in einem der für unverzichtbar gehaltenen Eckpunkte serbischer Außenpolitik.

Es verhält es sich gerade andersherum ? in allen Punkten. Ohne Eintritt in die NATO wird Serbien seinen Staat im Staat kaum zerschlagen können ? also jenen bislang von keiner zivilen Instanz und Institution in seine Schranken verwiesenen Verbund bewaffneter Apparate und krimineller Unternehmen, denen auch Zoran Djindjic zum Opfer gefallen ist. Ohne Anerkennung des Kosovo verstellt sich Serbien selbst den Weg von einer imaginären oder surrogathaften Politik zu einer realistischen, interessengeleiteten. Ohne Verzicht auf ein unverantwortliches Spiel mit der strukturellen Misere Bosniens wird Serbien auch weiterhin der Unruhestifter der Region bleiben ? jedenfalls für die Region selbst. Es wird »das Herz aller Instabilität auf dem Balkan« bleiben, wie es ein Sprecher der Liberaldemokratischen Partei formuliert hat. Mag die EU unter der Führung von Solana und Rehn auch ihre Standards verwässern und in ihrer Uneinigkeit Serbien im Kosovo viel zu weit, gefährlich weit entgegenkommen ? die politische Aufgeschlossenheit und Verhandlungsbereitschaft der neuen amerikanischen Regierung dürfte kaum unerschöpflich sein. Ein kleines Warnzeichen dafür war schon, dass Biden bei seiner Stippvisite in Belgrad ausgerechnet für Vuk Jeremic keine Zeit zu haben schien: den Außenminister des gastgebenden Landes, Hans Dampf in allen Gassen der serbischen Kosovopolitik.

Cedomir Jovanovic, der Chef der Liberaldemokratischen Partei, empfängt uns in seinem Büro im Parlament, dessen Mitglied er ist. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr hat die Partei acht Prozent der Stimmen erhalten. Sie befindet sich in der Opposition ? zusammen mit einer Reihe nationalistischer Parteien, mit denen es keine gemeinsame Basis gibt. In Belgrad selbst toleriert Jovanovic die von der Demokratischen Partei geführte Koalition. Wie uns ein Kenner der Belgrader Verhältnisse erläutert, ist es genauer gesagt eine aktive Unterstützung aus der zweiten Linie heraus. Die Partei hat ihre Leute in wichtigen Positionen.

Als Journalist fühle ich mich hier befangen. Mich verbindet mit Cedomir Jovanovic unsere frühere Freundschaft zu Zoran Djindjic. Es war keine »gemeinsame« Freundschaft, versteht sich, es waren zwei ganz unterschiedlich gelagerte Freundschaften, dennoch knüpfen sie ein Band zwischen uns.

Die mutige Position Jovanovics in der Kosovofrage ist bekannt. Wir sind mit Krieg gekommen, und mit Krieg hat man uns auch wieder verjagt, hat er sinngemäß einmal in Novi Sad gesagt. Aber was er hier jetzt sagt, befremdet auch mich einigermaßen: »Ich war vor der Unabhängigkeit in Pristina. Sie müssen sich das so vorstellen: Hier sitze ich, links von mir sitzt Haradinaj, rechts Thaci (beides ehemalige Führer der UCK, E. K.). Ich sage ihnen: Das wird ein unabhängiger Staat sein. Es ist Ihr Staat, sagen Sie mir, wie Sie ihn entwickeln, modernisieren, demokratisieren wollen. Und die beiden neben mir fangen an zu zittern.« Sie haben ganz bestimmt nicht gezittert. Wer mit diesen albanischen Politikern einmal gesprochen hat, muss diese Geschichte albern finden. So sieht es auch eine Kollegin, eine Radio-Journalistin aus Köln, die mich in Belgrad begleitet. Sie hat einige Jahre im Kosovo gearbeitet. Was ist das ? »Präpotenz« etwa, wie man ihr hier nicht so selten begegnet? Die öffentlichen Auftritte Jovanovics seien regelmäßig als eine »Ein-Mann-Show« inszeniert, so später einer unserer Gewährsleute. Egozentrisch hat Cedomir Jovanovic auch bei früheren Begegnungen auf uns gewirkt, aber da war es die enorme Aufgabe, die Anspannung der Exponiertheit. In Serbien kann Zivilcourage bekanntlich lebensgefährlich sein.

»In den letzten Jahren basierte das starke Wachstum in Serbien vor allem auf ausländischen Investitionen, die nun immer stärker zurückgehen. Die einzige gute Nachricht der vergangenen Monate ist die Übernahme der Autofabriken Zastava in Kragujevac durch Fiat Ende 2008. Der erste in Serbien produzierte Punto wurde Ende März präsentiert. Doch der italienische Konzern hat bereits angekündigt, auf weitere Investitionen in Höhe von umgerechnet über 300 Millionen Franken zu verzichten. Seit Anfang des Jahres werden immer mehr Investitionen annulliert oder hinausgeschoben, während Serbien im gleichen Zeitraum 31.000 neue offizielle Arbeitslose verzeichnete.« (Jean-Arnault Dérens, Wochenzeitung, 23.4.09) Wir fragen nach der Antwort der Liberaldemokratischen Partei auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Im Kopf haben wir dabei das Bild von einer wirtschaftsliberalen, gesellschaftspolitisch am ehesten unserer FDP nahe stehenden Partei, die sich ? wie auch schon die Demokratische Partei unter dem späten Zoran Djindjic ? in erster Linie an jüngere, besser qualifizierte, städtische Wähler wendet.

Jovanovic geht nicht direkt auf unsere Frage ein. Stattdessen spricht er gleich von einer Partei, in der »alles anders werden muss«. Man habe die verheerende Politik der Regierung unter Vojislav Kostunica bekämpft. Das habe man als die vorrangige Aufgabe betrachtet. Inzwischen sei Kostunica in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Die alte Frontstellung habe sich erledigt. Die alte Politik der Negation sei überholt, sie sei gegenstandslos geworden, und in dieser Situation stehe die Partei ohne Politik da ? ohne klaren Entwurf für die Zukunft Serbiens. Es ist eine erstaunliche Offenheit. In diesem Moment ist Cedomir Jovanovic für mich wieder der alte. Der Ernst, der ihn in meinen Augen ausgezeichnet hatte, ist wieder da. Er setzt wieder bei der politischen Klasse an ? bei dem Angebot, das sie der Gesellschaft schuldig ist und schuldig bleibt. Er setzt bei sich selbst an. Er spricht über die eigene Partei fast mit den gleichen Worten, wie wir sie im privaten Rahmen dann auch von einem unabhängigen Kopf, einem jungen Naturwissenschaftler, zu hören bekommen.

Wer ist Cedomir Jovanovic heute? In unseren Gesprächen gewinnen wir den Eindruck, dass er in der Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit verloren hat. Frühere politische Freunde, Bewunderer, Sponsoren, die sich enttäuscht von ihm abzuwenden beginnen (Sonja Biserko gehört übrigens nicht zu ihnen, aber etwa Zarko Korac, Psychologieprofessor in Belgrad und unter Zoran Djindjic Stellvertretender Ministerpräsident), halten sich aber öffentlich noch zurück. Man verweist uns auf die Handhabung der Kandidatenlisten durch den Parteichef. Sie sei so autokratisch wie in anderen Parteien auch. Der Parteiführer setze etwa eine angesehene Persönlichkeit an die Spitze der Liste, nur um sie nach den Wahlen in der Versenkung verschwinden zu lassen und durch einen namenlosen Gefolgsmann zu ersetzen. Gelegentlich klingt die Kritik aber auch voreingenommen ? so wenn jemand, dem Jovanovic vor ein paar Jahren noch zu rigoros, zu »draufgängerisch«, zu »moralistisch« war, jetzt zu bedauern scheint, dass er sich »langsam in das Establishment hineinziehen« lasse. Was er auch macht, er macht es falsch. Oder die Kritik ist so maßlos und apodiktisch, dass man sie nur als Ausdruck der Entpolitisierung begreifen kann. Wie die eines Belgrader Historikers (etwa 40): Er hat einmal zu den Dissidenten der Demokratischen Partei gehört, aus denen die Liberaldemokratische Partei hervorgegangen ist. Heute schlägt er Jovanovic schlichtweg der »Mafia« zu. Daneben ließe sich eine Wertung aus hiesigen OSZE-Kreisen halten: »Er führt eben kein einfaches Leben. Und steht öffentlich zu seiner teuren Wohnung im Belgrader Villenviertel Dedinje. Er könne sie aus eigenen Mitteln bezahlen. Aber man glaubt es ihm nicht. Man unterstellt ihm, dass er sich die Wohnung und überhaupt seinen Luxus von irgendjemand anderem finanzieren lässt. Wenn ich als Politiker wüsste, dass ein solcher Schatten auf mir liegt ? seit jeher übrigens ?, würde ich mich doch in meinem Lebensstil zurückhalten.« Im Zug zurück nach Zagreb lerne ich dann einen jungen Offizier der Belgrader Militärpolizei (etwa 30) kennen. Er fährt zum Wochenende nach Hause. In Sid, Vojvodina, steigt er aus. Für ihn jedenfalls ist Jovanovic »eine politische Figur der Zukunft«. Er sagt es ohne Zögern.

Es gibt ein Thema, das den Reisenden nicht verlässt. Es begleitet ihn von Zagreb nach Belgrad und wieder zurück. In beiden Städten, in beiden Ländern ist es aktuell, ist es ein öffentliches Streitthema von offenbar zunehmender Virulenz: Tito und sein Regime. Ausgerechnet Tito! Für den Ankömmling ist es eine Überraschung, eine Irritation. Man versteht zunächst nicht. In Belgrad kriegen wir gerade noch die Tito-Ausstellung im Musej »25 maj« in Dedinje mit. Wie uns der Assistent des Museumsdirektors darlegt, ist die Ausstellung dem »Charisma« des Herrschers gewidmet. Aus dem inzwischen gewonnenen zeitlichen Abstand heraus versuche man, sich ein historisches Bild des Staatsmannes und seiner Ära zu erarbeiten. Das sei auch das Anliegen dieser Ausstellung. 30.000 Besucher hätten sie sich angesehen ? Menschen aus der Provinz, aus den Nachbarländern, aus aller Welt, aus Belgrad selbst auffallend die wenigsten. Ich kann mich nicht entschließen, die zahllosen kleinen, selbst gefertigten Gegenstände anzuschauen, die das Volk Tito im Laufe der Jahre geschenkt hat. Ich kann mich nicht von den Videos lösen. Die Begeisterung, die Verehrung, die Liebe in den Augen aller dieser jungen Menschen ist nicht gespielt. Was man hier sieht, ist nicht das Ergebnis von obrigkeitlicher Dressur, sondern von »totaler Herrschaft«, um mit Hannah Arendt zu sprechen. Diese Filmausschnitte bezeugen, was totalitär bedeutet: Die Macht ist so groß, dass die Liebe echt ist. Der webersche Begriff »Charisma« kommt mir hier wie eine Klamotte vor ? Soziologie von vorgestern. Wie will man mit einem solchen Rüstzeug an die Realität des Tito-Regimes herankommen?

Tito ist das jedenfalls nicht. Die in der Ausstellung vorgeschlagene historiographische Sachlichkeit ist nicht sachlich. Die Dokumente und Überreste bleiben unkommentiert. Der Führerkult sieht sich als Kommunikationsgenie weichgespült. Der Stalinismus fehlt ? etwa der oft unterschlagene nach dem Bruch mit Stalin von 1948. Der Einparteienstaat fehlt. Die Unterdrückung aller genuin demokratischen Ansätze fehlt. Der Polizeistaat fehlt. Die Massenmorde von 1945 fehlen. Es fehlt alles.

So bleibt auch die Auseinandersetzung über den Zweiten Weltkrieg und die anschließende Epoche des jugoslawischen Sozialismus außen vor, wie sie die Belgrader Intelligenz gegenwärtig entzweit. Im Belgrader Büro der Heinrich-Böll-Stiftung stößt man uns auf die neue, unerwartete Frontbildung. Wolfgang Klotz aus Frankfurt am Main, der das Büro seit Kurzem leitet, ist über die Feindseligkeit des Disputs geradezu besorgt. Er fürchtet mit seinen öffentlichen Diskussionsangeboten, in dieser vergifteten Atmosphäre zerrieben zu werden.

Ausgewiesene, integre Liberale stehen da gegen ausgewiesene, integre Liberale. Die eine Position ließe sich vielleicht so umreißen: Auf die »antifaschistische Tradition« kann dieses Land nicht verzichten ? und ein Land wie Kroatien schon gar nicht. (Gemeint ist damit der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, gegen die italienischen Faschisten, gegen die Ustashe ? nicht, was die Kommunisten dann daraus gemacht haben.) Warum rückt jetzt auf einmal das Tito-Regime in den Fokus der historischen Erinnerung? Niemand bestreitet, dass die Verbrechen von 1945 systematisch erforscht werden müssen ? jedes einzelne der über ganz Jugoslawien verstreuten tausend Massengräber. Aber man kann diese Untaten auch ausschlachten, politisch instrumentalisieren ? zum Beispiel für die Verdrängung und Verharmlosung der Bestialitäten in den Kriegen der Neunzigerjahre. Die jüngsten Kriege sind von Serbien ausgegangen. Die serbische Gesellschaft ist weit davon entfernt, diese Verantwortung anzuerkennen. Das ist das Problem ? für uns als die Erben des moralischen Ruins unseres Landes, für uns als Europäer serbischer Nation ? und nicht die dunklen Seiten der Tito-Zeit.

Die Gegenposition, die wir dann freilich eher in Zagreb ausformuliert und durchfochten finden, kann man so paraphrasieren: Die Aufarbeitung der Tito-Ära steht noch aus. Sie ist überfällig. Kein Zweifel, der Nationalismus von 1990 ff. hat sich begierig auf die Katastrophe von »Bleiburg« geworfen und erinnerungspolitisches Kapital aus dem selbstverständlich nie vergessenen, aber unter Tito jahrzehntelang tabuisierten Mord an Zehntausenden einfachen kroatischen und slowenischen Soldaten und Zivilisten geschlagen. Aber das ist durchaus zweitrangig. Weil die Rechte ein Thema besetzt hat, ist es darum noch kein rechtes Thema. Das eigentliche Problem ist heute nicht die strategische Nutzung dieser und anderer Verbrechen der Tito-Partisanen von rechts, sondern die Verklärung, mindestens Beschönigung der Tito-Ära von links. Das Ärgernis, die Belastung, die entscheidende Hypothek eines freien, vorurteilslosen Umgangs mit der Zeitgeschichte ist diese anscheinend kritikresistente, forschungsimmune Geschichtsklitterung, wie sie von der Mehrzahl der liberalen Intellektuellen Kroatiens nach wie vor aufrechterhalten wird. Auch Stipe Mesic, das Staatoberhaupt, der »Volkspräsident«, vergisst in Sachen »Vergangenheitsbewältigung« gern sein Amt und strickt nach Kräften an dieser Lüge mit. Kein rechtlich denkender Mensch wird die Entartungserscheinungen und die Kriegsverbrechen der Tudjman-Ära vertuschen wollen. Die kroatische Erinnerungskultur ? wie in ihrem speziellen Erfahrungskontext auch die serbische ? wird sich beiden Epochen stellen müssen, nebeneinander, und endlich zu lernen haben, sie nicht unentwegt gegeneinander auszuspielen.

Zu Titos Begräbnis in Belgrad kamen vier Könige, 31 Staatspräsidenten, sechs Prinzen, 22 Ministerpräsidenten und 47 Außenminister aus beiden Blöcken des Kalten Krieges und aus Ländern der Dritten Welt. ... Das war ein Indiz dafür, wie sehr sich die Welt bewusst war, dass mit Titos Tod einer der letzten großen Heerführer und zugleich ein verdienter Staatsmann der Nachkriegszeit abgetreten war.« Diese Stilblüte politischer Publizistik findet sich in dem Buch Die Geschichte Kroatiens 1918?2008 von Ivo Goldstein (2009, zitiert nach: Phantom der Freiheit 1/09, Zagreb, Durieux Verlag).

Anders als die stumme Ausstellung in Belgrad kennt und bemüht Ivo Goldstein (geb. 1958), Jude, Mediävist an der Universität Zagreb, Autor eines weithin beachteten Buches über den Holocaust in Zagreb (2001), das Wort »totalitär« durchaus. Aber es bleibt ein Wort. Es bleibt isoliert. Gegen das goldsteinsche Gesamtbild der politischen Verhältnisse unter Tito kommt es nicht an. Der Text darum herum entleert, entschärft den Begriff: »Keinesfalls unbegründet sind die Thesen, dass es in erster Linie Tito zu verdanken war, wenn das Blutvergießen zwischen den Völkern auf dem Gebiet Jugoslawiens/Kroatiens im Zweiten Weltkrieg, wenn schon nicht eingestellt, so doch zumindest deutlich eingedämmt wurde. Allerdings bleibt die Frage offen, ob nach dem Krieg zwischen den jugoslawischen Völkern ein höherer Grad an Vertrauen hergestellt wurde und inwiefern dieses Vertrauen gegenüber neuen Prüfungen resistent war.« Wenig überraschend bleiben die Verbrechen bei Kriegsende wieder unerwähnt. Offenkundig gehören sie nicht zum Gesamtbild.

Mühsam gezügelte Apologetik, Ausgewogenheit bis zur Zerfaserung der Aussage, selektive Willkür im Umgang mit den Fakten. Aber lohnt es sich überhaupt, sich mit einem Geschichtsbild dieses provinziellen Zuschnitts noch auseinanderzusetzen? Ich erlaube mir, dazu aus der privaten Mail eines Freundes aus Zagreb zu zitieren: »Mein Eindruck ist inzwischen, dass in Kroatien gar nicht die historischen Ereignisse selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit sein können, sondern allem voran die Bedingungen, unter denen sie gegenwärtig thematisiert werden. Insbesondere die Existenz der die Öffentlichkeit dominierenden Wächter, die ein einseitiges Geschichtsbild aufrechterhalten wollen und dabei nicht vor Einschüchterung, Erpressung und Diffamierung zurückschrecken.« Ivo Banac, Autor von The National Question, drei Jahrzehnte lang Geschichtsprofessor in Yale, heute Professor an der Universität von Zagreb und Präsident des Helsinki-Komitees in Zagreb, bekommt einiges davon ab. Von distinguierter Seite bekommen wir gesagt, dass Ivo Banac aus der Zeit gefallen sein müsse. Seine unvermittelte Fixierung auf Tito-Jugoslawien sei nur »anachronistisch«, »sklerotisch« zu nennen. Das Komitee erlebt in diesen Wochen einen regelrechten Exodus von Mitgliedern, die den geschichtspolitischen Kurs ihres Vorsitzenden nicht mehr mittragen zu können glauben. »Große ethische Säuberung« überschreibt der bekannte Lyriker Boris Dezulovic geschmackvoll einen Artikel dazu im Wochenmagazin Globus (22.5.09) Vom eigenen Wortspiel begeistert reitet der Text dann genüsslich die Metapher von der Massenflucht der Serben aus der Krajina 1995 zu Tode. Im Gespräch wischt Ivo Banac die peinliche Polemik dann beiseite ? das sei »ein Nichts« in der zurzeit gegen ihn laufenden massiven Kampagne. Von außen betrachtet ist die Treibjagd unverständlich. Für Banac war Tito, wie er uns bei dem dennoch gelösten Mittagessen sagt, »alles, nämlich nacheinander der Lenin, der Stalin, der Chruschtschow und zuletzt dann auch noch der Breschnew Jugoslawiens«. Wir fragen uns, was man gegen diesen schlagenden Aphorismus denn ernsthaft einwenden will. Es sei denn, man vermisse Gorbatschow in der illustren Reihe und wolle aus Tito auch noch einen Reformer machen.

Woher kommt die Leidenschaftlichkeit, die Wut, die Infamie? Es muss um existenzielle Fragen gehen. Dem Besucher drängt sich auf, dass hier alle über politische Kontinuität nachdenken ? genauer: darüber, wie die Kontinuität in Wahrheit verläuft; was sie wirklich miteinander verbindet und was nicht. Die linken Liberalen in Belgrad scheinen eine Kontinuität zwischen den Tschetniks des Zweiten Weltkriegs und dem nationalistischen Sumpf von heute ausmachen zu wollen. Wolfgang Klotz ? in seinem vom Streit umbrandeten Büro ? möchte ihnen entgegenhalten, dass die reale Kontinuität viel eher zwischen den Kommunisten von gestern und dem nationalistischen Sumpf von heute anzusetzen ist.

Auf die letztere These trifft man auch in Zagreb. Und wenn man Freunde dort hat, die rückhaltlos mit einem sprechen, kann man ihr hier in einer lebensgeschichtlich gesättigten, aber auch gezeichneten Ausprägung begegnen. Die Kommunisten sind danach in Kroatien immer an der Macht geblieben. Die viel beschworenen Zäsuren von 1990 oder 2000 sind nichtig. Die realen Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft haben sie nicht unterbrochen, nicht einmal tangiert. Die Eliten von vorgestern und gestern sind auch die von heute. Der Generationswechsel ist nur ein biologischer. Die Verfügung über den Reichtum des Landes, der Zugang zu enormen Privilegien auf Kosten aller anderen ist seit inzwischen mehr als einem halben Jahrhundert immer bei derselben Oberschicht geblieben. Auch wenn sich dieses verdüsterte Denkbild gelegentlich blitzartig von einem anderen konterkariert sieht, in dem die Tudjman-Zeit als unvergleichlich weniger unterdrückerisch, weniger erstickend erscheint als die langen Jahre des Sozialismus, so überwiegt doch das alte Bedrohungsgefühl, die alte Angst vor den Mächtigen. Als Bürger mit Rechten und Handlungschancen kann man sich nur schwer sehen.

Auch hinter dem kroatischen »Historikerstreit« mag sich eine Art Kontinuitätsfrage verbergen. Wo liegen die Wurzeln des neuen Staates von 1990? Man kann ihn in dem historischen Moment entstehen lassen, in dem der titoistische Parteistaat ? nicht erst mit dem Tod Titos ? in mehrere nationalistische Parteistaaten auseinanderdriftet, einer in jeder Republik. Es wäre ein dunkler, fragwürdiger Ursprung. Sein eigentliches Kennzeichen wäre der verschärfte, entfesselte Nationalismus einer Phase des wirtschaftlichen Niedergangs (1980er-Jahre). In dieser Perspektive kann die bessere Zeit, die »klassische« Phase der Tito-Ära, durchaus als eine lebendige Vergangenheit erscheinen ? als eine historische Erfahrung, die der neue, demokratische, aber von der Erbschaft eines aggressiven, die eigene Nation absolut setzenden Nationalismus nachhaltig belastete Staat besser in Ehren halten und sogar als ein wertvolles, unverzichtbares Korrektiv seiner selbst werten und würdigen sollte.

Man kann dem unabhängigen Kroatien aber auch eine ganz andere Vorgeschichte geben oder zuordnen. In dieser Version ist der 1943 gegründete sozialistische Staat (wie alle anderen sozialistischen Staaten Osteuropas) irgendwann nur noch als ein System der künstlichen Abtrennung vom Westen, der destruktiven Selbstaussperrung aus dem Westen wahrgenommen worden ? wann genau, wann speziell in Kroatien und von wem, das heißt von welchen Segmenten der Gesellschaft, kann hier dahingestellt bleiben. Hier kommt es nur darauf an, dass der Zerfall Jugoslawiens ? so viele Menschen er auch das Leben gekostet, so viele weitere Menschen er auch irreversibel ruiniert hat ? in dieser Sicht eine Variante von »1989« war. So betrachtet, kann sich der heutige kroatische Staat vom sozialistischen Jugoslawien nur scharf und unversöhnlich abgrenzen. Im Interesse seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Kultur muss er es sogar tun. (Vgl. dazu auch: Dunja Melcic: »Rückblick auf den Krieg im Lichte neuerer Veröffentlichungen und manche offenen Fragen«, in: dies. (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg, Wiesbaden, 2. Aufl. 2007)

Wer sich dem heutigen Kroatien annähern möchte, muss über einen Bruch und über eine Wende nachdenken: den Bruch von 1990/1991 und die Wende von 2000. Die Entscheidung des Landes für seine staatliche Unabhängigkeit zu verstehen, heißt, sie in ihren geschichtlichen Kontext zu stellen. Kroatien in seiner aktuellen politischen Realität wahrzunehmen, heißt, den Wandel nach Tudjman anzuerkennen. Für Fragen dieses Schwierigkeitsgrads gibt es jetzt eine Handreichung erster Güte: den monumentalen Doppelband der Literaturzeitschrift Phantom der Freiheit (fantom slobode), den der Durieux Verlag in Zagreb auf Deutsch zur Leipziger Buchmesse 2008 herausgebracht hat (1-2/08.) Das Seltene daran ist, dass es keine literarische Anthologie ist (ungeachtet der ungekürzten Aufnahme des Theaterstücks »Kroatischer Faust« von Slobodan Snajder). Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung kroatischer Essays und vergleichbarer Werke. Kroatische Essays bekommt der Interessierte hierzulande sonst nie zu lesen. Ich wähle zwei Passagen aus, die mir besonders erhellend erscheinen.

»Einen Teil dieser internationalen Öffentlichkeit bildeten jene, die aus verschiedenen Gründen das zweite, sozialistische Jugoslawien als das faktisch gelungene Beispiel des ?dritten Weges? und als eine eigenartige multikulturelle Idylle erlebt hatten. Auf diese stürzten sich plötzlich zerstörerische, primitive Ethnonationalisten, und zwar mit der Absicht, im Gegensatz zu der sich integrierenden und globalisierenden Welt ihre klaustrophobischen Feudalbesitzungen nach Maßgabe eigener krimineller Interessen zu errichten ... Den anderen Teil bildeten diejenigen, die die Meinung vertraten, das zweite Jugoslawien sei per definitionem eine hochexplosive Mischung, die nur durch die kommunistische Diktatur zusammengehalten wird, sodass es nur allzu natürlich und unvermeidlich war, dass, war sie einmal verschwunden, die über mehrere Generationen tradierten Abneigungen mit aller Gewalt an die Oberfläche drängen. Deshalb sei sie in den Kategorien der modernen westlichen politischen Theorie und des wissenschaftlichen Diskurses weder zu bändigen noch zu begreifen.« Das ist ein Zitat aus dem Text »Kroatien: zwischen Amnesie und Nostalgie« von Ivo Zanic (geb. 1954), Politikprofessor in Zagreb, Autor des Buches Betrogene Geschichte (Prevarena povijest,1998; englische Ausgabe unter dem Titel Flag on the Mountain, 2007), Mitherausgeber (mit Branka Magas) von The War in Croatia and Bosnia-Herzegovina 1991?1995 (2001). Zunächst einmal sollte man sich vielleicht nur fragen, ob die Analyse sitzt ? ob der Spiegel, der uns vorgehalten wird, scharf ist. Denn wenn die Analyse treffend ist und das Spiegelbild unverzerrt, dann haben wir ein Problem. Dann sind wir mit unserem Urteilsvermögen (und unserer Theoriebildung) Teil des Problems ? nicht etwa nur jemand wie Peter Handke (für die Variante von der Idylle) oder jemand wie Eric Hobsbawm (für die Variante von der Diktatur).

»Ex-Jugoslawiens Gegenwart lässt sich ebenso wenig als eine Phase des Nachkriegs beschreiben wie als eine Phase der Transition. Es ist in seiner Gründerepoche angekommen. Dunkle Geschäfte, skrupellose Bereicherung, Ausplünderung von nationalen Ressourcen, mafiose Systeme, Usurpation von öffentlichen Geldern und Staatsaufträgen, Monopole und Kartelle, plötzliche Prachtentfaltung, Luxus, der Aufstieg aus dem Nichts, Verachtung von menschlichen und sozialen Regeln, der überreiche Tycoon und seine Familie einerseits und die arme, sozial heruntergekommene Masse andererseits, das sind weder exklusive Bilder der Transition vom Kommunismus zur Demokratie und freien Wirtschaft noch typische Balkanbilder. Das sind Stereotypen der Gründerjahre aus Frankreich, England, Belgien oder Deutschland des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Samt einer Literatur, von der sie ausführlich beschrieben worden sind, etwa von Charles Dickens, Emile Zola, Maxim Gorki oder Gerhart Hauptmann. ... Kein Grund also, auf den Balkan herablassend zu schauen oder mit dem Kopf zu schütteln. 2006 sind die Zivilgesellschaften auf dem Balkan so schwach wie in den dortigen Gesellschaften der Wille dominant ist, sich nach dem Ebenbild des neoliberalen Modells Europas umzubauen, neu zu gründen.« Das stammt von Nenad Popovic, Verleger und Übersetzer in Zagreb (aus dem Text »Slobodan Milosevic ist tot«, einer Rede von 2006 in Wien). Eine wüste Szenerie fürwahr ? aber keine, die sich mit allzu viel »Kontinuität« in Verbindung bringen ließe. Wieder nur eine erste Frage: Sollten wir vergessen haben, was wir kennen? Vergessen haben, was wir sehen? Der Beitrag der »vierten Gewalt« zur Kontrolle der politischen und ökonomischen Macht in den Balkanländern erscheint jedermann suspekt. Zu Recht, es gibt, wie man uns auch unterwegs öfters bestätigt und anschaulich illustriert, mehr Skandalgeschichten als gut recherchierte Hintergrundberichte. Nur sind es zum guten Teil Investoren aus dem Westen, die die hiesige Medien- und Presseindustrie kontrollieren. Wären sie nicht mitverantwortlich für den eklatanten Mangel an Transparenz?

Bei einem Treffen in seinem Verlag macht Nenad Popovic die kroatische Zivilgesellschaft dann aber stärker. Er hat soeben einer Vollversammlung der in diesen Tagen gegen die Studiengebühren streikenden Studenten an der Universität Zagreb beigewohnt und zeigt sich beeindruckt von der unaufgeregten Sachlichkeit und dem souveränen Prozedere der Debatte. Das sei augenscheinlich eine andere Generation, die wisse, was ein demokratisches Verfahren, was eine demokratische Institution ist. Eine unbelastetere Generation auch, die nicht mehr so viel zurückblicke wie die Generationen der Eltern und Großeltern. Vielleicht hat den Verleger auch ein anderer Punkt des Gesprächs erwärmt: die jungen Schriftsteller Kroatiens, die er entdeckt hat, die er herausbringt, die er ins Deutsche übersetzt. Es sei dies zwar eine »Wirklichkeitsliteratur«, aber nicht etwa eine naturalistische. Zum Beispiel: Wenn es in diesen Texten immer wieder um den schnellen Sex gehe, dann gehe es nicht um Sex. Auch in Kroatien habe sich herumgesprochen, dass man damit niemand mehr schockieren könne. Es gehe um Beziehungslosigkeit. Der Sex sei hier ein »Philosophem«, also, wenn wir Nenad Popovic recht verstehen, eine Form, eine Sprache, eine Sprache der Trauer.

Auch wir suchen nach Erscheinungsformen des Wandels in Kroatien. Die Paradigmen von einer alles durchdringenden, alles herabziehenden Stagnation, von einer wie immer herzuleitenden historischen Determiniertheit der aktuellen Lage können uns nicht überzeugen. Nicht immer muss man nach dem Wandel suchen und forschen. Im Mai ist Branimir Glavas von einem Gericht in Zagreb zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Der Prozess hat anderthalb Jahre gedauert. Glavas ist der erste rechtspopulistische Politiker Kroatiens überhaupt, der wegen Kriegsverbrechen ins Gefängnis muss. Als ein prominentes Mitglied der HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft), der Partei Tudjmans, war er lange Jahre unantastbar. Aber auch nach seinem Ausschluss aus dieser Partei (2005) konnte er weiter Politik machen. Er gründete eine neue Partei, die »Kroatische Demokratische Vertretung von Slawonien-Baranja«, die bei den Parlamentswahlen Ende 2007 auch gleich drei Mandate gewann ? eines davon erhielt er selbst. Die Verbrechen hat Glavas während des Krieges zwischen Kroatien und serbischen Verbänden Anfang der Neunzigerjahre verübt. Er war damals militärischer Befehlshaber von Osijek ? seine politische Basis bis heute. Im Fall »Klebeband« (selotejp) sah das Gericht seine Verantwortung ? die Verantwortung des lokalen Diktators ? für die Misshandlung und Ermordung von acht serbischen Zivilisten am Ufer der Drava als erwiesen an. Im Fall »Garage« befand man ihn für mitschuldig an der Folterung und Ermordung von zwei weiteren serbischen Zivilisten.

Ist die Strafe angemessen ? für einen Mörder, der zehn Menschen auf dem Gewissen hat? War das Gericht mit Blick auf die höhere Instanz übervorsichtig? Um die Verantwortung des Täters zu gewichten, hat das Gericht zu Konstruktionen wie Nichteingreifen (bei Folterung) oder »Beihilfe« zum Mord gegriffen ? strafrechtliche Instrumente, die einen an die unrühmliche deutsche Rechtssprechung zu Nazi-Verbrechen erinnern mögen. Zweifel dieser Art kann man gerade in Zagreb hören. Niemand, den wir sprechen, stellt aber die Leistung des Gerichts in Abrede. Es ist die Durchsetzung rechtsstaatlicher Normalität ? wenn sie in diesem Fall auch arg verspätet kommt. Die Unabhängigkeit der Richter tritt umso eindrucksvoller hervor, als das Parlament bei der Aberkennung der dem Parlamentarier garantierten strafrechtlichen Immunität im Fall Glavas nicht die beste Figur gemacht hat. Auch die öffentlichen Kommentare einiger Politiker spiegeln den Druck, dem das Gericht ausgesetzt war. So hat der Parlamentspräsident sich nicht entblödet, den Zeitpunkt des Urteils unmittelbar vor der kroatischen Kommunalwahl zu kritisieren. Auch Ivo Sanader selbst, der Regierungschef, weiß sich nur etwas eher Verdrucktes abzuringen:»Wir müssen alle vor Gericht bringen, die Kroatien mit Dreck beworfen haben ? jene, die mit ihren Verbrechen den Heimatkrieg (Domovinski rat, der Krieg 1991?1995) beschmutzt haben, ebenso wie jene, die auf die gleiche Weise die antifaschistische Bewegung entwürdigt haben.« (Jutarnji List, 23.5.09)

Neven Budak, Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Zagreb, erinnert im Gespräch an einen früheren Kriegsverbrecher-Prozess in Kroatien: 2003 hatte das Landgericht von Rijeka unter anderen den kroatischen General Mirko Norac zu einer Gefängnisstrafe von 12 Jahren verurteilt. Er war zusammen mit einigen seiner Komplizen für schuldig befunden worden, im Oktober 1991 im Gebiet um Gospic die Entführung und Exekution von mindestens 50 Zivilisten organisiert und durchgeführt zu haben. Politisch betrachtet war dieses Urteil vielleicht sogar der eigentliche Durchbruch, das eigentlich historische Ereignis im Nachkriegsland Kroatien. Neven Budak scheint es jedenfalls so gewichten zu wollen. Man müsse sich das politische Klima dieser Zeit vergegenwärtigen: Hunderttausende Kroaten haben damals in Split und anderswo gegen die Verurteilung eines »Kriegshelden« demonstriert. »Das ganze Land war zuplakatiert.« Wie dem auch sei: In der inneren Geschichte Kroatiens, auf dem Weg seiner Selbstdemokratisierung war das Urteil von Rijeka zweifellos ein Meilenstein.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009