Helmut Wiesenthal
Das »Soziale
Europa«
Zwischen Erwartungsinflation und Paradigmenstreit
Europa steckt nicht nur in einer tiefen Finanz- und
Wirtschaftskrise, sondern auch in einem Strukturwandel, der das Gesicht des
Kontinents in den nächsten zwanzig Jahren massiv verändern wird. Das ist der ?
oft verkannte ? Hintergrund für die Auseinandersetzung um eine europäische
Sozialpolitik. Ein zerklüftetes Europa mit sehr verschiedenen Modellen des
Sozialstaats, ein traditionell national-orientiertes Institutionengefüge, ein
Wust an unvereinbaren Sonderinteressen auf Wirtschafts- und Arbeitnehmerseite
und die Diskrepanzen zwischen alten und neuen Mitgliedsländern erschweren das
Bearbeiten des bereits eintretenden Paradigmenwechsels.
I.
Die Europawahl 2009 endete
mit einem paradoxen Ergebnis. Erinnert man sich der in vielen Mitgliedsländern
verbreiteten Unzufriedenheit mit dem EU-Verfassungsprozess und der verbreiteten
Enttäuschung über den Liberalisierungskurs der EU-Kommission, so wirkt das
schlechte Abschneiden der Sozialdemokratie recht befremdlich. Hatten doch die
Parteien des Mitte-links-Spektrums stets den Sinn der forcierten
Marktliberalisierung bezweifelt und gefordert, dass die EU beim Themenkomplex
soziale Sicherheit und Abbau sozialer Ungleichheit mehr Engagement zeigt. Und
es schien, als hätte die akute Wirtschaftskrise genau diesen Themen ein
größeres Maß an Aufmerksamkeit verschafft. Häufiger als je zuvor war von der
Notwendigkeit eines »sozialen Europas« und des Ausbaus der »Europäischen
Sozialpolitik« die Rede.
Ohne hier eine befriedigende
Erklärung für das unbefriedigende Abschneiden der europäischen Sozialdemokratie
bieten zu können, wird im Folgenden versucht, die sozialpolitische Rolle der EU
im Rückblick und mit Blick auf die in der nahen Zukunft liegenden
Herausforderungen zu skizzieren. Handelt es sich doch um ein von
Missverständnissen, interessenpolitischen Interpretationen und taktisch
platzierten Forderungen durchwachsenes Feld, in dem es nicht leichtfällt, zwischen
dem bunten Strauß von Wünschenswertem und dem schmalen Angebot realer Optionen
zu unterscheiden.
II.
Die Sozialpolitik wurde nur
allmählich und relativ spät zu einem der Themenschwerpunkte Europäischer
Politik. Die ersten Jahrzehnte nach dem Abschluss der Römischen Verträge galten
der Herstellung eines gemeinsamen Marktes und der Regulation von
Überkapazitäten bei Kohle, Stahl und in der Landwirtschaft. Wenn man so will,
standen von Anfang an Unternehmens- und Arbeitnehmerinteressen treulich auf ein
und derselben Seite, nämlich jener der Europa-Befürworter und Marktapologeten.
Beiden ging es um beides: mehr Wirtschaftswachstum bei geordnetem Abbau von
montan- beziehungsweise altindustriellen Arbeitsplätzen sowie um die Protektion
des Agrarsektors ? Ersteres zum Vorteil, Letzteres zum Nachteil der
Konsumenten.
Die sozialpolitische
Thematik war dabei dem Ziel der Herstellung und Vertiefung des gemeinsamen
Markts durch schrittweisen Abbau von Handelshemmnissen untergeordnet. Es
entstand zwar auch ein umfänglicher Katalog von positiven Regelungen zum
Arbeitsschutz, zur Chancengleichheit von Frauen und zur Eingliederung
benachteiligter Gruppen. Doch diente dieser in erster Linie der
Rechtsangleichung in den Mitgliedsländern als Voraussetzung gleicher Wettbewerbsbedingungen
im Europäischen Binnenmarkt. Er war Teil der »negativen Integration«.
Dieser Grundzug blieb der
EU-Sozialpolitik bis heute erhalten. Seiner Logik verdankt sich auch die 1989
verabschiedete »Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte«, die, obwohl
gerne als EU-Sozialcharta bezeichnet, zunächst nicht mehr als eine
unverbindliche Willenserklärung darstellte. Sie mündete immerhin in ein
Aktionsprogramm mit 47 Einzelzielen und hatte eine Palette von Richtlinien,
unter anderem zu Mutterschutz, Massenentlassungen, Arbeitsvermittlung,
Arbeitszeit, Jugendarbeitsschutz und Teilzeitarbeit, zur Folge.
1991 erfuhr die Sozialcharta
im »Sozialprotokoll« und dem dazugehörigen Abkommen von Maastricht eine gewisse
Aufwertung. Die Mitgliedstaaten wurden ausdrücklich ermächtigt, die Organe und
Verfahren der EU für eine gemeinsame Sozialpolitik zu nutzen.
Mehrheitsentscheidungen blieben auf die wettbewerbssensiblen Bereiche
Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer,
Chancengleichheit von Männern und Frauen sowie berufliche Eingliederung
beschränkt. Bei Themen, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit betreffen,
wie Kündigungsschutz und Mitbestimmung, blieb weiterhin Einstimmigkeit gefordert.
Für den Kernbereich des industriellen Konflikts ? Arbeitslohn, Koalitionsrecht
und Arbeitskampfrecht ? besteht ein ausdrücklicher Regelungsverzicht.
Die heute gängige Rede vom
»Europäischen Sozialmodell« setzte erst 1994 ein, als ein »Weißbuch über die
europäische Sozialpolitik« entstanden war. Genoss die wettbewerbsorientierte
sozialpolitische Standardisierung regelmäßig die Unterstützung der europäischen
Gewerkschaften, so brachte Amsterdam 1997 eine gravierende Veränderung. Jetzt
wurden die Gewerkschaften hellhörig und tendenziell zu Gegnern der faktischen
EU-Sozialpolitik. Ursache war die von der Kommission vorgenommene Ausweitung
des Regelungsanspruchs auf alle Arbeitnehmer, also über den Kreis der
Beschäftigten hinaus. Die Kommission wollte offensichtlich ein Stück
Verantwortung für die miserable Beschäftigungslage in einigen Mitgliedsländern
übernehmen. Damit gerieten ihr endlich auch die Themen der
Beschäftigungsförderung und der Arbeitsmarktinklusion sowie des Marktzutritts
von Arbeitsuchenden in den Fokus. Manifesten Ausdruck fand der Themenzuwachs in
einer »Europäischen Beschäftigungsstrategie«.
Die so erweiterte
Perspektive kehrt in der Charta der Grundrechte (Nizza 2000) und dem 2005
gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa wieder. Der
Vertragsentwurf enthält nicht nur die in Nizza beschlossene
Grundrechte-Charta,(1) sondern auch eine allgemeine »Sozialklausel«,
in der sich die Union verpflichtet, den Erfordernissen »eines hohen
Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes,
der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie ... einem hohen Niveau der
allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes« Rechnung zu
tragen (Art. III-117). In Artikel I-3 wird ausdrücklich »Vollbeschäftigung« als
Ziel der Union genannt.(2)
Indem sich die EU-Kommission
und der Europäische Rat (der Regierungschefs) dem beschäftigungspolitischen
Problemkreis zuwandten, begründeten sie einen Grundkonflikt über Ziele und
Aufgaben der europäischen Sozialpolitik. Widerpart der
beschäftigungsorientierten Initiativen sind ein Großteil der im Europaparlament
vertretenen Sozialisten, Sozialdemokraten und Grünen sowie der Europäische
Gewerkschaftsbund (ETUC) und die kontinental- und südeuropäischen
Gewerkschaften. Dem Konflikt liegt ein radikal unterschiedliches Verständnis
von der Situation an den europäischen Arbeitsmärkten und den Aufgaben
zukunftsgerichteter und »nachhaltiger« Sozialpolitik zugrunde. Während die
Kommission zunehmende Probleme zu sehen glaubt, die vor allem aus der rasch
steigenden Wettbewerbsfähigkeit der neuen Industriezentren dieser Welt
resultieren, befürchten insbesondere die Gewerkschaften, dass der Verlust der
privilegierten Wettbewerbsposition europäischer Unternehmen in einen Abbau der
bestehenden Beschäftigungsbedingungen und Sozialstandards münden werde. Es
fällt nicht schwer zu erkennen, dass beide Seiten gute Argumente für sich
reklamieren können. Und es trifft gleichfalls zu, dass die Position der einen
auf das Trefflichste mit den Interessen der Wirtschaft harmoniert, während die
andere Seite sich den Vorwurf gefallen lassen muss, die Interessen von
Arbeitslosen und Outsidern zu ignorieren.
Die Kommission hat sich mit
Blick auf die absehbaren Herausforderungen (und mit freundlicher Tolerierung
durch die wesentlich zurückhaltender agierenden nationalen Regierungen) zur
Propagierung eines Modernisierungsprogramms entschlossen, das 2000 in der
sogenannten Lissabon-Strategie Ausdruck fand. In einem Anfall
probleminspirierten Größenwahns hatte man beschlossen, die EU bis 2010 zum
wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der
Welt zu machen: mittels konsequenter Modernisierung, Flexibilisierung der
institutionellen Instrumente und forcierter Beschäftigungsförderung (daher auch
der Name »Agenda 2010«).
Den Prioritätenwechsel von
den Arbeits- zu den Beschäftigungsbedingungen haben die Gewerkschaften zunächst
halbherzig toleriert, aber seit dem Agenda-Konflikt in Deutschland und
(weitgehend gescheiterten) Anläufen zur Arbeitsmarktreform in Frankreich,
Italien und Spanien mit Nachdruck bekämpft. Nach ihrer und der Ansicht einiger
Linksparteien, wie etwa der Linken in Deutschland und der Sozialisten in
Frankreich, ist die EU für nahezu alle negativen Auswirkungen der
Globalisierung auf die Arbeitsmärkte verantwortlich. In dieser Annahme
begründet sich der reklamierte Vorrang des Interessenschutzes der akut
Beschäftigten. Man fordert »Vollbeschäftigung«, aber lehnt jede Aufweichung des
»Normalarbeitsverhältnisses« ab. Nach dem gewerkschaftlichen Verständnis von
einem »Sozialen Europa« steht allein der Staat in der Verantwortung,
Vollbeschäftigung herzustellen.(3) Der wirtschaftspolitische Autonomieverlust
der nationalen Regierungen findet keine Beachtung. Eine Mitverantwortung der
Tarifparteien für das Beschäftigungsniveau lehnt ETUC ausdrücklich ab. Zur
Ablenkung von der Beschäftigungsproblematik entwickelte man die Forderung nach
»guter Arbeit«,(4) die inzwischen in die Wahlkampfstrategie der SPD aufgenommen
wurde.
III.
In der ersten Hälfte dieses
Jahrzehnts kam ? vor allem in den kontinentaleuropäischen Industrieländern ?
eine äußerst kritische Betrachtung des keineswegs neuartigen Phänomens
»Globalisierung« auf. Das beschleunigte Wirtschaftswachstum ehemaliger
Entwicklungs- und Schwellenländer, deren elende Situation man jahrzehntelang
bedauerte, schien den avancierten Industriegesellschaften zum Problem zu
werden. Diese Diagnose enthält sowohl ein zutreffendes wie ein unrichtiges
Urteil.
Zutreffend ist die
Feststellung, dass die Weltwirtschaft in diesen Jahren einen tief greifenden Wandel
erfährt, in dem sich das Verhältnis zwischen »reichen« und »neuen«
Industrieländern grundlegend verändert. Hintergrund dieser Entwicklung ist die
weltweite Ausbreitung von marktwirtschaftlichen Institutionen nach dem
Niedergang der sozialistischen Staatswirtschaften. Die »neuen«
Industrieländer(5) bestreiten seit 2006 zusammen schon mehr als die Hälfte der
globalen Wirtschaftsleistung, wenn diese nicht anhand von marktüblichen,
sondern von kaufkraftgewichteten Wechselkursen errechnet wird. Sie sind auch
für gut die Hälfte, gegen Ende der Wirtschaftskrise vermutlich für mehr als die
Hälfte, der weltwirtschaftlichen Wachstumsrate verantwortlich, die 2003?2007
den historischen Spitzenwert von 4,8 Prozent erreichte. Die Annahme, dass sich
dahinter vor allem das Wirtschaftswunder China verbirgt, trifft nicht zu. Die
vier größten emerging economies, nämlich Brasilien, Russland, Indien und
China, repräsentieren lediglich 40 Prozent der Produktionskapazität aller
»Neuen«. Nach plausiblen Hochrechnungen werden die »Neuen« in zwanzig Jahren
zwei Drittel des realen Welt-Sozialprodukts (nach Kaufkraftparitäten gewichtet)
bestreiten. Und der Welt-Sozialproduktanteil der EU-15 (das sind die
EU-Mitgliedsländer vor der Osterweiterung), der 2000 noch gut 20 Prozent betrug,
wird bis 2040 auf nur noch fünf Prozent sinken (Fogel 2007).
Unzutreffend ist die
Annahme, dass mit dem Verlust des Kompetenzvorsprungs Europas und seiner
diversen Alleinstellungsmerkmale ein schleichender Prozess der Verelendung
einsetzen wird. Vielmehr wird den »alten« Industrieländern der Triade (EU,
Japan, USA) für 2040 das Dreifache des Durchschnittseinkommens im dann
weltgrößten Industriestaat China prognostiziert. Und für die USA wurde
errechnet, dass höchstens 26 bis 29 Prozent aller Arbeitsplätze überhaupt zur
Verlagerung ins Ausland geeignet (»offshorable«) sind (Blinder 2007).(6)
Allerdings finden die
gravierendsten Auswirkungen des globalen Strukturwandels noch keine angemessene
Beachtung. Sie betreffen neben dem positiven Einfluss auf Preisniveau und
Güterangebot (z. B. billige Elektronik- und Textilprodukte, erschwingliche
Fahrzeuge) vor allem die Temposteigerung des ökonomischen und sozialen Wandels.
Europas gewichtigste Anpassungsprobleme resultieren aus der Geschwindigkeit
eines außeninduzierten Strukturwandels, dem mit den klassischen Instrumenten
der Wirtschafts- und Industriepolitik, zum Beispiel Forschungs- und
Investitionsförderung, nicht mehr beizukommen ist. Die einzige Möglichkeit,
Schritt zu halten, besteht darin, den fortlaufenden Strukturwandel der
europäischen Volkswirtschaften zu erleichtern und für die Menschen erträglich
zu gestalten. Das ist aber mit den verbreiteten Vorstellungen von enger
beruflicher Spezialisierung, kontinuierlicher Beschäftigung und einer linearen
Lebenslaufplanung nicht vereinbar. Außerdem kollidieren die differenzierter und
wechselhafter werdenden Bedingungen des Erwerbslebens mit den tradierten Formen
der sozialstaatlichen Sicherheitsgewähr.
Die beschleunigte
Obsoleszenz der Industriestruktur, die Abwanderung arbeitsintensiver
Industrien, die hohe Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten und eine ?
trotz Mindestlohnregeln ? zunehmende Spreizung der Reallöhne und
Lohnerhöhungsspielräume sind jedoch keine unvermeidlichen Folgen des Aufstiegs
ferner Wirtschaftsregionen, sondern zum größten Teil »institutionell« bedingt:
Sie resultieren aus der Diskrepanz zwischen einer sich rasch wandelnden
ökonomischen Umwelt auf der einen Seite und einem tradierten
Institutionenmuster auf der anderen, Letzteres stabilisiert durch
vergangenheitscodierte Wahrnehmungsfilter, institutionalisierte
Konfliktroutinen und einen engen Interessenhorizont der zuständigen Akteure. Im
Lichte dieser Diskrepanz mutet die Modernisierungsinitiative der EU nicht als
überflüssig oder unangebracht, sondern eher als zaghaft und materiell
unzureichend an.
Wie könnte eine
vorausschauende europäische Sozialpolitik darauf antworten? Forderungen und
Vorschläge aus dem Spektrum der europabewussten Mitte-links-Parteien
suggerieren, die EU verfüge über geeignete Mittel, den Mitgliedsländern und
insbesondere deren lohnabhängiger Erwerbsbevölkerung einen wirksamen
Schutzschirm zu zimmern. Dabei werden jedoch die faktischen Unterschiede und
ungleichen normativ-ideologischen Überzeugungen in der Bevölkerung verkannt.
Die Vorstellung, es
existiere ein alle Mitgliedsländer umfassendes Europäisches Sozialmodell (ESM)
ist irreführend. Die Rede vom ESM macht nur insofern Sinn, als alle
Mitgliedsländer die staatliche Verantwortung für die soziale Sicherheit ihrer
Bürger anerkennen. Tatsächlich finden sich in der Europäischen Union nicht
weniger als fünf unterschiedliche Sozialstaatstypen, von denen jeder für sich
mit je besonderen Problemen und Reformbedarf belastet ist. Weil die bestehenden
Sicherungssysteme unweigerlich die Lebensplanung und Verhaltensmuster der
Bürger geprägt haben, sind unter den Bedingungen des demokratischen
Parteienwettbewerbs in der Regel nur »pfadabhängige« Reformen möglich.
So bilden der skandinavische
und der angelsächsische Sozialstaatstypus zwei diametral
entgegengesetzte Ausprägungen des modernen Wohlfahrtsstaats. Beide wiesen bis
vor Kurzem ein hohes Beschäftigungsniveau auf, was sich im einen Fall einer
hohen Abgabenbelastung der Bürger verdankt, im anderen dem Umstand, dass die Bürger
sich ein ausreichendes Versorgungsniveau nur durch private Zusatzaufwendungen
am Markt verschaffen können. Gleichwohl lehnen die politischen Parteien beider
Länder eine einheitliche EU-Sozialpolitik entschieden ab.
Die kontinentalen
Wohlfahrtsstaaten stellen sich keineswegs als günstigere Variante dar. Ihr
öffentlicher Beschäftigungssektor ist nur wenig größer als der des
angelsächsischen Typs und der Beschäftigungsanteil der Privatwirtschaft eher
niedriger als im skandinavischen Modell. Diese Kombination zweier Handikaps
verdankt sich dem hoch entwickelten Insiderschutz, der nicht nur
Zusatzaufwendungen für die Versorgung der ausgeschlossenen Personen bedingt,
sondern auch mit institutioneller Erstarrung einhergeht. Hohe lohnbezogene
Abgaben und eine restriktive Stellenpolitik im öffentlichen Sektor behindern
flexible und reibungsarme Allokationsprozesse an den Arbeitsmärkten,
insbesondere Deutschlands und Frankreichs. Weil die »Insider« des Arbeitsmarkts
ihre Position dennoch nicht als dauerhaft gesichert ansehen, sondern im
Gegenteil durch die Präsenz von »prekärer« und Niedriglohnbeschäftigung
verunsichert sind, pochen ihre Interessenvertreter auf die Durchsetzung von
Beschäftigungsnormen, die weder mit dem Strukturwandel noch mit den Interessen
der Arbeitsmarkt-»Outsider« vereinbar sind.
Noch ungünstiger liegen die
Dinge in den mediterranen und osteuropäischen Sozialstaaten, die
wiederum zwei unterschiedliche Typen darstellen. Extremen Insiderprivilegien
(vgl. die Senioritätsrechte in Spanien, Italien und Griechenland) und
gravierenden Finanzproblemen (vgl. den Extremfall Ungarn) stehen weitreichende,
aber unerfüllbare Ansprüche großer Teile der Erwerbsbevölkerung gegenüber. Aus
den Linksparteien des Mittelmeerraums stammen folglich die vehementesten Forderungen
für sozialpolitische EU-Interventionen. Die osteuropäischen EU-Mitglieder
streben ebenfalls nach einem dem Westen angenäherten Sicherungsniveau und
beklagen die Beschränkungen, die ihnen durch selektive Marktzutrittsschwellen
und anspruchsvolle Sozialstandards auferlegt wurden.
Die einzelnen
Sozialstaatstypen stellen sich den Herausforderungen von EU-Binnenmarkt und
Globalökonomie auf unterschiedliche Weise. Der auf den kontinentalen
Sozialstaaten lastende Reformdruck droht, sie in die Nähe des minimalistischen
Sozialregimes angelsächsischer Prägung zu treiben. Dieses bietet in
Krisenzeiten zwar nur einen sehr löcherigen Schutzschirm, aber ermöglicht durch
die enge Kopplung zwischen Wachstum und Beschäftigung ein sehr niedriges Niveau
von struktureller Arbeitslosigkeit. Die mediterranen Sozialstaaten haben
dagegen mit ihrer tiefen Insider-Outsider-Spaltung zu kämpfen und sind, ähnlich
wie die osteuropäischen Beitrittsländer, von den Folgen ihrer unzulänglichen
Armuts- und Inklusionspolitik betroffen (Ferrera et al. 2000).
Wenn man von den besonderen
Problemen Schwedens (Steuerprotest und Kapitalflucht, Erschöpfung öffentlicher
Beschäftigungsoptionen) absieht, kommt am ehesten dem skandinavischen
Sozialstaatstypus eine Vorbild-, zumindest aber Anregungsfunktion zu. Dänemark,
Finnland, Schweden sowie die Niederlande haben seit den Achtzigerjahren immer
wieder innovative Antworten auf den Strukturwandel und die daraus folgenden
Beschäftigungskrisen gefunden. Am bekanntesten ist das Flexicurity-Konzept.
Flexicurity meint eine
Kombination von beschäftigungsfördernden Maßnahmen der Flexibilisierung von
Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht mit Regelungen zur Verbesserung der sozialen
Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Weiterqualifikation und Arbeitsplatzsuche. So
wurde etwa in skandinavischen Ländern, die ihre Arbeitslosenquote mittels
Flexicurity deutlich verringerten, der Abbau des Kündigungsschutzes mit relativ
großzügiger Arbeitslosenunterstützung und effektiven
Wiedereingliederungsmaßnahmen kombiniert.
Nach einem Vorschlag der
EU-Kommission sollte das Flexicurity-Konzept breitere Anwendung finden und
helfen, »ein neues Gleichgewicht zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit«
zu schaffen (Kaufmann/Schwan 2007). Nachdem die Initiative zunächst von ETUC
unterstützt wurde, stieß sie bei nationalen Gewerkschaften sowie
sozialistischen und grünen Parteien auf entschiedene Ablehnung. Während das
Konzept im Interesse größerer Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes lediglich
Beschäftigungssicherheit verspricht, bestehen die Kritiker auf der
Gewährleistung von Arbeitsplatzsicherheit. Sie vertreten die
kontrafaktische Auffassung, der Wandel von Wirtschafts- und
Beschäftigungsstruktur ließe sich mit quasi-gesetzlichen Mitteln unterbinden
(vgl. Wiesenthal/Goymann 2008).
Wie gering der Spielraum für
materiell wirksame, einheitliche Standards sozialer Sicherheit ist, zeigt sich
auch an den widersprüchlichen Präferenzen der kontinentaleuropäischen
Mitte-links-Wählerschaft. Ihr ? von Sozialisten, Sozialdemokraten und Grünen propagiertes
? sozialpolitisches Credo lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: mehr
Gleichheit, mehr Verbindlichkeit, weniger Solidarität.
Das Gleichheitspostulat
zielt ganz im Sinne der ursprünglichen Binnenmarktorientierung auf
Wettbewerbsneutralität: Gleiche Sozialstandards sollen verhindern, dass Länder
mit niedrigeren Löhnen und Sozialleistungen für ein »race to the bottom«
sorgen. Die Klage über ungenügende Verbindlichkeit sozialpolitischer
Regelungen bezieht sich auf die 1997 mit der europäischen Beschäftigungsstrategie
eingeführte »Offene Methode der Koordinierung« (OMK). Sie findet dort
Anwendung, wo »es der Europäischen Gemeinschaft an gesetzgeberischer Kompetenz
fehlt, gleichwohl aber gemeinsames und gemeinschaftliches Handeln der
Mitgliedstaaten wünschenswert ist« (Schulte 2004: 89). Zunächst wegen eines
vermeintlich starken Präjudizcharakters kritisiert (Offe 2005, Schmähl 2005).
wird die OMK heute als viel zu unverbindliches und zahnloses
Regelungsinstrument (Schulz 2007) angesehen. Deshalb fordern die deutschen,
französischen und weitere grüne Parteien, Mehrheitsentscheidungen des
(Minister-) Rats über alle sozialpolitischen Themen vorzusehen. Das würde
bedeuten, dass die EU die Autonomie der nationalen Parlamente aufheben und
effektiv in deren Budgetrecht eingreifen dürfte. Doch diese Möglichkeit hat das
Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 ausgeschlossen: Den Mitgliedstaaten
muss in jedem Fall ausreichender Raum zur Gestaltung der sozialen
Lebensverhältnisse bleiben; die Letztentscheidung über Einnahmen und Ausgaben
des Staates bleibt beim nationalen Gesetzgeber.
Das Postulat weniger
Solidarität ist dem tatsächlichen Verhältnis zwischen den wohlhabenden Alt-
und den ärmeren Neumitgliedern der EU ablesbar. Letztere, das heißt die
EU-Mittelmeerländer und die osteuropäischen Beitrittsländer, bau(t)en darauf,
dass ihnen die Integration in den EU-Binnenmarkt einen beschleunigten
Aufholprozess ermöglicht, in dessen Verlauf die anfangs beträchtliche
Wohlstandskluft verschwindet. Dass sie dabei von niedrigeren Löhnen und
Sozialtransfers profitieren, stand außer Frage und galt in den ersten
Jahrzehnten der EU als legitim. Aber die wachsende Krisenempfindlichkeit der
Wählerschaft in den reicheren Ländern stellte diese Voraussetzung für
wünschenswerte Angleichungsprozesse in ein schiefes Licht.
So sahen sich Frankreich,
Österreich und Deutschland Mitte der Neunzigerjahre veranlasst, gegen die
Entsendung niedrig entlohnter Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum vorzugehen
und setzten eine restriktive Entsende-Richtlinie durch (Eichhorst 2000). Indem
für Arbeitnehmer im Dienste ausländischer Firmen ein Rechtsanspruch auf den im
Gastland geltenden Mindestlohn begründet wurde, bewirkte man, dass die dadurch
»begünstigten« Arbeitnehmer gar nicht erst im Gastland tätig werden konnten. In
analoger Weise zog man 2005 erfolgreich gegen das Herkunftslandprinzip im
(Bolkestein-) Entwurf zur Dienstleistungsrichtlinie zu Felde. Beide Fälle
demonstrieren den hierzulande in keiner Weise als fragwürdig angesehenen
Willen, ärmere EU-Neumitglieder diskriminierenden Regeln mit einer stark
asymmetrischen Verteilung von Nutzen und Kosten zu unterwerfen. Während ein
offener Marktzugang von den »Neuen« mit der rascheren Einebnung der bestehenden
Unterschiede quittiert worden wäre, hätten die Kosten der Öffnung bei den
»Alten« nur eine marginale, vermutlich kaum messbare Verschlechterung gebracht
(die im Übrigen von graduellen Vorteilen für Konsumenten begleitet worden
wäre).
Die Bereitschaft von
Wählermehrheiten, den Angleichungsprozess durch Marktöffnung und Unterstützung
des unvermeidlichen Strukturwandels zu fördern, ist inzwischen gegen Null
gesunken. Betrachtet man ein gewisses Maß an transnationaler Solidarität als
Mindestvoraussetzung für materiell wirksame EU-Sozialpolitiken, so ist
gegenüber den grassierenden Forderungen nach »mehr« Sozialpolitik große Skepsis
angebracht. In dieser Situation bleibt für konsensfähige Fortschritte kaum mehr
als die Komplettierung des Katalogs von Regelungsaufgaben und Mindestnormen.
Ihr Nutzen sollte nicht unterschätzt werden. Immerhin wirken sie in den
reicheren Ländern als Sperrklinke gegen drohende Rückschritte und in den
ärmeren als Anstoß zur Angleichung der effektiven Normen.
IV.
Die vom Wertverfall an den
Finanzmärkten ausgelöste Wirtschaftskrise hat die Bedingungen für eine
Ausweitung der sozialpolitischen Funktionen der EU nicht gerade verbessert. In
einigen Mitgliedstaaten kam es zu protektionistischen Interventionen;
Vorschläge für gemeinschaftliche Initiativen und Sicherheitsnetze fanden wenig
Anklang. Offensichtlich hat die schon vor der Krise beträchtliche Diversität
von Präferenzen und Positionen noch einmal zugenommen und den Vorstellungen von
einer vertieften »positiven« Integration den Boden entzogen. So nimmt es nicht
wunder, dass angesichts des »utopischen Ziel(s) einer gemeinsamen Sozialpolitik
für 27 Staaten« sogar vorgeschlagen wird, engere »Grenzen für die
wirtschaftliche Integration« zu erwägen (Fritz W. Scharpf im Streitgespräch mit
MdEP Jo Leinen).(7)
Das wechselhafte Schicksal
des Verfassungsentwurfs und des Lissabonner Reformvertrags offenbart zwei
gegensätzliche Trends in der Folge der EU-Erweiterung: auf der einen Seite die
Zunahme der Interessenunterschiede im Kreis der Mitgliedsländer und auf der
anderen eine Inflation der Erwartungen und Forderungen an die EU-Politik.
Reichlich Enttäuschung dürfte unvermeidlich sein.
Ein Blick auf die Positionen
im Mitte-links-Spektrum des Europaparlaments, wie sie sich 2008 darboten (vgl.
Wiesenthal/Goymann 2008), offenbart erhebliche Differenzen, die sich unter
anderem auf die Sozialstaatstypik zurückführen lassen (Busemeyer u. a. 2006).
So schätzen die skandinavischen Linken ausdrücklich einen für andere
inakzeptablen Regimewettbewerb. Doch selbst die deutsche Sozialdemokratie spricht
sich für die Beibehaltung der »Heterogenität der nationalen Wege« (Schulz 2007)
aus und ist sich mit den hiesigen Gewerkschaften einig, dass supranationale
Sozialpolitik wenig Sinn machen würde. Das sehen die Gewerkschaften sowie die
politische Linke in den mediterranen Wohlfahrtstaaten anders.
Gravierende Differenzen
bestehen auch bei der Forderung nach einer engen Koordinierung von Lohn- und
Beschäftigungspolitik. Sie wird von Sozialdemokraten in postkommunistischen,
kontinentaleuropäischen und mediterranen Ländern befürwortet, aber von den
Schwesterparteien in Skandinavien und Großbritannien sowie den meisten
Gewerkschaften entschieden abgelehnt. Noch weniger Konsens findet die Idee
eines verbindlichen Mindestlohns, hinter der allein die mediterranen Linken
stehen.
Die von
kontinentaleuropäischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten geforderte Zähmung
des Steuerwettbewerbs durch Mindest-Unternehmenssteuern lehnen wiederum die
Schwesterorganisationen in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern ab.
Folglich fehlt es auch an einer »linken« Mehrheit für eine Stärkung der
EU-Kompetenzen im Steuerrecht.
Offensichtlich ließen sich
derart kontroverse Themen allenfalls im Rahmen der »Offenen Methode der
Koordinierung« (OMK) behandeln. Dem widerspricht allerdings der
sozialdemokratische Wunsch, der OMK höhere Verbindlichkeit zu verschaffen. Denn
mit jedem Grad höherer Verbindlichkeit verengt sich zwangsläufig der Kreis der
behandelbaren Themen, weil sich kein Mitgliedstaat blanko verpflichten, wird
allem zu folgen, was ihm gegen seinen Willen auferlegt werden kann.
Unter dem Strich bleiben
folglich nur solche von Mitte-links präferierten Politikoptionen, die auf die
Ausdehnung oder Komplettierung von Mindestnormen und allgemein gefassten, im
nationalen Rahmen auszufüllenden Regelungsbedarf abstellen. Dazu zählen die
weitere Harmonisierung von arbeitsrechtlichen Standards, die Weiterentwicklung
des sozialen Grundrechte-Katalogs der Sozialcharta, Fortschritte bei der
Portabilität und Übertragbarkeit sozialrechtlicher Ansprüche (die die Mobilität
der Arbeitnehmer fördern und zur Erleichterung sozialverträglicher Fluktuation
beitragen) sowie verbesserte Inklusionschancen von Behinderten, Älteren und
Arbeitskräften mit geringer Qualifikation. Weniger aussichtsreich, aber wert,
im Rahmen der OMK angestrebt zu werden, sind einheitliche Regeln für national
festzusetzende Mindestlöhne, Mindest-Unternehmenssteuern sowie
Steuerbemessungsgrundlagen und relative Mindestversorgungsniveaus in
typisierten Bedarfslagen (wie Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter).
Speziell den Europa-Grünen,
die sich im letzten Europaparlament oft auf eine pauschale Unterstützung der
gewerkschaftlichen Defensive beschränkten, ist die Rückbesinnung auf die
genuinen Wertorientierungen und die sachpolitische Kompetenz der Grünen zu
raten. Dazu gehört, die eigenen sozialpolitischen Positionen wieder an
sozialemanzipatorischen Kriterien auszurichten und den Zukunftsproblemen und
institutionellen Lücken mehr Aufmerksamkeit zu schenken als Politiken des
Insiderschutzes und der exklusiven Bestandssicherung. Angesichts des sich
beschleunigenden Strukturwandels gilt es, das Augenmerk vor allem auf die
Hindernisse der sozialen und wirtschaftlichen Inklusion zu lenken sowie
Optionen der sozialverträglichen Modernisierung von Beschäftigungs- und
Sicherungsformen zu erproben, zu denen ausdrücklich auch solche jenseits des
Normalarbeitsverhältnisses gehören.
Dafür ist unter anderem die
Wiederaufnahme der Flexicurity-Thematik geeignet. Hier gilt es, einen Katalog
von Mindestbedingungen der beschäftigungspolitisch sinnvollen Flexibilität und
sozialpolitisch unabdingbaren Unterstützungen zu erarbeiten, an dem sich die
Praxis der einzelnen Mitgliedsländer messen ließe. Mit der Forderung von
Arbeitsplatzsicherheit und der Abwehr aller institutionellen Innovationen
werden die Folgen des weltwirtschaftlichen Wandels für Europa wesentlich härter
als notwendig ausfallen: Weniger Anpassungsflexibilität bedeutet mehr soziale
Exklusion und mehr chancenlose »Outsider«.
V.
Das neu gewählte
Europaparlament wird sich mit einer Fülle von Erwartungen konfrontiert finden,
welche die Mehrheitsfindung für zeitgemäße sozialpolitische Initiativen extrem
schwierig machen. Sollte der Wirtschaftseinbruch, wie Experten meinen, seinen
Tiefpunkt noch vor sich haben, dürfte die Neigung der Politik zu kurzfristigen
schmerzdämpfenden Maßnahmen noch erheblich zunehmen. Unter diesen Bedingungen
sich mit zukunftbestimmenden Entwicklungen und der Notwendigkeit eines
Paradigmenwechsels zu befassen, dem sachlich »Richtigen« den Vorzug vor dem
bloß »Gefälligen« zu geben, dürfte den Beteiligten schwerfallen. Sofern
überhaupt Aussicht besteht, dem Sog der Tagespolitik und des myopischen(8)
Populismus zu entgehen, richten sich Hoffnungen und Ansprüche vor allem an die
Grünen, die aus ihrer Frühgeschichte über Erfahrungen mit der Thematisierung
ungeliebter Wahrheiten verfügen. Es sind mindestens drei Themenfelder, in denen
es darauf ankommt, Farbe zu bekennen ? und sei es nur durch Aufzeigen der Logik
einer wahrhaft »nachhaltigen« Sozialpolitik.
Themenfeld eins betrifft die
Diagnose von Zustand und Wandel der Weltwirtschaft. Zeitgemäße Reformkonzepte
wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Natur müssen in Rechnung
stellen, dass der Aufstieg der emerging economies für die
Volkswirtschaften der EU nicht nur eine tief greifende Veränderung der
Sektoral- und Qualifikationsstrukturen, sondern ? wegen der zunehmenden
Verschiebung der ökonomischen Gewichte ? auch eine erhebliche Beschleunigung des
wirtschaftlichen und sozialen Wandels bringt. Und der notwendige
Anpassungsprozess wird durch die Wirtschaftskrise nicht vertagt, sondern
empfindlich beschwert: Die flexibleren Arbeitsmärkte, die liberalere
Marktverfassung und die schwächer ausgeprägte Sozialstaatlichkeit der neuen
Industrieländer werden sich als Tempobeschleuniger der wirtschaftlichen
Erholung auswirken und den Adaptionsdruck auf die finanziell geschwächten
Sozialstaaten Europas erhöhen.
Themenfeld zwei betrifft den
Konflikt über die Zielprioritäten der sozialpolitischen Regulierung. Wird sich
die Politik unter dem Druck der Interessenten auf die Verteidigung und
Aufbesserung etablierter Insider-Positionen (Subventionsempfänger, Exporteure,
Industriebeschäftigte) beschränken oder ihre Aufmerksamkeit in mindestens
gleichem Umfang auf die Förderung neuer Optionen der volkswirtschaftlichen
Wertschöpfung und der Inklusion aller Arbeitnehmerkategorien richten?
Im dritten und
erfahrungsgemäß besonders kontroversen Themenfeld stehen die Erweiterung und
der allmähliche Wandel des sozialpolitischen Instrumentenkatalogs zur Debatte.
Ihre Notwendigkeit folgt aus den neuen Herausforderungen und Restriktionen der
Sozialpolitik (vgl. Schmögnerová 2005): dem demografischen Wandel, dem
wirtschaftlichen Strukturwandel zur Wissensgesellschaft, dem beschleunigten
Technologiewandel und der Internationalisierung des Wettbewerbs. Diesen
Veränderungen Rechnung zu tragen, bedeutet, der Kontinuität von Unternehmen und
der Arbeitsplatzsicherheit der Arbeitnehmer weniger Gewicht beizulegen
als den Voraussetzungen von Innovation, Faktormobilität und Beschäftigungschancen.
Das heißt neben die traditionellen Zweige einer bedarfs- und statusorientierten
Versorgung müssen Präventions- und soziale Investitionsstrategien treten,
welche die »Unterschiede im produktiven Potential und den initial endowments
der Marktteilnehmer« korrigieren (Streeck 1998: 45), das heißt eine faire
Verteilung von Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen. Im Vordergrund stehen nicht
mehr so sehr die Umverteilung der Wettbewerbsfrüchte, sondern die Offenheit von
Bildungsgängen, die Absenkung der Zugangsschwellen in allen
Arbeitsmarktsegmenten und eine Neukalibrierung der sozialen Sicherungen
(Ferrera u. a. 2000) zugunsten der sozial Ausgeschlossenen, der Beschäftigungschancen
von Alleinerziehenden, der Betreuung chronisch Pflegebedürftiger und anderes
mehr.
Was aber bei allen
Mutmaßungen über nachhaltige Innovationen in der europäischen Sozialpolitik
nicht vergessen werden darf, ist ihre noch lange Zeit bestehende Abhängigkeit
vom Vorlauf engagierter Debatten im nationalen Rahmen. Die Vorstellung,
»Europa« könnte bewirken, was man »vor Ort« nicht zu vertreten wagt, geht
gründlich fehl.
1
Sechs von zwölf Artikeln betreffen Grundrechte der
Arbeitnehmer (Recht auf Unterrichtung und Anhörung, auf gerechte
Arbeitsbedingungen und Kollektivverhandlungen, Verbot der Kinderarbeit usw.),
drei weitere Artikel begründen in allgemeiner Form das Recht auf »sozialen
Schutz« ? etwa der Familie (Art. II-93) ? bzw. »soziale Sicherheit« (bei
Krankheit, im Alter usw., Art. II-94). Ein eigener Artikel bestimmt das Recht
auf Gesundheitsschutz und ärztliche Versorgung (Art. II-95).
2
Die Autorschaft dieser Einfügung reklamieren die österreichischen
Grünen für ihr MdEP Johannes Voggenhuber als Mitglied des Verfassungskonvents.
3
»Social Europe has five main
characteristics: ? state responsibility for full employment ?«,
http://www.etuc.org/ r/816
4
ETUC 2008: »Quality of Jobs
at Risk! An Overview from the Etuc on the Incidence And Rise of Precarious Work
in Europe«, http://www.etuc.org/a/4723
5
Nach dem Bertelsmann-Transformations-Index 2008 der
Entwicklungs-, Schwellen- und Reformländer waren es 2007/08 genau 100 Staaten,
die eine »gute« oder »sehr gute« Wirtschaftsleistung aufwiesen
(http://www.bertelsmann-transformation-index.de/11.0.html).
6
Für die stärker industriell bestimmte Wirtschaftsstruktur
Deutschlands ist wohl ein etwas höherer Anteil zu veranschlagen.
7
Abgedruckt in: Gesellschaftsforschung
(Hauszeitschrift des MPIfG, Köln) 2/09, S. 6?9
(http://www.mpifg.de/aktuelles/newsletter/MPIfG_Newsl_2-09.pdf).
8
Ein Begriff aus der evolutionären Spieltheorie. Myopisch
heißt kurzsichtig und beschreibt ein Verhalten, bei dem der betreffende
Spieler nur einen (oder wenige) Denkschritte vornimmt anstatt, die gesamte
Situation bis zum Ende zu durchdenken, wie es ein vollständig rationaler
Spieler tun würde.
Literatur
Blinder, Alan S. (2007): »How
Many U.S. Jobs Might Be Offshorable?«, Princeton University, CEPS Working
Paper No. 142
Busemeyer, Marius R./Kellermann, Christian/Petring,
Alexander/Stuchlik, Andrej (2006): Politische Positionen zum Europäischen
Wirtschafts- und Sozialmodell ? eine Landkarte der Interessen, Bonn:
Friedrich-Ebert-Stiftung
Eichhorst, Werner (2000): Europäische Sozialpolitik
zwischen nationaler Autonomie und Marktfreiheit. Die Entsendung von
Arbeitnehmern in der EU, Frankfurt am Main/New York: Campus
Ferrera, Maurizio/Hemerijck,
Anton/Rhodes, Martin (2000): The Future of Social Europe: Recasting Work and
Welfare in the New Economy, Report to the Portuguese Presidency of the
European Union
Fogel, Robert W. (2007):
»Capitalism and Democracy in 2040: Forecasts and Speculations«, NBER Working
Paper No. 13184
Kaufmann, Inge/Schwan, Alexander (2007): Flexicurity auf
Europas Arbeitsmärkten ? Der schmale Grat zwischen Flexibilität und sozialer
Sicherheit, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung
Offe, Claus (2005): »Social
Protection in a Supranational Context. European Integration and the Fates of
the ?European Social Model?«, Berlin: Humboldt-Universität (Ms.)
Schmähl, Winfried (2005): »Nationale Rentenreformen und die
Europäische Union ? Entwicklungslinien und Einflusskanäle«, Bremen: Zentrum für
Sozialpolitik, Universität Bremen (Zes-Arbeitspapier Nr. 3/2005)
Schmögnerová, Brigita (2005):
The European Social Model: Reconstruction or Destruction? A View from a
Newcomer, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung
Schulte, Bernd (2004): »Die Entwicklung der Sozialpolitik
der Europäischen Union und ihr Beitrag zur Konstituierung des europäischen
Sozialmodells«, in: Kaelble, Hartmut/Schmid, Günther (Hrsg.): Das
europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat,
Berlin: edition sigma, S. 75?103
Schulz, Martin (2007): »Europa sozial gestalten ? zehn
Thesen«, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Heft 4/2007, S.
144?147
Streeck, Wolfgang (1998): »Einleitung: Internationale
Wirtschaft, nationale Demokratie?«, in: Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Internationale
Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen für die Demokratietheorie,
Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 11?58
Wiesenthal, Helmut/Goymann, Andrea (2008): Das soziale
Europa. Eine Studie über die Bedingungen und Möglichkeiten grüner Sozialpolitik
in Europa, Berlin: Heinrich Böll-Stiftung
In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2009