Helmut Wiesenthal


Das »Soziale Europa«
Zwischen Erwartungsinflation und Paradigmenstreit

Europa steckt nicht nur in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch in einem Strukturwandel, der das Gesicht des Kontinents in den nächsten zwanzig Jahren massiv verändern wird. Das ist der ? oft verkannte ? Hintergrund für die Auseinandersetzung um eine europäische Sozialpolitik. Ein zerklüftetes Europa mit sehr verschiedenen Modellen des Sozialstaats, ein traditionell national-orientiertes Institutionengefüge, ein Wust an unvereinbaren Sonderinteressen auf Wirtschafts- und Arbeitnehmerseite und die Diskrepanzen zwischen alten und neuen Mitgliedsländern erschweren das Bearbeiten des bereits eintretenden Paradigmenwechsels.

I.

Die Europawahl 2009 endete mit einem paradoxen Ergebnis. Erinnert man sich der in vielen Mitgliedsländern verbreiteten Unzufriedenheit mit dem EU-Verfassungsprozess und der verbreiteten Enttäuschung über den Liberalisierungskurs der EU-Kommission, so wirkt das schlechte Abschneiden der Sozialdemokratie recht befremdlich. Hatten doch die Parteien des Mitte-links-Spektrums stets den Sinn der forcierten Marktliberalisierung bezweifelt und gefordert, dass die EU beim Themenkomplex soziale Sicherheit und Abbau sozialer Ungleichheit mehr Engagement zeigt. Und es schien, als hätte die akute Wirtschaftskrise genau diesen Themen ein größeres Maß an Aufmerksamkeit verschafft. Häufiger als je zuvor war von der Notwendigkeit eines »sozialen Europas« und des Ausbaus der »Europäischen Sozialpolitik« die Rede.
Ohne hier eine befriedigende Erklärung für das unbefriedigende Abschneiden der europäischen Sozialdemokratie bieten zu können, wird im Folgenden versucht, die sozialpolitische Rolle der EU im Rückblick und mit Blick auf die in der nahen Zukunft liegenden Herausforderungen zu skizzieren. Handelt es sich doch um ein von Missverständnissen, interessenpolitischen Interpretationen und taktisch platzierten Forderungen durchwachsenes Feld, in dem es nicht leichtfällt, zwischen dem bunten Strauß von Wünschenswertem und dem schmalen Angebot realer Optionen zu unterscheiden.

II.
Die Sozialpolitik wurde nur allmählich und relativ spät zu einem der Themenschwerpunkte Europäischer Politik. Die ersten Jahrzehnte nach dem Abschluss der Römischen Verträge galten der Herstellung eines gemeinsamen Marktes und der Regulation von Überkapazitäten bei Kohle, Stahl und in der Landwirtschaft. Wenn man so will, standen von Anfang an Unternehmens- und Arbeitnehmerinteressen treulich auf ein und derselben Seite, nämlich jener der Europa-Befürworter und Marktapologeten. Beiden ging es um beides: mehr Wirtschaftswachstum bei geordnetem Abbau von montan- beziehungsweise altindustriellen Arbeitsplätzen sowie um die Protektion des Agrarsektors ? Ersteres zum Vorteil, Letzteres zum Nachteil der Konsumenten.
Die sozialpolitische Thematik war dabei dem Ziel der Herstellung und Vertiefung des gemeinsamen Markts durch schrittweisen Abbau von Handelshemmnissen untergeordnet. Es entstand zwar auch ein umfänglicher Katalog von positiven Regelungen zum Arbeitsschutz, zur Chancengleichheit von Frauen und zur Eingliederung benachteiligter Gruppen. Doch diente dieser in erster Linie der Rechtsangleichung in den Mitgliedsländern als Voraussetzung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Europäischen Binnenmarkt. Er war Teil der »negativen Integration«.
Dieser Grundzug blieb der EU-Sozialpolitik bis heute erhalten. Seiner Logik verdankt sich auch die 1989 verabschiedete »Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte«, die, obwohl gerne als EU-Sozialcharta bezeichnet, zunächst nicht mehr als eine unverbindliche Willenserklärung darstellte. Sie mündete immerhin in ein Aktionsprogramm mit 47 Einzelzielen und hatte eine Palette von Richtlinien, unter anderem zu Mutterschutz, Massenentlassungen, Arbeitsvermittlung, Arbeitszeit, Jugendarbeitsschutz und Teilzeitarbeit, zur Folge.
1991 erfuhr die Sozialcharta im »Sozialprotokoll« und dem dazugehörigen Abkommen von Maastricht eine gewisse Aufwertung. Die Mitgliedstaaten wurden ausdrücklich ermächtigt, die Organe und Verfahren der EU für eine gemeinsame Sozialpolitik zu nutzen. Mehrheitsentscheidungen blieben auf die wettbewerbssensiblen Bereiche Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, Chancengleichheit von Männern und Frauen sowie berufliche Eingliederung beschränkt. Bei Themen, die das Verhältnis von Kapital und Arbeit betreffen, wie Kündigungsschutz und Mitbestimmung, blieb weiterhin Einstimmigkeit gefordert. Für den Kernbereich des industriellen Konflikts ? Arbeitslohn, Koalitionsrecht und Arbeitskampfrecht ? besteht ein ausdrücklicher Regelungsverzicht.
Die heute gängige Rede vom »Europäischen Sozialmodell« setzte erst 1994 ein, als ein »Weißbuch über die europäische Sozialpolitik« entstanden war. Genoss die wettbewerbsorientierte sozialpolitische Standardisierung regelmäßig die Unterstützung der europäischen Gewerkschaften, so brachte Amsterdam 1997 eine gravierende Veränderung. Jetzt wurden die Gewerkschaften hellhörig und tendenziell zu Gegnern der faktischen EU-Sozialpolitik. Ursache war die von der Kommission vorgenommene Ausweitung des Regelungsanspruchs auf alle Arbeitnehmer, also über den Kreis der Beschäftigten hinaus. Die Kommission wollte offensichtlich ein Stück Verantwortung für die miserable Beschäftigungslage in einigen Mitgliedsländern übernehmen. Damit gerieten ihr endlich auch die Themen der Beschäftigungsförderung und der Arbeitsmarktinklusion sowie des Marktzutritts von Arbeitsuchenden in den Fokus. Manifesten Ausdruck fand der Themenzuwachs in einer »Europäischen Beschäftigungsstrategie«.
Die so erweiterte Perspektive kehrt in der Charta der Grundrechte (Nizza 2000) und dem 2005 gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa wieder. Der Vertragsentwurf enthält nicht nur die in Nizza beschlossene Grundrechte-Charta,(1) sondern auch eine allgemeine »Sozialklausel«, in der sich die Union verpflichtet, den Erfordernissen »eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie ... einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes« Rechnung zu tragen (Art. III-117). In Artikel I-3 wird ausdrücklich »Vollbeschäftigung« als Ziel der Union genannt.(2)

Indem sich die EU-Kommission und der Europäische Rat (der Regierungschefs) dem beschäftigungspolitischen Problemkreis zuwandten, begründeten sie einen Grundkonflikt über Ziele und Aufgaben der europäischen Sozialpolitik. Widerpart der beschäftigungsorientierten Initiativen sind ein Großteil der im Europaparlament vertretenen Sozialisten, Sozialdemokraten und Grünen sowie der Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC) und die kontinental- und südeuropäischen Gewerkschaften. Dem Konflikt liegt ein radikal unterschiedliches Verständnis von der Situation an den europäischen Arbeitsmärkten und den Aufgaben zukunftsgerichteter und »nachhaltiger« Sozialpolitik zugrunde. Während die Kommission zunehmende Probleme zu sehen glaubt, die vor allem aus der rasch steigenden Wettbewerbsfähigkeit der neuen Industriezentren dieser Welt resultieren, befürchten insbesondere die Gewerkschaften, dass der Verlust der privilegierten Wettbewerbsposition europäischer Unternehmen in einen Abbau der bestehenden Beschäftigungsbedingungen und Sozialstandards münden werde. Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass beide Seiten gute Argumente für sich reklamieren können. Und es trifft gleichfalls zu, dass die Position der einen auf das Trefflichste mit den Interessen der Wirtschaft harmoniert, während die andere Seite sich den Vorwurf gefallen lassen muss, die Interessen von Arbeitslosen und Outsidern zu ignorieren.

Die Kommission hat sich mit Blick auf die absehbaren Herausforderungen (und mit freundlicher Tolerierung durch die wesentlich zurückhaltender agierenden nationalen Regierungen) zur Propagierung eines Modernisierungsprogramms entschlossen, das 2000 in der sogenannten Lissabon-Strategie Ausdruck fand. In einem Anfall probleminspirierten Größenwahns hatte man beschlossen, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen: mittels konsequenter Modernisierung, Flexibilisierung der institutionellen Instrumente und forcierter Beschäftigungsförderung (daher auch der Name »Agenda 2010«).

Den Prioritätenwechsel von den Arbeits- zu den Beschäftigungsbedingungen haben die Gewerkschaften zunächst halbherzig toleriert, aber seit dem Agenda-Konflikt in Deutschland und (weitgehend gescheiterten) Anläufen zur Arbeitsmarktreform in Frankreich, Italien und Spanien mit Nachdruck bekämpft. Nach ihrer und der Ansicht einiger Linksparteien, wie etwa der Linken in Deutschland und der Sozialisten in Frankreich, ist die EU für nahezu alle negativen Auswirkungen der Globalisierung auf die Arbeitsmärkte verantwortlich. In dieser Annahme begründet sich der reklamierte Vorrang des Interessenschutzes der akut Beschäftigten. Man fordert »Vollbeschäftigung«, aber lehnt jede Aufweichung des »Normalarbeitsverhältnisses« ab. Nach dem gewerkschaftlichen Verständnis von einem »Sozialen Europa« steht allein der Staat in der Verantwortung, Vollbeschäftigung herzustellen.(3) Der wirtschaftspolitische Autonomieverlust der nationalen Regierungen findet keine Beachtung. Eine Mitverantwortung der Tarifparteien für das Beschäftigungsniveau lehnt ETUC ausdrücklich ab. Zur Ablenkung von der Beschäftigungsproblematik entwickelte man die Forderung nach »guter Arbeit«,(4) die inzwischen in die Wahlkampfstrategie der SPD aufgenommen wurde.

III.

In der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts kam ? vor allem in den kontinentaleuropäischen Industrieländern ? eine äußerst kritische Betrachtung des keineswegs neuartigen Phänomens »Globalisierung« auf. Das beschleunigte Wirtschaftswachstum ehemaliger Entwicklungs- und Schwellenländer, deren elende Situation man jahrzehntelang bedauerte, schien den avancierten Industriegesellschaften zum Problem zu werden. Diese Diagnose enthält sowohl ein zutreffendes wie ein unrichtiges Urteil.

Zutreffend ist die Feststellung, dass die Weltwirtschaft in diesen Jahren einen tief greifenden Wandel erfährt, in dem sich das Verhältnis zwischen »reichen« und »neuen« Industrieländern grundlegend verändert. Hintergrund dieser Entwicklung ist die weltweite Ausbreitung von marktwirtschaftlichen Institutionen nach dem Niedergang der sozialistischen Staatswirtschaften. Die »neuen« Industrieländer(5) bestreiten seit 2006 zusammen schon mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung, wenn diese nicht anhand von marktüblichen, sondern von kaufkraftgewichteten Wechselkursen errechnet wird. Sie sind auch für gut die Hälfte, gegen Ende der Wirtschaftskrise vermutlich für mehr als die Hälfte, der weltwirtschaftlichen Wachstumsrate verantwortlich, die 2003?2007 den historischen Spitzenwert von 4,8 Prozent erreichte. Die Annahme, dass sich dahinter vor allem das Wirtschaftswunder China verbirgt, trifft nicht zu. Die vier größten emerging economies, nämlich Brasilien, Russland, Indien und China, repräsentieren lediglich 40 Prozent der Produktionskapazität aller »Neuen«. Nach plausiblen Hochrechnungen werden die »Neuen« in zwanzig Jahren zwei Drittel des realen Welt-Sozialprodukts (nach Kaufkraftparitäten gewichtet) bestreiten. Und der Welt-Sozialproduktanteil der EU-15 (das sind die EU-Mitgliedsländer vor der Osterweiterung), der 2000 noch gut 20 Prozent betrug, wird bis 2040 auf nur noch fünf Prozent sinken (Fogel 2007).

Unzutreffend ist die Annahme, dass mit dem Verlust des Kompetenzvorsprungs Europas und seiner diversen Alleinstellungsmerkmale ein schleichender Prozess der Verelendung einsetzen wird. Vielmehr wird den »alten« Industrieländern der Triade (EU, Japan, USA) für 2040 das Dreifache des Durchschnittseinkommens im dann weltgrößten Industriestaat China prognostiziert. Und für die USA wurde errechnet, dass höchstens 26 bis 29 Prozent aller Arbeitsplätze überhaupt zur Verlagerung ins Ausland geeignet (»offshorable«) sind (Blinder 2007).(6)

Allerdings finden die gravierendsten Auswirkungen des globalen Strukturwandels noch keine angemessene Beachtung. Sie betreffen neben dem positiven Einfluss auf Preisniveau und Güterangebot (z. B. billige Elektronik- und Textilprodukte, erschwingliche Fahrzeuge) vor allem die Temposteigerung des ökonomischen und sozialen Wandels. Europas gewichtigste Anpassungsprobleme resultieren aus der Geschwindigkeit eines außeninduzierten Strukturwandels, dem mit den klassischen Instrumenten der Wirtschafts- und Industriepolitik, zum Beispiel Forschungs- und Investitionsförderung, nicht mehr beizukommen ist. Die einzige Möglichkeit, Schritt zu halten, besteht darin, den fortlaufenden Strukturwandel der europäischen Volkswirtschaften zu erleichtern und für die Menschen erträglich zu gestalten. Das ist aber mit den verbreiteten Vorstellungen von enger beruflicher Spezialisierung, kontinuierlicher Beschäftigung und einer linearen Lebenslaufplanung nicht vereinbar. Außerdem kollidieren die differenzierter und wechselhafter werdenden Bedingungen des Erwerbslebens mit den tradierten Formen der sozialstaatlichen Sicherheitsgewähr.

Die beschleunigte Obsoleszenz der Industriestruktur, die Abwanderung arbeitsintensiver Industrien, die hohe Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten und eine ? trotz Mindestlohnregeln ? zunehmende Spreizung der Reallöhne und Lohnerhöhungsspielräume sind jedoch keine unvermeidlichen Folgen des Aufstiegs ferner Wirtschaftsregionen, sondern zum größten Teil »institutionell« bedingt: Sie resultieren aus der Diskrepanz zwischen einer sich rasch wandelnden ökonomischen Umwelt auf der einen Seite und einem tradierten Institutionenmuster auf der anderen, Letzteres stabilisiert durch vergangenheitscodierte Wahrnehmungsfilter, institutionalisierte Konfliktroutinen und einen engen Interessenhorizont der zuständigen Akteure. Im Lichte dieser Diskrepanz mutet die Modernisierungsinitiative der EU nicht als überflüssig oder unangebracht, sondern eher als zaghaft und materiell unzureichend an.

 

Wie könnte eine vorausschauende europäische Sozialpolitik darauf antworten? Forderungen und Vorschläge aus dem Spektrum der europabewussten Mitte-links-Parteien suggerieren, die EU verfüge über geeignete Mittel, den Mitgliedsländern und insbesondere deren lohnabhängiger Erwerbsbevölkerung einen wirksamen Schutzschirm zu zimmern. Dabei werden jedoch die faktischen Unterschiede und ungleichen normativ-ideologischen Überzeugungen in der Bevölkerung verkannt.

Die Vorstellung, es existiere ein alle Mitgliedsländer umfassendes Europäisches Sozialmodell (ESM) ist irreführend. Die Rede vom ESM macht nur insofern Sinn, als alle Mitgliedsländer die staatliche Verantwortung für die soziale Sicherheit ihrer Bürger anerkennen. Tatsächlich finden sich in der Europäischen Union nicht weniger als fünf unterschiedliche Sozialstaatstypen, von denen jeder für sich mit je besonderen Problemen und Reformbedarf belastet ist. Weil die bestehenden Sicherungssysteme unweigerlich die Lebensplanung und Verhaltensmuster der Bürger geprägt haben, sind unter den Bedingungen des demokratischen Parteienwettbewerbs in der Regel nur »pfadabhängige« Reformen möglich.

So bilden der skandinavische und der angelsächsische Sozialstaatstypus zwei diametral entgegengesetzte Ausprägungen des modernen Wohlfahrtsstaats. Beide wiesen bis vor Kurzem ein hohes Beschäftigungsniveau auf, was sich im einen Fall einer hohen Abgabenbelastung der Bürger verdankt, im anderen dem Umstand, dass die Bürger sich ein ausreichendes Versorgungsniveau nur durch private Zusatzaufwendungen am Markt verschaffen können. Gleichwohl lehnen die politischen Parteien beider Länder eine einheitliche EU-Sozialpolitik entschieden ab.

Die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten stellen sich keineswegs als günstigere Variante dar. Ihr öffentlicher Beschäftigungssektor ist nur wenig größer als der des angelsächsischen Typs und der Beschäftigungsanteil der Privatwirtschaft eher niedriger als im skandinavischen Modell. Diese Kombination zweier Handikaps verdankt sich dem hoch entwickelten Insiderschutz, der nicht nur Zusatzaufwendungen für die Versorgung der ausgeschlossenen Personen bedingt, sondern auch mit institutioneller Erstarrung einhergeht. Hohe lohnbezogene Abgaben und eine restriktive Stellenpolitik im öffentlichen Sektor behindern flexible und reibungsarme Allokationsprozesse an den Arbeitsmärkten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs. Weil die »Insider« des Arbeitsmarkts ihre Position dennoch nicht als dauerhaft gesichert ansehen, sondern im Gegenteil durch die Präsenz von »prekärer« und Niedriglohnbeschäftigung verunsichert sind, pochen ihre Interessenvertreter auf die Durchsetzung von Beschäftigungsnormen, die weder mit dem Strukturwandel noch mit den Interessen der Arbeitsmarkt-»Outsider« vereinbar sind.

Noch ungünstiger liegen die Dinge in den mediterranen und osteuropäischen Sozialstaaten, die wiederum zwei unterschiedliche Typen darstellen. Extremen Insiderprivilegien (vgl. die Senioritätsrechte in Spanien, Italien und Griechenland) und gravierenden Finanzproblemen (vgl. den Extremfall Ungarn) stehen weitreichende, aber unerfüllbare Ansprüche großer Teile der Erwerbsbevölkerung gegenüber. Aus den Linksparteien des Mittelmeerraums stammen folglich die vehementesten Forderungen für sozialpolitische EU-Interventionen. Die osteuropäischen EU-Mitglieder streben ebenfalls nach einem dem Westen angenäherten Sicherungsniveau und beklagen die Beschränkungen, die ihnen durch selektive Marktzutrittsschwellen und anspruchsvolle Sozialstandards auferlegt wurden.

Die einzelnen Sozialstaatstypen stellen sich den Herausforderungen von EU-Binnenmarkt und Globalökonomie auf unterschiedliche Weise. Der auf den kontinentalen Sozialstaaten lastende Reformdruck droht, sie in die Nähe des minimalistischen Sozialregimes angelsächsischer Prägung zu treiben. Dieses bietet in Krisenzeiten zwar nur einen sehr löcherigen Schutzschirm, aber ermöglicht durch die enge Kopplung zwischen Wachstum und Beschäftigung ein sehr niedriges Niveau von struktureller Arbeitslosigkeit. Die mediterranen Sozialstaaten haben dagegen mit ihrer tiefen Insider-Outsider-Spaltung zu kämpfen und sind, ähnlich wie die osteuropäischen Beitrittsländer, von den Folgen ihrer unzulänglichen Armuts- und Inklusionspolitik betroffen (Ferrera et al. 2000).

Wenn man von den besonderen Problemen Schwedens (Steuerprotest und Kapitalflucht, Erschöpfung öffentlicher Beschäftigungsoptionen) absieht, kommt am ehesten dem skandinavischen Sozialstaatstypus eine Vorbild-, zumindest aber Anregungsfunktion zu. Dänemark, Finnland, Schweden sowie die Niederlande haben seit den Achtzigerjahren immer wieder innovative Antworten auf den Strukturwandel und die daraus folgenden Beschäftigungskrisen gefunden. Am bekanntesten ist das Flexicurity-Konzept.

Flexicurity meint eine Kombination von beschäftigungsfördernden Maßnahmen der Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht mit Regelungen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Weiterqualifikation und Arbeitsplatzsuche. So wurde etwa in skandinavischen Ländern, die ihre Arbeitslosenquote mittels Flexicurity deutlich verringerten, der Abbau des Kündigungsschutzes mit relativ großzügiger Arbeitslosenunterstützung und effektiven Wiedereingliederungsmaßnahmen kombiniert.

Nach einem Vorschlag der EU-Kommission sollte das Flexicurity-Konzept breitere Anwendung finden und helfen, »ein neues Gleichgewicht zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit« zu schaffen (Kaufmann/Schwan 2007). Nachdem die Initiative zunächst von ETUC unterstützt wurde, stieß sie bei nationalen Gewerkschaften sowie sozialistischen und grünen Parteien auf entschiedene Ablehnung. Während das Konzept im Interesse größerer Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes lediglich Beschäftigungssicherheit verspricht, bestehen die Kritiker auf der Gewährleistung von Arbeitsplatzsicherheit. Sie vertreten die kontrafaktische Auffassung, der Wandel von Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur ließe sich mit quasi-gesetzlichen Mitteln unterbinden (vgl. Wiesenthal/Goymann 2008).

Wie gering der Spielraum für materiell wirksame, einheitliche Standards sozialer Sicherheit ist, zeigt sich auch an den widersprüchlichen Präferenzen der kontinentaleuropäischen Mitte-links-Wählerschaft. Ihr ? von Sozialisten, Sozialdemokraten und Grünen propagiertes ? sozialpolitisches Credo lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: mehr Gleichheit, mehr Verbindlichkeit, weniger Solidarität.

Das Gleichheitspostulat zielt ganz im Sinne der ursprünglichen Binnenmarktorientierung auf Wettbewerbsneutralität: Gleiche Sozialstandards sollen verhindern, dass Länder mit niedrigeren Löhnen und Sozialleistungen für ein »race to the bottom« sorgen. Die Klage über ungenügende Verbindlichkeit sozialpolitischer Regelungen bezieht sich auf die 1997 mit der europäischen Beschäftigungsstrategie eingeführte »Offene Methode der Koordinierung« (OMK). Sie findet dort Anwendung, wo »es der Europäischen Gemeinschaft an gesetzgeberischer Kompetenz fehlt, gleichwohl aber gemeinsames und gemeinschaftliches Handeln der Mitgliedstaaten wünschenswert ist« (Schulte 2004: 89). Zunächst wegen eines vermeintlich starken Präjudizcharakters kritisiert (Offe 2005, Schmähl 2005). wird die OMK heute als viel zu unverbindliches und zahnloses Regelungsinstrument (Schulz 2007) angesehen. Deshalb fordern die deutschen, französischen und weitere grüne Parteien, Mehrheitsentscheidungen des (Minister-) Rats über alle sozialpolitischen Themen vorzusehen. Das würde bedeuten, dass die EU die Autonomie der nationalen Parlamente aufheben und effektiv in deren Budgetrecht eingreifen dürfte. Doch diese Möglichkeit hat das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 ausgeschlossen: Den Mitgliedstaaten muss in jedem Fall ausreichender Raum zur Gestaltung der sozialen Lebensverhältnisse bleiben; die Letztentscheidung über Einnahmen und Ausgaben des Staates bleibt beim nationalen Gesetzgeber.

Das Postulat weniger Solidarität ist dem tatsächlichen Verhältnis zwischen den wohlhabenden Alt- und den ärmeren Neumitgliedern der EU ablesbar. Letztere, das heißt die EU-Mittelmeerländer und die osteuropäischen Beitrittsländer, bau(t)en darauf, dass ihnen die Integration in den EU-Binnenmarkt einen beschleunigten Aufholprozess ermöglicht, in dessen Verlauf die anfangs beträchtliche Wohlstandskluft verschwindet. Dass sie dabei von niedrigeren Löhnen und Sozialtransfers profitieren, stand außer Frage und galt in den ersten Jahrzehnten der EU als legitim. Aber die wachsende Krisenempfindlichkeit der Wählerschaft in den reicheren Ländern stellte diese Voraussetzung für wünschenswerte Angleichungsprozesse in ein schiefes Licht.

So sahen sich Frankreich, Österreich und Deutschland Mitte der Neunzigerjahre veranlasst, gegen die Entsendung niedrig entlohnter Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum vorzugehen und setzten eine restriktive Entsende-Richtlinie durch (Eichhorst 2000). Indem für Arbeitnehmer im Dienste ausländischer Firmen ein Rechtsanspruch auf den im Gastland geltenden Mindestlohn begründet wurde, bewirkte man, dass die dadurch »begünstigten« Arbeitnehmer gar nicht erst im Gastland tätig werden konnten. In analoger Weise zog man 2005 erfolgreich gegen das Herkunftslandprinzip im (Bolkestein-) Entwurf zur Dienstleistungsrichtlinie zu Felde. Beide Fälle demonstrieren den hierzulande in keiner Weise als fragwürdig angesehenen Willen, ärmere EU-Neumitglieder diskriminierenden Regeln mit einer stark asymmetrischen Verteilung von Nutzen und Kosten zu unterwerfen. Während ein offener Marktzugang von den »Neuen« mit der rascheren Einebnung der bestehenden Unterschiede quittiert worden wäre, hätten die Kosten der Öffnung bei den »Alten« nur eine marginale, vermutlich kaum messbare Verschlechterung gebracht (die im Übrigen von graduellen Vorteilen für Konsumenten begleitet worden wäre).

Die Bereitschaft von Wählermehrheiten, den Angleichungsprozess durch Marktöffnung und Unterstützung des unvermeidlichen Strukturwandels zu fördern, ist inzwischen gegen Null gesunken. Betrachtet man ein gewisses Maß an transnationaler Solidarität als Mindestvoraussetzung für materiell wirksame EU-Sozialpolitiken, so ist gegenüber den grassierenden Forderungen nach »mehr« Sozialpolitik große Skepsis angebracht. In dieser Situation bleibt für konsensfähige Fortschritte kaum mehr als die Komplettierung des Katalogs von Regelungsaufgaben und Mindestnormen. Ihr Nutzen sollte nicht unterschätzt werden. Immerhin wirken sie in den reicheren Ländern als Sperrklinke gegen drohende Rückschritte und in den ärmeren als Anstoß zur Angleichung der effektiven Normen.

IV.

Die vom Wertverfall an den Finanzmärkten ausgelöste Wirtschaftskrise hat die Bedingungen für eine Ausweitung der sozialpolitischen Funktionen der EU nicht gerade verbessert. In einigen Mitgliedstaaten kam es zu protektionistischen Interventionen; Vorschläge für gemeinschaftliche Initiativen und Sicherheitsnetze fanden wenig Anklang. Offensichtlich hat die schon vor der Krise beträchtliche Diversität von Präferenzen und Positionen noch einmal zugenommen und den Vorstellungen von einer vertieften »positiven« Integration den Boden entzogen. So nimmt es nicht wunder, dass angesichts des »utopischen Ziel(s) einer gemeinsamen Sozialpolitik für 27 Staaten« sogar vorgeschlagen wird, engere »Grenzen für die wirtschaftliche Integration« zu erwägen (Fritz W. Scharpf im Streitgespräch mit MdEP Jo Leinen).(7)

Das wechselhafte Schicksal des Verfassungsentwurfs und des Lissabonner Reformvertrags offenbart zwei gegensätzliche Trends in der Folge der EU-Erweiterung: auf der einen Seite die Zunahme der Interessenunterschiede im Kreis der Mitgliedsländer und auf der anderen eine Inflation der Erwartungen und Forderungen an die EU-Politik. Reichlich Enttäuschung dürfte unvermeidlich sein.

Ein Blick auf die Positionen im Mitte-links-Spektrum des Europaparlaments, wie sie sich 2008 darboten (vgl. Wiesenthal/Goymann 2008), offenbart erhebliche Differenzen, die sich unter anderem auf die Sozialstaatstypik zurückführen lassen (Busemeyer u. a. 2006). So schätzen die skandinavischen Linken ausdrücklich einen für andere inakzeptablen Regimewettbewerb. Doch selbst die deutsche Sozialdemokratie spricht sich für die Beibehaltung der »Heterogenität der nationalen Wege« (Schulz 2007) aus und ist sich mit den hiesigen Gewerkschaften einig, dass supranationale Sozialpolitik wenig Sinn machen würde. Das sehen die Gewerkschaften sowie die politische Linke in den mediterranen Wohlfahrtstaaten anders.

Gravierende Differenzen bestehen auch bei der Forderung nach einer engen Koordinierung von Lohn- und Beschäftigungspolitik. Sie wird von Sozialdemokraten in postkommunistischen, kontinentaleuropäischen und mediterranen Ländern befürwortet, aber von den Schwesterparteien in Skandinavien und Großbritannien sowie den meisten Gewerkschaften entschieden abgelehnt. Noch weniger Konsens findet die Idee eines verbindlichen Mindestlohns, hinter der allein die mediterranen Linken stehen.

Die von kontinentaleuropäischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten geforderte Zähmung des Steuerwettbewerbs durch Mindest-Unternehmenssteuern lehnen wiederum die Schwesterorganisationen in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern ab. Folglich fehlt es auch an einer »linken« Mehrheit für eine Stärkung der EU-Kompetenzen im Steuerrecht.

Offensichtlich ließen sich derart kontroverse Themen allenfalls im Rahmen der »Offenen Methode der Koordinierung« (OMK) behandeln. Dem widerspricht allerdings der sozialdemokratische Wunsch, der OMK höhere Verbindlichkeit zu verschaffen. Denn mit jedem Grad höherer Verbindlichkeit verengt sich zwangsläufig der Kreis der behandelbaren Themen, weil sich kein Mitgliedstaat blanko verpflichten, wird allem zu folgen, was ihm gegen seinen Willen auferlegt werden kann.

Unter dem Strich bleiben folglich nur solche von Mitte-links präferierten Politikoptionen, die auf die Ausdehnung oder Komplettierung von Mindestnormen und allgemein gefassten, im nationalen Rahmen auszufüllenden Regelungsbedarf abstellen. Dazu zählen die weitere Harmonisierung von arbeitsrechtlichen Standards, die Weiterentwicklung des sozialen Grundrechte-Katalogs der Sozialcharta, Fortschritte bei der Portabilität und Übertragbarkeit sozialrechtlicher Ansprüche (die die Mobilität der Arbeitnehmer fördern und zur Erleichterung sozialverträglicher Fluktuation beitragen) sowie verbesserte Inklusionschancen von Behinderten, Älteren und Arbeitskräften mit geringer Qualifikation. Weniger aussichtsreich, aber wert, im Rahmen der OMK angestrebt zu werden, sind einheitliche Regeln für national festzusetzende Mindestlöhne, Mindest-Unternehmenssteuern sowie Steuerbemessungsgrundlagen und relative Mindestversorgungsniveaus in typisierten Bedarfslagen (wie Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter).

Speziell den Europa-Grünen, die sich im letzten Europaparlament oft auf eine pauschale Unterstützung der gewerkschaftlichen Defensive beschränkten, ist die Rückbesinnung auf die genuinen Wertorientierungen und die sachpolitische Kompetenz der Grünen zu raten. Dazu gehört, die eigenen sozialpolitischen Positionen wieder an sozialemanzipatorischen Kriterien auszurichten und den Zukunftsproblemen und institutionellen Lücken mehr Aufmerksamkeit zu schenken als Politiken des Insiderschutzes und der exklusiven Bestandssicherung. Angesichts des sich beschleunigenden Strukturwandels gilt es, das Augenmerk vor allem auf die Hindernisse der sozialen und wirtschaftlichen Inklusion zu lenken sowie Optionen der sozialverträglichen Modernisierung von Beschäftigungs- und Sicherungsformen zu erproben, zu denen ausdrücklich auch solche jenseits des Normalarbeitsverhältnisses gehören.

Dafür ist unter anderem die Wiederaufnahme der Flexicurity-Thematik geeignet. Hier gilt es, einen Katalog von Mindestbedingungen der beschäftigungspolitisch sinnvollen Flexibilität und sozialpolitisch unabdingbaren Unterstützungen zu erarbeiten, an dem sich die Praxis der einzelnen Mitgliedsländer messen ließe. Mit der Forderung von Arbeitsplatzsicherheit und der Abwehr aller institutionellen Innovationen werden die Folgen des weltwirtschaftlichen Wandels für Europa wesentlich härter als notwendig ausfallen: Weniger Anpassungsflexibilität bedeutet mehr soziale Exklusion und mehr chancenlose »Outsider«.

V.

Das neu gewählte Europaparlament wird sich mit einer Fülle von Erwartungen konfrontiert finden, welche die Mehrheitsfindung für zeitgemäße sozialpolitische Initiativen extrem schwierig machen. Sollte der Wirtschaftseinbruch, wie Experten meinen, seinen Tiefpunkt noch vor sich haben, dürfte die Neigung der Politik zu kurzfristigen schmerzdämpfenden Maßnahmen noch erheblich zunehmen. Unter diesen Bedingungen sich mit zukunftbestimmenden Entwicklungen und der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels zu befassen, dem sachlich »Richtigen« den Vorzug vor dem bloß »Gefälligen« zu geben, dürfte den Beteiligten schwerfallen. Sofern überhaupt Aussicht besteht, dem Sog der Tagespolitik und des myopischen(8) Populismus zu entgehen, richten sich Hoffnungen und Ansprüche vor allem an die Grünen, die aus ihrer Frühgeschichte über Erfahrungen mit der Thematisierung ungeliebter Wahrheiten verfügen. Es sind mindestens drei Themenfelder, in denen es darauf ankommt, Farbe zu bekennen ? und sei es nur durch Aufzeigen der Logik einer wahrhaft »nachhaltigen« Sozialpolitik.

Themenfeld eins betrifft die Diagnose von Zustand und Wandel der Weltwirtschaft. Zeitgemäße Reformkonzepte wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Natur müssen in Rechnung stellen, dass der Aufstieg der emerging economies für die Volkswirtschaften der EU nicht nur eine tief greifende Veränderung der Sektoral- und Qualifikationsstrukturen, sondern ? wegen der zunehmenden Verschiebung der ökonomischen Gewichte ? auch eine erhebliche Beschleunigung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels bringt. Und der notwendige Anpassungsprozess wird durch die Wirtschaftskrise nicht vertagt, sondern empfindlich beschwert: Die flexibleren Arbeitsmärkte, die liberalere Marktverfassung und die schwächer ausgeprägte Sozialstaatlichkeit der neuen Industrieländer werden sich als Tempobeschleuniger der wirtschaftlichen Erholung auswirken und den Adaptionsdruck auf die finanziell geschwächten Sozialstaaten Europas erhöhen.

Themenfeld zwei betrifft den Konflikt über die Zielprioritäten der sozialpolitischen Regulierung. Wird sich die Politik unter dem Druck der Interessenten auf die Verteidigung und Aufbesserung etablierter Insider-Positionen (Subventionsempfänger, Exporteure, Industriebeschäftigte) beschränken oder ihre Aufmerksamkeit in mindestens gleichem Umfang auf die Förderung neuer Optionen der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und der Inklusion aller Arbeitnehmerkategorien richten?

Im dritten und erfahrungsgemäß besonders kontroversen Themenfeld stehen die Erweiterung und der allmähliche Wandel des sozialpolitischen Instrumentenkatalogs zur Debatte. Ihre Notwendigkeit folgt aus den neuen Herausforderungen und Restriktionen der Sozialpolitik (vgl. Schmögnerová 2005): dem demografischen Wandel, dem wirtschaftlichen Strukturwandel zur Wissensgesellschaft, dem beschleunigten Technologiewandel und der Internationalisierung des Wettbewerbs. Diesen Veränderungen Rechnung zu tragen, bedeutet, der Kontinuität von Unternehmen und der Arbeitsplatzsicherheit der Arbeitnehmer weniger Gewicht beizulegen als den Voraussetzungen von Innovation, Faktormobilität und Beschäftigungschancen. Das heißt neben die traditionellen Zweige einer bedarfs- und statusorientierten Versorgung müssen Präventions- und soziale Investitionsstrategien treten, welche die »Unterschiede im produktiven Potential und den initial endowments der Marktteilnehmer« korrigieren (Streeck 1998: 45), das heißt eine faire Verteilung von Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen. Im Vordergrund stehen nicht mehr so sehr die Umverteilung der Wettbewerbsfrüchte, sondern die Offenheit von Bildungsgängen, die Absenkung der Zugangsschwellen in allen Arbeitsmarktsegmenten und eine Neukalibrierung der sozialen Sicherungen (Ferrera u. a. 2000) zugunsten der sozial Ausgeschlossenen, der Beschäftigungschancen von Alleinerziehenden, der Betreuung chronisch Pflegebedürftiger und anderes mehr.

Was aber bei allen Mutmaßungen über nachhaltige Innovationen in der europäischen Sozialpolitik nicht vergessen werden darf, ist ihre noch lange Zeit bestehende Abhängigkeit vom Vorlauf engagierter Debatten im nationalen Rahmen. Die Vorstellung, »Europa« könnte bewirken, was man »vor Ort« nicht zu vertreten wagt, geht gründlich fehl.

1

Sechs von zwölf Artikeln betreffen Grundrechte der Arbeitnehmer (Recht auf Unterrichtung und Anhörung, auf gerechte Arbeitsbedingungen und Kollektivverhandlungen, Verbot der Kinderarbeit usw.), drei weitere Artikel begründen in allgemeiner Form das Recht auf »sozialen Schutz« ? etwa der Familie (Art. II-93) ? bzw. »soziale Sicherheit« (bei Krankheit, im Alter usw., Art. II-94). Ein eigener Artikel bestimmt das Recht auf Gesundheitsschutz und ärztliche Versorgung (Art. II-95).

2

Die Autorschaft dieser Einfügung reklamieren die österreichischen Grünen für ihr MdEP Johannes Voggenhuber als Mitglied des Verfassungskonvents.

3

»Social Europe has five main characteristics: ? state responsibility for full employment ?«, http://www.etuc.org/ r/816

4

ETUC 2008: »Quality of Jobs at Risk! An Overview from the Etuc on the Incidence And Rise of Precarious Work in Europe«, http://www.etuc.org/a/4723

5

Nach dem Bertelsmann-Transformations-Index 2008 der Entwicklungs-, Schwellen- und Reformländer waren es 2007/08 genau 100 Staaten, die eine »gute« oder »sehr gute« Wirtschaftsleistung aufwiesen (http://www.bertelsmann-transformation-index.de/11.0.html).

6

Für die stärker industriell bestimmte Wirtschaftsstruktur Deutschlands ist wohl ein etwas höherer Anteil zu veranschlagen.

7

Abgedruckt in: Gesellschaftsforschung (Hauszeitschrift des MPIfG, Köln) 2/09, S. 6?9 (http://www.mpifg.de/aktuelles/newsletter/MPIfG_Newsl_2-09.pdf).

8

Ein Begriff aus der evolutionären Spieltheorie. Myopisch heißt kurzsichtig und beschreibt ein Verhalten, bei dem der betreffende Spieler nur einen (oder wenige) Denkschritte vornimmt anstatt, die gesamte Situation bis zum Ende zu durchdenken, wie es ein vollständig rationaler Spieler tun würde.

Literatur

Blinder, Alan S. (2007): »How Many U.S. Jobs Might Be Offshorable?«, Princeton University, CEPS Working Paper No. 142

Busemeyer, Marius R./Kellermann, Christian/Petring, Alexander/Stuchlik, Andrej (2006): Politische Positionen zum Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell ? eine Landkarte der Interessen, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung

Eichhorst, Werner (2000): Europäische Sozialpolitik zwischen nationaler Autonomie und Marktfreiheit. Die Entsendung von Arbeitnehmern in der EU, Frankfurt am Main/New York: Campus

Ferrera, Maurizio/Hemerijck, Anton/Rhodes, Martin (2000): The Future of Social Europe: Recasting Work and Welfare in the New Economy, Report to the Portuguese Presidency of the European Union

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