Dunja Melcic

 

Ein völkerrechtliches Experiment mit gemischten Ergebnissen

 

Anderthalb Jahrzehnte internationale Strafgerichtsbarkeit in Den Haag

 

 

Die Gründung des Den Haager Kriegsverbrecher-Tribunals war ein großer Schritt in der internationalen Rechtsprechung. Vorbild war das Nürnberger Tribunal, doch wurde im Statut des Den Haager Gerichtshofs unterlassen, eine genaue Bestimmung des postjugoslawischen Krieges und seiner Verursacher zu definieren. Dies führte, wie die Autorin zeigt, zu großen Unsicherheiten sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei den Richtern. So blieben Tür und Tor für zahlreiche und teilweise haarsträubende Fehlinterpretationen offen.

 

»? die Hauptaufgabe eines Historikers ist, zunächst einmal davon auszugehen, dass immer alles anders war als gesagt ... Die zweite Regel ist, dass alles immer anders ist als gedacht.«
Reinhart Koselleck
(1)

Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für Kriegsverbrechen des Jugoslawienkrieges (ICTY) ist ein neues Kapitel im Völkerrecht aufgeschlagen worden. Zugleich haben die UN mit der Gründung dieses Ad-hoc-Tribunals einen Prozess und eine Ereigniskette von unerwarteter Komplexität sowie unbeabsichtigten und noch unabsehbaren Folgen in Gang gesetzt. Die Kompliziertheit des Geschehens hat in erheblichem Maße mit den Widersprüchlichkeiten zu tun, die sowohl die Beweggründe als auch die Zielsetzungen der Entscheidung des höchsten Weltgremiums im Frühjahr 1993 durchdrangen. Was diese Kompliziertheit noch potenziert, ist das Recht selbst, das heißt, sind die Konsequenzen, die sich aus der Natur des Rechtssystems ergeben, in das die besagten widersprüchlichen Entscheidungen, Festlegungen und Zielsetzungen eingepfercht werden, woraus eine eigentümliche Spannung zwischen der Auslegung des neuen, erst gesetzten Gesetzes in der Rechtsprechung und diesem an sich entsteht. Das wird an der extrem unterschiedlichen Qualität der juristischen Praxis des Gerichts sichtbar, und zwar sowohl jener seitens der Staatsanwaltschaft (die in Den Haag den Namen »Office of the Prosecutor«, OTP, trägt) als auch jener seitens der Richterschaft (in den drei Strafkammern und zwei Berufungskammern). So stehen nebeneinander Entscheidungen, die einen wahren Durchbruch des Internationalen Strafrechts bedeuten und schon Rechtsgeschichte schreiben, und solche, die eine Rechtsverkehrung darstellen.

Rechtsgeschichtlich betrachtet steht die Errichtung des UN-Tribunals im Zusammenhang mit dem »Umbruch« des Völkerrechts, der durch den Widerstreit über die »Abgrenzung von ?Innen und Außen? im Völkerrecht« ausgelöst wurde, wie der Hamburger Völkerrechtler Stefan Oeter ausführt.(2) Im Hintergrund ist aber auch ein allgemeiner Umbruch spürbar, ein noch nicht durchmessener historischer Wandel, der hier seine Vorzeichen auch in Gestalt des Paradoxons sendet, dass sich die Weltöffentlichkeit, die durch ihr hauptsächliches Organ, die UN, dieses Gericht gründen ließ, kaum dafür interessiert, obwohl es für die Gründung dieses Kriegsverbrechertribunals einen unvergleichlichen Konsensus in der ganzen Welt gab. Dagegen waren freilich jene, die das Grauen angezettelt haben, dessen mediale Präsentation die entlegendsten Winkel der Erde erreichte. Im Übrigen soll auch nicht vergessen werden, dass die Opfer der serbischen Aggression mit jugoslawischen Mitteln ? Kroatien und Bosnien-Herzegowina ? zuvor auf die Errichtung einer internationalen Strafinstanz drängten. Die Folge ist, dass man bei der Analyse der Praxis aber auch bei der Rezeption der Rechtsprechung des ersten Gerichts, das Kriegsverbrechen gemäß dem modernen internationalen Strafrecht beziehungsweise dem »International Criminal and Humanitarian Law« (ICHL) ahndet, auf noch wenige und oft fragmentarische Forschungsergebnisse zurückgreifen kann. Besser bestellt ist es um die Verfügbarkeit des Materials und die Dokumentation von Verfahren und Entscheidungen. Das alles ist vom ICTY selbst recht gut aufgearbeitet worden ? wenn man von der nicht unerheblichen Menge an unzugänglichem Material absieht ? und auf der Homepage des Gerichts zu finden (http://www.icty.org/).

 

Das nicht ganz ungewollte Versäumnis

Die Errichtung des Tribunals wirkte wie ein plötzlicher Sprung in eine ferne Zukunft. Denn der Stand, aus dem er gemacht wurde, war ja noch ganz durch die Kategorien der alten Nachkriegsordnung geprägt. So gesehen war dieser Entschluss eine kühne Pionierstat, die auch deshalb überraschte, weil zuvor vierzig Jahre lang über die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs ergebnislos diskutiert wurde.

Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gesetzgeber beim Verfassen des Gesetzes und der Gestaltung dieses speziellen Gerichts der Pioniersmut verlassen hat. Denn die Basis dieser Entscheidung wurde durch dasselbe Gremium vorgelegt, das während des vierjährigen Konflikts bis auf eine Ausnahme vermied, von einem Angriff zu sprechen. In der UN-Charta aber steht geschrieben (Artikel 39), dass »der Sicherheitsrat« feststellt, »ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt«.

In den wiederholten Resolutionen der Jahre 1991?1995 hat sich der Sicherheitsrat mehr oder minder geschickt über diese Pflicht hinweggesetzt, indem er auf eine genaue Feststellung, was hier »vorliegt«, verzichtete. Als er mit der Resolution 827 die Errichtung des Tribunals beschloss, baute der Rat auf dieser fehlenden Feststellung auf: Es wird also das erste Internationale Gericht nach dem Vorbild des Militärgerichts zu Nürnberg errichtet, und gleichzeitig versäumt, im Statut dieses Tribunals den Eroberungskrieg als den Auslöser der Kriegsverbrechen zu benennen, die wiederum das Statut des Nürnberger Prozesses an erster Stelle anführt: Es lautet »Verbrechen gegen den Frieden: nämlich Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Führung eines Angriffskrieges ?« Über die Gründe für diese konzeptionellen Unzulänglichkeiten möchte ich ausgehend von vielen Indizien plausible Vermutungen anstellen: Die vorherrschende Meinung unter den damaligen Politikern in den Mitgliedstaaten der obersten UN-Gremien und in den einflussreichsten Weltmedien über den Krieg im zerfallenden Jugoslawien war, dass es sich dabei um eine Art Bürgerkrieg beziehungsweise einen ethnischen Konflikt gehandelt hat. Diese Meinung hat sich unter einer erheblichen Vernachlässigung der Fakten und der tatsächlichen Abläufe herausgebildet.

Man kann weiter vermuten, dass bei der Gestaltung der gesetzlichen Grundlage die Frage der Kriegsschuld ausgeschlossen wurde, damit man nicht den Eindruck einer Parteinahme schafft. Nun sind jedoch die Folgen dieser Entscheidung sowie der Konzeption einer strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen unter Vernachlässigung des hauptsächlichen Tatbestands, nämlich der Führung eines Angriffskrieges, schwerwiegend und sicherlich schwerwiegender als ursprünglich vorhergesehen.

Eine erste offenkundige Folge ist, dass es keine Kriegspartei, sondern bloß Konfliktparteien gibt und unter ihnen weder einen zu verurteilenden Aggressor noch legitime Verteidiger. Da jedwede strafrechtliche Verfolgung mit konkreten Fällen zu tun hat und somit Hergang und Motive der Strafhandlung rekonstruieren muss, tauchen in den Verfahren erhebliche Probleme auf, die sich schon in Ungereimtheiten in den Anklageschriften bemerkbar machen. Diese benennen den notwendigen Hintergrund der konkreten Straftaten nur in schwammigen Wendungen: Es habe ein bewaffneter Konflikt geherrscht.

Doch bei den Verhandlungen der konkreten Fälle ließ sich der hauptsächliche Tatbestand oft nicht ganz ignorieren, obwohl er aus der Strafverfolgung ausgeschlossen wurde.(3) Dass es dann bei der Auslegung und der Anwendung des Rechts oft zu Ungenauigkeiten und Irrtümern kommt, hängt mit der in diesem Punkt unangemessenen Gesetzesgrundlage zusammen.(4)

 

Drei Beispiele

Als Beispiel eignen sich besonders die Anklageschriften gegen zwei Vorgesetzte aus dem bosnischen Nebenkriegsschauplatz, die sich auf Kampfhandlungen gleichen Charakters beziehen. Als die verbündeten Kräfte der Bosniaken und der Kroaten in den freien Überresten von Bosnien-Herzegowina in Konflikt gerieten, wurde es für die nunmehr (partiell) gegnerischen Parteien zum strategischen Ziel, wichtige verbliebene Transportwege und kriegswichtige Ressourcen (z. B. Munitionsfabrik in Vitez) unter alleiniger Kontrolle zu behalten oder diese zu erringen. Bei diesen Operationen kam es auf beiden Seiten zu vereinzelten Verbrechen an der Zivilbevölkerung und an gefangenen Kombattanten.

Die Anklageschrift, die gegen den Oberkommandierenden der Armee BiH, Sefer Halilovic, erhoben wurde, charakterisiert die offensive militärische Operation mit der Bezeichnung »Neretva-93« als eine »Befreiungsoperation«. Auf einer Sitzung der bosniakischen militärischen Führung in Zenica Mitte August 1993 sei eine »spezifische und detaillierte Operation, Mostar zu befreien« (operation to liberate Mostar), geplant worden.(5) Der Hergang des Geschehens, in dessen Verlauf es aus der gemeinsam organisierten Verteidigung gegen die serbischen Streitkräfte (Serbian forces, wobei darin auch der Ausdruck »Serbian aggression« benutzt wird) zur Feindschaft unter bosnischen und kroatischen Streitkräften (hostilities) kam, wird knapp geschildert. Diese von Halilovic geführte Operation nahm ihren Anfang von Prozor aus, einem Städtchen in Zentralbosnien mit hoher strategischer Bedeutung für beide Seiten, die sich dort, laut Anklage, ab April 1993 in »full-scale fighting« befanden. Im Zuge dieser Offensive überfielen Einheiten der bosnisch-bosniakischen Armee (ABiH) auch zwei von bosnischen Kroaten bewohnte Ortschaften im Südwesten Zentralbosniens sowie in Nordherzegowina, das Dorf Grabovica am 8. und den Weiler Uzdol am 14. September 1993, und massakrierten dort im ersten Fall 33 und im zweiten 30, darunter einen Gefangenen, einen Angehörigen der Streitkräfte der bosnischen Kroaten (HVO). Unter den ermordeten Zivilisten befand sich als jüngstes Opfer ein Baby und als ältestes ein 84 Jahre alter Mann.

Halilovic, den die Anklage aufgrund seiner Verantwortlichkeit als Vorgesetzter im Zusammenhang mit diesen beiden Fällen beschuldigte, wurde freigesprochen. Die Berufungskammer bestätigte den Freispruch, weil die Anklage keine ausreichenden Beweise vorlegen konnte, dass Halilovic effektive Kontrolle über die Einheiten ausübte, die diese Verbrechen begangen hatten. Zur Operation selbst äußert sich die Anklage vergleichsweise zurückhaltend; betont wird der Zweck der Offensive, nämlich die Blockade der HVO zu brechen. Es fällt auf, dass die Angaben über die sonstigen Folgen des Vordringens in die Gebiete um Jablanica, Gornji Vakuf und Prozor sowie der versuchten »Öffnung der Hauptroute« nach Mostar für die Bevölkerung in den vorwiegend kroatischen Dörfern auf dieser Wegrichtung unerwähnt bleiben.(6)

In den anderen Anklageschriften wegen Kriegsverbrechen im selben Konflikt, begangen von der anderen Partei, werden vergleichbare Operationen deutlich anders charakterisiert. So in dem Fall des Befehlshabers der HVO in Zentralbosnien, Tihomir Blaskic. In der Anklage gegen ihn liest man: »? Blaskics Einheiten entfachten eine vernichtende Serie gut geplanter und koordinierter Überraschungsangriffe auf Vitez, Busovaca und Kiseljak ? dies waren sorgfältig geplante militärische Operationen ? unterstützt durch Artillerie, schwere Waffen und gut koordinierte Bodentruppeneinsätze«. Dass der Kontext dieser Operationen der Versuch war, die Blockade der wichtigen Verbindung entlang des Lasvatals durch die ABiH zu beenden, weiß die Anklage und verschweigt es nicht einmal. Aber schon am Anfang der Anklageschrift gegen Blaskic steht, das sei ein Fall, wie »die bosnisch-kroatischen Truppen unter dem Befehl und der Kontrolle von Tihomir Blaskic 1993 Teile in Zentralbosnien ethnisch gesäubert hatten, und zwar durch systematische Angriffe auf muslimische Zivilisten und deren Häuser sowie Zerstörung von deren Habe ?« (Herv. D. M.) Der militärische Grund ? »Blockade durchbrechen« ? geht dabei unter. Die Anklage spricht von »illegalen Methoden«, die die Truppen unter Blaskics Kommando angewandt hätten, »um eine bosnisch-kroatische ethnische Mehrheit in Zentralbosnien zu erzielen«, und beschuldigt Blaskic, davon »in Kenntnis gewesen zu sein«. Diese Methoden seien sehr effektiv gewesen, da »ganze muslimische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden und die Einwohner aus dem Territorium unter seiner Kontrolle vertrieben waren«.(7)

Die Unterscheidungen in der Charakterisierung des Hergangs und des Hintergrunds sind nicht zufällig, aber die Anklageverfasser sind sich dessen, nach meiner Überzeugung, gar nicht bewusst. Hildegard Uertz-Retzlaff, die in mehreren Teams der Anklagebehörde tätig war und jetzt die Anklage gegen Karadzic vertritt, hält in dem oben genannten, 1999 veröffentlichten Artikel fest, worum es in dem Fall Blaskic aus dem Blickwinkel der Anklage geht: »Im Rahmen des Blaskic-Verfahrens ? wird der Nachweis zu führen sein, dass die bosnischen Kroaten lediglich stellvertretend für Kroatien den Krieg geführt haben.«(8) Es sollten fast zehn Jahre vergehen, bis feststand, dass ein solcher Nachweis nicht zu erbringen war. Und doch gab der Ankläger bereits in seinem Plädoyer zu, dass die Beweise für die Verantwortung Blaskics primär auf Indizien basieren, die er als »strong« bezeichnete. Am Ende wurde Blaskic wie dem erwähnten Halilovic eine Verantwortung für die durch seine nur nominell Untergebenen verübten Morde nicht nachgewiesen.(9)

Ein dritter Fall zur Untermauerung der aufgestellten These findet sich in dem erstinstanzlichen Urteil gegen Radoslav Krstic, den einstigen General der bosnisch-serbischen Streitkräfte, der als verantwortlicher Kommandeur die Eroberung von Srebrenica und Zepa im Juli 1995 (Operation »Krivaja«) befehligte. Krstic wurde wegen Genozids in Srebrenica im August 2001 zu 46 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Dieses Urteil weckte naturgemäß große Aufmerksamkeit. Doch hier geht es um etwas anderes: In der Urteilsbegründung wurden die Angriffe auf die beiden Enklaven Srebrenica und Zepa an sich als legitim bezeichnet. Das war ein kardinaler Fehler, schon deshalb, weil es sich um UN-Schutzzonen handelte. Im rechtskräftigen Urteil der Berufungskammer im April 2004, das auch andere zum Teil schwerwiegende Fehler der ersten Instanz bereinigte, wird der Angriff auf die beiden Enklaven dann richtig als Verbrechen gekennzeichnet. Krstic wurde schließlich rechtskräftig für Beihilfe zum Völkermord zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Über die Gründe für diese Fehler in einem Urteil, das sonst stichhaltig und mit viel juristischem Geschick den völkerrechtlichen Tatbestand des Genozids beim Massenmord nach dem Fall von Srebrenica begründete, kann man nur annehmen, dass sich darin ein in dem anfänglichen Kenntnisstand der Juristen sedimentiertes Allgemeinbild über diesen Raum und eine unterschwellige Haltung gegenüber der serbischen Armee und ihrer vermeintlichen Rolle in seiner Geschichte widerspiegelt. Hier stellt die Einschätzung der militärischen Operationen Krstics ohnehin nur ein drittes Beispiel für die extrem unterschiedlichen Beurteilungen des Krieges im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung der durch ihn ausgelösten Verbrechen dar.

Die dargelegten Ungereimtheiten deuten daraufhin, dass das vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Gesetz, das den Konflikt nicht definierte, in der juristischen Praxis zu Problemen führt, in der dann der grundlegende Tatbestand des Krieges mal so und mal so bestimmt oder eben unbestimmt gelassen wird. Darin kann man den Ursprung dafür erkennen, dass unterschwellige Konfliktdeutungen sowohl in die Abfassung von Anklagen als auch in manche Urteile hineinflossen, wie überhaupt ein relativ großer Raum für die freie Interpretation eröffnet wurde.(10)

 

Ein fehlender Tatbestand ? und die Folgen

Die durch die Unvollständigkeit des Gesetzes ausgelöste Widersprüchlichkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen kulminiert geradezu in dem Fall der Anklage gegen die Verantwortlichen der Operation »Sturm«, die der serbischen Besetzung in Kroatien ein Ende machte. Zunächst einiges zur Vorgeschichte, wie sie durch die bereits abgelaufenen Verfahren zum Vorschein kommt.

In den Verfahren gegen Milosevic, gegen hohe Offiziere der JVA, die für die Belagerung und den Beschuss von Dubrovnik verantwortlich waren, sowie gegen jene, die die Belagerung und Erstürmung von Vukovar befehligten, sowie in den Verfahren gegen Milosevics Mitläufer und Mittäter in Kroatien ? Mile Babic und Mile Martic als Anführer der aufständischen Serben ? konnten die Anklagevertreter eindeutig und umfassend nachweisen, dass die Truppen der Jugoslawischen Volksarmee zusammen mit diversen serbischen Milizen ? trotz anfangs anderslautender Rhetorik ? große Teile Kroatiens regelrecht eroberten; dass ferner der Aufstand der Serben in Kroatien aus Belgrad geplant, organisiert und das errichtete, ethnisch gesäuberte Gebilde umfassend unterstützt sowie überhaupt aufrechterhalten wurde. Milosevic verstarb bekanntlich kurz vor der Beendigung seines Verfahrens. Die meisten Angeklagten im Zusammenhang mit den Verbrechen bei Dubrovnik und Vukovar wurden für schuldig befunden und mittlerweile rechtskräftig verurteilt. Mile Martic, die zentrale Figur in dem abtrünnigen Gebiet, wurde im Oktober 2008 rechtskräftig zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Berufungskammer sprach ihn des Mordes, der Folter sowie der Verfolgung und Vertreibung fast der gesamten kroatischen beziehungsweise nicht-serbischen Bevölkerung aus den besetzten Gebieten Kroatiens zwecks Schaffung eines serbisch beherrschten Neugebildes (»the common purpose to create a Serb dominated territory«) sowie des terroristischen Angriffs mit Streubomben auf das Zentrum der kroatischen Hauptstadt Zagreb im Mai 1995, bei dem mindestens sieben Zivilpersonen getötet und mehr als 200 verletzt wurden, für schuldig. Mile Babic wiederum bekannte sich schuldig (2004) und wurde im Juli 2005 rechtskräftig zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Babics Schuldbekenntnis ist ein Zeugnis der aufrichtigen Reue(11) und eines glaubhaften Lernprozesses, der ihn zur Anerkennung der Fakten und weg von der großserbischen Verblendung brachte. Babic sagte als wohl der wichtigste Zeuge der Anklage tagelang in dem Verfahren gegen Milosevic aus, belastete ihn substanziell und erhellte auf bis dato unübertroffene Weise den Hergang der Aggression und Okkupation beinahe eines Drittels von Kroatien. Nachdem er anfing im März 2006 im anderen Prozess, nämlich gegen Martic, in Den Haag auszusagen, beging er Selbstmord in der Zelle des Scheveninger Gefängnisses.

In dem noch laufenden Verfahren gegen den früheren jugoslawischen Generalstabschef Momcilo Perisic (seit Oktober 2008) versucht die Anklage nachzuweisen, dass er als oberster Befehlshaber der »jugoslawischen Streitkräfte« (JV) und ihrer beiden serbischen Ableger in Kroatien (SVK, serbische Krajina-Armee) und in Bosnien-Herzegowina (VRS) für die von seinen Untergebenen (subordinates) Ratko Mladic und von den Oberen der kroatischen Serben verübten Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist. Milosevic setzte Perisic im Sommer 1993 an die Spitze der Armee (bis 1998), nachdem sie formal in eine der BRJ und eine der bosnischen Serben (VRS) geteilt war und nachdem er 42 Generäle von der alten Garde abgelöst hatte. Das war auch ein klares Signal der Taktikänderung, weil jetzt so getan werden musste, als seien es zwei separate Armeen, während die alten so getan hatten, als würden sie Jugoslawien retten. Zu diesem Zweck baute Perisic zwei Sonderabteilungen (the 30th and 40th Personnel Centres) auf als »legalen Deckmantel für die Tatsache, dass die JV ihre Leute zum Dienst in Bosnien und Kroatien abkommandieren konnte«.

Inzwischen stehen der Staatsanwaltschaft dafür Berge von Beweismaterial zur Verfügung, insbesondere nachdem die serbische Regierung endlich dem Gericht einige der geforderten Unterlagen aus dem Militär- und Staatsarchiv geliefert hat. Zwar ist es der serbischen Regierung noch im Milosevic-Verfahren gelungen durchzusetzen, dass besonders belastende Eintragungen aus den Sitzungsprotokollen des Obersten Verteidigungsrates für die Öffentlichkeit verschlossen bleiben, damit sie von der bosnischen Regierung vor dem IGH in Den Haag zur Untermauerung der Genozid-Klage nicht benutzt werden können, aber das im Laufe mehrerer Verfahren entstandene Bild der aktiven Kriegführung aus dem politischen und militärischen Zentrum in Belgrad hat auch so nur noch wenige weiße Flecken und wird stets weiter vervollständigt. Zum Beispiel im Februar 2010 durch ein Dokument, das von Momcilo Perisic als Generalstabschef der jugoslawischen Armee verfasst wurde und das Datum 24. November 1993 trägt. Es handelt sich um den Kriegsplan unter dem Namen »Drina« (Grenzfluss zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien), mit welchem »die Voraussetzungen für die Befreiung und Vereinigung aller serbischen Territorien geschaffen werden sollen«. Aus weiteren Dokumenten geht hervor, dass der Generalstab der Armee der bosnischen Serben (VRS) einen Monat später diesen Plan, der eine gemeinsame Kriegführung von JV, VRS und SVK in Bosnien-Herzegowina und Kroatien vorsieht, weiter ausgebaut hatte und dabei größtenteils identische Formulierungen benutzte.

In einem weiteren noch laufenden Verfahren (Beginn April 2008) gegen zwei Geheimdienstchefs ? Jovica Stanisic und Franko Simatovic ? wird die Kriegführung gleichsam aus der Mikroperspektive der einzelnen Angriffe und Ereignisse beleuchtet. In der Anklage stehen die hinreichend bekannten Fakten: Die beiden bekamen einen Geheimauftrag von Milosevic, eine Sondereinheit aufzustellen, die nur ihm unterstellt, also illegal und verfassungswidrig war. Im Mai 1991 wurde diese Spezialeinheit (»Rote Barette«) heimlich in der Nähe von Knin in einem Militärlager ausgebildet. Es folgten andere solcher Geheimlager, später auch in Bosnien-Herzegowina. Stanisic konnte oft sogar den JVA-Offizieren an der Front Befehle erteilen. Während der Beweisführung konnte die Anklage neben bereits bekannten Fakten und in früheren Prozessen bewiesenen Tatbeständen weitere Einzelheiten über die Organisation der Aggression gegen Kroatien und später in Bosnien-Herzegowina durch neue Zeugen aus den Reihen dieser Sondereinheiten und insbesondere durch die neulich übermittelten Unterlagen des serbischen Geheimdienstes kräftig untermauern und zugleich das Bild der serbischen Kriegführung vervollständigen, denn diese von den beiden befehligten Geheimtruppen waren zusammen mit anderen Milizen unter deren Kontrolle an allen Kriegsschauplätzen aktiv und in fast alle Massenverbrechen verstrickt gewesen ? und zwar von Anfang an (Knin) bis zum Massaker bei Srebrenica. (Eigentlich auch darüber hinaus: Mehrere Zeugen erkannten die ? mittlerweile in Belgrad zu Höchststrafen verurteilten ? Mörder von Zoran Djindjic als brutale Killer in besetzten Teilen Kroatiens und im Bosnien-Krieg.)

Vor allem das rechtskräftige Urteil gegen den Primus der aufständischen Serben in Kroatien, Mile Martic, legt alle wesentlichen Bestandteile der Eroberungsstrategie und der machtpolitischen Taktik Milosevics präzise dar, freilich ohne diesen Tatbestand als Angriffskrieg zu benennen. Stattdessen taucht die fragwürdige Formel eines »gemeinsamen verbrecherischen Unternehmens« auf. In einem separaten Votum zum Urteil unterzieht der Berliner Richter in der fünfköpfigen Appellationskammer, Wolfgang Schomburg, diese merkwürdige Bestimmung der ICTY-Rechtsprechung und ihre Anwendung bei der Urteilsbegründung in Martics Fall einer gründlichen und scharfen Kritik, obwohl er sonst mit der Entscheidung einverstanden war. Schomburg expliziert, dass die kriminelle Verantwortlichkeit Martics durch die Anwendung der JCE verwässert wurde, weil er so als »member of the JCE« statt als Mittäter ? (co)-perpetrator ? belangt wurde: »Martic soll als hoch rangierter Haupttäter gesehen werden ?« Das Konzept von JCE wird als sehr problematisch dargelegt: Es sei »verschwommen und anscheinend grenzenlos«, seine Kategorien werden dermaßen erweitert, dass man sich sorgen muss, ob hier nicht das fundamentale Prinzip des Rechts, nämlich nullum crimen sine lege, verletzt wird. Schomburg führt noch einige andere problematische Aspekte dieser Konzeption an, der wichtigste ist, dass das Gericht seinem Statut nach nur für strafrechtliche Verfolgung von Personen (individual criminal responsibility) zuständig ist; daher dürfe weder die individuelle Verantwortlichkeit auf eine Kollektivität verlagert noch jemand bloß als Mitglied einer Gruppe strafrechtlich verfolgt sowie bestraft werden.(12)

Es könnte sein, dass dieses problematische Konzept des »gemeinsamen kriminellen Unternehmens« im Kontext des Fehlens des Angriffskrieges als Tatbestand im ICTY-Gesetz steht. Sicher ist aber, dass der willkürliche Gebrauch dieser widersprüchlichen Kategorie fatale Folgen hat und der Entwicklung des Völkerstrafrechts kaum dienlich sein kann. Denn die schwammige Formel, die von Schomburg im erwähnten Fall deshalb kritisiert wurde, weil sie die kriminelle Verantwortung von Martic nicht präzise fasst (und »trivialisiert«) und die Rechtsprechung des ICTY beschädigt (da eigentlich im Widerspruch zur Satzung), wird darüber hinaus dazu benutzt, Tatbestände zu konstruieren, die einer genaueren Prüfung kaum standhalten ? wie übrigens in der Berufung bislang oft geschehen.

 

Eine militärische Operation unter Verdacht

Die militärischen Aktivitäten der Angegriffenen unter Ausschluss des Angriffskriegs als Tatbestand völkerrechtlich einzuschätzen, dürfte an sich keine ganz leichte Sache sein. Da aber das Statut des Tribunals den Tatbestand des Angriffskriegs nicht enthält, blieb auch der Verteidigungskrieg für das Gericht undefiniert. Die Staatsanwaltschaft blendet also bei den Anschuldigungen gegenüber den Oberbefehlshabern der kroatischen Armee (HV) weitgehend den Hintergrund aus, das heißt, dass die kroatische Offensive exakt auf jenem Territorium stattfand, auf dem gemäß dem oben besprochenen rechtskräftigen Urteil des Tribunals gegen Mile Martic vier Jahre lang massive Vertreibungen und Verbrechen verübt wurden. Damit erscheint die militärische Operation ohne ihren hauptsächlichen Grund und ihre wesentliche Motivation, nämlich einen widerrechtlichen Zustand der Okkupation von beinah einem Drittel des Landes zu beenden, von dem aus weiterhin Krieg gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina geführt wurde. Die drei Oberbefehlshabenden der HV in der Operation »Sturm« (Oluja), Ante Gotovina, Ivan Cermak und Mladen Markac, werden beschuldigt, als Mitglieder des JCE für die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Mord, Vertreibung) und »Verstöße gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges« (mutwillige Zerstörung, Angriff auf zivile Ziele und unverteidigte Städte) verantwortlich gewesen zu sein. Mit dem Konzept der JCE unterstellt also die Staatsanwaltschaft den Oberbefehlshabern der kroatischen Streitkräfte, beim Entsatz der »Krajina«, einen anderen Zweck als die Landesverteidigung (mit-)verfolgt zu haben.

Den drei Militärs wirft die Staatsanwaltschaft also vor, während der Rückeroberung des besetzten Gebietes in Dalmatien unter dem Namen »Republika Srpska Krajina« (RSK) als Mitglieder eines »gemeinsamen kriminellen Unternehmens«, dem weitere bekannte, aber auch unbekannte Personen (sic!) angehörten, gehandelt zu haben, und zwar zwecks Vertreibung von Serben aus Kroatien, weshalb auch die zivilen Ziele in Knin, der damaligen Hochburg der aufständischen Serben, unverhältnismäßig stark bombardiert worden seien. Zwar wird diese militärische Operation, die binnen drei bis vier Tagen im August 1995 der Besatzung und dem friedensbedrohenden Zustand ein Ende machte, nicht explizit als unrechtmäßig bezeichnet, aber ihre militärische Zweckmäßigkeit wird völlig ignoriert, wie sich während der Beweisaufnahme der Anklage ? durch die Aussagen von Zeugen, davon ein Großteil UN-Personal damals vor Ort und die Beiträge der Gutachter ? deutlich zeigte.

Die Tendenz in den meisten Aussagen der Zeugen der Anklage aus diesem Personenkreis kann man geradezu einheitlich nennen, weil sie generell darauf hinausliefen, den Waffeneinsatz der HV als übermäßig, unpräzise und unzweckmäßig einzuschätzen. Doch die Verteidigung konnte diese Angaben in erstaunlich hohem Maße erschüttern.

Beeindruckend waren besonders die Einschätzungen des serbischen Oberbefehlshabers von Knin, das heißt den Truppen der aufständischen Serben, Mile Mrksic. Er beschrieb bei der Anhörung im Juni 2009 glaubhaft, dass die Artillerieschläge der HV auf militärische Ziele ebenso präzise wie effektiv waren. Mrksic war übrigens im Mai 2009 rechtskräftig zu 20 Jahren Gefängnisstrafe wegen seiner Verantwortung als Oberbefehlshaber der JVA bei dem Massaker von Vukovar (im November 1991) verurteilt.

Die unter dem UN-Personal stark verbreitete Perspektive hat einerseits damit zu tun, dass die UN-Organisationen sich vor Ort geradezu eine eigene Welt aufbauen, in der sie fern von der Wirklichkeit leben, und zum anderen steht sie im Zusammenhang mit der Mission der UN. Die sogenannten Blauhelme waren in diese Gebiete entsendet, um den Frieden zu bewahren. Dass es dafür keine Voraussetzungen gab, weigerte sich die UN auf allen Ebenen anzuerkennen. Erst nach dem Krieg gab es den berühmten selbstkritischen Bericht des damals neuen UN-Generalsekretärs Kofi Annan.(13) Aus der Sichtweise, eine Friedensmission zu führen, konnte die kroatische Offensive sogar als Friedensbruch empfunden werden. Hier macht sich eine fatale Konvergenz bemerkbar, nämlich zwischen dem verfehlten UN-Konzept der Friedenswahrung ohne Frieden, dem Statut des Kriegsverbrechertribunals, das den Tatbestand des Angriffskriegs aus der Gesetzesgrundlage ausschloss, und dem Grundzug des hier thematisierten Verfahrens, das den kriegerischen Kontext ausblendet.(14)

 

Ein Resüme

Im Rückblick zeigt sich, dass der Verzicht auf genaue Bestimmung des postjugoslawischen Krieges und seine Verursacher bei der Setzung der gesetzlichen Grundlage des UN-Tribunals nachhaltige negative Folgen mit sich brachte. Einerseits stand diese Entscheidung im Einklang mit der vorherrschenden Meinung, es habe sich um einen ethnischen Konflikt, einen unübersichtlichen Krieg aller gegen alle gehandelt, andererseits wussten gerade die Politiker und Staatsmänner der westlichen Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat genau Bescheid. Beweis: Einmal wurde das tatsächliche Geschehen, der Hergang des Angriffskriegs und der menschenverachtende Charakter der großserbischen Politik unter Milosevic auf der großen Weltbühne geschildert. Das geschah in der Rede des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, in der er im März 1999 den bevorstehenden Luftangriff auf Serbien rechtfertigte und alle vorangegangenen Taten des aggressiven Regimes gegen die Nachbarstaaten wahrheitsgetreu aufzählte. Dabei war es dann auch geblieben. Wobei zu bedenken ist, dass eine »vorherrschende Meinung« nicht ein Naturgeschehen ist, das vom Himmel fällt. Sie wird gebildet, und manchmal ist jedes Mittel recht, um sie in die gewünschte Gestalt zu bringen. Welche Rolle bei der gewollten Falschbilderproduktion etwa die britische Diplomatie und die wichtigsten Medien spielten, welche politischen Ziele sie verfolgten und bis heute verfolgen, kann man in den Studien von Carole Hodge und Brendan Simms nachlesen.(15)

Dass sie auch bei der Gestaltung des Statuts des Tribunals Einfluss hatte, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen. Doch ? aus welchen Gründen auch immer ? überwog unter den Gesetzesverfassern die Ansicht, dass es weniger Probleme bereiten und den Neutralitätsanspruch des Tribunals unterstreichen würde, wenn man die Art des Krieges unbestimmt lässt. Nun hat diese Unbestimmtheit, wie oben gezeigt, jedoch zur Folge, dass gleichwertige Sachverhalte und Tatbestände äußerst unterschiedlich bewertet und verhandelt werden (Fallbeispiele: Blaskic, Halilovic, beide Zentralbosnien) und dass sogar ein widerrechtlicher Eroberungsangriff als legitim eingeschätzt wird (Krstic/Srebrenica). Ferner etablierte sich die Formel vom »gemeinsamen kriminellen Unternehmen« (JCE), die ohne Bestimmung des Angriffskriegs in der Luft hängen bleibt und beliebig angewendet wird (diskutiert am Martic-Urteil).(16) Schließlich sorgt auch die ungenaue Formel vom »bewaffneten Konflikt« für Probleme, weil sie einen zu großen Interpretationsraum zulässt.

Eine fehlende Bestimmung oder Positionierung verbürgt jedoch gerade nicht eine faire Neutralität. Vielmehr wirkt hier unterschwellig die These, dass die Kriege, in denen Kriegsverbrechen begangen wurden, die vor Gericht verhandelt werden, Bürgerkriege oder bewaffnete ethnische Konflikte waren. Die allgemeine Verbreitung dieser These in den Öffentlichkeiten und renommierten Medien entbehrt jedoch der Begründung. Vor allem aber ist die Bürgerkriegsthese die offizielle Lesart in Belgrad, wo natürlich die ganze Palette der Bequemlichkeiten, die sie Serbien gestattet, genutzt wird: der Kriegesanfang, seine Führung und seine Ziele können geleugnet werden; alle seien schuld, und alle haben Verbrechen begangen. Da niemand demnach einen Angriffskrieg losgetreten habe, kann auch niemand beanspruchen, einen legitimen Verteidigungskrieg geführt zu haben. So schreibt der serbische Oberstaatsanwalt munter Anklagen gegen bosnische (und kosovarische) Politiker wegen angeblicher Kriegsverbrechen, die mit Ereignissen zu tun haben, die wesentlich der Verteidigung des Landes gegen die serbische Aggression ? von innen und von außen ? dienten. Die letzte Pikanterie: Anfang März nahmen die hilfreichen britischen Behörden das ehemalige Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, Ejup Ganic, aufgrund eines Haftbefehls von Serbien fest, der auf völlig unhaltbaren Anschuldigungen wegen angeblicher Kriegsverbrechen im Mai 1992 beruht, und das Territorium außerhalb der Zuständigkeit der serbischen Justiz und die Zeit betrifft, als der serbische Blitzkrieg gegen Bosnien-Herzegowina auf vollen Touren anlief.

Noch eine letzte negative Folge der These vom Bürgerkrieg sei erwähnt: Sie begegnet uns zunächst in der Form der vorwurfsvollen Frage serbischerseits, warum denn die meisten wegen Kriegsverbrechen Angeklagten Serben seien. Alle, die an der Bürgerkriegsthese hängen, können solche Fragen und Vorwürfe nicht richtig beantworten. Doch an sich ist die Antwort nicht kompliziert: diesen Krieg haben nicht die Serben, die Serben als Volk, als ethnische Gruppe geführt, sondern das militärisch-politische Establishment, die Geheimdienste, die Milizen unter der Führung eines nationalistischen Regimes, seines großserbischen Programms und dessen Befürworter außerhalb Serbiens. Diese Kreise haben (zusammen mit nationalistischen Intellektuellen und Meinungsmachern) den Angriffskrieg angezettelt, geführt und unterstützt, und es ist daher auch kein Wunder, dass die meisten Angeklagten aus diesen Strukturen kommen und natürlich nicht einfach als »Serben« angeklagt sind.

»Angriffskrieg« als Tatbestand im Statut des ICTY hätte sich somit viel positiver für alle Beteiligten ausgewirkt als seine Ausklammerung. Und: eine engere Anlehnung an das Londoner Statut für die Nürnberger Prozesse hätte der Abfassung der gesetzlichen Satzung des sogenannten ICTY gutgetan.

 

1

FAZ, 13.1.10.

2

Stefan Oeter: »Völkerrechtliche Rahmenbedingungen und die Staatengemeinschaft«, in: Dunja Melcic (Hrsg.): Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007 (2., aktualisierte und erweiterte Auflage), S. 485?502.

3

Hildegard Uertz-Retzlaff: »Verbrechen gegen den Frieden, d.<|>h. die Vorbereitung und die Führung eines Angriffskrieges, stellen keine Tatbestände i.<|>S. des Tribunalsrechtes dar ...« »Über die praktische Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes«, in: Horst Fischer, Sascha Rolf Lüder (Hrsg.): Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof: Beiträge zur Entwicklung einer effektiven internationalen Strafgerichtsbarkeit, Berlin, 1999, S. 91.

4

Die rechtswissenschaftlichen Aspekte dieses Zusammenhangs kann freilich erst eine juristische Analyse genauer erheben. Eine umfangreiche Untersuchung zur Rechtsprechung des Tribunals hat unlängst Boris Burghardt vorgelegt: Die Vorgesetztenverantwortlichkeit im völkerrechtlichen Straftatsystem. Eine Untersuchung zur Rechtsprechung der internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, Berlin, 2008. Sie läuft auf eine sehr kritische Auswertung der Rechtsprechung der beiden Tribunale hinaus, aber rechtfertigt die ? sonst viel kritisierte ? »Rechtsfigur« der Vorgesetztenverantwortlichkeit und zwar als »eine Zurechnungsfigur«, d. h. »strafrechtliche Verantwortlichkeit für das von ? Untergebenen begangene Völkerrechtsverbrechen« (S. 461).

5

Halilovic (IT-01-48) Grabovica-Uzdol, auf: http://www.icty.org/cases.

6

Der britische Forscher Marko Hoare gibt in seiner kleinen, aber aufschlussreichen Studie How Bosnia Armed folgende aus offiziellen Quellen der bosnischen Kroaten stammende Angaben vom Sommer 1993 an: »Seit April (1993) hat die ABiH aus den Städten Konjic, Jablanica, Travnik, Kakanj, Fojnica und Bugojno die gesamte kroatische Bevölkerung vertrieben und 187 kroatische Dörfer zerstört.«

7

Das Plädoyer des Anklägers Mark Harmon ist als Transkript der Sitzung vom 24. Juni 1997 zugänglich: Blaskic (IT-95-14) Lasva Valley.

8

Marko A. Hoare: How Bosnia Armed, London 2004, S. 93.

9

Zur Erinnerung: Blaskic stellte sich dem Gericht 1996 nach der Bekanntgabe der Anklage. Das Verfahren begann 1997; im März 2000 wurde er zu 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Berufungskammer wies im Juli 2004 bis auf einen Anklagepunkt alle Schuldbefunde zu anderen Anklagepunkten der ersten Instanz zurück und verurteilte den bereits seit acht Jahren inhaftierten Blaskic zur neunjährigen Freiheitsstrafe. Der Gerichtspräsident genehmigte eine Woche später seine vorzeitige Entlassung. ? Aus der Zusammenfassung des Urteils aus der ersten Instanz auf dem Informationsblatt (»Case Information Sheet«): »On 29 July 2004, the Appeals judgement reversed the majority of the Trial Chamber?s convictions and sentenced Tihomir Blaskic to 9 years? imprisonment.«

10

So ist auch Boris Burghardt durch vergleichende Analyse von Fällen zum Ergebnis gekommen, »dass es den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen nicht gelungen ist, die jeweils gleich gelagerte Fragestellung dieser Fälle dogmatisch einheitlich und sachgerecht in der Systematik der Vorgesetztenverantwortlichkeit zu verorten« (S. 210).

11

Home >> Outreach >> Statements of Guilt >> Milan Babic.

12

http://www.icty.org/case/martic; (Appeals Chamber Judgement).

13

Kofi Annan: Report of the Secretary-General pursuant to General Assembly Resolution 53/35 (1998) (Srebrenica report).

14

Das Verfahren gegen Gotovina et al. begann am 18. März 2008; die Beweisaufnahme der Anklage, die Hauptverhandlung (case-in-chief),wurde ein Jahr später abgeschlossen (5. März 2009). Zwei Monate später (28. Mai) begann die Verteidigung mit der Beweisführung, die auch bereits abgeschlossen ist. Im März 2010 wurden zusätzliche Zeugen der Spruchkammer geladen, das Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet.

15

Carole Hodge: »Britain?s Relations with Croatia«, in: Ramet/Clewing/Lukic (Hrsg.): Croatia since Independence, München 2008, S. 419; sowie Britain and the Balkans, London 2006; und Brendan Simms: Unfinest Hour. Britain and the Destruction of Bosnia, London 2001.

16

Im Londoner Statut und in der Anklageschrift bei dem Nürnberger Prozess war dieses Verbrechen als »Verschwörung« klar bestimmt und begrenzt, nämlich als »Teilnahme als Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter an der Ausarbeitung oder Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung, die darauf zielte oder mit sich brachte die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität«; http://www.bz.nuernberg.de.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2010