Ein völkerrechtliches Experiment mit gemischten Ergebnissen
Anderthalb Jahrzehnte
internationale Strafgerichtsbarkeit in Den Haag
Die Gründung des Den Haager Kriegsverbrecher-Tribunals war ein großer Schritt in der internationalen Rechtsprechung. Vorbild war das Nürnberger Tribunal, doch wurde im Statut des Den Haager Gerichtshofs unterlassen, eine genaue Bestimmung des postjugoslawischen Krieges und seiner Verursacher zu definieren. Dies führte, wie die Autorin zeigt, zu großen Unsicherheiten sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei den Richtern. So blieben Tür und Tor für zahlreiche und teilweise haarsträubende Fehlinterpretationen offen.
»? die Hauptaufgabe eines Historikers ist, zunächst einmal
davon auszugehen, dass immer alles anders war als gesagt ... Die zweite Regel
ist, dass alles immer anders ist als gedacht.«
Reinhart Koselleck(1)
Mit der Errichtung des
Internationalen Strafgerichtshofs für Kriegsverbrechen des Jugoslawienkrieges
(ICTY) ist ein neues Kapitel im Völkerrecht aufgeschlagen worden. Zugleich
haben die UN mit der Gründung dieses Ad-hoc-Tribunals einen Prozess und eine
Ereigniskette von unerwarteter Komplexität sowie unbeabsichtigten und noch unabsehbaren
Folgen in Gang gesetzt. Die Kompliziertheit des Geschehens hat in erheblichem
Maße mit den Widersprüchlichkeiten zu tun, die sowohl die Beweggründe als auch
die Zielsetzungen der Entscheidung des höchsten Weltgremiums im Frühjahr 1993
durchdrangen. Was diese Kompliziertheit noch potenziert, ist das Recht selbst,
das heißt, sind die Konsequenzen, die sich aus der Natur des Rechtssystems
ergeben, in das die besagten widersprüchlichen Entscheidungen, Festlegungen und
Zielsetzungen eingepfercht werden, woraus eine eigentümliche Spannung zwischen
der Auslegung des neuen, erst gesetzten Gesetzes in der Rechtsprechung und
diesem an sich entsteht. Das wird an der extrem unterschiedlichen Qualität der
juristischen Praxis des Gerichts sichtbar, und zwar sowohl jener seitens der
Staatsanwaltschaft (die in Den Haag den Namen »Office of the Prosecutor«, OTP,
trägt) als auch jener seitens der Richterschaft (in den drei Strafkammern und
zwei Berufungskammern). So stehen nebeneinander Entscheidungen, die einen
wahren Durchbruch des Internationalen Strafrechts bedeuten und schon Rechtsgeschichte
schreiben, und solche, die eine Rechtsverkehrung darstellen.
Rechtsgeschichtlich
betrachtet steht die Errichtung des UN-Tribunals im Zusammenhang mit dem
»Umbruch« des Völkerrechts, der durch den Widerstreit über die »Abgrenzung von
?Innen und Außen? im Völkerrecht« ausgelöst wurde, wie der Hamburger
Völkerrechtler Stefan Oeter ausführt.(2) Im Hintergrund ist aber auch ein
allgemeiner Umbruch spürbar, ein noch nicht durchmessener historischer Wandel,
der hier seine Vorzeichen auch in Gestalt des Paradoxons sendet, dass sich die
Weltöffentlichkeit, die durch ihr hauptsächliches Organ, die UN, dieses Gericht
gründen ließ, kaum dafür interessiert, obwohl es für die Gründung dieses
Kriegsverbrechertribunals einen unvergleichlichen Konsensus in der ganzen Welt
gab. Dagegen waren freilich jene, die das Grauen angezettelt haben, dessen
mediale Präsentation die entlegendsten Winkel der Erde erreichte. Im Übrigen
soll auch nicht vergessen werden, dass die Opfer der serbischen Aggression mit
jugoslawischen Mitteln ? Kroatien und Bosnien-Herzegowina ? zuvor auf die Errichtung
einer internationalen Strafinstanz drängten. Die Folge ist, dass man bei der
Analyse der Praxis aber auch bei der Rezeption der Rechtsprechung des ersten
Gerichts, das Kriegsverbrechen gemäß dem modernen internationalen Strafrecht
beziehungsweise dem »International Criminal and Humanitarian Law« (ICHL)
ahndet, auf noch wenige und oft fragmentarische Forschungsergebnisse
zurückgreifen kann. Besser bestellt ist es um die Verfügbarkeit des Materials
und die Dokumentation von Verfahren und Entscheidungen. Das alles ist vom ICTY
selbst recht gut aufgearbeitet worden ? wenn man von der nicht unerheblichen
Menge an unzugänglichem Material absieht ? und auf der Homepage des Gerichts zu
finden (http://www.icty.org/).
Die Errichtung des Tribunals
wirkte wie ein plötzlicher Sprung in eine ferne Zukunft. Denn der Stand, aus
dem er gemacht wurde, war ja noch ganz durch die Kategorien der alten
Nachkriegsordnung geprägt. So gesehen war dieser Entschluss eine kühne Pionierstat,
die auch deshalb überraschte, weil zuvor vierzig Jahre lang über die Gründung
eines internationalen Strafgerichtshofs ergebnislos diskutiert wurde.
Man kann sich aber des
Eindrucks nicht erwehren, dass die Gesetzgeber beim Verfassen des Gesetzes und
der Gestaltung dieses speziellen Gerichts der Pioniersmut verlassen hat. Denn
die Basis dieser Entscheidung wurde durch dasselbe Gremium vorgelegt, das
während des vierjährigen Konflikts bis auf eine Ausnahme vermied, von einem
Angriff zu sprechen. In der UN-Charta aber steht geschrieben (Artikel 39), dass
»der Sicherheitsrat« feststellt, »ob eine Bedrohung oder ein Bruch des
Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt«.
In den wiederholten
Resolutionen der Jahre 1991?1995 hat sich der Sicherheitsrat mehr oder minder
geschickt über diese Pflicht hinweggesetzt, indem er auf eine genaue Feststellung,
was hier »vorliegt«, verzichtete. Als er mit der Resolution 827 die Errichtung
des Tribunals beschloss, baute der Rat auf dieser fehlenden Feststellung auf:
Es wird also das erste Internationale Gericht nach dem Vorbild des
Militärgerichts zu Nürnberg errichtet, und gleichzeitig versäumt, im Statut
dieses Tribunals den Eroberungskrieg als den Auslöser der Kriegsverbrechen zu
benennen, die wiederum das Statut des Nürnberger Prozesses an erster Stelle
anführt: Es lautet »Verbrechen gegen den Frieden: nämlich Planung,
Vorbereitung, Einleitung oder Führung eines Angriffskrieges ?« Über die Gründe
für diese konzeptionellen Unzulänglichkeiten möchte ich ausgehend von vielen
Indizien plausible Vermutungen anstellen: Die vorherrschende Meinung unter den
damaligen Politikern in den Mitgliedstaaten der obersten UN-Gremien und in den
einflussreichsten Weltmedien über den Krieg im zerfallenden Jugoslawien war,
dass es sich dabei um eine Art Bürgerkrieg beziehungsweise einen ethnischen
Konflikt gehandelt hat. Diese Meinung hat sich unter einer erheblichen
Vernachlässigung der Fakten und der tatsächlichen Abläufe herausgebildet.
Man kann weiter vermuten,
dass bei der Gestaltung der gesetzlichen Grundlage die Frage der Kriegsschuld
ausgeschlossen wurde, damit man nicht den Eindruck einer Parteinahme schafft.
Nun sind jedoch die Folgen dieser Entscheidung sowie der Konzeption einer
strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen unter Vernachlässigung des
hauptsächlichen Tatbestands, nämlich der Führung eines Angriffskrieges,
schwerwiegend und sicherlich schwerwiegender als ursprünglich vorhergesehen.
Eine erste offenkundige Folge
ist, dass es keine Kriegspartei, sondern bloß Konfliktparteien gibt und unter
ihnen weder einen zu verurteilenden Aggressor noch legitime Verteidiger. Da
jedwede strafrechtliche Verfolgung mit konkreten Fällen zu tun hat und somit
Hergang und Motive der Strafhandlung rekonstruieren muss, tauchen in den Verfahren
erhebliche Probleme auf, die sich schon in Ungereimtheiten in den Anklageschriften
bemerkbar machen. Diese benennen den notwendigen Hintergrund der konkreten Straftaten
nur in schwammigen Wendungen: Es habe ein bewaffneter Konflikt geherrscht.
Doch bei den Verhandlungen
der konkreten Fälle ließ sich der hauptsächliche Tatbestand oft nicht ganz
ignorieren, obwohl er aus der Strafverfolgung ausgeschlossen wurde.(3) Dass es
dann bei der Auslegung und der Anwendung des Rechts oft zu Ungenauigkeiten und
Irrtümern kommt, hängt mit der in diesem Punkt unangemessenen Gesetzesgrundlage
zusammen.(4)
Als Beispiel eignen sich
besonders die Anklageschriften gegen zwei Vorgesetzte aus dem bosnischen
Nebenkriegsschauplatz, die sich auf Kampfhandlungen gleichen Charakters
beziehen. Als die verbündeten Kräfte der Bosniaken und der Kroaten in den freien
Überresten von Bosnien-Herzegowina in Konflikt gerieten, wurde es für die
nunmehr (partiell) gegnerischen Parteien zum strategischen Ziel, wichtige
verbliebene Transportwege und kriegswichtige Ressourcen (z. B. Munitionsfabrik
in Vitez) unter alleiniger Kontrolle zu behalten oder diese zu erringen. Bei
diesen Operationen kam es auf beiden Seiten zu vereinzelten Verbrechen an der
Zivilbevölkerung und an gefangenen Kombattanten.
Die Anklageschrift, die
gegen den Oberkommandierenden der Armee BiH, Sefer Halilovic, erhoben wurde,
charakterisiert die offensive militärische Operation mit der Bezeichnung »Neretva-93«
als eine »Befreiungsoperation«. Auf einer Sitzung der bosniakischen
militärischen Führung in Zenica Mitte August 1993 sei eine »spezifische und
detaillierte Operation, Mostar zu befreien« (operation to liberate Mostar),
geplant worden.(5) Der Hergang des Geschehens, in dessen Verlauf es aus der
gemeinsam organisierten Verteidigung gegen die serbischen Streitkräfte (Serbian
forces, wobei darin auch der Ausdruck »Serbian aggression« benutzt wird)
zur Feindschaft unter bosnischen und kroatischen Streitkräften (hostilities)
kam, wird knapp geschildert. Diese von Halilovic geführte Operation nahm ihren
Anfang von Prozor aus, einem Städtchen in Zentralbosnien mit hoher
strategischer Bedeutung für beide Seiten, die sich dort, laut Anklage, ab April
1993 in »full-scale fighting« befanden. Im Zuge dieser Offensive überfielen
Einheiten der bosnisch-bosniakischen Armee (ABiH) auch zwei von bosnischen
Kroaten bewohnte Ortschaften im Südwesten Zentralbosniens sowie in
Nordherzegowina, das Dorf Grabovica am 8. und den Weiler Uzdol am 14. September
1993, und massakrierten dort im ersten Fall 33 und im zweiten 30, darunter
einen Gefangenen, einen Angehörigen der Streitkräfte der bosnischen Kroaten
(HVO). Unter den ermordeten Zivilisten befand sich als jüngstes Opfer ein Baby
und als ältestes ein 84 Jahre alter Mann.
Halilovic, den die Anklage
aufgrund seiner Verantwortlichkeit als Vorgesetzter im Zusammenhang mit diesen
beiden Fällen beschuldigte, wurde freigesprochen. Die Berufungskammer
bestätigte den Freispruch, weil die Anklage keine ausreichenden Beweise
vorlegen konnte, dass Halilovic effektive Kontrolle über die Einheiten ausübte,
die diese Verbrechen begangen hatten. Zur Operation selbst äußert sich die
Anklage vergleichsweise zurückhaltend; betont wird der Zweck der Offensive,
nämlich die Blockade der HVO zu brechen. Es fällt auf, dass die Angaben über
die sonstigen Folgen des Vordringens in die Gebiete um Jablanica, Gornji Vakuf
und Prozor sowie der versuchten »Öffnung der Hauptroute« nach Mostar für die
Bevölkerung in den vorwiegend kroatischen Dörfern auf dieser Wegrichtung
unerwähnt bleiben.(6)
In den anderen
Anklageschriften wegen Kriegsverbrechen im selben Konflikt, begangen von der
anderen Partei, werden vergleichbare Operationen deutlich anders
charakterisiert. So in dem Fall des Befehlshabers der HVO in Zentralbosnien, Tihomir
Blaskic. In der Anklage gegen ihn liest man: »? Blaskics Einheiten entfachten eine
vernichtende Serie gut geplanter und koordinierter Überraschungsangriffe auf
Vitez, Busovaca und Kiseljak ? dies waren sorgfältig geplante militärische
Operationen ? unterstützt durch Artillerie, schwere Waffen und gut koordinierte
Bodentruppeneinsätze«. Dass der Kontext dieser Operationen der Versuch war, die
Blockade der wichtigen Verbindung entlang des Lasvatals durch die ABiH zu
beenden, weiß die Anklage und verschweigt es nicht einmal. Aber schon am Anfang
der Anklageschrift gegen Blaskic steht, das sei ein Fall, wie »die
bosnisch-kroatischen Truppen unter dem Befehl und der Kontrolle von Tihomir Blaskic
1993 Teile in Zentralbosnien ethnisch gesäubert hatten, und zwar durch
systematische Angriffe auf muslimische Zivilisten und deren Häuser sowie
Zerstörung von deren Habe ?« (Herv. D. M.) Der militärische Grund ?
»Blockade durchbrechen« ? geht dabei unter. Die Anklage spricht von »illegalen
Methoden«, die die Truppen unter Blaskics Kommando angewandt hätten, »um eine
bosnisch-kroatische ethnische Mehrheit in Zentralbosnien zu erzielen«, und
beschuldigt Blaskic, davon »in Kenntnis gewesen zu sein«. Diese Methoden seien
sehr effektiv gewesen, da »ganze muslimische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht
wurden und die Einwohner aus dem Territorium unter seiner Kontrolle vertrieben
waren«.(7)
Die Unterscheidungen in der
Charakterisierung des Hergangs und des Hintergrunds sind nicht zufällig, aber
die Anklageverfasser sind sich dessen, nach meiner Überzeugung, gar nicht
bewusst. Hildegard Uertz-Retzlaff, die in mehreren Teams der Anklagebehörde
tätig war und jetzt die Anklage gegen Karadzic vertritt, hält in dem oben genannten,
1999 veröffentlichten Artikel fest, worum es in dem Fall Blaskic aus dem Blickwinkel
der Anklage geht: »Im Rahmen des Blaskic-Verfahrens ? wird der Nachweis zu
führen sein, dass die bosnischen Kroaten lediglich stellvertretend für Kroatien
den Krieg geführt haben.«(8) Es sollten fast zehn Jahre vergehen, bis
feststand, dass ein solcher Nachweis nicht zu erbringen war. Und doch gab der
Ankläger bereits in seinem Plädoyer zu, dass die Beweise für die Verantwortung
Blaskics primär auf Indizien basieren, die er als »strong« bezeichnete. Am Ende
wurde Blaskic wie dem erwähnten Halilovic eine Verantwortung für die durch
seine nur nominell Untergebenen verübten Morde nicht nachgewiesen.(9)
Ein dritter Fall zur
Untermauerung der aufgestellten These findet sich in dem erstinstanzlichen
Urteil gegen Radoslav Krstic, den einstigen General der bosnisch-serbischen
Streitkräfte, der als verantwortlicher Kommandeur die Eroberung von Srebrenica
und Zepa im Juli 1995 (Operation »Krivaja«) befehligte. Krstic wurde wegen Genozids
in Srebrenica im August 2001 zu 46 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Dieses Urteil
weckte naturgemäß große Aufmerksamkeit. Doch hier geht es um etwas anderes: In
der Urteilsbegründung wurden die Angriffe auf die beiden Enklaven Srebrenica
und Zepa an sich als legitim bezeichnet. Das war ein kardinaler Fehler, schon
deshalb, weil es sich um UN-Schutzzonen handelte. Im rechtskräftigen Urteil der
Berufungskammer im April 2004, das auch andere zum Teil schwerwiegende Fehler
der ersten Instanz bereinigte, wird der Angriff auf die beiden Enklaven dann
richtig als Verbrechen gekennzeichnet. Krstic wurde schließlich rechtskräftig
für Beihilfe zum Völkermord zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Über die Gründe für diese
Fehler in einem Urteil, das sonst stichhaltig und mit viel juristischem
Geschick den völkerrechtlichen Tatbestand des Genozids beim Massenmord nach dem
Fall von Srebrenica begründete, kann man nur annehmen, dass sich darin ein in
dem anfänglichen Kenntnisstand der Juristen sedimentiertes Allgemeinbild über
diesen Raum und eine unterschwellige Haltung gegenüber der serbischen Armee und
ihrer vermeintlichen Rolle in seiner Geschichte widerspiegelt. Hier stellt die
Einschätzung der militärischen Operationen Krstics ohnehin nur ein drittes
Beispiel für die extrem unterschiedlichen Beurteilungen des Krieges im Rahmen
der strafrechtlichen Verfolgung der durch ihn ausgelösten Verbrechen dar.
Die dargelegten
Ungereimtheiten deuten daraufhin, dass das vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete
Gesetz, das den Konflikt nicht definierte, in der juristischen Praxis zu
Problemen führt, in der dann der grundlegende Tatbestand des Krieges mal so und
mal so bestimmt oder eben unbestimmt gelassen wird. Darin kann man den Ursprung
dafür erkennen, dass unterschwellige Konfliktdeutungen sowohl in die Abfassung
von Anklagen als auch in manche Urteile hineinflossen, wie überhaupt ein
relativ großer Raum für die freie Interpretation eröffnet wurde.(10)
Die durch die Unvollständigkeit
des Gesetzes ausgelöste Widersprüchlichkeit der strafrechtlichen Verfolgung von
Kriegsverbrechen kulminiert geradezu in dem Fall der Anklage gegen die
Verantwortlichen der Operation »Sturm«, die der serbischen Besetzung in
Kroatien ein Ende machte. Zunächst einiges zur Vorgeschichte, wie sie durch die
bereits abgelaufenen Verfahren zum Vorschein kommt.
In den Verfahren gegen
Milosevic, gegen hohe Offiziere der JVA, die für die Belagerung und den
Beschuss von Dubrovnik verantwortlich waren, sowie gegen jene, die die Belagerung
und Erstürmung von Vukovar befehligten, sowie in den Verfahren gegen Milosevics
Mitläufer und Mittäter in Kroatien ? Mile Babic und Mile Martic als Anführer
der aufständischen Serben ? konnten die Anklagevertreter eindeutig und
umfassend nachweisen, dass die Truppen der Jugoslawischen Volksarmee zusammen
mit diversen serbischen Milizen ? trotz anfangs anderslautender Rhetorik ?
große Teile Kroatiens regelrecht eroberten; dass ferner der Aufstand der Serben
in Kroatien aus Belgrad geplant, organisiert und das errichtete, ethnisch
gesäuberte Gebilde umfassend unterstützt sowie überhaupt aufrechterhalten
wurde. Milosevic verstarb bekanntlich kurz vor der Beendigung seines
Verfahrens. Die meisten Angeklagten im Zusammenhang mit den Verbrechen bei
Dubrovnik und Vukovar wurden für schuldig befunden und mittlerweile rechtskräftig
verurteilt. Mile Martic, die zentrale Figur in dem abtrünnigen Gebiet, wurde im
Oktober 2008 rechtskräftig zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Berufungskammer
sprach ihn des Mordes, der Folter sowie der Verfolgung und Vertreibung fast der
gesamten kroatischen beziehungsweise nicht-serbischen Bevölkerung aus den
besetzten Gebieten Kroatiens zwecks Schaffung eines serbisch beherrschten
Neugebildes (»the common purpose to create a Serb dominated territory«) sowie
des terroristischen Angriffs mit Streubomben auf das Zentrum der kroatischen
Hauptstadt Zagreb im Mai 1995, bei dem mindestens sieben Zivilpersonen getötet
und mehr als 200 verletzt wurden, für schuldig. Mile Babic wiederum bekannte
sich schuldig (2004) und wurde im Juli 2005 rechtskräftig zu 13 Jahren
Freiheitsstrafe verurteilt. Babics Schuldbekenntnis ist ein Zeugnis der
aufrichtigen Reue(11) und eines glaubhaften Lernprozesses, der ihn zur Anerkennung
der Fakten und weg von der großserbischen Verblendung brachte. Babic sagte als
wohl der wichtigste Zeuge der Anklage tagelang in dem Verfahren gegen Milosevic
aus, belastete ihn substanziell und erhellte auf bis dato unübertroffene Weise
den Hergang der Aggression und Okkupation beinahe eines Drittels von Kroatien.
Nachdem er anfing im März 2006 im anderen Prozess, nämlich gegen Martic, in Den
Haag auszusagen, beging er Selbstmord in der Zelle des Scheveninger
Gefängnisses.
In dem noch laufenden
Verfahren gegen den früheren jugoslawischen Generalstabschef Momcilo Perisic
(seit Oktober 2008) versucht die Anklage nachzuweisen, dass er als oberster
Befehlshaber der »jugoslawischen Streitkräfte« (JV) und ihrer beiden serbischen
Ableger in Kroatien (SVK, serbische Krajina-Armee) und in Bosnien-Herzegowina
(VRS) für die von seinen Untergebenen (subordinates) Ratko Mladic und
von den Oberen der kroatischen Serben verübten Verbrechen strafrechtlich
verantwortlich ist. Milosevic setzte Perisic im Sommer 1993 an die Spitze der
Armee (bis 1998), nachdem sie formal in eine der BRJ und eine der bosnischen
Serben (VRS) geteilt war und nachdem er 42 Generäle von der alten Garde
abgelöst hatte. Das war auch ein klares Signal der Taktikänderung, weil jetzt
so getan werden musste, als seien es zwei separate Armeen, während die alten so
getan hatten, als würden sie Jugoslawien retten. Zu diesem Zweck baute Perisic
zwei Sonderabteilungen (the 30th and 40th Personnel Centres) auf als »legalen
Deckmantel für die Tatsache, dass die JV ihre Leute zum Dienst in Bosnien und
Kroatien abkommandieren konnte«.
Inzwischen stehen der
Staatsanwaltschaft dafür Berge von Beweismaterial zur Verfügung, insbesondere
nachdem die serbische Regierung endlich dem Gericht einige der geforderten
Unterlagen aus dem Militär- und Staatsarchiv geliefert hat. Zwar ist es der
serbischen Regierung noch im Milosevic-Verfahren gelungen durchzusetzen, dass besonders
belastende Eintragungen aus den Sitzungsprotokollen des Obersten Verteidigungsrates
für die Öffentlichkeit verschlossen bleiben, damit sie von der bosnischen
Regierung vor dem IGH in Den Haag zur Untermauerung der Genozid-Klage nicht benutzt
werden können, aber das im Laufe mehrerer Verfahren entstandene Bild der aktiven
Kriegführung aus dem politischen und militärischen Zentrum in Belgrad hat auch
so nur noch wenige weiße Flecken und wird stets weiter vervollständigt. Zum Beispiel
im Februar 2010 durch ein Dokument, das von Momcilo Perisic als Generalstabschef
der jugoslawischen Armee verfasst wurde und das Datum 24. November 1993 trägt.
Es handelt sich um den Kriegsplan unter dem Namen »Drina« (Grenzfluss zwischen
Bosnien-Herzegowina und Serbien), mit welchem »die Voraussetzungen für die
Befreiung und Vereinigung aller serbischen Territorien geschaffen werden
sollen«. Aus weiteren Dokumenten geht hervor, dass der Generalstab der Armee
der bosnischen Serben (VRS) einen Monat später diesen Plan, der eine gemeinsame
Kriegführung von JV, VRS und SVK in Bosnien-Herzegowina und Kroatien vorsieht,
weiter ausgebaut hatte und dabei größtenteils identische Formulierungen
benutzte.
In einem weiteren noch
laufenden Verfahren (Beginn April 2008) gegen zwei Geheimdienstchefs ? Jovica
Stanisic und Franko Simatovic ? wird die Kriegführung gleichsam aus der Mikroperspektive
der einzelnen Angriffe und Ereignisse beleuchtet. In der Anklage stehen die
hinreichend bekannten Fakten: Die beiden bekamen einen Geheimauftrag von
Milosevic, eine Sondereinheit aufzustellen, die nur ihm unterstellt, also
illegal und verfassungswidrig war. Im Mai 1991 wurde diese Spezialeinheit
(»Rote Barette«) heimlich in der Nähe von Knin in einem Militärlager
ausgebildet. Es folgten andere solcher Geheimlager, später auch in
Bosnien-Herzegowina. Stanisic konnte oft sogar den JVA-Offizieren an der Front
Befehle erteilen. Während der Beweisführung konnte die Anklage neben bereits
bekannten Fakten und in früheren Prozessen bewiesenen Tatbeständen weitere
Einzelheiten über die Organisation der Aggression gegen Kroatien und später in
Bosnien-Herzegowina durch neue Zeugen aus den Reihen dieser Sondereinheiten und
insbesondere durch die neulich übermittelten Unterlagen des serbischen
Geheimdienstes kräftig untermauern und zugleich das Bild der serbischen Kriegführung
vervollständigen, denn diese von den beiden befehligten Geheimtruppen waren
zusammen mit anderen Milizen unter deren Kontrolle an allen Kriegsschauplätzen
aktiv und in fast alle Massenverbrechen verstrickt gewesen ? und zwar von
Anfang an (Knin) bis zum Massaker bei Srebrenica. (Eigentlich auch darüber
hinaus: Mehrere Zeugen erkannten die ? mittlerweile in Belgrad zu Höchststrafen
verurteilten ? Mörder von Zoran Djindjic als brutale Killer in besetzten Teilen
Kroatiens und im Bosnien-Krieg.)
Vor allem das rechtskräftige
Urteil gegen den Primus der aufständischen Serben in Kroatien, Mile Martic,
legt alle wesentlichen Bestandteile der Eroberungsstrategie und der
machtpolitischen Taktik Milosevics präzise dar, freilich ohne diesen Tatbestand
als Angriffskrieg zu benennen. Stattdessen taucht die fragwürdige Formel eines
»gemeinsamen verbrecherischen Unternehmens« auf. In einem separaten Votum zum
Urteil unterzieht der Berliner Richter in der fünfköpfigen Appellationskammer,
Wolfgang Schomburg, diese merkwürdige Bestimmung der ICTY-Rechtsprechung und
ihre Anwendung bei der Urteilsbegründung in Martics Fall einer gründlichen und
scharfen Kritik, obwohl er sonst mit der Entscheidung einverstanden war. Schomburg expliziert, dass die kriminelle
Verantwortlichkeit Martics durch die Anwendung der JCE verwässert wurde, weil
er so als »member of the JCE« statt als Mittäter ? (co)-perpetrator ?
belangt wurde: »Martic soll als hoch rangierter Haupttäter gesehen werden ?«
Das Konzept von JCE wird als sehr problematisch dargelegt: Es sei »verschwommen
und anscheinend grenzenlos«, seine Kategorien werden dermaßen erweitert, dass
man sich sorgen muss, ob hier nicht das fundamentale Prinzip des Rechts,
nämlich nullum crimen sine lege, verletzt wird. Schomburg führt noch
einige andere problematische Aspekte dieser Konzeption an, der wichtigste ist,
dass das Gericht seinem Statut nach nur für strafrechtliche Verfolgung von
Personen (individual criminal responsibility) zuständig ist; daher dürfe
weder die individuelle Verantwortlichkeit auf eine Kollektivität verlagert noch
jemand bloß als Mitglied einer Gruppe strafrechtlich verfolgt sowie bestraft
werden.(12)
Es könnte sein,
dass dieses problematische Konzept des »gemeinsamen kriminellen Unternehmens«
im Kontext des Fehlens des Angriffskrieges als Tatbestand im ICTY-Gesetz steht.
Sicher ist aber, dass der willkürliche Gebrauch dieser widersprüchlichen
Kategorie fatale Folgen hat und der Entwicklung des Völkerstrafrechts kaum
dienlich sein kann. Denn die schwammige Formel, die von Schomburg im erwähnten
Fall deshalb kritisiert wurde, weil sie die kriminelle Verantwortung von Martic
nicht präzise fasst (und »trivialisiert«) und die Rechtsprechung des ICTY
beschädigt (da eigentlich im Widerspruch zur Satzung), wird darüber hinaus dazu
benutzt, Tatbestände zu konstruieren, die einer genaueren Prüfung kaum
standhalten ? wie übrigens in der Berufung bislang oft geschehen.
Die
militärischen Aktivitäten der Angegriffenen unter Ausschluss des Angriffskriegs
als Tatbestand völkerrechtlich einzuschätzen, dürfte an sich keine ganz leichte
Sache sein. Da aber das Statut des Tribunals den Tatbestand des Angriffskriegs
nicht enthält, blieb auch der Verteidigungskrieg für das Gericht undefiniert.
Die Staatsanwaltschaft blendet also bei den Anschuldigungen gegenüber den
Oberbefehlshabern der kroatischen Armee (HV) weitgehend den Hintergrund aus,
das heißt, dass die kroatische Offensive exakt auf jenem Territorium stattfand,
auf dem gemäß dem oben besprochenen rechtskräftigen Urteil des Tribunals gegen
Mile Martic vier Jahre lang massive Vertreibungen und Verbrechen verübt wurden.
Damit erscheint die militärische Operation ohne ihren hauptsächlichen Grund und
ihre wesentliche Motivation, nämlich einen widerrechtlichen Zustand der
Okkupation von beinah einem Drittel des Landes zu beenden, von dem aus
weiterhin Krieg gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina geführt wurde. Die drei
Oberbefehlshabenden der HV in der Operation »Sturm« (Oluja), Ante
Gotovina, Ivan Cermak und Mladen Markac, werden beschuldigt, als Mitglieder des
JCE für die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Mord, Vertreibung) und
»Verstöße gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges« (mutwillige Zerstörung,
Angriff auf zivile Ziele und unverteidigte Städte) verantwortlich gewesen zu
sein. Mit dem Konzept der JCE unterstellt also die Staatsanwaltschaft den Oberbefehlshabern der kroatischen Streitkräfte,
beim Entsatz der »Krajina«, einen anderen Zweck als die Landesverteidigung
(mit-)verfolgt zu haben.
Den drei Militärs wirft die
Staatsanwaltschaft also vor, während der Rückeroberung des besetzten Gebietes
in Dalmatien unter dem Namen »Republika Srpska Krajina« (RSK) als Mitglieder
eines »gemeinsamen kriminellen Unternehmens«, dem weitere bekannte, aber auch
unbekannte Personen (sic!) angehörten, gehandelt zu haben, und zwar zwecks
Vertreibung von Serben aus Kroatien, weshalb auch die zivilen Ziele in Knin,
der damaligen Hochburg der aufständischen Serben, unverhältnismäßig stark
bombardiert worden seien. Zwar wird diese militärische Operation, die binnen
drei bis vier Tagen im August 1995 der Besatzung und dem friedensbedrohenden
Zustand ein Ende machte, nicht explizit als unrechtmäßig bezeichnet, aber ihre
militärische Zweckmäßigkeit wird völlig ignoriert, wie sich während der
Beweisaufnahme der Anklage ? durch die Aussagen von Zeugen, davon ein Großteil
UN-Personal damals vor Ort und die Beiträge der Gutachter ? deutlich zeigte.
Die Tendenz in den meisten
Aussagen der Zeugen der Anklage aus diesem Personenkreis kann man geradezu
einheitlich nennen, weil sie generell darauf hinausliefen, den Waffeneinsatz
der HV als übermäßig, unpräzise und unzweckmäßig einzuschätzen. Doch die
Verteidigung konnte diese Angaben in erstaunlich hohem Maße erschüttern.
Beeindruckend waren
besonders die Einschätzungen des serbischen Oberbefehlshabers von Knin, das
heißt den Truppen der aufständischen Serben, Mile Mrksic. Er beschrieb bei der
Anhörung im Juni 2009 glaubhaft, dass die Artillerieschläge der HV auf
militärische Ziele ebenso präzise wie effektiv waren. Mrksic war übrigens im
Mai 2009 rechtskräftig zu 20 Jahren Gefängnisstrafe wegen seiner Verantwortung
als Oberbefehlshaber der JVA bei dem Massaker von Vukovar (im November 1991)
verurteilt.
Die unter dem UN-Personal
stark verbreitete Perspektive hat einerseits damit zu tun, dass die
UN-Organisationen sich vor Ort geradezu eine eigene Welt aufbauen, in der sie
fern von der Wirklichkeit leben, und zum anderen steht sie im Zusammenhang mit
der Mission der UN. Die sogenannten Blauhelme waren in diese Gebiete entsendet,
um den Frieden zu bewahren. Dass es dafür keine Voraussetzungen gab, weigerte
sich die UN auf allen Ebenen anzuerkennen. Erst nach dem Krieg gab es den
berühmten selbstkritischen Bericht des damals neuen UN-Generalsekretärs Kofi
Annan.(13) Aus der Sichtweise, eine Friedensmission zu führen, konnte die
kroatische Offensive sogar als Friedensbruch empfunden werden. Hier macht sich
eine fatale Konvergenz bemerkbar, nämlich zwischen dem verfehlten UN-Konzept
der Friedenswahrung ohne Frieden, dem Statut des Kriegsverbrechertribunals, das
den Tatbestand des Angriffskriegs aus der Gesetzesgrundlage ausschloss, und dem
Grundzug des hier thematisierten Verfahrens, das den kriegerischen Kontext
ausblendet.(14)
Im Rückblick zeigt sich,
dass der Verzicht auf genaue Bestimmung des postjugoslawischen Krieges und
seine Verursacher bei der Setzung der gesetzlichen Grundlage des UN-Tribunals
nachhaltige negative Folgen mit sich brachte. Einerseits stand diese Entscheidung
im Einklang mit der vorherrschenden Meinung, es habe sich um einen ethnischen
Konflikt, einen unübersichtlichen Krieg aller gegen alle gehandelt,
andererseits wussten gerade die Politiker und Staatsmänner der westlichen
Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat genau Bescheid. Beweis: Einmal wurde das
tatsächliche Geschehen, der Hergang des Angriffskriegs und der
menschenverachtende Charakter der großserbischen Politik unter Milosevic auf
der großen Weltbühne geschildert. Das geschah in der Rede des amerikanischen
Präsidenten Bill Clinton, in der er im März 1999 den bevorstehenden Luftangriff
auf Serbien rechtfertigte und alle vorangegangenen Taten des aggressiven
Regimes gegen die Nachbarstaaten wahrheitsgetreu aufzählte. Dabei war es dann
auch geblieben. Wobei zu bedenken ist, dass eine »vorherrschende Meinung« nicht
ein Naturgeschehen ist, das vom Himmel fällt. Sie wird gebildet, und manchmal
ist jedes Mittel recht, um sie in die gewünschte Gestalt zu bringen. Welche
Rolle bei der gewollten Falschbilderproduktion etwa die britische Diplomatie
und die wichtigsten Medien spielten, welche politischen Ziele sie verfolgten
und bis heute verfolgen, kann man in den Studien von Carole Hodge und Brendan
Simms nachlesen.(15)
Dass sie auch bei der
Gestaltung des Statuts des Tribunals Einfluss hatte, kann man mit hoher
Wahrscheinlichkeit annehmen. Doch ? aus welchen Gründen auch immer ? überwog
unter den Gesetzesverfassern die Ansicht, dass es weniger Probleme bereiten und
den Neutralitätsanspruch des Tribunals unterstreichen würde, wenn man die Art
des Krieges unbestimmt lässt. Nun hat diese Unbestimmtheit, wie oben gezeigt,
jedoch zur Folge, dass gleichwertige Sachverhalte und Tatbestände äußerst
unterschiedlich bewertet und verhandelt werden (Fallbeispiele: Blaskic,
Halilovic, beide Zentralbosnien) und dass sogar ein widerrechtlicher Eroberungsangriff
als legitim eingeschätzt wird (Krstic/Srebrenica). Ferner etablierte sich die
Formel vom »gemeinsamen kriminellen Unternehmen« (JCE), die ohne Bestimmung des
Angriffskriegs in der Luft hängen bleibt und beliebig angewendet wird
(diskutiert am Martic-Urteil).(16) Schließlich sorgt auch die ungenaue Formel
vom »bewaffneten Konflikt« für Probleme, weil sie einen zu großen
Interpretationsraum zulässt.
Eine fehlende Bestimmung
oder Positionierung verbürgt jedoch gerade nicht eine faire Neutralität.
Vielmehr wirkt hier unterschwellig die These, dass die Kriege, in denen
Kriegsverbrechen begangen wurden, die vor Gericht verhandelt werden, Bürgerkriege
oder bewaffnete ethnische Konflikte waren. Die allgemeine Verbreitung dieser
These in den Öffentlichkeiten und renommierten Medien entbehrt jedoch der
Begründung. Vor allem aber ist die Bürgerkriegsthese die offizielle Lesart in
Belgrad, wo natürlich die ganze Palette der Bequemlichkeiten, die sie Serbien
gestattet, genutzt wird: der Kriegesanfang, seine Führung und seine Ziele
können geleugnet werden; alle seien schuld, und alle haben Verbrechen begangen.
Da niemand demnach einen Angriffskrieg losgetreten habe, kann auch niemand
beanspruchen, einen legitimen Verteidigungskrieg geführt zu haben. So schreibt
der serbische Oberstaatsanwalt munter Anklagen gegen bosnische (und
kosovarische) Politiker wegen angeblicher Kriegsverbrechen, die mit Ereignissen
zu tun haben, die wesentlich der Verteidigung des Landes gegen die serbische
Aggression ? von innen und von außen ? dienten. Die letzte Pikanterie: Anfang
März nahmen die hilfreichen britischen Behörden das ehemalige Mitglied des
bosnischen Staatspräsidiums, Ejup Ganic, aufgrund eines Haftbefehls von Serbien
fest, der auf völlig unhaltbaren Anschuldigungen wegen angeblicher
Kriegsverbrechen im Mai 1992 beruht, und das Territorium außerhalb der
Zuständigkeit der serbischen Justiz und die Zeit betrifft, als der serbische
Blitzkrieg gegen Bosnien-Herzegowina auf vollen Touren anlief.
Noch eine letzte negative
Folge der These vom Bürgerkrieg sei erwähnt: Sie begegnet uns zunächst in der
Form der vorwurfsvollen Frage serbischerseits, warum denn die meisten wegen
Kriegsverbrechen Angeklagten Serben seien. Alle, die an der Bürgerkriegsthese
hängen, können solche Fragen und Vorwürfe nicht richtig beantworten. Doch an
sich ist die Antwort nicht kompliziert: diesen Krieg haben nicht die Serben,
die Serben als Volk, als ethnische Gruppe geführt, sondern das
militärisch-politische Establishment, die Geheimdienste, die Milizen unter der
Führung eines nationalistischen Regimes, seines großserbischen Programms und
dessen Befürworter außerhalb Serbiens. Diese Kreise haben (zusammen mit
nationalistischen Intellektuellen und Meinungsmachern) den Angriffskrieg
angezettelt, geführt und unterstützt, und es ist daher auch kein Wunder, dass
die meisten Angeklagten aus diesen Strukturen kommen und natürlich nicht
einfach als »Serben« angeklagt sind.
»Angriffskrieg« als
Tatbestand im Statut des ICTY hätte sich somit viel positiver für alle
Beteiligten ausgewirkt als seine Ausklammerung. Und: eine engere Anlehnung an
das Londoner Statut für die Nürnberger Prozesse hätte der Abfassung der
gesetzlichen Satzung des sogenannten ICTY gutgetan.
1
FAZ, 13.1.10.
2
Stefan Oeter: »Völkerrechtliche Rahmenbedingungen und die
Staatengemeinschaft«, in: Dunja Melcic (Hrsg.): Jugoslawien-Krieg. Handbuch
zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2007 (2., aktualisierte und erweiterte Auflage), S.
485?502.
3
Hildegard Uertz-Retzlaff: »Verbrechen gegen den Frieden,
d.<|>h. die Vorbereitung und die Führung eines Angriffskrieges, stellen
keine Tatbestände i.<|>S. des Tribunalsrechtes dar ...« »Über die
praktische Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes«, in: Horst Fischer,
Sascha Rolf Lüder (Hrsg.): Völkerrechtliche Verbrechen vor dem
Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof:
Beiträge zur Entwicklung einer effektiven internationalen Strafgerichtsbarkeit,
Berlin, 1999, S. 91.
4
Die rechtswissenschaftlichen Aspekte dieses Zusammenhangs
kann freilich erst eine juristische Analyse genauer erheben. Eine umfangreiche
Untersuchung zur Rechtsprechung des Tribunals hat unlängst Boris Burghardt
vorgelegt: Die Vorgesetztenverantwortlichkeit im völkerrechtlichen
Straftatsystem. Eine Untersuchung zur Rechtsprechung der internationalen
Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, Berlin, 2008.
Sie läuft auf eine sehr kritische Auswertung der Rechtsprechung der beiden Tribunale
hinaus, aber rechtfertigt die ? sonst viel kritisierte ? »Rechtsfigur« der Vorgesetztenverantwortlichkeit
und zwar als »eine Zurechnungsfigur«, d. h. »strafrechtliche Verantwortlichkeit
für das von ? Untergebenen begangene Völkerrechtsverbrechen« (S. 461).
5
Halilovic (IT-01-48)
Grabovica-Uzdol, auf: http://www.icty.org/cases.
6
Der britische Forscher Marko Hoare gibt in seiner kleinen,
aber aufschlussreichen Studie How Bosnia Armed folgende aus offiziellen
Quellen der bosnischen Kroaten stammende Angaben vom Sommer 1993 an: »Seit
April (1993) hat die ABiH aus den Städten Konjic, Jablanica, Travnik, Kakanj,
Fojnica und Bugojno die gesamte kroatische Bevölkerung vertrieben und 187
kroatische Dörfer zerstört.«
7
Das Plädoyer des Anklägers Mark Harmon ist als Transkript
der Sitzung vom 24. Juni 1997 zugänglich: Blaskic
(IT-95-14) Lasva Valley.
8
Marko A. Hoare: How Bosnia
Armed, London 2004, S. 93.
9
Zur Erinnerung: Blaskic stellte sich dem Gericht 1996 nach
der Bekanntgabe der Anklage. Das Verfahren begann 1997; im März 2000 wurde er
zu 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Berufungskammer wies im Juli 2004 bis
auf einen Anklagepunkt alle Schuldbefunde zu anderen Anklagepunkten der ersten
Instanz zurück und verurteilte den bereits seit acht Jahren inhaftierten
Blaskic zur neunjährigen Freiheitsstrafe. Der Gerichtspräsident genehmigte eine
Woche später seine vorzeitige Entlassung. ? Aus der Zusammenfassung des Urteils
aus der ersten Instanz auf dem Informationsblatt (»Case Information Sheet«):
»On 29 July 2004, the Appeals judgement reversed the majority of the Trial
Chamber?s convictions and sentenced Tihomir Blaskic to 9 years? imprisonment.«
10
So ist auch Boris Burghardt durch vergleichende Analyse von
Fällen zum Ergebnis gekommen, »dass es den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen nicht
gelungen ist, die jeweils gleich gelagerte Fragestellung dieser Fälle
dogmatisch einheitlich und sachgerecht in der Systematik der
Vorgesetztenverantwortlichkeit zu verorten« (S. 210).
11
Home >> Outreach
>> Statements of Guilt >> Milan Babic.
12
http://www.icty.org/case/martic;
(Appeals Chamber Judgement).
13
Kofi Annan: Report of the
Secretary-General pursuant to General Assembly Resolution 53/35 (1998)
(Srebrenica report).
14
Das Verfahren gegen Gotovina et al. begann am 18. März 2008;
die Beweisaufnahme der Anklage, die Hauptverhandlung (case-in-chief),wurde
ein Jahr später abgeschlossen (5. März 2009). Zwei Monate später (28. Mai)
begann die Verteidigung mit der Beweisführung, die auch bereits abgeschlossen
ist. Im März 2010 wurden zusätzliche Zeugen der Spruchkammer geladen, das
Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet.
15
Carole Hodge: »Britain?s
Relations with Croatia«, in: Ramet/Clewing/Lukic (Hrsg.): Croatia since Independence,
München 2008, S. 419; sowie Britain and the Balkans, London 2006; und
Brendan Simms: Unfinest Hour. Britain and the Destruction of Bosnia, London
2001.
16
Im Londoner Statut und in der Anklageschrift bei dem Nürnberger Prozess war dieses Verbrechen als »Verschwörung« klar bestimmt und begrenzt, nämlich als »Teilnahme als Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter an der Ausarbeitung oder Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung, die darauf zielte oder mit sich brachte die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität«; http://www.bz.nuernberg.de.