Balduin Winter

 

Asiens eiserne Seidenstraßen

 

 

 

Wird in China die Eisenbahn neu erfunden? Qualitative wie quantitative Dimensionen einer Renaissance werden in einem Highlight angedeutet, das der britische Economist (8.4.) unter der Schlagzeile »Die neuen Seidenstraßen« bringt: Zwei Tage, so Pläne des chinesischen Bahnministeriums, soll 2025 eine Fahrt von Shanghai nach London dauern. Ein anderes Angebot: Singapur-Paris über den »südlichen Korridor«. Springerpresse (Welt: »Angriff auf ICE«, 16.3.) und Spiegel (»Harmonie und mörderischer Ehrgeiz«, 3.5.) hatten hierzulande vor allem larmoyant über hohe staatliche Investitionen in Hochgeschwindigkeitsstrecken, vom Westen bloß abgekupferte Technologie und staatlich gesponserte neue Großkonzerne als Konkurrenten auf dem Weltmarkt (z. B. USA) berichtet.

Ganz anders geht der Economist an Chinas Groß- und Langzeitprojekte heran. Mit britischer Knappheit wird die Geschichte asiatischer Verkehrswege, ihre strategische Anlage sowie die Dialektik von See- und Landwegen referiert: Asien als riesige Landmasse mit einst wenigen langen, vor allem horizontal verlaufenden Handelsstraßen ? ihre bei uns berühmteste, die Seidenstraße. Fremde Mächte kamen zunächst nur über die Seewege weiter, die sie in der Folge auch dominierten: Portugiesen, Holländer, Engländer, zuletzt die Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Sicherheitsgürtel rund um den vielfach rot gewordenen Kontinent legten. Seit der Entkolonialisierung und dem asiatischen Aufschwung haben sich die Meeresanrainer zusehends vor ihren Küsten Respekt verschafft. Immer mehr »entdecken« sie nun den Kontinent, sehen in ihm trotz aller Partikularismen mehr und mehr Verbindliches. Asiens »neue Seidenstraßen« sind Rohstoff-, Energie- und Verkehrswege, sind Öl- und Gaspipelines, Stromleitungen, Straßen, Eisenbahnen. Erst im Dezember wurde wieder eine 7000 Kilometer lange Gasrohrleitung geöffnet, die Gas von Turkmenistan über Kasachstan und Usbekistan nach China pumpt. In Südostasien und Mittelsibirien boomt derzeit der Straßenbau. Das »fetteste Projekt« aber stellt die Eisenbahn dar, die Pionierzeiten des 19. Jahrhunderts übertreffend. Weit über China hinaus soll ein »eurasisches Netz« entwickelt werden und wird an verschiedenen Orten schon umgesetzt.

 

Dabei war Chinas Eisenbahn Anfang der Neunzigerjahre in einem schlechten Zustand. Sie verfügte zwar über ein riesiges Netz, das drittgrößte der Welt, doch befanden sich Schienennetz und Fuhrpark auf dem von der KP-Führung oft beteuerten Niveau eines Entwicklungslandes. In den ersten dreißig Jahren der VR China stand der Ausbau des industriellen Netzes im Vordergrund, zentraler Faktor war der Transport der Kohle aus den zahlreichen Bergwerken, der noch heute fast ein Drittel aller Kapazitäten bindet. 1993 betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit in Chinas kommerziellem Zugdienst gerade 48,1 Stundenkilometer. (China Daily, 17.3.) In seiner Magisterarbeit Die Reform der chinesischen Eisenbahn. Sanierung oder Privatisierung (Hamburg 2002) schreibt Eike Langenberg über das schwer defizitäre und rückständige Staatsunternehmen: »Auf Grund mehrerer Faktoren, unter anderen der steigenden Konkurrenz von der Straße und der zivilen Luftfahrt, stürzte die einstige ?Perle der Planwirtschaft? 1994 in ein ?finanzielles Loch?, in dem sie mehrere Jahre verharrte.« Noch Jahre später (Xinhua, 2007) zeigt ein Vergleich, dass »zwischen 1978 und 2007 die Länge der Straßen sich verdreifacht hat, die zivilen Fluglinien fast auf das 15-Fache angewachsen sind, die Gesamtlänge der Eisenbahn aber nur um 50 Prozent von 51.700 auf 78.000 Kilometer zugenommen hat«. Schließlich, so Langenberg weiter, »verabschiedete die ?Ständige Konferenz des Staatsrates? im März 1998 ... ein Paket tief greifender Reformen, das vom September desselben Jahres an auf den Weg gebracht wurde. Dass dieser Reform, welche die Trennung von Infrastruktur und Betrieb umfasst, in China besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, versteht sich von selbst, zählt die Eisenbahn doch zu den wichtigsten volkswirtschaftlichen Sektoren.«

Das war der Startschuss für eine beispiellose Auf- und Überholjagd. Zunächst geht es dabei um eine ökonomische und infrastrukturelle Reform. Modernisierung, Kapitalisierung, Rentabilität, Effizienz, Teilprivatisierung, Vernetzung sind dabei die gängigen Schlagworte. Natürlich betonen chinesische Bahnmanager immer wieder spezifische Daten. Auf »sechs Prozent aller weltweit verlegten Eisenbahnkilometer muss China 25 Prozent aller Transportleistungen der Welt bewältigen«, weisen Yu Shujun und Lan Xinzhen in der Beijing Rundschau (5.6.) auf einen besonderen Engpass hin. Doch überwiegt Stolz die Sorgen. 2010 sollen fast 100.000 Kilometer Streckennetz fertiggestellt sein, rund 20.000 mehr als 2007. Bis 2020 sollen es 120.000 Kilometer sein, davon, für Asien etwas Besonderes, die Hälfte elektrifiziert. Alle Millionenstädte Chinas sind inzwischen durch das komfortable »China Railway High Speed System« (CRH) untereinander verbunden.

Ein Vorzeigeprojekt sind die Hochgeschwindigkeitsstrecken und die eigens dafür konstruierten Hochtechnologiezüge. Wang Zhiguo, Vizeminister für das Eisenbahnwesen, stellt sie selbstbewusst vor: »Wir betreiben im Inland 6552 Kilometer Hochgeschwindigkeitsstrecken für Geschwindigkeiten ab 200 Kilometer und sind so Nummer eins in der Welt. Ein Viertel der Strecken fährt die Bahn bereits mit Betriebstempo 350 Kilometer.« (Spiegel, 3.5.) Schon nächstes Jahr soll die 1300 Kilometer lange Strecke zwischen Beijing und Shanghai fertiggestellt sein, auf der die Züge in einer Fahrzeit von vier Stunden verkehren werden. Und im Bahnlabor von Qingdao wird im Herbst ein Modell getestet, das bislang weltweit unerreichte 600 Stundenkilometer erreichen soll ? mit günstigen Umweltwerten, wie beteuert wird.

Das Bahnministerium stellt Berechnungen der Industrie für Frachtkosten an: Sie liegen im Schiffs- und LKW-Transport pro Tonne im Schnitt bei 66 US-Dollar ? dreimal so hoch wie auf der Schiene. Ein echter Knüller, gerade auf Fernstrecken könnte die Bahn eine überlegene Konkurrenz für den Schiffsverkehr sein. Es gab bereits 2008 ein Pilotprojekt mit der Deutschen Bahn von Beijing nach Hamburg über den Transsib-Korridor. Die chinesische Botschaft in Berlin gab sich in einer Aussendung vom 29.1.08 optimistisch: 18 Tage sei der Zug unterwegs, ein Fahrplan sei in Ausarbeitung, einzige Schwierigkeit die unterschiedlichen Zollbestimmungen der Transitländer; auch hier gäbe es bereits Abkommen zur Kooperation. Doch dann ließ die Deutsche Bahn das Projekt platzen. Vermutet wurden Widersprüche im Konzern: Denn die DB als einer der größten globalen Logistiker hatte in ihrem Konzern weit mächtigere Transportinteressen zu bedienen als jene der eigenen »kleinen« Bahn.

 

Technologisch hat China inzwischen einen Aufschwung genommen, den der britische Think Tanks »Demos« so kennzeichnet: »Die US-amerikanische und europäische Vorherrschaft bei wissenschaftsbasierten Innovationen ist nicht mehr gesichert. Das Gravitationszentrum der Innovationen beginnt sich von Westen in Richtung Osten zu bewegen.«

Eine sehr aufschlussreiche Untersuchung über den Stand chinesischer Technologieförderung bietet Jenni Werner von der Trierer Forschungsgruppe Politik und Wirtschaft Chinas: »Die politische Förderung technologischer Innovation in der VR China« (China Analysis 81, Juni 2010). Hier wird erstens der Begriff der Innovation klargestellt, der durch die Medien oft als Leerhülse geistert. Zweitens enthält das Papier einen Abriss chinesischer Forschung und Entwicklung, ihrer Wandlungen und Häutungen, ihre Verschiebung von der Industrie (»Werkbank der Welt«) zu High Tech, ihre Transformation in einen staatlich-privaten Förderrahmen und ihr »substanzieller Wandel« mit dem elften Fünfjahresplan 2006. Es wird dabei auch vieles an derzeitigen Beschränktheiten aufgezeigt, etwa die (personale) »Massebewältigung« des Bildungssystems, die Probleme staatseigener Unternehmen, innovative Akzente zu setzen trotz finanzieller Bevorzugung, die »Unterentwickeltheit des Kapitalmarktes«, die gewaltigen regionalen Gefälle, insgesamt: die »aktuellen Merkmale des Innovationssystems«. Ein rein westlich-technizistisches Verständnis von Wirtschaft und Innovation ist freilich unangebracht, denn wie der Trierer Professor Karl-Heinz Pohl feststellt, heißt »Globalisierung in Asien ... nicht notgedrungen Verwestlichung, denn wir erleben dort in einem gleichzeitig stattfindenden Regionalisierungsprozess eine Rückbesinnung auf kulturelle Ressourcen« (»Chinesische und asiatische Werte ? Die chinesische Welt als zentraler Kultur- und Wirtschaftsraum Ostasiens«, in: Hans G. Nutzinger [Hrsg.]: Religion, Werte und Wirtschaft. China und der Transformationsprozess in Asien). Pohl verweist auf eine im westlichen Verständnis wenig berücksichtigte Dimension im Begriff der Innovation, wenn er als eine wesentliche Komponente des »Wirtschaftswunders Ostasiens« den »Konfuzianismus des kleinen Mannes« aufzeigt. Diesen sieht er »in der Konstellation von hoher Leistungsbereitschaft, Sparsamkeit und einem ausgeprägten Gemeinsinn, zuzüglich eines ganzen Katalogs konfuzianischer Primär- und Sekundärtugenden ...« wirken, die sich »als wirtschafts- und modernisierungsfördernd« äußert. Ohne diesen Kontext bleibt der »chinesische Kapitalismus« unverständlich.

 

Was den Ausbau der Eisenbahn in China zusätzlich bemerkenswert macht, ist die strategische Rahmung. Allmählich werden von westlichen Instituten die Studien chinesischer Think Tanks aufgegriffen, die oft nichts anderes leisten als die verklausulierte Kadersprache der leitenden KP-Funktionäre in ihren Parteiplänen und Berichten zu »übersetzen« und zu konkretisieren. Ein auffallender Essay erschien in The American Interest (Mai/Juni 2010). Anthony Bubalo und Malcolm Cook vom Lowy Institut Sydney kritisieren in »Horizontales Asien« die in den USA vorherrschende Sichtweise, »Asien vom Meer her zu sehen«. Merkbar ist ihr Rückgriff auf die Arbeiten des Shanghai Institutes for International Studies zur asiatischen Entwicklung im globalen Kontext (siehe Ereignisse & Meinungen, Kommune 6/09). Ein Grund, den Kontinent zu »übersehen«, liegt wohl auch im lange Zeit unbedeutenden innerasiatischen Handel. Erst seit 1990 nimmt der interregionale Handel schwunghaft zu, beginnt Asien jenseits seiner Ränder »aufzutauchen«, und zwar in einer vielseitigen Vernetzung: Russland mit China, China mit Indien, Golfstaaten mit Japan, China und Indien, Zentralasien mit Iran, Türkei, Russland und China ? alle möglichen Varianten entstehen, und die Handelsmengen steigen sprunghaft. Das Schwungrad ist die Energie in verschiedenen Formen, die zu einem enormen Ausbau von Energiestraßen führt. Begleitende Elemente sind oft horizontale Verkehrswege ? und Eisenbahnen, Letztere als ernst zu nehmende Konkurrenz zur Frachtverschiffung.

Was heute an Strecken geplant oder bereits in Angriff genommen worden ist, wird dazu beitragen, dem Kontinent ein neues Gesicht zu geben. Die alte Transsib wäre demnach nur noch eine eurasische Korridorstrecke unter anderen. Eine weitere soll in etwa der historischen Seidenstraße folgen: Beijing, Urumqi, Kashgar, Taschkent, Samarkand, Teheran, Istanbul, um dort an die alte Orientlinie anzuschließen. Eine Strecke von Urumqi nach Astana (Kasachstan) ist bereits fertiggestellt. Ein südlicher Korridor soll von Kunming über Myanmar durch Indien und Pakistan führen. Auffallend ist die enge Einbeziehung Europas ebenso wie die des insularen Südostasiens, wohin eine Linie von Kunming nach Singapur und weiter nach Indonesien geplant ist; der erste Teil befindet sich im Bau.

Bubalo und Cook übersehen nicht die Widersprüche zwischen den asiatischen Mächten und Staaten, die auch zu Kriegen geführt hatten: Russen, Japaner, Chinesen, Vietnamesen, Pakistani, Inder hatten keine friedliche Vergangenheit, heute macht sie der Kampf um Ressourcen oft zu scharfen Konkurrenten. Aber der rapide Ausbau der Infrastruktur bietet viele Chancen, die auch in der 2001 gegründeten Shanghaier Organisation (SCO, Mitglieder: Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan) zum Ausdruck kommen: gegenseitige Sicherheit, Hilfe und Ausbau der innerasiatischen Infrastruktur war hier von Anfang an das Hauptthema. Der »Sprung vorwärts« im Eisenbahnsektor, der 27 Staaten miteinander verbinden soll, könnte nachhaltigere Gründe haben als Profitmacherei und technologisches Protzentum. Manche westliche Strategen sehen freilich darin einen wichtigen Baustein für ein neues Imperium und eine neue Weltordnung.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2010