Ein Jahr nach Ahmadinedschads manipulierter Wiederwahl und einer massiven Oppositionsbewegung sind die Machthaber unnachgiebig geblieben, doch toben unter ihnen schwere Konflikte. Auch die Vorstellungen der »Reformer« streben auseinander, sie reichen von der Überwindung der islamischen Republik über dezidierte Demokratisierungsvorstellungen bis zur Beschränkung auf kosmetische Maßnahmen. Gemeinsamkeiten und Kompromisse werden erschwert durch unterschiedliche politische Vergangenheiten. Zeichnen sich Bündnismöglichkeiten ab?
Am 12. Juni, dem
Jahrestag der umstrittenen Präsidentschaftswahl, blieben Massendemonstrationen aus. Zwei Tage zuvor
hatten die beiden Oppositionspolitiker Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi
die geplante Demonstration und die anschließende Kundgebung auf dem
symbolträchtigen »Platz der Freiheit« (meidane asadi) bereits abgesagt.
Wie sie in ihrer gemeinsamen Erklärung hervorhoben, wollten sie damit das Leben
der Demonstranten vor dem brutalen Vorgehen der Hardliner schützen.(1) Trotzt ihrer
Absage und der dem Ausnahmezustand ähnelnden Situation kam es dennoch in Teheran
und in anderen Großstädten Irans zu Protestaktionen. Es gab Zusammenstöße zwischen
Demonstranten und Sicherheitskräften.(2)
Nach einem Jahr direkter
Konfrontationen gibt es immer noch kein Zeichen, dass die herrschenden
»Rechtskonservativen« bereit sind, von ihrer Position abzuweichen oder zumindest
einige systemimmanente Forderungen der reformorientierten Opposition zu
akzeptieren. Die Bemühungen der gemäßigten Rechtskonservativen wie auch der »Reformer«
blieben bis jetzt ohne Erfolg. Die Unnachgiebigkeit der ultrarechten Fraktionen
der Rechtskonservativen um den religiösen Führer Ali Chamenei, den
Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad samt ihrer Machtstütze, der »Wächterarmee«
(sepahe-pasdaran), signalisiert, dass sie es nicht für nötig halten, zu
den alten Regeln der Machtausübung sowie des Machterhalts in der Islamischen
Republik zurückzukehren, nämlich zum »geschlossenen Pluralismus«. Dieser
erlaubte bis vor Kurzem die Beteiligung aller systemtreuen Kräfte an der Macht,
entsprechend ihrer sozialen und politischen Gewichtung.(3)
Diese unnachgiebige Haltung
ist aber kein Zeichen der Stärke und schon gar kein Beweis für die
Geschlossenheit der Rechtskonservativen. Denn vergegenwärtigt man sich die
anhaltenden Konflikte zwischen dem mehrheitlich von Rechtskonservativen besetzten
Parlament und der Regierung oder die immer härter geführten Verteilungskämpfe
um die Ressourcen zwischen der Wächterarmee als drittgrößte ökonomische Macht
des Landes und der »Handelskammer« (otaghe bazagani), die seit Jahrzehnten
als Domäne des Bazari-Flügels der Rechtskonservativen gilt, oder auch die
neulich ausgelöste Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem
ultrarechten »Wächterrat« (schuora-ye negahban) über die
Rechtskompetenzen des Staatspräsidenten, kann man feststellen, dass die
Konfliktlinien nicht nur zwischen den verschiedenen Fraktionen der
Rechtskonservativen verlaufen, sondern auch innerhalb derselben.
Aus der Zerstrittenheit der
Machthaber und ihren verzweifelten Versuchen, der desaströsen Lage Herr zu
werden, kann man zwar auf den massiven »Druck von unten« schließen, aber nicht
auf die Geschlossenheit der iranischen Opposition. Diese ist genauso
zerstritten und in zig Fraktionen und Gruppierungen gespalten wie das Regime
selbst. Entgegen der Hoffnung vieler IranerInnen haben die gemeinsamen Proteste
bis jetzt nicht viel dazu beigetragen, über die Minimalforderungen der
Protestbewegung eine gemeinsame Programmatik und Organisationsstruktur zu
entwickeln, die parteiübergreifend alle antidiktatorischen Kräfte einschließt.
Rekapituliert man allein die
Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen oppositionellen Gruppen, die
nach der Veröffentlichung der »17. Erklärung« Mussawis am 1. Januar dieses
Jahres noch einmal verschärfte Formen angenommen und zu einer Flut von
Gegenerklärungen geführt haben, stellt man fest, dass große Meinungsverschiedenheiten
in der oppositionellen Bewegung herrschen: angefangen über die historische
Bewertung der iranischen Revolution von 1979, über das Staatswesen der
Islamischen Republik, ihre bisherige Entwicklung und Reformierbarkeit, über die
Ursachen und die soziopolitischen Perspektiven der Proteste, über die Rolle der
Reformer selbst und so fort.(4) Gleichzeitig führen diese Auseinandersetzungen
jedoch zur Annahme ? und das ist vielleicht das Eigenartige daran ?, dass fast
alle oppositionellen Strömungen trotz ihrer ernsthaften Differenzen dennoch in
ihren unmittelbaren politischen Forderungen nicht weit auseinanderliegen. Denn
alle lehnen eine diktatorische Herrschaft ab, folglich treten sie für die
Stärkung der parlamentarisch-republikanischen Institutionen ein; alle fordern
die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte. Auch die Frage nach der Organisation
sowie der Mobilisierung der Kräfte halten sie für eine der wichtigsten und
dringend notwendigsten. So gesehen sind also ausreichend Voraussetzungen für
die Gründung eines breiten Bündnisses vorhanden. Was aber hindert die oppositionellen
Gruppen, diesen Schritt zu tun?
Die permanente politische
Unterdrückung und die historische
sowie sozioökonomische Entwicklung der iranischen Gesellschaft stellen gewiss
zwei wichtige Hindernisse dar. Um auf Letztere kritisch einzugehen, bedarf es
allerdings einer eigenen Analyse. Dazu gehört, dass die iranische Gesellschaft,
vor allem in den letzten drei Jahrzehnten, einen vielfältigen Strukturwandel
erlebt hat, der die herkömmlichen Klassenstrukturen verschoben, zur weiteren
Fragmentierung sozialer Interessen und folglich zur Parzellierung der
politischen wie kulturellen Landschaft geführt hat. Auf diese Entwicklung gehen
die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der politischen Akteure
zurück. Sie bestimmt weitgehend auch die Organisationsmöglichkeiten und -formen
der sozialen Auseinandersetzungen.
Zu ihren konkreten Folgen
zählen die unterschiedlichen Staatskonzeptionen der jeweiligen oppositionellen
Strömungen. Darauf basieren sowohl ihre Auseinandersetzungen mit dem Regime wie
auch mit den verschiedenen Positionen innerhalb der Protestbewegung.
Teile der iranischen Linken
halten, je nach Fraktionierung, nach wie vor an der »Räte-« oder
»Volksrepublik« als politische Organisationsform eines wie auch immer verstandenen
»Sozialismus« fest. Ihr Traditionalismus hindert sie, diese Staatsformen
kritisch zu hinterfragen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine
grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse zu durchschauen. Ihnen zufolge
wollen Mussawi und die »Grüne Bewegung« lediglich einige Verbesserungen, damit
das System der Islamischen Republik den Herausforderungen des global agierenden
Kapitals gegenüber bestehen kann. Ein Zusammengehen mit den Reformern, in
welcher Form auch immer, ist daher für sie ausgeschlossen. In den jetzigen
Auseinandersetzungen bestimmen die Parolen »Nieder mit der Islamischen
Republik« und »Es lebe der Sozialismus« weitgehend ihre Strategie und ihr taktisches
Vorgehen.
Die »säkular-demokratischen
Strömungen« deuten die oppositionellen Regungen und Proteste im Zusammenhang
mit den »Kämpfen des iranischen Volkes für Demokratie und Menschenrechte« in
den letzten hundert Jahren. Nach ihrer Überzeugung liegt die Perspektive der
gegenwärtigen Bewegung in der Errichtung eines demokratisch-republikanischen
Staates, der die Trennung von Staat und Religion voraussetzt und die
Volkssouveränität als Grundlage für seine Legitimation hat. Im Zusammenhang mit
der sozialen Frage sowie der Frage nach der sozialen Verantwortung des Staates
gibt es jedoch klare Differenzen zwischen ihren »liberalen« und
»linksdemokratischen« Richtungen.
Die säkular-demokratischen
Strömungen sehen in Reformern wie Mussawi, Karrubi und Chatami zwar keine
Männer der grundlegenden Veränderungen. Einige Teile von ihnen halten sie aber
in der jetzigen Phase für Verbündete, für eine Art Übergangsfiguren also, die
den Weg für einen möglichen friedlichen Übergang von der islamischen zu einer
demokratischen Republik eröffnen. Diese Auffassung wird von den
linksdemokratischen Richtungen nicht vorbehaltlos geteilt. Sie sind eher der
Überzeugung, dass das System der Islamischen Republik nur sehr begrenzt
reformfähig ist. Viele von ihnen fragen sich im Zusammenhang mit Mussawis 17.
Erklärung, ob die drei Repräsentanten der Reformer mit ihrem permanenten Bezug
auf den Islam als »leitende Idee« der Bewegung letztlich nicht an eine neue
Variante des alten »politischen Islams« denken; ob sie unter dem Begriff »Reform«
tatsächlich etwas anderes verstehen als ihren herkömmlichen Sinn.
Fragt man nach den
politischen Perspektiven der Reformer selbst, findet man auch hier keine einheitliche Vorstellung von dem, »was ist
und was sein soll«. Die »gemäßigten Reformer« um Mussawi, Karrubi und Chatami
verstehen sich ? so der Programmentwurf ihrer Gruppe »Grüner Weg der Hoffnung«
? als reformorientierte Oppositionelle »im System selbst«, »nicht gegen das
System der Islamischen Republik«. Darauf beharren die gemäßigten Reformer fast
bei jeder Gelegenheit. Karrubi hat sich schon wieder zum »Prinzip der
Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten« (welayate faqih) bekannt. Und
Chatami betonte in einer seiner jüngsten Reden einige Male, dass die Reformer
»das System der Islamischen Republik« und »dessen Strukturen« unterstützen, da
diese den »Grundnormen des Islam und der Volksherrschaft« nicht widersprächen.
Sie verteidigen, so Chatami, dieses System vor allem auch gegen diejenigen
Gruppierungen, die die »bestehenden Strukturen zerschlagen«, »das System
stürzen« wollen. Das Hauptproblem und damit der Grund der jetzigen Krise liegt
nach Auffassung der gemäßigten Reformer vor allem in der falschen, einseitigen
Auslegung und Umsetzung der iranischen Verfassung. Ihnen zufolge wäre die
islamische Republik damit schon von den ursprünglichen Zielen und Ideen der
»Islamischen Revolution« abgewichen, oder, um mit Karrubi zu sprechen, »der Zug
der Revolution« sei schon entgleist. Der einzige Ausweg aus diesem Zustand sei
also »zurück zur Verfassung«.(5)
Davon erhoffen sich die
gemäßigten Reformer einen rechtsstaatlichen Zustand, in dem ein Gleichgewicht
zwischen Pflichten und Befugnissen des religiösen Führers und den
Volksvertretern realisiert und jegliche Form staatlicher Willkür und Machtausübung
außerhalb des gesetzlichen Rahmens unterbunden wird. Mit dem Zurück zur
Verfassung hoffen sie, dass den BürgerInnen Rechtssicherheit gewährleistet und
ihnen einige Freiheitsrechte und Partizipation an den politischen
Entscheidungsprozessen garantiert werden. Ein Teil der gemäßigten Reformer ? um
Mussawi, der weiterhin an der sozial-islamischen Tradition festhält ? betont
dabei auch die sozialen Rechte der Menschen nach dem Artikel 43 der Verfassung.
Die Herstellung der
Rechtsstaatlichkeit ist sicherlich ein Fortschritt gegenüber den bestehenden
Machtverhältnissen im Iran. Ihre Grenzen sind aber formal die der iranischen
Verfassung und real die der bestehenden Machtstrukturen. Die Perspektive der
gemäßigten Reformer geht in ihrem Kern somit nicht über das ursprüngliche
Staatskonzept der Islamischen Republik hinaus. Zugespitzt formuliert: Die
gemäßigten Reformer kämpfen gegen eine »entfremdete« und für eine »wahre«
islamische Republik.
Von dieser Perspektive
unterscheiden sich die »progressiven Reformer«. Ihr Ziel ist ein »religiöser,
demokratischer Staat«, ein Staatskonzept, das seit Jahren in den politisch
organisierten und intellektuellen Kreisen der Reformer diskutiert wird. Dieses
Staatskonzept geht von der sogenannten religiösen Identität der iranischen
Gesellschaft aus, hat aber ein minimalistisches Verständnis von der islamischen
Religion ? das heißt »die Rechts- und Gesetzesordnung« des Islam (fiqh und
scharia) sind hier nicht bestimmend, und akzeptiert weitgehend die
republikanischen Staatsprinzipien. Der religiöse, demokratische Staat
legitimiert sich nur durch den Volkswillen, nicht durch die religiösen
Pflichten und die göttlichen Vorrechte der Rechtsgelehrten.
Dennoch ist in diesem
Staatsmodell weder die Trennung des Staates von der Religion ganz vollzogen
noch das Prinzip der Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten aufgehoben sowie
das Amt des religiösen Führers ganz abgeschafft. Die Religion dient dem Staat
weiterhin als moralisch-kulturelle Orientierung, hält sich aber, so weit wie
möglich, aus dem Staatsgeschäft heraus. Der religiöse Führer wird für eine
begrenzte Zeit vom Volk gewählt, und er fungiert wie eine Art moralische
Instanz mit eingeschränkten formalen Befugnissen.(6) Abgesehen von den
Widersprüchen und Unklarheiten dieses Staatskonzeptes setzt dessen Realisierung
eine tief greifende Reform der Verfassung, folglich der Veränderung der
bestehenden Machtstrukturen voraus. Die Herstellung der Rechtsstaatlichkeit
mittels der iranischen Verfassung ist nach Auffassung der progressiven Reformer
zwar ein wichtiger und notwendiger Schritt, aber sie stellt nicht das Endziel
dar, das sie anstreben.
Neben diesen politischen
und ideologischen Barrieren sind auch
andere Momente zu berücksichtigen, die in der Diskussion über die
oppositionelle Bewegung nicht genügend thematisiert werden. Das sind die
unterschiedlichen sozialen und politischen Erfahrungen mit dem Regime in den
letzten dreißig Jahren.
Bei der älteren Generation
linker und demokratischer Opposition spielen ihre historischen Erfahrungen aus
der Revolutionszeit ? in den Jahren von 1978/79 ? für ihr Verhältnis zu den
Reformern immer noch eine wichtige Rolle. Damals waren sie mit der islamischen
Opposition um Chomeini eine De-facto-Koalition gegen das Schah-Regime
eingegangen. Sie hatten somit den Führungsanspruch Chomeinis entweder
stillschweigend oder gar offiziell anerkannt, was sich bald nach der
Machtübernahme Chomeinis 1979/80 als eine Fehleinschätzung mit katastrophalen
Folgen erwiesen hat. Seit dreißig Jahren müssen sie, vor allem aber die linke
Opposition, mit dem Vorwurf fertig werden, dass sie sich damals Chomeini
gegenüber naiv und unkritisch verhielten und dass sie das Volk nicht über das
Menschen- und Gesellschaftsbild Chomeinis aufklärten. Deshalb wollen die
demokratische und linke Opposition dieses Mal nicht nach dem damaligen Motto
»Kritik und Vorbehalte kommen nach dem Sieg« handeln.
Bestimmend für ihr
Verhältnis zu den Reformern sind auch ihre schmerzhaften Erfahrungen mit dem
Regime in den Achtzigerjahren ? das erste und dunkle Jahrzehnt der Islamischen
Republik und in der neueren Geschichte Irans überhaupt. Für einen großen Teil
dieser Generation oppositioneller Aktivisten ist es schon aus biografischen
Gründen nicht einfach, die Reformer ohne Wenn und Aber als ihre Bündnisgenossen
zu akzeptieren. Denn Letztere, ob sie heute gemäßigte oder progressive Reformer
heißen, waren die überzeugten Architekten des
Systems der Islamischen Republik. Damals hatten viele von ihnen nicht nur in
den sogenannten zivilen Apparaten Regierungsämter inne, wie etwa Mussawi,
Chatami und Karrubi, sondern sie fungierten auch in den Militär- und Sicherheitsapparaten
sowie in den ideologischen Überwachungsorganen des Regimes. Direkt oder
indirekt tragen sie Verantwortung für die brutale Unterdrückung der iranischen
Opposition in jenen schrecklichen Jahren. Da die Reformer ? abgesehen von einigen
Ausnahmen aus ihren progressiven Richtungen ? sich bis heute weigern, sich mit
ihrer dunklen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen und gar ein überwiegender
Teil von ihnen immer noch die Unterdrückungspolitik der Achtzigerjahre zu
rechtfertigen sucht, bleibt das Verhältnis zwischen diesen und der älteren
Generation linker und säkular-demokratischer Opposition sehr gespannt.
Bei der jüngeren Generation stellen
sich ihre politischen Erfahrungen und ihr großes Gewicht in der oppositionellen
Bewegung nicht so sehr als Hindernis, sondern eher als Möglichkeit zur
Annäherung unterschiedlicher oppositioneller Strömungen dar. Sie sind während
der Neunzigerjahre politisiert worden. Diese Jahre waren geprägt vor allem vom
Druck von unten, von offenen Flügelkämpfen zwischen den konkurrierenden
Machteliten des Regimes, von der neoliberalen Öffnung der iranischen Ökonomie
durch Rafsandschanis Regierung (1989?1997) und von der kulturellen und
politischen Öffnung durch Chatamis Regierung (1997?2005). Als Folge dieser
neuen Entwicklung entstand die Möglichkeit zu systemkritischen Aktivitäten und
Bildung von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Frauen-, Arbeiter- und
Studentennetzwerke.
Aufgrund dieser Erfahrungen
hat ein großer Teil der jüngeren Aktivisten einen ausdifferenzierten Blick auf
die politischen Verhältnisse im Iran. Sie identifizieren nicht alle Reformer
sofort mit dem Unterdrückungsapparat des
Regimes. Viele von ihnen waren in den Neunzigerjahren begeistert von Chatamis
Reformpolitik. Sie arbeiten heute mit der jüngeren Basis der Reformer zusammen.
Ihr Verhältnis zu den Reformern ist daher ein entspannteres als das der älteren
Generation, aber nicht ganz frei von Enttäuschungen. Denn die Reformer hatten
mit Chatami etwa acht Jahre nicht nur die Regierungsverantwortung, sondern auch
die parlamentarische Mehrheit. Sie haben während dieser Jahre sicherlich zur
Öffnung der iranischen Gesellschaft einiges beigetragen. Ihre systemtragende
Politik und ihr instrumenteller Umgang mit den sozialen Bewegungen förderten
aber den gewünschten Reformprozess nicht. Ihr programmatisches Versprechen,
dass »mit uns ein anderer Iran möglich sei«, wofür sie damals von Millionen
gewählt und bejubelt wurden, ging nicht in Erfüllung.
Die dargestellten Momente
verdeutlichen den gegenwärtigen Zustand der iranischen Opposition. Sie geben ihr somit einige Bestimmungen, die
für einen überwiegenden Teil ihrer Akteure zumindest in dieser Form bisher
nicht bekannt sind. Denn die gegenwärtige Protestbewegung verfolgt keine
einheitliche strategische Forderung wie jene gegen das Schah-Regime 1979. Trotz
aller politischen und ideologischen Differenzen hatten damals alle
Anti-Schah-Strömungen ein gemeinsames Ziel, nämlich die Abschaffung der
Monarchie. Heute umfasst die Protestbewegung sowohl die gemäßigten Reformer,
die ein Zurück zur Verfassung wollen, wie auch die Linken, die den Sturz der Islamischen
Republik anstreben.
Dieser Umstand macht die
praktische Annäherung der unterschiedlichen Strömungen bis hin zu einer
gemeinsamen Programmatik und Organisationsform zwar schwierig, jedoch nicht
unmöglich. Denn alle schreiben auf ihre Fahne »Nieder mit dem Diktator« und
wissen sehr wohl, dass jeder von ihnen im gegenwärtigen Kampf gegen die herrschenden
rechtskonservativen Machthaber lang- oder kurzfristig auf die anderen angewiesen
ist. Viele von ihnen verleihen den gegenwärtigen Auseinandersetzungen eine
große Bedeutung und sehen in ihnen ein Vorspiel zum »großen historischen Ereignis«,
das noch kommen werde. Jenes zu verspielen, kann sich keine oppositionelle
Richtung leisten, wenn sie den Anspruch hat, von den IranerInnen ernst genommen
zu werden.
Im Hinblick auf die innere
Lage der iranischen Opposition und angesichts der unterschiedlichen Facetten
des Konfliktes hat weder die Protestbewegung alle ihre sozialen und politischen
Möglichkeiten ausgeschöpft, um das Regime in die Knie zu zwingen, noch hat das
Regime, trotz seiner desolaten Situation, alle seine ideologischen und sozialen
Kredite aufgebraucht und seine machtpolitischen Ressourcen genutzt, um die
Krise endgültig zu überwinden. Die oppositionellen Regungen und Proteste, in welcher
Form und Intensität auch immer, werden uns noch einige Jahre begleiten. Und wie
man aus der Geschichte weiß, sind die politischen Verhältnisse im Iran reich an
unangenehmen Überraschungen und unerwarteten Wendungen.
1
Vergleiche »Gemeinsame Erklärung von Mussawi und Karrubi«,
in: www.sahamnews.org, 10.6.10.
2
Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur ISNA wurden
91 Demonstranten verhaftet. ? Siehe den Bericht über die Proteste am 12. Juni,
in: www.isna.ir/ISNA/FullNews.aspx, 13.6.10.
3
Über die Machtstrukturen der Islamischen Republik und die
gegenwärtige Krise siehe Mohssen Massarrat: »Das Ende der Theokratie?«, in: WeltTrends
70/2010; Said Hosseini: »Der tiefe Riss oder der Grundkonsens ist bereits
zerbrochen. Herrschaftsstrukturen und die gegenwärtige Staatskrise in Iran«,
in: Kommune 1/10.
4
Siehe u. a. Mussawis »17. Erklärung, Vorschläge für den
Ausweg aus der Krise« in: www:kaleme.org, 1.1.10; die Erklärungen der
»Organisation Mudschahedin islamischer Revolution«, in: www.mojahedin-enghelab.net,
3. u. 7.1.10) und der »Partizipationspartei«, in: www.norooznews.info,
3. u. 8.1.10; dazu siehe auch die »Warnung des Rates national-religiöser
Aktivisten vor der Polarisierung des Landes«, in: www.asre-nou.net,
19.1.10; »Erklärung der fünf Intellektuellen«, in: www.news.gooya.com,
3.1.10; »Fünf Vorschläge von uns Frauen für den Ausweg aus der Krise«, in: www.asre-nou.net,
18.1.10; »Neue Taktik der Regierung, um die Bewegung im Zaum zu halten«, in: www.Akhbare-rooz.com,
14.1.10.
5
Vergleiche »Mehdi Karrubis Vorschläge für den Ausweg aus der
Krise«, in: www.sahamnews.org, 11.1.10 und »Chatamis Rede für die
freigelassenen politischen Gefangenen«, in: www.news.gooya.com, 19.1.10;
siehe dazu auch die neuesten Äußerungen Mussawis in seiner »18. Erklärung, Eine
Charta für die Grüne Bewegung«, in: www.kalame.org, 15.6.10.
6
Zum Konzept des »religiösen, demokratischen Staates« siehe
Abdolkarim Sorusch, »eine Analyse des Begriffes des religiösen Staates«, in: A.
Sorusch (Hrsg.): Leutseligkeit und Führung, Teheran 1376 (1997), S.
353?380; Mohammad-Jawad Kaschi: »Einige Fragen und eine Meinung über den
religiösen demokratischen Staat«, in: ders., S. 447?462.