Stimmen aus Israel, alte und junge, aus Tel Aviv und vom Lande, wo einst die Kibbuzim-Bewegung Hoffnungen auf eine neue Gemeinschaft verbreitete. Die Intellektuellen und Literaten, auch viele Menschen auf den urbanen Straßen, erscheinen unserem Autor lebhaft, kritisch und sehr differenziert bei ihrem Blick auf die Probleme ihres Landes und der Politik der rechten Regierung. So scheint es auch ein Band zwischen alten Auswanderern und jungen Kritikern zu geben, sosehr Kontinente von unglaublichen Geschichten auch zwischen ihnen stehen mögen.
Zwischen gestern und
heute »Und als dann die Israelis ganz still und leise diese bereits
von ihnen bezahlten Schnellboote aus dem Hafen von Cherbourg entführt hatten,
um sie übers Mittelmeer nach Haifa zu bringen, wie lachte Paul da! Ja, der
sonst so introvertierte Paul Celan lachte wie befreit, ja tanzte an
diesem Januarabend 1970 und kaufte dann schnell ein paar Delikatessen für unser
?Siegesmahl? ? zu Ehren der formidablen Israelis, die Frankreichs proarabisches
Waffenembargo auf so intelligente Weise unterlaufen hatten.«
Ilana Shmueli, 1924 in
Czernowitz geboren und seit 1944 in Israel lebend, sitzt in ihrem kleinen
Apartment in einem Jerusalemer Alterswohnsitz und lächelt dem Besucher aufmunternd
zu. »Das hätten Sie nicht gedacht, oder? Aber seit seinem Besuch hier in Jerusalem
war Paul wie verwandelt. Ich hatte ihn ja schon als junges Mädchen in unserer selbsternannten
Dichter-Oase Czernowitz gekannt, wo wir gemeinsam Baudelaire lasen und bei
verbotenen Spaziergängen im Volkspark unsere gelben Sterne tief in die Manteltasche
gruben. Existenzielle Dimension der Poesie! Aber erst zwanzig Jahre später ?
nach der Shoah, nach unserer Flucht ? traf ich Paul wieder. Sie kennen die
Zeilen, die er unmittelbar nach dem Sechstagekrieg geschrieben hat? ?Denk dir:/
der Moorsoldat von Massada/ bringt sich Heimat bei, aufs/ unauslöschlichste,/ wider/
allen Dorn im Draht.?«
Die ältere und noch immer
elegante Dame, die ihre paralysierenden Rückenschmerzen freilich nicht
verschweigt, war Celans letzte Muse und Geliebte: 1969 hatte sie ihm Jerusalem
gezeigt und befand sich in Paris, als der tief traumatisierte Dichter Ende April
1970 den Freitod wählte; vor einiger Zeit erschien im Suhrkamp Verlag ihr
intensiver Briefwechsel. Und heute?
»Heute«, sagt Ilana Shmueli
in fein nuanciertem Deutsch, »scheint Israel die einstige Flexibilität verloren
zu haben, seine zahlreichen Feinde immer wieder zu überraschen. Stattdessen
lassen wir uns am Nasenring herumführen, gefangen in unserer arroganten
Inkompetenz. Das fängt beim vermasselten Straßenbau in Jerusalems Innenstadt an
und hört bei der verfehlten Siedlungspolitik oder dem jüngsten Gaza-Flottendesaster
noch lange nicht auf.« Zu hart geurteilt von einer 86-jährigen Dichterin, die
einst in Czernowitz bei Rose Ausländer Englisch gelernt, 1948 an Israels Unabhängigkeitskrieg
teilgenommen und bis zu ihrer Pensionierung als hochgeachtete Kriminalpsychologin
und Sozialpädagogin gearbeitet hatte?
»Weshalb?«, fragt sie
zurück. »Zwischen den Sprachen und Welten pendelnd habe ich immer mit dem
Gefühl einer Dissonanz gelebt. Im Unterschied zu den Authentizitätssüchtigen
aber glaube ich, dass dies auch eine Stärke sein kann, eine Herausforderung
nämlich zu ständiger wachsamer Erneuerung ? für den Einzelnen ebenso wie für
die Gesellschaft. Gerade das hatte auch Celan so gerührt, als er mir schrieb:
?Ich bin froh, dass Du Israel mit offenen Augen siehst ? nur so kann man es ja
auch wirklich lieben ??«
Komplexitäten »Ach, du hast die wunderbare Ilana besucht?«
Selbstverständliches Duzen, obwohl wir diesmal Französisch sprechen, mit Benny
Ziffer, der als Literaturchef von Israels angesehenster Tageszeitung Ha?aretz
so etwas wie der allzeit polemische Kritikerpapst des Landes ist. Ein
57-jähriger Papst mit Gelenkkettchen und Ohrring allerdings, der sich ? und das
nicht nur bei unserem Treffen in Tel Avivs pittoresk heruntergekommener
Fußgängerzone Nahalat Binyamin mit ihren kleinen Stofflädchen, Cafés,
Shawarma-Imbissen, Bauhaus- und Mandatsgebäuden ? offensiv als linker, schwuler
Ästhet bezeichnet. Wobei natürlich auch dies hierzulande ungleich komplexer
buchstabiert wird als in Europa. So moniert Ziffer überraschenderweise an den
hochgelobten Romanen David Grossmans, der im Herbst den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels erhalten wird, ein Konstruktionsmuster, das mitunter
allzu grob gestrickt sei. Gegenfrage: »Aber die israelische Literatur in ihrer
Breite von Amos Oz bis Etgar Keret besitzt noch immer ein Sensorium für
gesellschaftliche Konflikte, auch jenseits der Palästinenserthematik?« ? »Aber
selbstverständlich, mon cher«, sagt der subversive Feingeist, als wäre
dies tatsächlich selbstverständlich in einem so kleinen und nach wie vor bedrohten
Land. »Aber liegt nicht auch darin ein Problem? Was im Ausland wahrgenommen
wird, ist vor allem diese ?gesellschaftskritische Export-Literatur?: Ein
bisschen Holocaust-Enkel-Thematik, ein bisschen Nahost-Konflikt. Dabei ist
unsere Literatur ? einschließlich der sogenannten Sachbücher einheimischer
Soziologen mit ihren fein ausdifferenzierenden Tiefenbohrungen ? ungleich
reicher. Obwohl«, hier spricht nun wieder der Provokateur, »so überragend
genial ist sie bei hellem Mittelmeerlicht besehen nun auch wieder nicht ? auch
wenn wir glauben, die ganze Welt sollte nichts anderes zu tun haben, als sich
um uns zu drehen.«
Was jedoch die (ansonsten in
der gesamten nahöstlichen Region verfolgten) Homosexuellen betrifft: Soeben
wurde beim jährlichen Gay-Filmfestival ein Spielfilm gezeigt, in dem das auch
durch seinen Blog »Zifferland« landesweit bekannte enfant terrible
höchstselbst in einer Nebenrolle auftaucht ? was den Literaturpapst allerdings
weniger zu animieren scheint als die Tatsache, dass in Jerusalem zu Zeiten des
Purim-Festes religiöse Lesben und Schwule mit Kippa gemeinsam und öffentlich
die Errettungsgeschichte aus dem Bibelbuch Esther vortragen, wenn auch zum
Missfallen jener Ultra-Orthodoxen, die zunehmend aggressiver ein Glaubensmonopol
beanspruchen.
Letzte Volte gefällig? »Die
Antizionisten von heute, das sind gewiss nicht nur die europäischen
Salon-Antisemiten, sondern auch diese Fundamentalreligiösen, die weder Steuern
zahlen noch zur Armee gehen und gleichzeitig mit ihren unstillbaren Forderungen
den Staat auslaugen, der darüber hinaus immer korrupter und ineffizienter wird.
Ganz zu schweigen von den Radikalen unter den Siedlern, die geradezu im Widerspruch
zu Ben Gurions moderater Vision noch immer von einem biblischen Großisrael
fantasieren, das letzten Endes aber lediglich das existierende, demokratische
Israel schwächt und in höchste Gefahr bringt.«
Strandpromenade I
Irgendjemand musste wieder einmal den Knopf gedrückt haben, dort an der
kleinen, in Beton eingefassten Felsenmauer unterhalb des Sheraton. Und so
erklingt plötzlich quer über die Strandpromenade von Tel Aviv Abie Nathans
charismatische Stimme, untermalt vom Rauschen des Meeres: »From somewhere in
the Mediterranean: The Voice of Peace. Love, peace and understanding
?«
Keine halbe Minute später
hat sich bereits eine kleine Menschentraube um den winzigen Lautsprecher
geschart, neben dem eine Plakette darüber informiert, das fünf Kilometer von
hier einst das Friedensschiff des Aktivisten Abie Nathan geankert hatte, um zwischen
1973 und 1993 täglich eben jene Botschaften auszusenden. Und sofort entbrennt
zwischen den Strandgängern ? Eis schleckenden Flaneuren, Soldatinnen mit hoch
ins Haar gesteckter Sonnenbrille, Familien und muskulösen Joggern, die mitten
im Lauf anhalten ? eine aktuelle Diskussion: War der vor zwei Jahren hochbetagt
verstorbene Abie Nathan etwa ein Blender wie jener Schwede Henning Mankell, der
vor kurzem an Bord einer israelfeindlichen Flotte vor Gaza aufgekreuzt war? Aber
nein, widersprechen einige, Abie war ein Patriot, Kampfpilot im Unabhängigkeitskrieg
von 1948, später allerdings ein Visionär.
Die Sonne steht hoch an
diesem Nachmittag, die Zeitungen sind noch immer voll mit Nachrichten über die
gewaltsam geenterte Gaza-Flottille, und einer der Älteren sagt: Visionär ?
schön und gut, zu Nasser ist er geflogen, um Frieden zu bringen, aber schon im
nächsten Jahr haben sie uns ins Meer treiben wollen, damals 67. Und so wogt die
spontane, nuancenreiche Debatte über Frieden und feindliche Nachbarn hin und
her, während im Hintergrund weiterhin Abie Nathans Stimme erklingt. Vielleicht,
denkt der Besucher, sollten die Gutwillig-Naiven unter den westlichen Sympathisanten
der Gaza-Flotte besser einmal an diese Strandpromenade kommen, um zu erfahren,
auf welch hohem Niveau hier (wenn schon nicht im Kabinett der gegenwärtigen
Regierung) diskutiert wird: Jenseits der Pauschal-Rhetorik von Pazifisten und
Bellizisten, jenseits von Manichäismus, aber auch von bequemer Äquidistanz.
Denn selbstverständlich gibt es etwas gegen die Hamas-Herrscher von Gaza zu
verteidigen ? eben jenen zivilen Meinungsstreit à la Tel Aviv. »Wie billig«,
grummelt einer, als kurz vor dem Verstummen des Lautsprechers John Lennons
»Give peace a chance« über die Promenade scheppert. Zwei junge Soldaten aber
halten sich just in diesem Moment bei den Händen, auf ihren Rücken die Waffen,
die ihrer Geste etwas sehr Ernsthaftes geben. Und plötzlich fern, so fern die
selbstgerechten Gewissheiten eines Henning Mankell und seiner Jünger.
Lösungen, Hindernisse
... »Weshalb sollte kluge
Diversität also nicht unsere eigentliche Stärke sein?« Nir Baram, Jahrgang
1977, ist wahrscheinlich der Jüngste in einer (man möchte fast sagen:
jahrtausendealten) Tradition der Frager, Kritiker und tatsächlich Unbequemen.
Der selbst bei Fernsehdebatten im unprätentiösen T-Shirt auftauchende
Romancier, dessen visionärer Roman »Der Wiederträumer«, letztes Jahr bei
Schöffling & Co. auch auf Deutsch erschienen ist, stammt sozusagen aus dem
säkularen Adel Israels: Bereits der Großvater war in hohen Positionen in der
zionistischen Arbeitspartei engagiert, sein Vater Uzi Baram diente schließlich
als Innenminister unter Premier Yitzhak Rabin. »Der, vergessen wir das nie, von
einem ultrarechten Fundamentalreligiösen ermordet wurde«, sagt Nir Baram mit
einem nervösen Lächeln. »Was ich damit meine: Es sind nicht die sogenannten
?Tel Aviv-Hedonisten?, die den Konsens im Land aufkündigen, sondern jene
Ultra-Religiösen, die auf die Urteile unseres Obersten Gerichts pfeifen ? oder
jene eschatologisch gepolten Siedler auf ihren Hügeln in den besetzten
Gebieten, die sich mit ihren Partikularinteressen keinen Deut um die Zukunft
und die Sicherheit unseres Staates scheren.«
Der etwas
alternativ-schluffig wirkende Nir Baram, dessen jüngster Roman über einen
großbürgerlichen Nazi-Mitläufer im Umfeld Ribbentrops gerade die hiesigen
Bestellerlisten gestürmt hat und als eine wichtige Ergänzung zu Jonathan
Littell rezipiert wird, ist in Wahrheit ein konzentrierter Arbeiter ? und ein
alle Chauvinismen herzlich verachtender Patriot. »Weshalb sollte ich es
verschweigen? Ja, ich liebe unser Israel. Und als ich in Vertretung von David
Grossman, der gerade im Ausland war, kürzlich diese Rede bei einer großen
Demonstration gegen die auch uns demoralisierende Besatzung hielt, weißt du,
was mich da am meisten freute? Doch nicht die vielen auf mich gerichteten
Fernsehkameras und der folgende große Artikel in der New York Times,
sondern die unzähligen jungen Leute um mich herum, Juden und israelische
Araber, die hier zum ersten Mal zusammen demonstrierten ? und sich dabei
alle als Israelis fühlten.«
Freilich pflegt Nir Baram ?
dies im Unterschied zur älteren Generation der Peaceniks ? keine
hochfliegenden Illusionen und erwartet von einer Zwei-Staaten-Lösung auch keinen
ewigen kantschen Frieden, denn wer könne schon sagen, was aus den Palästinensergebieten
wird, wenn eines Tages nicht mehr vernünftige Leute wie etwa Premierminister
Fayad regieren? »Umso unentschuldbarer, dass wir ihm nicht jetzt effektiv
helfen, um damit die Extremisten von der Hamas zu schwächen, sondern uns mit
der so gefährlich ignoranten Rede von den Palästinensern begnügen, die
angeblich alle die Zerstörung Israels wünschten. So binden wir uns doch
nur selbst die Hände.«
Strandpromenade II »Israel,
das ist ja wohl nicht nur die Strandpromenade von Tel Aviv«: Gemeinsames Mantra
von Israels diversen Gegnern, konservativen »Freunden« und all denjenigen im
Lande, die genau dort einen ihrer heimlichen Sehnsuchtsorte wissen. Und doch
zeigt sich gerade hier, pars pro toto, Israels Komplexität: Abie Nathans
Propheten-Stimme, dazu ein paar hundert Meter stadteinwärts ein Gedenkstein zur
Erinnerung an das Schiff Altalena der jüdischen Untergrundbewegung »Irgun«,
auf das Premierminister David Ben Gurion im Juni 1948 hatte
feuern lassen, um das Gewaltmonopol des jungen Staates durchzusetzen. Einer,
der sich damals nur durch einen Sprung ins Wasser vom brennenden Schiff hatte
retten können, war der Hardliner und Bombenattentäter Menachem Begin, den
Gurion bis zum Sechstagekrieg 1967 als »ehemaligem Terroristen« misstraute, der
später das Desaster des ersten Libanonkrieges mit zu verantworten hatte ? und
gleichzeitig doch derjenige war, der mit Ägypten einen bis heute geltenden Friedensvertrag
geschlossen und dafür zusammen mit Präsident Sadat den Friedensnobelpreis
erhalten hatte.
Die Strandpromenade von Tel
Aviv: Widersprüchliche Geschichtslektionen in Permanenz. Denn auch Orthodoxe
gehen hier gern spazieren; hinter dem Hilton-Hotel ? ironischerweise in
unmittelbarer, tolerierter Nachbarschaft zum Schwulen-Strand ? gibt es ein eigenes,
eifrig genutztes Bade-Areal für die Gläubigen.
Und da sind diese
Augenblicks-Wahrnehmungen: Jüdische Äthiopier und nicht-jüdische nigerianische
Vertragsarbeiter beim gemeinsamen Anbaggern französischer Touristinnen, die
sich aufgrund der in Frankreich wachsenden, von muslimischen Migranten ausgehenden
Judenfeindlichkeit inzwischen im quirligen Tel Aviv sicherer fühlen. Junge
Leute aus den Philippinen, die ältere Einheimische im Rollstuhl über die
Promenade schieben, dazu aber auch schon Kinder mit eurasischen Gesichtszügen,
die wie selbstverständlich auf hebräisch sprechen und rufen. Erste Anzeichen
jener neuen, umfassenderen israelischen Identität, auf die Nir Baram hofft?
Eine apolitische
Generation? »Weshalb nur zwei Staaten? Drei!«, sagt Ron
Leshem und greift damit einen ironisch gemeinten Vorschlag von Amos Oz auf.
»Einen für die Palästinenser, einen für die Siedler und Ultra-Orthodoxen, den
dritten aber für Leute wie uns.« Für eine areligiös-multikulturelle
Spaßgeneration etwa, welche die Nase voll hat von den Anachronismen des Nahen
Ostens und sich stattdessen hinwegträumt in eine global post-nationale Welt?
Ganz im Gegenteil. Bereits
in seinem Debütroman Wenn es ein Paradies gibt (bei Rowohlt erschienen,
verfilmt und Berlinale-preisgekrönt unter dem Titel Beaufort) hatte der
so sanftmütig wirkende junge Mann mit dem Kurzhaarschnitt die harte Geschichte
von Soldaten im Libanon-Einsatz erzählt. »Es geht nicht um Eskapismus, sondern
um rationale Wege zur politischen Teilhabe. Mein neuer Roman spielt im Iran ?
in einem Land, in dem die aufgeklärten jungen Städter per Facebook Freunde in
aller Welt suchen und finden, während gleichzeitig Menschen öffentlich
hingerichtet werden oder in den Gefängnissen verschwinden.« Teheran also als
Menetekel für eine Welt, die glaubt, mit den Annehmlichkeiten der
Globalisierung bereits alles Dunkel hinter sich gelassen zu haben?
In Israels lesefreudiger
Gesellschaft ist dieser Roman ebenfalls zum Bestseller geworden, auch wenn Ron
Leshem den Optimismus eines Nir Baram nicht unbedingt teilt. »Inzwischen gilt
es doch als cooler, sich per Facebook spontan zu verabreden, um für eine von
Schließung bedrohte Sushi-Bar zu demonstrieren, anstatt sich mit wirklichen
Schicksalsfragen zu beschäftigen. Keine Generation war jemals konservativer und
apolitisch-desillusionierter als unsere. Währenddessen aber wächst und wächst
der Einfluss der Siedler-Lobby auf die Regierung, und die Frauen der
israelischen Araber und unserer Ultra-Orthodoxen gebären mehr Kinder als alle
politisch moderat Säkularen und moderat Religiösen zusammen. Natürlich gibt es
keine Evidenz, dass deren Kinder dann automatisch das weltliche Israel
unterminieren werden. Es gibt allerdings auch keine Sicherheit, dass es nicht
so werden wird, in fünfzehn oder zwanzig Jahren.«
So wäre also die kluge
Balance aus Selbstreflexion und Wehrbereitschaft immer mehr das Luxusgut
einiger Weniger, die sich dazu auch noch einigeln? Vielleicht ist hier doch ein
kleines Fragezeichen angebracht. Unabhängig der Tatsache, dass religiös
nirgendwo eine automatische Chiffre für irrational sein muss ? Ron
Leshems aufwühlender Teheran-Roman besitzt nämlich ausgerechnet in der hiesigen
Rockmusik eine Art Vorgänger: »Boker Tow, Iran/ Guten Morgen Iran« hieß der so
bohrend fragende Song über das eigene wie gleichzeitig über jenes Land, dessen
Präsident Ahmadinedschad nach wie die Auslöschung Israels propagiert.
Geschrieben aber hatte den Longseller Aviv Geffen, Israels Marilyn Manson und
ein weiteres linksalternatives enfant terrible, dazu Schwager des
Schriftstellers Etgar Keret ? und Großneffe des legendären Moshe Dayan.
Eine apolitische Generation?
Spontane Diskussion im Club Paradise unweit der Kreuzung Allenby Street
und Rothschild Boulevard. Einer der jüngeren Besucher will mich überzeugen,
dass Präsident Obamas Sicht der letztlichen Destruktivität fortgesetzten
Siedlungsbaus allein antisemitischen Ressentiments gehorche. »Außerdem ist er Moslem.
Barack
Hussein Obama, you know?« Was
folgt, ist der Protest der Umstehenden. »Was für ein Idiot! Und du dienst in
der Armee? Dann lass dir gesagt sein, dass es dieser ?Antisemit? ist, der deine
Ausbildung, deine Uniform und deinen Sold bezahlt. Also fuck off!«
Das Vergnügen des
Israel-Reisenden, solche Gespräche flugs in sein Notizbuch einzutragen, wird
freilich gemindert durch einen weiteren Mitdiskutanten, dessen Meinung wohl
ebenfalls den Tatsachen entspricht: »Sei nicht zu euphorisch. Tel Aviv ist
nicht wirklich repräsentativ. In den kleineren Städten mit hoher
Arbeitslosigkeit und niedrigerem Bildungsniveau, bei vielen, wenn auch nicht
bei allen Ultrareligiösen und Siedlern, wird genau in dieser Weise gegen den
Präsidenten unseres treuesten Verbündeten gehetzt. Und da ist dann keiner da,
der ein erfrischendes fuck off sagen würde, denk das bitte mit.«
Der Dichter in
Merchavia Der
klimatisierte Überlandbus aus Jerusalem hält an der Kreuzung, um im grellen
Sonnenlicht ein paar junge Soldaten ein- und aussteigen zu lassen, Waffe quer
über dem Rücken, winzige iPod-Stöpsel in den Ohren. Links führt die Straße nach
Megiddo, dem mythischen Armageddon aus der Johannes-Apokalypse, rechts hinüber
ins palästinensische Jenin, der einstigen Terror-Hochburg während der zweiten
Intifada. Schon zu biblischen Zeiten war die Jezreel-Ebene im Norden Israels
eine umkämpfte Region, ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Ort
landwirtschaftlicher Kultivierung und enormen Elans: Nirgendwo sonst im Land
gibt es mehr Kibbuzim und Moschavim als hier in der anscheinend allein von
Staub und Wind durchzogenen Jezreel.
»Du fährst also nach
Merchavia zum Dichter Rivner? Dann solltest du auch ins Kibbuz Nahalal, dort
ist nämlich Meir Shalev geboren, der schreibt Romane und ist noch berühmter.«
Der krausköpfige Wehrpflichtige aus Haifa weiß offensichtlich gut Bescheid,
erwähnt quasi im Zeitraffer die jemenitischen Großeltern väterlicher- und die
weißrussische Familie mütterlicherseits, zeigt mir dann beim nächsten Stopp in der
Stadt Afula den in der Hitze flimmernden Weg zum nahen Taxistand gleich neben
dem Falafel-Imbiss (»Eine Fahrt von fünf Minuten; wenn es mehr als 20 Schekel
kostet, schlägst du Alarm, nachon?«), und auch er spricht den Namen auf
israelische Weise aus ? Rivner.
»Was soll man machen?«,
fragt später in seinem einstöckigen Bungalow der hochgewachsene Dichter Tuvia
Rübner mit dezentem k.u.k-Akzent und drückt ein winziges Hörgerät ins rechte
Ohr. »Die Umlaute haben es nie bis hierher geschafft.« Aber er hat es
geschafft, ein lebendes Wunder vor dem Schreckensfresko der Neuzeit: 1924 in
Preßburg, dem heutigen Bratislava, geboren, gelangte er als einziger seiner
Familie mit dem letzten Flüchtlingstransport aus der Slowakei nach Palästina.
Mit den Freunden aus dem zionistischen Jugendbund »Haschomer« über Budapest ins
rumänische Kostanza, wo die Jungen bereits Züge mit deutschem Militär sahen ?
potenzielle Mörder ihrer daheimgebliebenen Familien, die ihnen drohend
zuriefen: »Auf Wiedersehen in Palästina!« Danach in einem Seelenverkäufer über
das Schwarze Meer nach Istanbul und weiter durch die Südtürkei nach Beirut, in
deren engen Gassen die Freunde zum ersten Mal arabische Musik hören, die sie an
manche Stücke von Bela Bartók erinnert.
In seiner
assoziationsreichen Autobiografie Ein langes kurzes Leben schreibt
Rübner über seine Ankunft im Kibbuz im Jahre 1941: »Merchavia, deutsch Gottes
Weite (Psalm 118,5 in der Übersetzung Martin Bubers: ?Aus der Drangsal rief
ich: Oh er!/ in der Weite gab mir Antwort Oh er.?) ist die erste Siedlung im
Jezreel, 1911 nach dem Plan des deutschjüdischen Soziologen Oppenheimer als
Genossenschaftssiedlung gegründet. Steinhäuser in halb orientalischem, halb
gotischem Stil, in einem Viereck um einen freien Platz, in dessen Mitte der
Wasserturm stand ? der erste Eisenbetonbau im Nahen Osten, wie man uns stolz
verkündete, und von einer Mauer umgeben gegen die Angriffe arabischer
Räuberbanden, denen der rechtmäßige Erwerb des Bodens vom Großgrundbesitzer in
Jenin gleichgültig war.«
Erinnert das nicht ein wenig
an Arthur Koestlers berühmten Kibbuz-Roman Wie Diebe in der Nacht? Und
ist es nicht spannend zu hören, dass sogar Israels spätere erste Ministerpräsidentin
Golda Meir hier gelebt hatte, »der aber das Essen aus Emailletellern und das
Trinken aus Emaillebechern nicht besonders gefiel, wie erzählt wird, und die deshalb
nach einem Jahr der Gruppe Lebewohl sagte und mit ihr der einzige
Plattenspieler, ihr kostbares, rares Eigentum.« Und ließe sich nicht als
literarische Erfolgsgeschichte feiern, wie sich ein gerade noch Davongekommener
eine neue Sprache anverwandelte (nicht: eroberte), so dass er bis heute, unter
anderem ausgezeichnet mit dem Darmstädter Paul Celan- und dem einheimischen
Israel-Preis, zuerst in Hebräisch schreibt und dann die Gedichte ins Deutsche
übersetzt, bei Besuchen in Europa mit den befreundeten Kollegen Dürrenmatt (dem
in Bezug auf Israel so sympathisierend Hellsichtigen), Karl Jaspers oder
Christoph Meckel aber stets in seiner Muttersprache diskutierte?
Der biblische Ort, das
geistig-historische Umfeld, die großen Namen und kleinen Anekdoten, das
Jahrhundert der Hoffnungen und Katastrophen. Mitten drin aber ein Einzelner,
ein Dichter, der am Abend seines Lebens sein »Selbstbildnis« beschreibt: »Doch
zurück zum Gesicht: der Mund, leicht nach unten gebogen./ Mürrisch? Verschlossen?/
Immerhin frei vom blödsinnigen Lächeln Eines/ der fleht um den Überrest auf dem
Teller.« Der folglich eher trocken konstatiert, dass der Kibbuz Merchavia
längst privatisiert ist, die Pension für die Alteingesessenen lächerlich gering
und der legendäre Speisesaal vermietet für die Partys Auswärtiger. »Dennoch
werden Sie von mir keine Klagelitanei hören, junger Freund. Der Bougainvillea
leuchtet noch immer, schon im Frühjahr blühen die Zyklamen ? an Stellen, wo wir
im Sechstagekrieg 67 noch prophylaktisch Schützengräben ausheben mussten.«
Tuvia Rübner trägt in der
ventilator-umsummten Mittagshitze eine Art Kaftan arabischen Ursprungs, der bis
zu den Knöcheln reicht und trotz ähnlichen Zuschnitts luftiger wirkt als eine
Mönchskutte. »Vermisse ich Ideen? Ich bitte Sie! Damals gab es so etwas
wie ?Kollektiv-Gedanken?, und alle Kibbuz-Genossen wählten einträchtig die
Mapam-Partei von Ben Gurion. Vielleicht sogar zu einträchtig ? Dass ihre Nachfolgerin,
Israels einst so stolze Arbeitspartei, geistig geschrumpft ist und auch
weiterhin Visionskraft verliert in einer Koalition mit diesen Netanyahus und
Liebermans ? was soll man dazu sagen? Ich habe ein wütendes Gedicht geschrieben
über den Verfall unserer Moral ? von den anderen rede ich nicht, über
die habe ich im Gegensatz zu den naiven Europäern sowieso keine Illusionen ?
die Verse wurden in der großen Tageszeitung Ha?aretz gedruckt und
diskutiert, aber dennoch sollte man sich über Offensichtliches nicht zusätzlich
verschleißen. Außerdem: Selbst unter dem gegenwärtigen Korruptions-Egoismus,
der den Witwen und Waisen eben nicht beisteht, gibt es hier noch immer
eine immense Konzentration von Ethos und Geist.«
Weshalb auch sollte
ausgerechnet Israel, sollte die menschliche Existenz perfekt sein? In einem der
neueren (und gerade im Aachener Rimbaud-Verlag erschienenen) Gedichte heißt es:
»Wenn die Vollkommenheit in den Rücken fällt/ und lispelt: Sei wie ein Engel!//
Was weißt du von Engeln, du Vollkommenes!/ Es gibt Engel, die Flügel verloren/
Engel durstig wie Vögel im Wüstenwind./ Was weißt du schon, Unnahbare,/ du in
dir selbst Verschlossene!«
Dazu gibt es Tragödien, die sich
der definitorischen Einhegung sperren. Neben einem handsignierten Giacometti
hängen gerahmte Familienbilder über dem Computer und den Bücherwänden in
Rübners Kibbuz-Häuschen. Die Eltern mit der jüngeren Schwester, über deren
Schicksal er Jahre später im Archiv von Yad Vashem eine dürre Eintragung fand:
Auschwitz-Transport Nr. 46. Daneben eine Fotografie von Ada, Tuvia Rübners
erster Frau, die er in Israel kennengelernt hatte. »Im Februar 1950 fuhren wir
übers Wochenende zum ersten Mal nach der Geburt unserer Tochter Miriam zu
Freunden nach Tel Aviv. Dort sahen wir den Hamlet-Film mit Lawrence
Olivier. Am Sonntagmorgen auf dem Rückweg fuhr ein Lastwagen, sein Fahrer war
betrunken, damals eine Seltenheit in Israel, in unseren Bus, genau in den
Benzintank.« Ada Rübner verbrennt sofort, ihr Mann überlebt schwer verletzt,
kann jedoch nach dem Unfall keine schwere körperliche Arbeit mehr leisten. Nach
ein paar Jahren wieder verheiratet, wird er Bibliothekar der Kibbuz-Bücherei
und dazu Literaturlehrer an der hiesigen Schule, später ? infolge der
wachsenden Bekanntheit als Lyriker ? kommen Lehraufträge an der Universität
Haifa dazu. Wie hält man all dies aus? ? »Gar nicht«, antwortet Rübner lakonisch.
»Durch Schreiben, durch Verknappung, Konzentration. Vielleicht auch durch
Zurückweisung der allzu bequemen Hiob-Analogie?«
Denn noch ein Bild gibt es, ein
Jugendfoto seines Sohns Moran, ein wuschelköpfiger junger Gott à la Cat
Stevens. Reisefreudig wie so viele Israelis, bricht er nach dem
traumatisierenden ersten Libanonkrieg nach Südamerika auf ? und gilt seither
als verschollen in Ecuador. Wie kann Sprache, wie können Gedichte so etwas aufheben?
»Die Zeit fand bei ihm Maß/ die Schönheit aus Licht und Abgrund« heißt es in Tuvia
Rübners Gedicht zum Gedenken an den Schriftsteller-Freund Ludwig Strauß, zusammen
mit dem ebenfalls auf Deutsch schreibenden Werner Kraft einer der wichtigsten
Bezugspersonen für den Dichter. Gemeinsam las man Rilke, Hofmannsthal, Celan ?
und blieb in nahöstlich rauer Landschaft dennoch nicht in epigonaler
Kulturbeflissenheit stecken. Und heute? »Hören Sie, da gibt es in Deutschland
einen ganz vortrefflichen jungen Lyriker. Nico Bleutge heißt er, die Gedichte
sind bei C.<|>H. Beck erschienen und mehr als vielversprechend ?«
Der alte Mann lächelt,
streift sich den Kaftan zurecht, und dann glauben wir für einen Moment zu
träumen, denn im hellen Sonnenlicht-Rechteck der Gartentür steht plötzlich sein
verschollener Sohn. Das gleiche Haar, der gleiche Look? »Darf ich bekannt machen?
Mein Enkel aus Island. Meine Tochter hatte nämlich dahin geheiratet, und nun
ist er hierher gekommen, um Hebräisch zu lernen.« ? »Shalom, manischma«, sagt
also Cat Stevens, eine Gartenschere in der Hand, während wir an jene tapferen
Selbstermutigungs-Verse des Dichters denken: »Ein Mann, in die Jahre gekommen ?
sein Aug/ sieht zugleich nach außen und innen ?/ sieht in allem verborgen das
Namenlose// Halt, Alter, beeile dich nicht. Klau/ den Tag, stiehl,/ diesen
Frühlingstag lang wie ein Wimpernschlag!« Wahrheiten gibt es, denkt der
Besucher, gegen die verblasst sogar die tägliche Nachricht von der
fortgesetzten Nahost-Krise.
Kein Ort wie dieser Und dann
kommt auch noch der Messias: Jeden frühen Abend sitzt er auf dem kleinen
Vorplatz zum Carmel-Markt. Purpurgewand, goldener Bart ? ganz wie einst Jesus
in jenem Zeffirelli-Film. Hockt da auf einem abgeschabten Teppich, zwei, drei
eher betröppelt dreinschauende Jünger neben sich. Lässt sich Bagels und
Mineralwasser bringen, dankt huldvoll oder zeiht die Umstehenden des
Unglaubens, die wiederum ihn beschimpfen. Ein säkularer Israeli in Rasta-Locken
einträchtig mit einem Orthodoxen in weißem Hemd und schwarzem Hut: »Du bist
nicht der Messias, bist du nicht!« Dahinter: Heimkehrende Hausfrauen mit ihren
Einkaufstaschen vom Markt, ein sinnierender Alter in Kippa und Soldaten auf
Ausgang, die sich für die donnerstägliche Towel-off-Party im Paradise
verabreden, Stöckelschuh-Schönheiten mit gekräuselter Frisur, russische
Schachspieler in einem nahegelegenen Straßen-Café, Sammeltaxis und hupende
Busse auf ihrem Weg in die Vorstädte, ein gerade seine quietschende Eingangstür
schließendes Antiquariat mit uralten deutschen Büchern (Arthur Holitschers
Palästina-Reise von 1926 bei S. Fischer oder Reiseführer, die sich schon damals
von Tel Aviv überwältigt zeigen und es als eine Art Inszenierung à la Max
Reinhardt beschreiben), herumstreunende Katzen unter Trottoirbäumen mit
herabhängenden Luftwurzeln, malerisch schadhafte Balkone, an einer Litfasssäule
von der Hitze gewellte Plakate eines Rod-Stewart-Konzerts und für die neue CD
einer äthiopisch-jüdischen Gangsta-Rap-Gruppe; idyllisches Schtetl und modernes
Babylon zugleich. Und nirgendwo in der ganzen weiten Welt ein Ort wie dieser.