Marko Martin

 

Vitale Vielfalt trotz ewiger Nahost-Krise

 

Ein Streifzug durch Israels Literatur- und Lebenswelt

 

 

 

Stimmen aus Israel, alte und junge, aus Tel Aviv und vom Lande, wo einst die Kibbuzim-Bewegung Hoffnungen auf eine neue Gemeinschaft verbreitete. Die Intellektuellen und Literaten, auch viele Menschen auf den urbanen Straßen, erscheinen unserem Autor lebhaft, kritisch und sehr differenziert bei ihrem Blick auf die Probleme ihres Landes und der Politik der rechten Regierung. So scheint es auch ein Band zwischen alten Auswanderern und jungen Kritikern zu geben, sosehr Kontinente von unglaublichen Geschichten auch zwischen ihnen stehen mögen.

 

Zwischen gestern und heute   »Und als dann die Israelis ganz still und leise diese bereits von ihnen bezahlten Schnellboote aus dem Hafen von Cherbourg entführt hatten, um sie übers Mittelmeer nach Haifa zu bringen, wie lachte Paul da! Ja, der sonst so introvertierte Paul Celan lachte wie befreit, ja tanzte an diesem Januarabend 1970 und kaufte dann schnell ein paar Delikatessen für unser ?Siegesmahl? ? zu Ehren der formidablen Israelis, die Frankreichs proarabisches Waffenembargo auf so intelligente Weise unterlaufen hatten.«

Ilana Shmueli, 1924 in Czernowitz geboren und seit 1944 in Israel lebend, sitzt in ihrem kleinen Apartment in einem Jerusalemer Alterswohnsitz und lächelt dem Besucher aufmunternd zu. »Das hätten Sie nicht gedacht, oder? Aber seit seinem Besuch hier in Jerusalem war Paul wie verwandelt. Ich hatte ihn ja schon als junges Mädchen in unserer selbsternannten Dichter-Oase Czernowitz gekannt, wo wir gemeinsam Baudelaire lasen und bei verbotenen Spaziergängen im Volkspark unsere gelben Sterne tief in die Manteltasche gruben. Existenzielle Dimension der Poesie! Aber erst zwanzig Jahre später ? nach der Shoah, nach unserer Flucht ? traf ich Paul wieder. Sie kennen die Zeilen, die er unmittelbar nach dem Sechstagekrieg geschrieben hat? ?Denk dir:/ der Moorsoldat von Massada/ bringt sich Heimat bei, aufs/ unauslöschlichste,/ wider/ allen Dorn im Draht.?«

Die ältere und noch immer elegante Dame, die ihre paralysierenden Rückenschmerzen freilich nicht verschweigt, war Celans letzte Muse und Geliebte: 1969 hatte sie ihm Jerusalem gezeigt und befand sich in Paris, als der tief traumatisierte Dichter Ende April 1970 den Freitod wählte; vor einiger Zeit erschien im Suhrkamp Verlag ihr intensiver Briefwechsel. Und heute?

»Heute«, sagt Ilana Shmueli in fein nuanciertem Deutsch, »scheint Israel die einstige Flexibilität verloren zu haben, seine zahlreichen Feinde immer wieder zu überraschen. Stattdessen lassen wir uns am Nasenring herumführen, gefangen in unserer arroganten Inkompetenz. Das fängt beim vermasselten Straßenbau in Jerusalems Innenstadt an und hört bei der verfehlten Siedlungspolitik oder dem jüngsten Gaza-Flottendesaster noch lange nicht auf.« Zu hart geurteilt von einer 86-jährigen Dichterin, die einst in Czernowitz bei Rose Ausländer Englisch gelernt, 1948 an Israels Unabhängigkeitskrieg teilgenommen und bis zu ihrer Pensionierung als hochgeachtete Kriminalpsychologin und Sozialpädagogin gearbeitet hatte?

»Weshalb?«, fragt sie zurück. »Zwischen den Sprachen und Welten pendelnd habe ich immer mit dem Gefühl einer Dissonanz gelebt. Im Unterschied zu den Authentizitätssüchtigen aber glaube ich, dass dies auch eine Stärke sein kann, eine Herausforderung nämlich zu ständiger wachsamer Erneuerung ? für den Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft. Gerade das hatte auch Celan so gerührt, als er mir schrieb: ?Ich bin froh, dass Du Israel mit offenen Augen siehst ? nur so kann man es ja auch wirklich lieben ??«

 

Komplexitäten   »Ach, du hast die wunderbare Ilana besucht?« Selbstverständliches Duzen, obwohl wir diesmal Französisch sprechen, mit Benny Ziffer, der als Literaturchef von Israels angesehenster Tageszeitung Ha?aretz so etwas wie der allzeit polemische Kritikerpapst des Landes ist. Ein 57-jähriger Papst mit Gelenkkettchen und Ohrring allerdings, der sich ? und das nicht nur bei unserem Treffen in Tel Avivs pittoresk heruntergekommener Fußgängerzone Nahalat Binyamin mit ihren kleinen Stofflädchen, Cafés, Shawarma-Imbissen, Bauhaus- und Mandatsgebäuden ? offensiv als linker, schwuler Ästhet bezeichnet. Wobei natürlich auch dies hierzulande ungleich komplexer buchstabiert wird als in Europa. So moniert Ziffer überraschenderweise an den hochgelobten Romanen David Grossmans, der im Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird, ein Konstruktionsmuster, das mitunter allzu grob gestrickt sei. Gegenfrage: »Aber die israelische Literatur in ihrer Breite von Amos Oz bis Etgar Keret besitzt noch immer ein Sensorium für gesellschaftliche Konflikte, auch jenseits der Palästinenserthematik?« ? »Aber selbstverständlich, mon cher«, sagt der subversive Feingeist, als wäre dies tatsächlich selbstverständlich in einem so kleinen und nach wie vor bedrohten Land. »Aber liegt nicht auch darin ein Problem? Was im Ausland wahrgenommen wird, ist vor allem diese ?gesellschaftskritische Export-Literatur?: Ein bisschen Holocaust-Enkel-Thematik, ein bisschen Nahost-Konflikt. Dabei ist unsere Literatur ? einschließlich der sogenannten Sachbücher einheimischer Soziologen mit ihren fein ausdifferenzierenden Tiefenbohrungen ? ungleich reicher. Obwohl«, hier spricht nun wieder der Provokateur, »so überragend genial ist sie bei hellem Mittelmeerlicht besehen nun auch wieder nicht ? auch wenn wir glauben, die ganze Welt sollte nichts anderes zu tun haben, als sich um uns zu drehen.«

Was jedoch die (ansonsten in der gesamten nahöstlichen Region verfolgten) Homosexuellen betrifft: Soeben wurde beim jährlichen Gay-Filmfestival ein Spielfilm gezeigt, in dem das auch durch seinen Blog »Zifferland« landesweit bekannte enfant terrible höchstselbst in einer Nebenrolle auftaucht ? was den Literaturpapst allerdings weniger zu animieren scheint als die Tatsache, dass in Jerusalem zu Zeiten des Purim-Festes religiöse Lesben und Schwule mit Kippa gemeinsam und öffentlich die Errettungsgeschichte aus dem Bibelbuch Esther vortragen, wenn auch zum Missfallen jener Ultra-Orthodoxen, die zunehmend aggressiver ein Glaubensmonopol beanspruchen.

Letzte Volte gefällig? »Die Antizionisten von heute, das sind gewiss nicht nur die europäischen Salon-Antisemiten, sondern auch diese Fundamentalreligiösen, die weder Steuern zahlen noch zur Armee gehen und gleichzeitig mit ihren unstillbaren Forderungen den Staat auslaugen, der darüber hinaus immer korrupter und ineffizienter wird. Ganz zu schweigen von den Radikalen unter den Siedlern, die geradezu im Widerspruch zu Ben Gurions moderater Vision noch immer von einem biblischen Großisrael fantasieren, das letzten Endes aber lediglich das existierende, demokratische Israel schwächt und in höchste Gefahr bringt.«

 

Strandpromenade I   Irgendjemand musste wieder einmal den Knopf gedrückt haben, dort an der kleinen, in Beton eingefassten Felsenmauer unterhalb des Sheraton. Und so erklingt plötzlich quer über die Strandpromenade von Tel Aviv Abie Nathans charismatische Stimme, untermalt vom Rauschen des Meeres: »From somewhere in the Mediterranean: The Voice of Peace. Love, peace and understanding ?«

Keine halbe Minute später hat sich bereits eine kleine Menschentraube um den winzigen Lautsprecher geschart, neben dem eine Plakette darüber informiert, das fünf Kilometer von hier einst das Friedensschiff des Aktivisten Abie Nathan geankert hatte, um zwischen 1973 und 1993 täglich eben jene Botschaften auszusenden. Und sofort entbrennt zwischen den Strandgängern ? Eis schleckenden Flaneuren, Soldatinnen mit hoch ins Haar gesteckter Sonnenbrille, Familien und muskulösen Joggern, die mitten im Lauf anhalten ? eine aktuelle Diskussion: War der vor zwei Jahren hochbetagt verstorbene Abie Nathan etwa ein Blender wie jener Schwede Henning Mankell, der vor kurzem an Bord einer israelfeindlichen Flotte vor Gaza aufgekreuzt war? Aber nein, widersprechen einige, Abie war ein Patriot, Kampfpilot im Unabhängigkeitskrieg von 1948, später allerdings ein Visionär.

Die Sonne steht hoch an diesem Nachmittag, die Zeitungen sind noch immer voll mit Nachrichten über die gewaltsam geenterte Gaza-Flottille, und einer der Älteren sagt: Visionär ? schön und gut, zu Nasser ist er geflogen, um Frieden zu bringen, aber schon im nächsten Jahr haben sie uns ins Meer treiben wollen, damals 67. Und so wogt die spontane, nuancenreiche Debatte über Frieden und feindliche Nachbarn hin und her, während im Hintergrund weiterhin Abie Nathans Stimme erklingt. Vielleicht, denkt der Besucher, sollten die Gutwillig-Naiven unter den westlichen Sympathisanten der Gaza-Flotte besser einmal an diese Strandpromenade kommen, um zu erfahren, auf welch hohem Niveau hier (wenn schon nicht im Kabinett der gegenwärtigen Regierung) diskutiert wird: Jenseits der Pauschal-Rhetorik von Pazifisten und Bellizisten, jenseits von Manichäismus, aber auch von bequemer Äquidistanz. Denn selbstverständlich gibt es etwas gegen die Hamas-Herrscher von Gaza zu verteidigen ? eben jenen zivilen Meinungsstreit à la Tel Aviv. »Wie billig«, grummelt einer, als kurz vor dem Verstummen des Lautsprechers John Lennons »Give peace a chance« über die Promenade scheppert. Zwei junge Soldaten aber halten sich just in diesem Moment bei den Händen, auf ihren Rücken die Waffen, die ihrer Geste etwas sehr Ernsthaftes geben. Und plötzlich fern, so fern die selbstgerechten Gewissheiten eines Henning Mankell und seiner Jünger.

 

Lösungen, Hindernisse ... »Weshalb sollte kluge Diversität also nicht unsere eigentliche Stärke sein?« Nir Baram, Jahrgang 1977, ist wahrscheinlich der Jüngste in einer (man möchte fast sagen: jahrtausendealten) Tradition der Frager, Kritiker und tatsächlich Unbequemen. Der selbst bei Fernsehdebatten im unprätentiösen T-Shirt auftauchende Romancier, dessen visionärer Roman »Der Wiederträumer«, letztes Jahr bei Schöffling & Co. auch auf Deutsch erschienen ist, stammt sozusagen aus dem säkularen Adel Israels: Bereits der Großvater war in hohen Positionen in der zionistischen Arbeitspartei engagiert, sein Vater Uzi Baram diente schließlich als Innenminister unter Premier Yitzhak Rabin. »Der, vergessen wir das nie, von einem ultrarechten Fundamentalreligiösen ermordet wurde«, sagt Nir Baram mit einem nervösen Lächeln. »Was ich damit meine: Es sind nicht die sogenannten ?Tel Aviv-Hedonisten?, die den Konsens im Land aufkündigen, sondern jene Ultra-Religiösen, die auf die Urteile unseres Obersten Gerichts pfeifen ? oder jene eschatologisch gepolten Siedler auf ihren Hügeln in den besetzten Gebieten, die sich mit ihren Partikularinteressen keinen Deut um die Zukunft und die Sicherheit unseres Staates scheren.«

Der etwas alternativ-schluffig wirkende Nir Baram, dessen jüngster Roman über einen großbürgerlichen Nazi-Mitläufer im Umfeld Ribbentrops gerade die hiesigen Bestellerlisten gestürmt hat und als eine wichtige Ergänzung zu Jonathan Littell rezipiert wird, ist in Wahrheit ein konzentrierter Arbeiter ? und ein alle Chauvinismen herzlich verachtender Patriot. »Weshalb sollte ich es verschweigen? Ja, ich liebe unser Israel. Und als ich in Vertretung von David Grossman, der gerade im Ausland war, kürzlich diese Rede bei einer großen Demonstration gegen die auch uns demoralisierende Besatzung hielt, weißt du, was mich da am meisten freute? Doch nicht die vielen auf mich gerichteten Fernsehkameras und der folgende große Artikel in der New York Times, sondern die unzähligen jungen Leute um mich herum, Juden und israelische Araber, die hier zum ersten Mal zusammen demonstrierten ? und sich dabei alle als Israelis fühlten.«

Freilich pflegt Nir Baram ? dies im Unterschied zur älteren Generation der Peaceniks ? keine hochfliegenden Illusionen und erwartet von einer Zwei-Staaten-Lösung auch keinen ewigen kantschen Frieden, denn wer könne schon sagen, was aus den Palästinensergebieten wird, wenn eines Tages nicht mehr vernünftige Leute wie etwa Premierminister Fayad regieren? »Umso unentschuldbarer, dass wir ihm nicht jetzt effektiv helfen, um damit die Extremisten von der Hamas zu schwächen, sondern uns mit der so gefährlich ignoranten Rede von den Palästinensern begnügen, die angeblich alle die Zerstörung Israels wünschten. So binden wir uns doch nur selbst die Hände.«

 

Strandpromenade II   »Israel, das ist ja wohl nicht nur die Strandpromenade von Tel Aviv«: Gemeinsames Mantra von Israels diversen Gegnern, konservativen »Freunden« und all denjenigen im Lande, die genau dort einen ihrer heimlichen Sehnsuchtsorte wissen. Und doch zeigt sich gerade hier, pars pro toto, Israels Komplexität: Abie Nathans Propheten-Stimme, dazu ein paar hundert Meter stadteinwärts ein Gedenkstein zur Erinnerung an das Schiff Altalena der jüdischen Untergrundbewegung »Irgun«, auf das Premierminister David Ben Gurion im Juni 1948 hatte feuern lassen, um das Gewaltmonopol des jungen Staates durchzusetzen. Einer, der sich damals nur durch einen Sprung ins Wasser vom brennenden Schiff hatte retten können, war der Hardliner und Bombenattentäter Menachem Begin, den Gurion bis zum Sechstagekrieg 1967 als »ehemaligem Terroristen« misstraute, der später das Desaster des ersten Libanonkrieges mit zu verantworten hatte ? und gleichzeitig doch derjenige war, der mit Ägypten einen bis heute geltenden Friedensvertrag geschlossen und dafür zusammen mit Präsident Sadat den Friedensnobelpreis erhalten hatte.

Die Strandpromenade von Tel Aviv: Widersprüchliche Geschichtslektionen in Permanenz. Denn auch Orthodoxe gehen hier gern spazieren; hinter dem Hilton-Hotel ? ironischerweise in unmittelbarer, tolerierter Nachbarschaft zum Schwulen-Strand ? gibt es ein eigenes, eifrig genutztes Bade-Areal für die Gläubigen.

Und da sind diese Augenblicks-Wahrnehmungen: Jüdische Äthiopier und nicht-jüdische nigerianische Vertragsarbeiter beim gemeinsamen Anbaggern französischer Touristinnen, die sich aufgrund der in Frankreich wachsenden, von muslimischen Migranten ausgehenden Judenfeindlichkeit inzwischen im quirligen Tel Aviv sicherer fühlen. Junge Leute aus den Philippinen, die ältere Einheimische im Rollstuhl über die Promenade schieben, dazu aber auch schon Kinder mit eurasischen Gesichtszügen, die wie selbstverständlich auf hebräisch sprechen und rufen. Erste Anzeichen jener neuen, umfassenderen israelischen Identität, auf die Nir Baram hofft?

 

Eine apolitische Generation?   »Weshalb nur zwei Staaten? Drei!«, sagt Ron Leshem und greift damit einen ironisch gemeinten Vorschlag von Amos Oz auf. »Einen für die Palästinenser, einen für die Siedler und Ultra-Orthodoxen, den dritten aber für Leute wie uns.« Für eine areligiös-multikulturelle Spaßgeneration etwa, welche die Nase voll hat von den Anachronismen des Nahen Ostens und sich stattdessen hinwegträumt in eine global post-nationale Welt?

Ganz im Gegenteil. Bereits in seinem Debütroman Wenn es ein Paradies gibt (bei Rowohlt erschienen, verfilmt und Berlinale-preisgekrönt unter dem Titel Beaufort) hatte der so sanftmütig wirkende junge Mann mit dem Kurzhaarschnitt die harte Geschichte von Soldaten im Libanon-Einsatz erzählt. »Es geht nicht um Eskapismus, sondern um rationale Wege zur politischen Teilhabe. Mein neuer Roman spielt im Iran ? in einem Land, in dem die aufgeklärten jungen Städter per Facebook Freunde in aller Welt suchen und finden, während gleichzeitig Menschen öffentlich hingerichtet werden oder in den Gefängnissen verschwinden.« Teheran also als Menetekel für eine Welt, die glaubt, mit den Annehmlichkeiten der Globalisierung bereits alles Dunkel hinter sich gelassen zu haben?

In Israels lesefreudiger Gesellschaft ist dieser Roman ebenfalls zum Bestseller geworden, auch wenn Ron Leshem den Optimismus eines Nir Baram nicht unbedingt teilt. »Inzwischen gilt es doch als cooler, sich per Facebook spontan zu verabreden, um für eine von Schließung bedrohte Sushi-Bar zu demonstrieren, anstatt sich mit wirklichen Schicksalsfragen zu beschäftigen. Keine Generation war jemals konservativer und apolitisch-desillusionierter als unsere. Währenddessen aber wächst und wächst der Einfluss der Siedler-Lobby auf die Regierung, und die Frauen der israelischen Araber und unserer Ultra-Orthodoxen gebären mehr Kinder als alle politisch moderat Säkularen und moderat Religiösen zusammen. Natürlich gibt es keine Evidenz, dass deren Kinder dann automatisch das weltliche Israel unterminieren werden. Es gibt allerdings auch keine Sicherheit, dass es nicht so werden wird, in fünfzehn oder zwanzig Jahren.«

So wäre also die kluge Balance aus Selbstreflexion und Wehrbereitschaft immer mehr das Luxusgut einiger Weniger, die sich dazu auch noch einigeln? Vielleicht ist hier doch ein kleines Fragezeichen angebracht. Unabhängig der Tatsache, dass religiös nirgendwo eine automatische Chiffre für irrational sein muss ? Ron Leshems aufwühlender Teheran-Roman besitzt nämlich ausgerechnet in der hiesigen Rockmusik eine Art Vorgänger: »Boker Tow, Iran/ Guten Morgen Iran« hieß der so bohrend fragende Song über das eigene wie gleichzeitig über jenes Land, dessen Präsident Ahmadinedschad nach wie die Auslöschung Israels propagiert. Geschrieben aber hatte den Longseller Aviv Geffen, Israels Marilyn Manson und ein weiteres linksalternatives enfant terrible, dazu Schwager des Schriftstellers Etgar Keret ? und Großneffe des legendären Moshe Dayan.

Eine apolitische Generation? Spontane Diskussion im Club Paradise unweit der Kreuzung Allenby Street und Rothschild Boulevard. Einer der jüngeren Besucher will mich überzeugen, dass Präsident Obamas Sicht der letztlichen Destruktivität fortgesetzten Siedlungsbaus allein antisemitischen Ressentiments gehorche. »Außerdem ist er Moslem. Barack Hussein Obama, you know?« Was folgt, ist der Protest der Umstehenden. »Was für ein Idiot! Und du dienst in der Armee? Dann lass dir gesagt sein, dass es dieser ?Antisemit? ist, der deine Ausbildung, deine Uniform und deinen Sold bezahlt. Also fuck off

Das Vergnügen des Israel-Reisenden, solche Gespräche flugs in sein Notizbuch einzutragen, wird freilich gemindert durch einen weiteren Mitdiskutanten, dessen Meinung wohl ebenfalls den Tatsachen entspricht: »Sei nicht zu euphorisch. Tel Aviv ist nicht wirklich repräsentativ. In den kleineren Städten mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigerem Bildungsniveau, bei vielen, wenn auch nicht bei allen Ultrareligiösen und Siedlern, wird genau in dieser Weise gegen den Präsidenten unseres treuesten Verbündeten gehetzt. Und da ist dann keiner da, der ein erfrischendes fuck off sagen würde, denk das bitte mit.«

 

Der Dichter in Merchavia   Der klimatisierte Überlandbus aus Jerusalem hält an der Kreuzung, um im grellen Sonnenlicht ein paar junge Soldaten ein- und aussteigen zu lassen, Waffe quer über dem Rücken, winzige iPod-Stöpsel in den Ohren. Links führt die Straße nach Megiddo, dem mythischen Armageddon aus der Johannes-Apokalypse, rechts hinüber ins palästinensische Jenin, der einstigen Terror-Hochburg während der zweiten Intifada. Schon zu biblischen Zeiten war die Jezreel-Ebene im Norden Israels eine umkämpfte Region, ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Ort landwirtschaftlicher Kultivierung und enormen Elans: Nirgendwo sonst im Land gibt es mehr Kibbuzim und Moschavim als hier in der anscheinend allein von Staub und Wind durchzogenen Jezreel.

»Du fährst also nach Merchavia zum Dichter Rivner? Dann solltest du auch ins Kibbuz Nahalal, dort ist nämlich Meir Shalev geboren, der schreibt Romane und ist noch berühmter.« Der krausköpfige Wehrpflichtige aus Haifa weiß offensichtlich gut Bescheid, erwähnt quasi im Zeitraffer die jemenitischen Großeltern väterlicher- und die weißrussische Familie mütterlicherseits, zeigt mir dann beim nächsten Stopp in der Stadt Afula den in der Hitze flimmernden Weg zum nahen Taxistand gleich neben dem Falafel-Imbiss (»Eine Fahrt von fünf Minuten; wenn es mehr als 20 Schekel kostet, schlägst du Alarm, nachon?«), und auch er spricht den Namen auf israelische Weise aus ? Rivner.

»Was soll man machen?«, fragt später in seinem einstöckigen Bungalow der hochgewachsene Dichter Tuvia Rübner mit dezentem k.u.k-Akzent und drückt ein winziges Hörgerät ins rechte Ohr. »Die Umlaute haben es nie bis hierher geschafft.« Aber er hat es geschafft, ein lebendes Wunder vor dem Schreckensfresko der Neuzeit: 1924 in Preßburg, dem heutigen Bratislava, geboren, gelangte er als einziger seiner Familie mit dem letzten Flüchtlingstransport aus der Slowakei nach Palästina. Mit den Freunden aus dem zionistischen Jugendbund »Haschomer« über Budapest ins rumänische Kostanza, wo die Jungen bereits Züge mit deutschem Militär sahen ? potenzielle Mörder ihrer daheimgebliebenen Familien, die ihnen drohend zuriefen: »Auf Wiedersehen in Palästina!« Danach in einem Seelenverkäufer über das Schwarze Meer nach Istanbul und weiter durch die Südtürkei nach Beirut, in deren engen Gassen die Freunde zum ersten Mal arabische Musik hören, die sie an manche Stücke von Bela Bartók erinnert.

In seiner assoziationsreichen Autobiografie Ein langes kurzes Leben schreibt Rübner über seine Ankunft im Kibbuz im Jahre 1941: »Merchavia, deutsch Gottes Weite (Psalm 118,5 in der Übersetzung Martin Bubers: ?Aus der Drangsal rief ich: Oh er!/ in der Weite gab mir Antwort Oh er.?) ist die erste Siedlung im Jezreel, 1911 nach dem Plan des deutschjüdischen Soziologen Oppenheimer als Genossenschaftssiedlung gegründet. Steinhäuser in halb orientalischem, halb gotischem Stil, in einem Viereck um einen freien Platz, in dessen Mitte der Wasserturm stand ? der erste Eisenbetonbau im Nahen Osten, wie man uns stolz verkündete, und von einer Mauer umgeben gegen die Angriffe arabischer Räuberbanden, denen der rechtmäßige Erwerb des Bodens vom Großgrundbesitzer in Jenin gleichgültig war.«

Erinnert das nicht ein wenig an Arthur Koestlers berühmten Kibbuz-Roman Wie Diebe in der Nacht? Und ist es nicht spannend zu hören, dass sogar Israels spätere erste Ministerpräsidentin Golda Meir hier gelebt hatte, »der aber das Essen aus Emailletellern und das Trinken aus Emaillebechern nicht besonders gefiel, wie erzählt wird, und die deshalb nach einem Jahr der Gruppe Lebewohl sagte und mit ihr der einzige Plattenspieler, ihr kostbares, rares Eigentum.« Und ließe sich nicht als literarische Erfolgsgeschichte feiern, wie sich ein gerade noch Davongekommener eine neue Sprache anverwandelte (nicht: eroberte), so dass er bis heute, unter anderem ausgezeichnet mit dem Darmstädter Paul Celan- und dem einheimischen Israel-Preis, zuerst in Hebräisch schreibt und dann die Gedichte ins Deutsche übersetzt, bei Besuchen in Europa mit den befreundeten Kollegen Dürrenmatt (dem in Bezug auf Israel so sympathisierend Hellsichtigen), Karl Jaspers oder Christoph Meckel aber stets in seiner Muttersprache diskutierte?

Der biblische Ort, das geistig-historische Umfeld, die großen Namen und kleinen Anekdoten, das Jahrhundert der Hoffnungen und Katastrophen. Mitten drin aber ein Einzelner, ein Dichter, der am Abend seines Lebens sein »Selbstbildnis« beschreibt: »Doch zurück zum Gesicht: der Mund, leicht nach unten gebogen./ Mürrisch? Verschlossen?/ Immerhin frei vom blödsinnigen Lächeln Eines/ der fleht um den Überrest auf dem Teller.« Der folglich eher trocken konstatiert, dass der Kibbuz Merchavia längst privatisiert ist, die Pension für die Alteingesessenen lächerlich gering und der legendäre Speisesaal vermietet für die Partys Auswärtiger. »Dennoch werden Sie von mir keine Klagelitanei hören, junger Freund. Der Bougainvillea leuchtet noch immer, schon im Frühjahr blühen die Zyklamen ? an Stellen, wo wir im Sechstagekrieg 67 noch prophylaktisch Schützengräben ausheben mussten.«

Tuvia Rübner trägt in der ventilator-umsummten Mittagshitze eine Art Kaftan arabischen Ursprungs, der bis zu den Knöcheln reicht und trotz ähnlichen Zuschnitts luftiger wirkt als eine Mönchskutte. »Vermisse ich Ideen? Ich bitte Sie! Damals gab es so etwas wie ?Kollektiv-Gedanken?, und alle Kibbuz-Genossen wählten einträchtig die Mapam-Partei von Ben Gurion. Vielleicht sogar zu einträchtig ? Dass ihre Nachfolgerin, Israels einst so stolze Arbeitspartei, geistig geschrumpft ist und auch weiterhin Visionskraft verliert in einer Koalition mit diesen Netanyahus und Liebermans ? was soll man dazu sagen? Ich habe ein wütendes Gedicht geschrieben über den Verfall unserer Moral ? von den anderen rede ich nicht, über die habe ich im Gegensatz zu den naiven Europäern sowieso keine Illusionen ? die Verse wurden in der großen Tageszeitung Ha?aretz gedruckt und diskutiert, aber dennoch sollte man sich über Offensichtliches nicht zusätzlich verschleißen. Außerdem: Selbst unter dem gegenwärtigen Korruptions-Egoismus, der den Witwen und Waisen eben nicht beisteht, gibt es hier noch immer eine immense Konzentration von Ethos und Geist.«

Weshalb auch sollte ausgerechnet Israel, sollte die menschliche Existenz perfekt sein? In einem der neueren (und gerade im Aachener Rimbaud-Verlag erschienenen) Gedichte heißt es: »Wenn die Vollkommenheit in den Rücken fällt/ und lispelt: Sei wie ein Engel!// Was weißt du von Engeln, du Vollkommenes!/ Es gibt Engel, die Flügel verloren/ Engel durstig wie Vögel im Wüstenwind./ Was weißt du schon, Unnahbare,/ du in dir selbst Verschlossene!«

 

Dazu gibt es Tragödien, die sich der definitorischen Einhegung sperren. Neben einem handsignierten Giacometti hängen gerahmte Familienbilder über dem Computer und den Bücherwänden in Rübners Kibbuz-Häuschen. Die Eltern mit der jüngeren Schwester, über deren Schicksal er Jahre später im Archiv von Yad Vashem eine dürre Eintragung fand: Auschwitz-Transport Nr. 46. Daneben eine Fotografie von Ada, Tuvia Rübners erster Frau, die er in Israel kennengelernt hatte. »Im Februar 1950 fuhren wir übers Wochenende zum ersten Mal nach der Geburt unserer Tochter Miriam zu Freunden nach Tel Aviv. Dort sahen wir den Hamlet-Film mit Lawrence Olivier. Am Sonntagmorgen auf dem Rückweg fuhr ein Lastwagen, sein Fahrer war betrunken, damals eine Seltenheit in Israel, in unseren Bus, genau in den Benzintank.« Ada Rübner verbrennt sofort, ihr Mann überlebt schwer verletzt, kann jedoch nach dem Unfall keine schwere körperliche Arbeit mehr leisten. Nach ein paar Jahren wieder verheiratet, wird er Bibliothekar der Kibbuz-Bücherei und dazu Literaturlehrer an der hiesigen Schule, später ? infolge der wachsenden Bekanntheit als Lyriker ? kommen Lehraufträge an der Universität Haifa dazu. Wie hält man all dies aus? ? »Gar nicht«, antwortet Rübner lakonisch. »Durch Schreiben, durch Verknappung, Konzentration. Vielleicht auch durch Zurückweisung der allzu bequemen Hiob-Analogie?«

Denn noch ein Bild gibt es, ein Jugendfoto seines Sohns Moran, ein wuschelköpfiger junger Gott à la Cat Stevens. Reisefreudig wie so viele Israelis, bricht er nach dem traumatisierenden ersten Libanonkrieg nach Südamerika auf ? und gilt seither als verschollen in Ecuador. Wie kann Sprache, wie können Gedichte so etwas aufheben? »Die Zeit fand bei ihm Maß/ die Schönheit aus Licht und Abgrund« heißt es in Tuvia Rübners Gedicht zum Gedenken an den Schriftsteller-Freund Ludwig Strauß, zusammen mit dem ebenfalls auf Deutsch schreibenden Werner Kraft einer der wichtigsten Bezugspersonen für den Dichter. Gemeinsam las man Rilke, Hofmannsthal, Celan ? und blieb in nahöstlich rauer Landschaft dennoch nicht in epigonaler Kulturbeflissenheit stecken. Und heute? »Hören Sie, da gibt es in Deutschland einen ganz vortrefflichen jungen Lyriker. Nico Bleutge heißt er, die Gedichte sind bei C.<|>H. Beck erschienen und mehr als vielversprechend ?«

Der alte Mann lächelt, streift sich den Kaftan zurecht, und dann glauben wir für einen Moment zu träumen, denn im hellen Sonnenlicht-Rechteck der Gartentür steht plötzlich sein verschollener Sohn. Das gleiche Haar, der gleiche Look? »Darf ich bekannt machen? Mein Enkel aus Island. Meine Tochter hatte nämlich dahin geheiratet, und nun ist er hierher gekommen, um Hebräisch zu lernen.« ? »Shalom, manischma«, sagt also Cat Stevens, eine Gartenschere in der Hand, während wir an jene tapferen Selbstermutigungs-Verse des Dichters denken: »Ein Mann, in die Jahre gekommen ? sein Aug/ sieht zugleich nach außen und innen ?/ sieht in allem verborgen das Namenlose// Halt, Alter, beeile dich nicht. Klau/ den Tag, stiehl,/ diesen Frühlingstag lang wie ein Wimpernschlag!« Wahrheiten gibt es, denkt der Besucher, gegen die verblasst sogar die tägliche Nachricht von der fortgesetzten Nahost-Krise.

 

Kein Ort wie dieser   Und dann kommt auch noch der Messias: Jeden frühen Abend sitzt er auf dem kleinen Vorplatz zum Carmel-Markt. Purpurgewand, goldener Bart ? ganz wie einst Jesus in jenem Zeffirelli-Film. Hockt da auf einem abgeschabten Teppich, zwei, drei eher betröppelt dreinschauende Jünger neben sich. Lässt sich Bagels und Mineralwasser bringen, dankt huldvoll oder zeiht die Umstehenden des Unglaubens, die wiederum ihn beschimpfen. Ein säkularer Israeli in Rasta-Locken einträchtig mit einem Orthodoxen in weißem Hemd und schwarzem Hut: »Du bist nicht der Messias, bist du nicht!« Dahinter: Heimkehrende Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen vom Markt, ein sinnierender Alter in Kippa und Soldaten auf Ausgang, die sich für die donnerstägliche Towel-off-Party im Paradise verabreden, Stöckelschuh-Schönheiten mit gekräuselter Frisur, russische Schachspieler in einem nahegelegenen Straßen-Café, Sammeltaxis und hupende Busse auf ihrem Weg in die Vorstädte, ein gerade seine quietschende Eingangstür schließendes Antiquariat mit uralten deutschen Büchern (Arthur Holitschers Palästina-Reise von 1926 bei S. Fischer oder Reiseführer, die sich schon damals von Tel Aviv überwältigt zeigen und es als eine Art Inszenierung à la Max Reinhardt beschreiben), herumstreunende Katzen unter Trottoirbäumen mit herabhängenden Luftwurzeln, malerisch schadhafte Balkone, an einer Litfasssäule von der Hitze gewellte Plakate eines Rod-Stewart-Konzerts und für die neue CD einer äthiopisch-jüdischen Gangsta-Rap-Gruppe; idyllisches Schtetl und modernes Babylon zugleich. Und nirgendwo in der ganzen weiten Welt ein Ort wie dieser.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2010