In seinem letzten, unvollendeten und nun neu aufgelegten Buch »Geschichte ? Vor den letzten Dingen« führte Siegfried Kracauer zahlreiche Korrespondenzen über alle wissenschaftlich disziplinären Grenzen hinweg. Literatur und Philosophie spielten eine wichtige Rolle für eine besondere Methodik und Ästhetik der Geschichtsschreibung. Doch hinter den transparenten Dialogen verbirgt sich ein lang geführtes Gespräch mit Walter Benjamin und Theodor Adorno. Ein Nachdenken über die Zeit, die Wunden der gegenwärtigen, die verloren vergangene, die fortgeschrittene, Sein und Schein des »Fortschritts«, zwischen Zweifel und Hoffnung.
Zweifel und ... Hoffnung,
dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen können«(1) ?
Zweifel und Hoffnung weisen den Horizont der sprachlichen Bilder in Walter
Benjamins Über den Begriff der Geschichte ebenso wie in Siegfried
Kracauers Geschichte ? Vor den letzten Dingen. Zweifel und Hoffnung,
wieder atmen zu können, sind von ihrer Gegenwart gezeichnet: Gegenwart, die
sich zum einen 1940 abspielt, in Marseille, unter dem Druck Nerven verzehrenden
Wartens im Transit, und die zum anderen von der Exterritorialität des Emigranten
geprägt ist, in einem zum Aufenthaltsort gewendeten Exil, in den Sechzigern, in
New York, »weil es diese Exterritorialität ermöglicht«.(2) Gegenwart, die 1940
im unmittelbaren Umfeld des »Zivilisationsbruchs« (Dan Diner) steht, der als
Vergangenheit auch 1960 in den USA den Überlebenden gegenwärtig bleibt.
»Das bisschen Fassung«,
schrieb Walter Benjamin 1933 an Gershom Scholem, »das man in meinen Kreisen dem
neuen Regime entgegengebracht hat, ist rasch verbraucht und man gibt sich
Rechenschaft, dass die Luft kaum mehr zum Atmen ist; ein Umstand, der freilich
dadurch an Tragweite verliert, dass einem die Kehle zugeschnürt wird.«(3) Luft
konnte auch Siegfried Kracauer in Marseille nicht mehr atmen. In der Erinnerung
Soma Morgensterns antwortete er auf dessen Frage, was aus ihnen werde: »Soma,
wir werden uns hier alle umbringen müssen.«(4) Kracauer gelang letzten Endes
die Flucht vor denen, die ihn als materialistischen Intellektuellen jüdischer
Abstammung nicht verschont hätten. Benjamin, in derselben Situation, nahm sich
an der Grenze zu Spanien das Leben.
In Benjamins Gepäck befand
sich das Manuskript seiner geschichtsphilosophischen Thesen, seine letzte,
nicht vollendete Arbeit. Es ist der durch den Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes
furchtbar gewachsene Zweifel, der die Hoffnung sucht, als keine mehr haltbar zu
sein scheint, der aus den Bildern spricht. Sinnbild hierfür wurde ein Engel aus
einem Bild von Paul Klee. In Benjamins Deutung haben sich die Flügel dieses
Engels im Sturm des Fortschrittes so verfangen, dass er sie nicht mehr
schließen kann und ihm somit verwehrt wird, zu verweilen, um »das Zerschlagene
zusammenzufügen«. Er wendet der Zukunft den Rücken zu und blickt auf die
Vergangenheit als »eine einzige Katastrophe«, deren Trümmer bis an den Himmel
reichen.(5) 1966 hinterließ Kracauer sein durch seinen Tod unvollendetes Buch History
? The Last Things Before The Last. Das Buch ist gezeichnet von einem
post-melancholischen Klima, in dem der sich mit Hoffnung die Waage haltende
Zweifel eines von den Nazis Vertriebenen durchscheint. Auch hier bleibt die
Theologie »ein Glutkern mit Hoffnung« (Heiner Müller), der ihn für das
»sprachlose Plädoyer der Toten«(6) empfänglich macht. Der hier kurz umrissene
Horizont lenkt den Blick beider Intellektueller auf die unabgeschlossene
Vergangenheit, stellt ihnen die Frage, wie das, was wirklich gewesen ist, als
Text zu vergegenwärtigen bleibt, um endlich atmen zu können.
»Geschichte ? Vor den
letzten Dingen«
Die vorletzten Dinge vor den
letzten sind es, die Kracauer in seiner unvollendet gebliebenen Arbeit in den
Bann ziehen. Dass sein Tod 1966 das Buch in einem fragmentierten Zustand
hinterließ, ist wie eine letzte Bestätigung Kracauers Philosophie des Vorläufigen,
die er zeit seines Lebens verfolgte. Drängte es ihn schon jeher, Einsicht in
ein großes Ganzes der Welt zu erlangen, zeigte diese sich ihm jedoch immer
wieder nur in Brüchen. Seine letzte Schrift weist in ihren sokratischen
Befragungen viel Erfahrenes auf, nur eines nicht: Einheitlichkeit. Für Kracauer
geht Erkenntnis immer aus der konkreten Erfahrung hervor. Erfahrbar jedoch ist
nicht die Totalität eines die Welt umfassenden Ganzen, erfahrbar bleibt umso
mehr die totalitäre Wirkung postulierter Zusammengehörigkeit. Hin- und
hergerissen bleibt Erkenntnis zwischen Konkretem und Abstraktem. Hin- und
hergerissen bleibt der Mensch in verschiedenen Gemeinschaften. Eine beinahe
unlösbare Aufgabe scheint es Kracauer, allein vom eigenen Ich ein
widerspruchsfreies Bild zu erlangen. Wie viel schwerer gestaltet sich der
Kontakt mit anderen, da »nicht nur kein Mensch ein Ganzes ist, sondern es auch
schlichtweg unmöglich ist, einen Menschen zu kennen, weil er sich verändert,
während wir unsere ursprünglichen Eindrücke von ihm zu klären suchen«. Nichts
lässt sich nach Kracauer als ewiges Gesetz ausmachen, nach dem man sich richten
könnte. Doch scheint gerade eine »Sehnsucht nach Synthese« sein Umfeld seit
jeher zu zeichnen.
Immer wieder entstand
ausschließende Einheit auch in den Köpfen, im Denken, das sich absolut gibt.
Dies zeigt sich in Kracauers Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno, seit sie
sich 1923 in Frankfurt kennengelernt hatten: »Der Riss der Welt geht auch durch
mich«,(7) schrieb er in einem seiner ersten Briefe. Der Riss war es, der ihn
hinderte, seinem Wunsch nach Gemeinschaft, der ihn nicht selten nahezu verzehrte,
nicht gänzlich nachgehen zu können, er hielt ihn ab, sich den Ansprüchen des
Frankfurter Instituts für Sozialforschung anzupassen, der Riss hielt ihn im
Niemandsland, der Exterritorialität. Der Riss, der ihn der Welt entfremdete,
wird in seinem 250 Seiten starken letzten Buch der Nicht-Ort der Utopie, die
Möglichkeit zur Freiheit wie auch zur Wahrheit. Die Erfahrung, dass die Welt
und ihre Geschichte vor allem in ihrer Zerbrechlichkeit sich zeigt, machte ihn
empfindsam für die entstellten, ausgenutzten Dinge, die sich in seinen Romanen Ginster
und Georg bereits vermischten mit den Menschen selbst, als Ausdruck
der Verdinglichung der Menschen über ihre Identifikation mit ihrem Besitz,
Personifizierung der Dinge durch ihre mächtige Wirkung auf alles Lebendige. In Geschichte
tauchen die Dinge wieder auf, in ihrem beschädigten Zustand ebenso wie in ihrer
Verlorenheit, mit der Forderung, den »lost causes« endlich einen Namen zu
geben.
Die Radikalität seiner
Kritiken aus früherer Zeit, etwa an der kapitalistischen Moderne, tritt in
seinen Überlegungen über Geschichte zurück. Entfremdung ist für Kracauer nun,
was es radikal durchzuführen gilt. Entfremdung von der Gegenwart über das
Aufzeigen des Namenlosen in fotografischen Medien, über das Dazwischenschalten
des Objektivs zwischen Auge und Betrachtetem, Entfremdung von den Einflüssen
der Gegenwart über Geschichtsschreibung, die Einsicht lehrt, dass die Welt in unauflösbaren
Antinomien sich zeigt. War der Riss zu Anfang seiner immer wieder schmerzhaften
Freundschaft mit Adorno vielleicht noch so klein, dass Hoffnung auf Heilung
seine Schriften leiten konnte, so ist er in Geschichte zu einem ganzen
Hohlraum geworden, vielmehr Hohlräumen im Plural, die überall sich zeigen:
Hohlräume zwischen dogmatisierenden Theorien von Marxismus bis zum Historismus,
im Ich zwischen verschiedenen Bewusstseinsstadien, in jeder Gruppierung
zwischen Teilen, die sie als Gemeinschaft zeichnen, und denen, die als
unpassend unterdrückt werden, zwischen einzelnen Zeiten, die sich nicht über
ihre Abfolge auch bedingen.
Sein Interesse an der
Geschichte gilt der Geburtsstunde großer Ideen. Der Geburtsstunde, da sie Neues
bringt, dem immer ein Zauber innewohnt, wie einer neuen Freundschaft, aus der
heraus die Welt sich in einem neuen Licht zeigt. Den Ideen, da sie alle einen
Kern Wahrheit beinhalten, zwar nicht das große Ganze betreffen können, aber solange
sie dies auch noch nicht in Anspruch nehmen, relevante Einsichten bieten.
Nichts wird letztlich verworfen in Kracauers letztem Buch, außer eines: der
Anspruch auf Einblick in eine einheitliche Totalität. Sein zweites Interesse an
der Vergangenheit ist dennoch ein theologisches: die Sehnsucht nach den Toten
um ihrer selbst willen.
Benjamins Nachdenken Ȇber
den Begriff der Geschichte« zeichnet in 18 verdichteten Thesen einen
»historischen Materialismus«, der dem von Marx erhofften Ende der Geschichte
unter Zuhilfenahme theologischer Momente eine neue Bedeutung erweist. Nicht
mehr der Fortgang der Zeit, die Chronologie, gilt als Garant für eine erlöste
Menschheit in der Zukunft. Denn, so schreibt er im Passagenwerk: »Dass es ?so
weiter? geht ist die Katastrophe.«(8) Der Titel ist Programm: Der Begriff der
Geschichte muss neu definiert werden, damit das Kontinuum der Zeit in einer
neuen Definition gesprengt werden kann. Das Ende, das es herbeizuführen gilt,
sollte demnach das der fortschreitenden Zeit selbst sein, da nur so auch der
Katastrophe ein Ende bereitet werden kann.
Benjamin revidiert hierbei
neben dem herkömmlichen Verständnis des historischen Materialismus auch
traditionelle messianische Ansichten: »Der Messias bricht die Geschichte ab;
der Messias tritt nicht am Ende einer Entwicklung auf.«(9) Benjamins Messianismus
kulminiert in der Vorstellung, dass Erlösung nicht am Ende der Geschichte
steht, sondern dass in jedem Augenblick die erlöste Menschheit die Geschichte
selbst beenden kann. Die Dringlichkeit dieser Hoffnung wird deutlich in seiner
letzten überlieferten Nachricht, datiert auf den 25. September 1940, Port-Bou: »Dans une situation sans issue, je n?ai d?autre choix que
d?en finir. ? Il me
reste pas assez de temps pour écrire toutes ces lettres que j?eusse voulu
écrire.«(10) In »Über den Begriff der Geschichte«
scheint Benjamin dem hölderlinschen »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende
auch« Realität abgewinnen zu wollen, indem er verstärkt messianische Hoffnung,
die sich nun auf das Jetzt statt eine Zukunft richtet, mit einbezieht.
Kracauer und Benjamin gilt
es, »Lumpensammlern« gleich, den verlorenen, verborgenen Dingen zu gedenken.
Der Feind, der die Toten nochmals besiegt, ist die Determinierung des
Geschehenen anhand chronologischer Überlieferung. Die lost causes wirken
aber, wird ihre Versehrtheit nicht augenfällig, in entstellter Form bis in die
Gegenwart. Ihre Entstellung ist zugleich Kronzeugin im Prozess, der der
Herrschaft der Chronologie und der damit implizierten Festschreibung der
Entwicklung als notwendig in den Texten Benjamins und Kracauers gemacht wird.
»Wie Walter Benjamin
scharfsinnig bemerkt,« schreibt Kracauer, »ist die Idee eines Fortschritts der
Menschheit vor allem deshalb unhaltbar, weil sie unlöslich verbunden ist mit
der Idee der chronologischen Zeit als Matrix eines bedeutungsvollen Prozesses.«
In dem Kapitel »Ahasver oder das Rätsel der Zeit« folgt Kracauer dem
benjaminschen Gebot, indem er das »Vertrauen in die Kontinuität des
Geschichtsprozesses und dementsprechend in die Macht chronologischer Zeit«
erschüttert. Gleichwohl verwirft er keineswegs die Bedeutung der Chronologie
für jegliche Entwicklung. »Les extrêmes se touchent: unser eigentliches Sein
und die völlig leere Art des Werdens sind miteinander verflochten.« Die
»Antinomie im Innersten der Zeit« muss nicht nur theoretisch aufrechterhalten
werden, sie bestimmt auch das Sein schlechthin. Lässt sich der Fortschrittsgedanke
spätestens durch die Erfahrung von Auschwitz per se nicht mehr aufrechterhalten,
so wird auch die Vorstellung vom Fortgang der Zeit in Bruchstücke
zerteilt.
Es zeigt sich hier der
Standpunkt eines Überlebenden, der erfahren hat, dass Geschichte trotz der
Katastrophe weiterging, trotz aller untilgbarer Erfahrung. Der Chronologie
selbst ist nicht zu entkommen, doch bedingt sie nicht alles, was sich ereignet.
Statt als letztes Glied einer Kette von Begebenheiten stellt Kracauer die
Gegenwart als Palimpsest dar, deren oberste Schicht sich nicht aus alten, nun
vergangenen Schichten entwickelte, sondern diese unter sich aufhebt, bewahrt
und gleichsam verbirgt. Sinnbild hierfür wird in Geschichte Ahasver, der
Ewige Jude. Wie die Welt gezeichnet ist von Brüchen und »Verwerfungen«, vom
Nebeneinander unvereinbarer Widersprüche, scheint der einzige Gewährsmann für
die Lösung des Rätsels der Zeit, dem »Prozess des Werdens und Vergehens«, eine
legendäre Figur zu sein: »(Wie unsagbar schrecklich er aussehen muss! Gewiss,
sein Gesicht kann nicht durch den Prozess des Alterns gelitten haben, aber ich
denke es mir aus vielen Gesichtern zusammengesetzt, von denen jedes einen der
Zeiträume spiegelt, die er durchquerte und die alle immer neue Muster ergeben,
während er auf seiner Wanderung ruhelos und vergeblich versucht, aus den
Zeiten, die ihn formten, jene Zeit zu rekonstruieren, die er zu verkörpern verdammt
ist.)«
Die Shoah bleibt Anathema in
Kracauers Schriften. Dies mag seinen Ursprung darin haben, dass für ihn das
Leiden nur darstellbar wird, wenn einzig die, die es erfahren haben, zur
Sprache kommen. Sei es der Fotograf, der Kameramann oder der Historiker: Dem
Unerträglichen der Geschichte, die »voll ist von menschlichem Leiden«, ist es erforderlich,
ohne formgebende, künstlerische Ansprüche zu begegnen, sich selbst in seiner
Subjektivität auszulöschen, um die »entsetzlichen Lebensbedingungen« in ihrer
physischen Realität aufzuzeigen. Den Überlebenden muss der Raum gegeben werden,
über das zu sprechen, wovon andere nicht sprechen können. Hier zeigt sich
Kracauers empfindsames Gespür den Gebrochenen gegenüber.
In Kracauers Denken
vollzieht sich eine Umkehrung von Benjamins revolutionär gedachter Sprengung
des Zeitflusses. Benjamin schreibt: »Das Bewusstsein, das Kontinuum der
Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer
Aktion eigentümlich.« Stellt sich bei ihm alles Gewesene als eine Zeiteinheit,
eine einzige Katastrophe dar, so sieht Kracauer Geschichte im Bild »der hohlen
Elfenbeinkugel, die ähnliche Kugeln abnehmender Größe enthält, von denen jede
frei inmitten der nächst größeren kreist«. Bei Kracauer ist Geschehenes nicht
mehr »der Fata Morgana der Einheit« verhaftet, die durch eine Neue abgelöst
werden könnte. Doch, wie auch bereits in seinem Aufsatz »Das Ornament der
Masse« von 1927, denkt er immer noch durch die Dinge »mitten hindurch« statt
über sie hinweg. Die Leerstellen zwischen den Kugeln, die schon existent sind
und nicht mehr erst herbeigeführt werden müssen, sind auch die Orte, die
Kracauer den »Pfad nach Utopia« weisen.
»Leer und homogen« jedoch
ist chronologisch geordnetes Geschehen nicht durch die Unterdrückung, die sich
in ihr vollzieht. »Leer und homogen« bleibt ein jedes Datum, weil es der
Erfahrung nicht zugänglich ist. Erinnerung ist nicht daran gebunden, das Erinnerte
zeitlich einordnen zu können.
Prousts Roman ist der
Versuch, sich seiner Kindheit bewusst zu werden. Dies gestaltet sich als ein
schwieriges Vorhaben, wovon nicht nur die vielen Bände und die zehn Jahre
währende Arbeit zeugen. Erinnerung überhaupt zeigt sich ihm immer wieder als
unmöglich, wodurch das Vergessen einen fast ebenso großen Raum einnimmt. Proust
scheidet willkürliche von unwillkürlicher Erinnerung. Was vergessen wurde,
lässt sich nicht einfach willentlich heraufbeschwören. Nur zufällig, durch eine
ähnliche Konstellation von Begebenheiten, wie die in einen bestimmten Tee
getunkte Madeleine, stellt sich plötzlich Erinnerung an längst verlorene Erlebnisse
ein.
Die Schwierigkeit, die
verlorene Zeit zu vergegenwärtigen, zeigt sich auch Benjamin: »Das wahre Bild
der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im
Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.
... Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart
zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« Die Gefahr,
die das Verschwinden evoziert und die Vergangenheit gleichsam zum Vorschein
bringt, ist, »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben«. Die vom
Brett der Erinnerung geschlagenen Schachfiguren sind ständig über das Vergessen
bedroht, erneut übergangen zu werden.
Proust malt hierfür das Bild
der drei Geisterbäume, das Kracauer wieder aufnimmt. Sie rauschen in ihren
Wipfeln eine geheime Botschaft aus der Vergangenheit, und mit gemischten
Gefühlen fährt der Betrachter vorüber, wohl wissend, dass der Dolmetscher der
alten Sprache nur dieser eine Moment sein kann: »Ganz als wollten sie sagen:
... wenn du uns am Wege wieder in das Nichts sinken lässt, aus dem wir uns bis
zu dir haben heraufheben wollen, wird ein ganzer Teil deiner selbst, den wir
dir bringen konnten, für immer verloren sein.«
Benjamins Forderung an
seinen historischen Materialisten bleibt, stehen zu bleiben, statt
weiterzufahren, das Bild aufzufangen, das ihm die Schatten der Vergangenheit
entwerfen. Kracauer erinnert an Orpheus: Ihm gelingt wohl, in Hades Unterwelt
zu fahren, seine geliebte Eurydike zu finden; auch kann er Hades überreden, sie
wieder zu den Lebenden zu bringen. Doch das Gebot, sich nicht umzudrehen,
können Orpheus wie die Historiker nicht einhalten, da nur im Blick zurück
erkannt wird, was aus dem Dunkel heraufgeholt wurde. Im ersten Sonnenlicht
fährt Eurydike wieder ins Schattenreich. Im ersten Sonnenlicht blickt der
Historiker auf das, was er der Vergangenheit entreißen wollte: und verliert die
Toten »in dem Augenblick, da sie für immer fortgehen, um in einer Geschichte zu
entschwinden, die er selbst gemacht hat«. Dies beinhaltet schon nicht mehr das
Geschichtsverständnis beider Intellektuellen, nun gilt es zu fragen, welche
Form Historiografie anzunehmen habe.
Geschichte zeigt sich
Kracauer und Benjamin in eingefrorenen Bildern. Der Historiograf Benjamins muss
das flüchtige Aufblitzen der Vergangenheit im Augenblick festhalten. Der
Historiograf Kracauers ist wie Orpheus von einer langen Reise zurückgekehrt,
und muss sich erst einmal umschauen. Die mit Spannung geladene Verbindung der
Vergangenheit mit der Gegenwart im Bild erfordert bei Benjamin höchste
Konzentration. Das Auftauchen aus dem Reich der Toten ist »eine Auferstehung in
der Traumsphäre, eine Anschauung ungreifbarer Figuren, ein Anhören
halbverstandener Wörter«. Für Kracauer ist der gegenwärtige Moment zu
vernachlässigen. Kracauer gilt, das Bild sprechen zu lassen. In diesem
Zusammenhang zitiert er Schopenhauer: »Vor ein Bild hat Jeder sich
hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen
werde; und, wie jenen, auch dieses selbst nicht anzureden: denn da würde er nur
sich selber vernehmen.« Die Gegenwart als Ausgangspunkt zu nehmen, übertönte
das leise Rauschen der Schatten.
Benjamins historischer
Materialist konzentriert sich hingegen auf die Gegenwart. In ihr muss er die
Zeit zum Stillstand bringen und dadurch das Unterdrückte dem Vergessen
entreißen. Die traditionelle, lineare Form der Historiografie als Erzählung ist
diesem Bild nicht mehr adäquat. Stattdessen soll der Historiograf in einer
Beschreibung die gesellschaftliche Vermittlung im marxschen
Basis-Überbau-Schema mit berücksichtigen, Geschichtliches als Monade aufzeigen,
so »dass im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der
gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben«. Dies wird möglich
über die Stillstellung von zeitlich Aufeinanderfolgendem zu diesem
»dialektischen Bild«, in dem die monadische Form die gesamtgesellschaftlichen
Zusammenhänge aufweist. Die von Benjamin geforderte Sprengung des Kontinuums
der Zeit ist als das Gegenteil zu denken: nicht wie in einer Explosion wird ein
Ganzes in Einzelnes zerrissen, sondern das durch die Zeit Verteilte wird in
einem Punkt zusammengeführt. Aus der leeren, chronologischen Zeit wird somit
eine erfüllte, die Vergangenheit in die Aktualität verwoben.
Bei Kracauer wird das Bild
nicht als stillstehendes festgeschrieben. Vielmehr fordert er, die »epische
Qualität« in der Geschichtsschreibung zu bewahren. Gerade Zeiten der Krisen
erforderten eine Erzählung statt einer Deutung, da Letztere sich als unmöglich
oder gar als Rechtfertigung des Geschehenen erweisen müsste. Die unweigerlich anwachsende
Katastrophe aus der Zeit des Exils, der Benjamin nur noch ein Stopp entgegenzusetzen
möglich schien, ist seit den Fünfzigern zu einer Vergangenheit geworden, die
die Frage nach der Darstellbarkeit stellt. In der Theorie des Films, die
Kracauer 1954 veröffentlichte, vergleicht er die Kamera mit dem Schild Perseus,
der es ermöglicht, dem Grauen, der Medusa, ins Antlitz zu blicken. Kracauer
weiß darum, dass die im Zuge der Reeducation durch die Konzentrationslager
geführten Deutschen dort wegsahen, wo sie in Filmen hinsehen mussten. Doch
bringt der Primat des Optischen seine Schwierigkeiten mit sich, bleibt Sehen
nicht einfach mit Verstehen gleichzusetzen. In Geschichte wird somit der
Primat des Optischen dahingehend revidiert, dass keine Darstellungsform sich
als Spiegel des Geschehenen erweist. Doch bieten fotografische Medien und
Historiografie noch am ehesten die Möglichkeit, eine adäquate Form zu finden:
»Die photographischen Medien (helfen uns), unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden,
dass sie uns sozusagen zum ersten Mal mit ?dieser Erde, die unsere Wohnstätte
ist? (Gabriel Marcel) vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu
denken, anstatt über sie hinweg. Anders gesagt, die photographischen Medien
erleichtern es uns, die flüchtigen Phänomene der Außenwelt in uns aufzunehmen
und sie so vor dem Vergessen zu erretten. Etwas Ähnliches wäre auch über die
Geschichte zu sagen.« Dass die Erde nicht bewohnbar sich zeigt, sondern Medusa
immer wieder zu viele versteinert, bringt Kracauer zu der Forderung, durch die
Form der Erzählung die Starre zu lösen. Die Versteinerungen selbst sollen somit
eine Möglichkeit erhalten, sich wieder bewegen zu können. Dies ist sein antiquarisches
Interesse, seine Sehnsucht für die Toten.
Die Distanzierung, die die
Kamera schafft, muss der Historiker dementsprechend in einem ersten Schritt
übernehmen, indem er sich selbst auslöscht, um die Toten sprechen zu lassen.
Ohne Selbstauslöschung wäre die Gefahr zu groß, dass der Historiker sich zum
Künstler machte, und der »formgebenden Tendenz« mehr Gewicht als der notwendigen
»realistischen Tendenz« verlieh. Neben dem realistischen Ansatz ist Empathie
für die Botschaft Kracauer das Wichtigste, um der von Subjektivität und
Gegenwart-Interesse verfärbten Darstellung zu entgehen, die die Vergangenheit
wieder Hades überließe. »Without the gift of empathy, the historian would be
lost«, schreibt er an den Rand zu Benjamins These, der historische Materialist
müsse mit der Einfühlung brechen, um »des echten historischen Bildes sich zu
bemächtigen, das flüchtig aufblitzt.« Einfühlung macht sich Benjamin immer zur
Komplizin der Sieger, denn so wie kein Dokument »frei ist von Barbarei, so ist
es auch der Prozess der Überlieferung nicht«. Nur als distanzierter Betrachter
wird es Benjamin gemäß dem Historiker möglich, auch die »namenlose Fron der
Zeitgenossen« an der Entstehung der Kulturgüter aufzuweisen.
Kracauer übernimmt die
Forderung nach Distanz, aber erweitert sie: Orpheus wird bei seiner Rückkehr
aus dem Hades ein anderer sein, taucht nicht an derselben Stelle wieder auf, an
der er seine Reise begann. Die Selbstauslöschung des Historikers wird, wenn er
sich zurücklehnt und auf die Aussage seines Gegenstandes achtet, zu einer
Selbsterweiterung durch die Aufnahme fremder Erfahrung als seine eigene. Die
Antinomie von Selbstauslöschung und Selbsterweiterung vereint sich im Bild des
Exilierten, der als Fremder an einem fremden Ort keine Wurzeln hat, die seine
Deutung verfälschen könnten, die Distanz vielmehr schon in sich trägt. Nur als
solcher lässt sich für Kracauer echte Geschichte verfassen. So ist auch der
Historiker als Exilierter einem Palimpsest vergleichbar: Seine Selbstaufgabe
lässt »sein früheres Ich unter seinem jetzigen weiterschwel(en)«, seine früheren
Sehnsüchte sind immer noch vorhanden, aber »von ihren Wurzeln abgeschnitten.
Seine Lebensgeschichte ist zerrissen«. So wie der Exilierte niemals ganz weder
der alten noch der neuen Gemeinschaft angehören kann, so sollte auch der
Historiker ein den Zeiten entfremdeter, ein »Kind von mindestens zwei Zeiten«
bleiben. Der exilierte Historiker, so könnte man sagen, ist durch sein eigenes
Leid, heimatlos zu sein, empfänglich für das der Anderen, das zu groß war.
Benjamin aber ist die
Einfühlung in den Abfall der Geschichte keineswegs fremd. Die kleinen Gesten
sind es, die ihn an Kafkas Schriften faszinieren, die aus dem Zusammenhang
heraus große Bedeutung erlangen. Kafka ist ihm ein Prophet des entstellten
Lebens, dessen Darstellung immer über sich selbst hinausweist. In der Strafkolonie
zeigt sich die Last einer bei Kafka stets zentralen und doch zunächst
undefinierbaren Schuld im Rücken: »Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die
Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen
Wunden.«(11) Die Wunden werden den von einer ebenso unbestimmten Autorität
Verurteilten als Strafe von einer monströsen Foltermaschine in den Rücken
eingraviert. Erlösung bei dieser Erzählung Kafkas wird gleichgestellt mit der
Fähigkeit, die Schrift zu lesen, die Schuld, den Grund der Strafe, zu
entziffern. Rettung sieht Walter Benjamin hierbei: »... ob Mensch, ob Pferd ist
nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist«.(12) Im
Aufzeigen des entstellten Lebens wurzelt ihm zufolge die Fähigkeit, die Schwere
der Last, den Wunden nicht ihren Namen geben zu können, zu erleichtern. Erst
das Benennen der vorgeworfenen Schuld löst Gerechtigkeit bei Kafka. Erst das
Aufzeigen der »Tradition der Unterdrückten« als Regel statt »Ausnahmezustand«
löst in Benjamins Geschichtstheorie die Kraft des Klassenkampfes »als
Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit«. Im Aufweisen der
Unterdrückung liegt der Anspruch auf Befreiung, liegt der Verweis auf die Notwendigkeit
der Erlösung, der Anspruch, sich »der Sonne ... zuzuwenden, die am Himmel der
Geschichte am Aufgehen ist.«
In Kafkas Schriften findet
sich ein Mann, der sich von der herrschaftlichen Willkür einer Autorität
befreite, auf den Walter Benjamin wie Siegfried Kracauer sich beziehen:(13)
»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der
Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und
Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von
sich abzulenken, dass dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte,
die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte
sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte
gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don
Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung
bis an sein Ende.«(14)
Don Quixote, der Inbegriff
der wechselseitigen Durchdringung von Schrift und Welt, der Dialektik von
Konkretem und Abstraktem, wird hier von seiner eigentlichen Aufgabe, Herrschaft
über seinen Knecht auszuüben, über Literatur abgelenkt. Hier wurzelt zum einen
die Hoffnung Benjamins auf Veränderung der Realität durch Theorie. Weder Benjamin
noch Kracauer bleiben bei einer dialektischen Interpretation: Bei Benjamin
erzeugt die konkrete Gefahr die Notwendigkeit, ein Apriori der Theorie zu
behaupten. Bei Kracauer erzeugt die Unmöglichkeit einer allumfassenden Theorie,
die eine »nützliche Unterhaltung« und nicht mehr darstellt, die Notwendigkeit,
auf ein Apriori des Konkreten zu bauen und zu hoffen, dass sein Aufnehmen in
die Geschichtsschreibung mithilfe der Distanz Einsicht in das wirkliche Sein
ermöglicht. Doch bleibt beiden die Stelle im Gedächtnis haften als ein Hinweis,
dass im Kleinen Großes geändert werden kann.
In ihren utopischen
Vorstellungen gehen Walter Benjamin und Siegfried Kracauer nicht von einer
fernen Zukunft als Ende der Geschichte aus. Utopie findet sich vielmehr als
Hoffnung, im Aktuellen endlich wieder aufatmen zu können.
»Gegenwart« ist bei Benjamin
also kein Bindeglied mehr zwischen »Vergangenheit« und »Zukunft«, sondern die,
in der jederzeit die Erlösung möglich ist, und die demnach »in der Zeit einsteht
und zum Stillstand gekommen ist«. Deswegen muss das Jetzt mit Vergangenheit
gefüllt werden, beide Zeiten zu einer einzigen im »dialektischen Bild«
festgehalten werden. Das Glück wie die Erlösung sind hierbei im Eingedenken aus
der Gegenwart an verlorene Vergangenheit inbegriffen, sie sind die
revolutionäre Stillstellung des Fortgangs der Zeit, die ein Schreiten der
Sieger über Besiegte, der Ausbeutung von Menschen und Natur mit sich bringt.
Das, was im herkömmlichen Verständnis Zukunft ist, ist Benjamin nur eine
Verlängerung der gegenwärtigen Katastrophe.
Da über Geschichtsschreibung
Momente der Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben werden können, trägt
diese gleichsam die messianische Kraft, die einer jeden Generation innewohnt.
Denn Benjamin bleibt nur noch die Hoffnung, das entstellte Leben werde »verschwinden,
wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, dass er nicht mit
Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen
werde«. Je mehr vor dem Vergessen errettet wurde, desto geringer ist der
Unterschied zum messianischen Reich, dem letztlich jeder Moment der
Vergangenheit aufgehoben sein wird. Hoffnung, wieder atmen zu können, verengte
sich für Benjamin durch seine Erfahrungen auf den messianischen Glauben. Ist
Rettung über Erinnern der Weg, den es zu beschreiten gilt, bleibt Erlösung
Benjamin zufolge nicht mehr im Kleinen, sondern nur noch als Ganzes möglich.
Bei Kracauer kann
Geschichtsschreibung dazu dienen, den letzten Dingen vor den letzten einen Raum
zu geben. Dieser Raum bleibt jedoch ein Vorraum, ein Transit, ein vorläufiger
Aufenthaltsort. Utopia liegt dahinter, und Kracauer sucht im Dickicht seiner
Zeit und der Vergangenheit die Wegweiser dorthin. Er findet sie in einer jüdischen
Legende, die berichtet, dass in jeder Generation 36 Gerechte wohnen, die, gerade
weil sie nicht um ihre Bedeutung wissen, die Welt vor ihrem Untergang bewahren.
Sie zu finden, macht Kracauer in der Einführung in Geschichte zu einer
seiner Hauptaufgaben. Hierbei geht es ihm nicht so sehr um das Aufweisen
bestimmter Personen, sondern vielmehr um das, was in ihrem Verhalten eine
bessere Welt möglich macht. So ist Erasmus vor allem einer, der sich vor
Autorität scheut. Statt eine falsche theoretische Einheit aufrechtzuerhalten,
werden seine Schriften von einer »innere(n) Zweideutigkeit« bestimmt. Die
wahre, utopische Kraft liegt für Kracauer genau darin, die Brüche, die die Welt
bestimmen, auszuhalten und zu benennen. Jeder Versuch einer Theorie, die auf
das große Ganze zielt, ginge an der Wirklichkeit vorüber.
Hoffnung lässt sich über
eine kunstvolle Geschichtsschreibung, eine taktvolle Erinnerung an die Toten
aufrechterhalten. Kunstvoll, indem sie in einer »Ursprünglichkeit« den Riss der
Welt mit berücksichtigt, die Balance hält zwischen den Antinomien formgebender
und realistischer Tendenzen der Erzählung, der Selbstauslöschung und Selbsterweiterung
des Historikers, der Mikro- und der Makroebene, zwischen denen der chronologisch
fortschreitenden Zeit und den Zeiträumen, die den Dingen eigen sind. Was nach
dem Vorraum steht, ist mit Kracauers Bild von einer Leinwand verdeckt. Hier
kommen Ideen ins Spiel: Manchen Theorien, wie etwa dem marxschen
Basis-Überbau-Modell, gelingt es, die konkreten Dinge in eine Konstellation zu bringen,
wodurch sie Einblick in einen Teil der Wahrheit ermöglichen. Sie durchlöchern
die Leinwand, doch bleiben diese kleine Flecken auf einem großen Tuch.
Der messianischen Hoffnung
Benjamins ist Kracauer nicht fern. Hierauf verweist der Vorraum als Wartehalle
ebenso wie die Leinwand. Sein antiquarisches Interesse, sein wiederholtes
Betonen der Sehnsucht nach den verlorenen Dingen, ließe sich mit messianischem
Denken vergleichen. Die Unmöglichkeit, das, was die Welt im Innersten zusammenhält,
zu erkennen und zu begreifen, verweist auf das Bilderverbot in zwei Richtungen.
Zum einen lässt sich kein Bild machen von der erlösten Menschheit ? die Leinwand
steht davor. Zum anderen liegt hier die Unmöglichkeit einer adäquaten
Spiegelung der physischen Realität selbst verwurzelt. Doch die Forderung, den
Namenlosen einen Namen zu geben, und die Hoffnung, dass dies über eine neue
Geschichtsschreibung gelingen könnte, zeigt den Wunsch Kracauers, mit dem
Bilderverbot zu brechen. Seine Utopie lässt sich nicht mit einer theologischen
Tradition gleichsetzen, sein Geschichtsverständnis bleibt materialistisch, die
Erkenntnis aus Erfahrung an die konkreten Dinge geheftet.
Am 16. Oktober 1960 schrieb
Kracauer an Adorno: »Wir denken noch viel an das Zusammensein mit Dir und
Gretel im Hotel Sonnenheim bei strömenden Regen. Es war gut sich einmal
ausgesprochen zu haben. Glaubst Du nicht auch? Ich hatte mir das sehr
gewünscht.«(15) Ihre Auseinandersetzung über Utopie, ihr Verständnis von Dialektik
und Ontologie, fand keineswegs zu einem Abschluss. Immer wieder taucht in ihren
Briefen der Wunsch auf, sich genauer über ihre theoretischen Differenzen
auszutauschen. Nach Kracauers Tod schrieb Adorno: »Bis zuletzt war zu hoffen,
dass alle Fragen, die sein denkendes Verhalten aufwarf, in der lebendigen
Diskussion mit ihm weitergetrieben werden könnten, so wie er in der Jugend ein
dialogisch Philosophierender war.«(16)
So tauchen viele
Gedankengänge Kracauers bereits in Adornos Aufsatz »Fortschritt« (1962) in
anderer Begrifflichkeit und Konstellation auf. Der exilierte Fremde Kracauers
ist bei Adorno der sich Entringende, Entfremdung ist bei ihm das Entkommensein.
Der Riss Kracauers zeigt sich Adorno als Nicht-Identisches, Identität ist der
ausgeübte Zwang dogmatisierender Theorien, das Unpassende zu unterdrücken.
Utopie ist bei Adorno eine Verwirklichung des Begriffs Menschheit, die erst in
einer zwanglosen Totalität sich herstellen kann: »Am einfachsten ist das zu
verdeutlichen durch die Bestimmung von Menschheit als des schlechterdings
nichts Ausschließendem. Würde sie eine Totalität, die in sich selbst kein
begrenzendes Prinzip mehr enthält ..., so wäre sie Totalität nicht länger:
keine erzwungene Einheit.«(17) Adornos Kritik am Zwang zur Anpassung zielt auf
das Verhältnis von Begriff und Bezeichnetem. Wie im der Gesellschaft zugrunde
liegenden Tauschverhältnis wird im Bezeichnen die Illusion eines Tausches von
zwei Gleichen evoziert, wo in Wahrheit immer ein Mehr den gesellschaftlich
Mächtigeren zufällt. Dies verdeckte Missverhältnis gilt es ihm radikaler
hervorzuheben noch, soll Aufhebung im dialektischen Sinne vollzogen werden,
indem negiert, bewahrt und auf eine höhere Ebene gebracht wird. Der Begriff des
Fortschrittes soll dem Schein entrungen werden, wahrer Fortschritt habe bereits
stattgefunden, ohne den sich ereignenden Fortschritt der Naturbeherrschung zu
verwerfen. So hat Fortschritt überhaupt noch nicht stattgefunden, doch das, was
dafür gehalten wird, ist der Weg zu dem wahren, der erst eintritt, wenn die
Totalität wiederum sich aufhebt. Erst wenn der Tausch nicht mehr Lüge ist,
sondern wahrlich Gleich um Gleich getauscht wird, verschwindet dieser. Erst
wenn der Fortschritt zu sich selbst gekommen ist, ist Menschheit als Anderssein
ohne Angst denkbar. Der Fortschritt der Naturbeherrschung erzeugt die
Möglichkeit, dass der wahre in jedem Augenblick beginnen könne. Der Begriff
Fortschritt darf demnach nicht empirisch gelähmt werden, da er sonst nicht mehr
verheißt, was er verspricht zu sein: »Antwort auf den Zweifel und die Hoffnung,
dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen dürfen.«(18)
Kracauer kritisiert Adornos
Festhalten an der »schwebenden« Wahrheit seiner immanenten Dialektik: »I cited
Benjamin against him. Does not Benjamin, I continued, time and again feel
him bound by visions of partial ontological truths? And does he not orient his
penetrations of concrete entities toward these Messianic visions which are rich
in content, as indeed Utopian ideas should be in order to carry meaning?«(19)
So muss Adorno die Erlösung außerhalb der sinnlich erfahrbaren Sphäre
aufsuchen, bleibt der echte Fortschritt in einer Abstraktion als das noch nicht
Verwirklichte. Kracauer und Benjamin
gehen von unten nach oben, Erfahrung im Konkreten wird der Ausgangspunkt der
Erkenntnis sowie der Möglichkeit der Erlösung. Adorno hingegen, der die
Dialektik als das alles Bestimmende als Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis
begreift, sieht mit Benjamin Erlösung nur als Ganzes möglich, auch wenn er die
Rettung im Einzelnen nicht abstreitet: »Gut ist das sich Entringende, das, was
Sprache findet, das Auge aufschlägt.«(20) Muss die Totalität, die eine negative
ist, im Ganzen abgelöst werden, so sind doch auch die Freiheiten Kracauers in
den Rissen Adorno nicht unbekannt. Auch er hält an der Möglichkeit des
Sichentringens fest, allerdings gibt es dies nur als nicht vollendete
Anstrengung, Entrungensein bleibt für Adorno erst in der erlösten Menschheit
möglich. Kracauer bleibt die Totalität Adornos, bleiben die letzten Dinge
hinter der Leinwand verborgen, weder messianische noch dialektische Hoffnung
können die erlöste Menschheit zu einer erfahrbaren machen.
All diese Überlegungen
Benjamins, Adornos und Kracauers zeugen davon, dass sie, wie Adorno schrieb,
»ebenso sich berühren, wie sie davon sich unterscheiden. Damit ist ja wohl
genau die Sphäre des Dialogs umschrieben, den unsere Sachen von sich aus schon
anstellen, ehe wir als Personen recht dazu kommen.«(21)
So wenig Geschichte ?
Vor den letzten Dingen ein abgeschlossenes Ganzes darstellt, so wenig ist der Meinungsaustausch zu
Ende geführt worden. Hier wurden Ausschnitte eines Dialogs aus einer
Vergangenheit aufgenommen, der weitergeführt werden kann über die Erinnerung an
die Hoffnungen der Toten, dass die erlöste Menschheit zu keiner Illusion sich
wendet. Hierbei spielten die zeitgenössischen Erfahrungen eine wichtige Rolle.
Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« bietet somit nicht nur einen immer
noch neuen Zugang zum Geschichtsverständnis. Da politische Ereignisse seiner
Zeit seinem Text eingeschrieben bleiben, geben sie gleichsam Zeugnis über die
Erfahrung, die er in seiner Stellung als materialistischer Intellektueller und
als Gegner des Nationalsozialismus machen musste. Dies verleiht seinen Thesen
ihre eigentümliche Faszination. Kracauers postume Korrespondenz ist mehr als
nur Erinnerung an einen alten Freund. Es ist zugleich ein Rekurs auf eine
Theorie, die aus Erfahrung spricht, die sich aus dem konkreten Kontakt mit den
Verhältnissen der Zeit ergab. Kracauer kehrte nach Kriegsende nicht mehr nach
Deutschland zurück und hielt sich im Niemandsland, »wie ein aufs Land gesetzter
Fisch«.(22) Das Thema der Shoah spart er nicht aus, doch nimmt sie keinen
absoluten Stellenwert in seinem Geschichtsverständnis ein. Das Leid, auf das er
rekurriert, ist nicht beschränkt auf das der Opfer der Shoah.
In Geschichte wird
deutlich, dass sein Denken kein statu nascendi einer Idee ist, die eine
radikale Kritik an den herrschaftlichen Verhältnissen der Welt darstellt. Auch
spricht hier nicht die Hoffnung eines Hoffnungslosen; vielmehr zeigt sich die
Möglichkeit, den Hoffnungslosen Hoffnung zu schenken, da sie die Notwendigkeit
unterstreicht, gerade ihnen Raum und Ohr zu leihen, dass sie endlich sprechen
können. Dies bohrt Löcher in die Leinwand, die stets daran hindert, die wahren
Möglichkeiten eines Fortschritts zu erkennen. Adorno hoffte über seine
Philosophie in Deutschland das Denken nach Auschwitz dahingehend zu verändern,
»dass Auschwitz nicht noch einmal sei«.(23) Benjamins dringende Forderung nach
einer sofortigen Umwälzung der Verhältnisse musste in den Nachkriegsjahren
durch die Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus zu einer Forderung nach
Anerkennung des Erlebten werden. Die von Gewalterfahrung evozierten Schmerzen,
die bei Kracauer und Adorno in ihrer Vergangenheit liegen, erschweren sonst
allein schon die Erinnerung. Dies als Aufgabe der Geschichte zu setzen ist das
Verdienst Walter Benjamins wie Siegfried Kracauers und auch Adornos.(24)
1
Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: Ders.: Gesammelte
Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft II, hrsg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt am Main 1977, Bd. 10.2, S. 617?638, S. 617.
2
Kracauer in einem Brief an Adorno vom 8. November 1963, in:
Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel 1923?1966, hrsg. v.
Wolfgang Schopf, Frankfurt am Main 2008, S. 621.
3
Zit. nach: Michael Klaus: »Vor dem Café. Walter Benjamin und
Siegfried Kracauer in Marseille«, in: Aber ein Sturm weht vom Paradies her.
Texte zu Walter Benjamin, hrsg. v. Michael Opitz, Leipzig 1992, S. 209.
4
Brief von Soma Morgenstern an Gershom Scholem vom
21.12.1972, zit. nach: Puttnies, Hans/Smith, Garry (Hrsg.): Benjaminiana.
Eine biographische Recherche; im Zus. m. d. Ausstellung »Bucklicht Männlein
und Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne« v.
28.12.90?28.4.91 (Berlin), Gießen 1991, S. 202 f.
5
Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in:
Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann
Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, Bd. I.2, S. 691?704. Alle Zitate im Folgenden
hieraus.
6
Kracauer, Siegfried: »Geschichte ? Vor den letzten Dingen«,
in: Ders.: Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke, Frankfurt am
Main 2009, Bd. 4. Hieraus auch die folgenden, nicht extra ausgewiesenen Zitate.
7
Adorno Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel,
2008, S. 11.
8
Benjamin, Walter: »Das Passagenwerk. Aufzeichnungen und
Materialien«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt am Main 1982, Bd. V.1, S. 79?654, S. 592.
9
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Anmerkungen
der Herausgeber, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am
Main 1974, Bd. I.3, S. 1243.
10
»Ich habe, in einer ausweglosen Situation, keine andere
Wahl, als ein Ende zu setzen. ... Mir bleibt nicht mehr die Zeit, all die
Briefe zu schreiben, die ich hätte schreiben wollen.« (Übers. V. M.) Zit. n.: Schiavoni, Giulio/Benjamin, Walter: Il
figlio della felicità. Un percorso biografico e concettuale, Torino 2001,
S. 365.
11
Kafka, Franz: »In der Strafkolonie«, in: Ders.: Gesammelte
Werke, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt am Main 1983, Bd. 4, S. 151?180, S.
160.
12
Benjamin, Walter: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr
seines Todestages«, in: GS II.2, S. 438.
13
Benjamin, Walter: »Franz Kafka, Zur zehnten Wiederkehr
seines Todestages«, in: GS II.2, S. 438; Kracauer, Siegfried: »Franz
Kafka«, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, S.
256?268, S. 263; und in: Ders.: Geschichte, 2009, S. 237<|>f.
14
Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere
Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt am Main 2008, S. 167.
15
Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel,
2008, S. 513.
16
Adorno, Theodor W.: »Nach Kracauers Tod«, in: Kracauer,
Siegfried: Werke, 2009, Bd. 4., S. 431?434, S. 434.
17
Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S.
619 f.
18
Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S.
617.
19
Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel,
2008, S. 516.
20
Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S.
622.
21
Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel,
2008, S. 519 f.
22
Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel,
2008, S. 556.
23
Adorno, Theodor W.: »Erziehung nach Auschwitz«, in: Ders.: Gesammelte
Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft II, hrsg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt am M. 1977, Bd. 10.2, S. 674?690, S.
674.
24
Ich danke Jörg Später für die anregenden Gespräche, die
gemeinsame Lektüre und seine redaktionelle Arbeit an diesem Artikel.