Vera Marstaller

 

Fortschreitende Zeit und anhaltende Erinnerung

 

Kracauers vorletzter Dialog mit Benjamin

 

 

 

In seinem letzten, unvollendeten und nun neu aufgelegten Buch »Geschichte ? Vor den letzten Dingen« führte Siegfried Kracauer zahlreiche Korrespondenzen über alle wissenschaftlich disziplinären Grenzen hinweg. Literatur und Philosophie spielten eine wichtige Rolle für eine besondere Methodik und Ästhetik der Geschichtsschreibung. Doch hinter den transparenten Dialogen verbirgt sich ein lang geführtes Gespräch mit Walter Benjamin und Theodor Adorno. Ein Nachdenken über die Zeit, die Wunden der gegenwärtigen, die verloren vergangene, die fortgeschrittene, Sein und Schein des »Fortschritts«, zwischen Zweifel und Hoffnung.

 

Zweifel und ... Hoffnung, dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen können«(1) ? Zweifel und Hoffnung weisen den Horizont der sprachlichen Bilder in Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte ebenso wie in Siegfried Kracauers Geschichte ? Vor den letzten Dingen. Zweifel und Hoffnung, wieder atmen zu können, sind von ihrer Gegenwart gezeichnet: Gegenwart, die sich zum einen 1940 abspielt, in Marseille, unter dem Druck Nerven verzehrenden Wartens im Transit, und die zum anderen von der Exterritorialität des Emigranten geprägt ist, in einem zum Aufenthaltsort gewendeten Exil, in den Sechzigern, in New York, »weil es diese Exterritorialität ermöglicht«.(2) Gegenwart, die 1940 im unmittelbaren Umfeld des »Zivilisationsbruchs« (Dan Diner) steht, der als Vergangenheit auch 1960 in den USA den Überlebenden gegenwärtig bleibt.

»Das bisschen Fassung«, schrieb Walter Benjamin 1933 an Gershom Scholem, »das man in meinen Kreisen dem neuen Regime entgegengebracht hat, ist rasch verbraucht und man gibt sich Rechenschaft, dass die Luft kaum mehr zum Atmen ist; ein Umstand, der freilich dadurch an Tragweite verliert, dass einem die Kehle zugeschnürt wird.«(3) Luft konnte auch Siegfried Kracauer in Marseille nicht mehr atmen. In der Erinnerung Soma Morgensterns antwortete er auf dessen Frage, was aus ihnen werde: »Soma, wir werden uns hier alle umbringen müssen.«(4) Kracauer gelang letzten Endes die Flucht vor denen, die ihn als materialistischen Intellektuellen jüdischer Abstammung nicht verschont hätten. Benjamin, in derselben Situation, nahm sich an der Grenze zu Spanien das Leben.

In Benjamins Gepäck befand sich das Manuskript seiner geschichtsphilosophischen Thesen, seine letzte, nicht vollendete Arbeit. Es ist der durch den Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes furchtbar gewachsene Zweifel, der die Hoffnung sucht, als keine mehr haltbar zu sein scheint, der aus den Bildern spricht. Sinnbild hierfür wurde ein Engel aus einem Bild von Paul Klee. In Benjamins Deutung haben sich die Flügel dieses Engels im Sturm des Fortschrittes so verfangen, dass er sie nicht mehr schließen kann und ihm somit verwehrt wird, zu verweilen, um »das Zerschlagene zusammenzufügen«. Er wendet der Zukunft den Rücken zu und blickt auf die Vergangenheit als »eine einzige Katastrophe«, deren Trümmer bis an den Himmel reichen.(5) 1966 hinterließ Kracauer sein durch seinen Tod unvollendetes Buch History ? The Last Things Before The Last. Das Buch ist gezeichnet von einem post-melancholischen Klima, in dem der sich mit Hoffnung die Waage haltende Zweifel eines von den Nazis Vertriebenen durchscheint. Auch hier bleibt die Theologie »ein Glutkern mit Hoffnung« (Heiner Müller), der ihn für das »sprachlose Plädoyer der Toten«(6) empfänglich macht. Der hier kurz umrissene Horizont lenkt den Blick beider Intellektueller auf die unabgeschlossene Vergangenheit, stellt ihnen die Frage, wie das, was wirklich gewesen ist, als Text zu vergegenwärtigen bleibt, um endlich atmen zu können.

 

»Geschichte ? Vor den letzten Dingen«

Die vorletzten Dinge vor den letzten sind es, die Kracauer in seiner unvollendet gebliebenen Arbeit in den Bann ziehen. Dass sein Tod 1966 das Buch in einem fragmentierten Zustand hinterließ, ist wie eine letzte Bestätigung Kracauers Philosophie des Vorläufigen, die er zeit seines Lebens verfolgte. Drängte es ihn schon jeher, Einsicht in ein großes Ganzes der Welt zu erlangen, zeigte diese sich ihm jedoch immer wieder nur in Brüchen. Seine letzte Schrift weist in ihren sokratischen Befragungen viel Erfahrenes auf, nur eines nicht: Einheitlichkeit. Für Kracauer geht Erkenntnis immer aus der konkreten Erfahrung hervor. Erfahrbar jedoch ist nicht die Totalität eines die Welt umfassenden Ganzen, erfahrbar bleibt umso mehr die totalitäre Wirkung postulierter Zusammengehörigkeit. Hin- und hergerissen bleibt Erkenntnis zwischen Konkretem und Abstraktem. Hin- und hergerissen bleibt der Mensch in verschiedenen Gemeinschaften. Eine beinahe unlösbare Aufgabe scheint es Kracauer, allein vom eigenen Ich ein widerspruchsfreies Bild zu erlangen. Wie viel schwerer gestaltet sich der Kontakt mit anderen, da »nicht nur kein Mensch ein Ganzes ist, sondern es auch schlichtweg unmöglich ist, einen Menschen zu kennen, weil er sich verändert, während wir unsere ursprünglichen Eindrücke von ihm zu klären suchen«. Nichts lässt sich nach Kracauer als ewiges Gesetz ausmachen, nach dem man sich richten könnte. Doch scheint gerade eine »Sehnsucht nach Synthese« sein Umfeld seit jeher zu zeichnen.

Immer wieder entstand ausschließende Einheit auch in den Köpfen, im Denken, das sich absolut gibt. Dies zeigt sich in Kracauers Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno, seit sie sich 1923 in Frankfurt kennengelernt hatten: »Der Riss der Welt geht auch durch mich«,(7) schrieb er in einem seiner ersten Briefe. Der Riss war es, der ihn hinderte, seinem Wunsch nach Gemeinschaft, der ihn nicht selten nahezu verzehrte, nicht gänzlich nachgehen zu können, er hielt ihn ab, sich den Ansprüchen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung anzupassen, der Riss hielt ihn im Niemandsland, der Exterritorialität. Der Riss, der ihn der Welt entfremdete, wird in seinem 250 Seiten starken letzten Buch der Nicht-Ort der Utopie, die Möglichkeit zur Freiheit wie auch zur Wahrheit. Die Erfahrung, dass die Welt und ihre Geschichte vor allem in ihrer Zerbrechlichkeit sich zeigt, machte ihn empfindsam für die entstellten, ausgenutzten Dinge, die sich in seinen Romanen Ginster und Georg bereits vermischten mit den Menschen selbst, als Ausdruck der Verdinglichung der Menschen über ihre Identifikation mit ihrem Besitz, Personifizierung der Dinge durch ihre mächtige Wirkung auf alles Lebendige. In Geschichte tauchen die Dinge wieder auf, in ihrem beschädigten Zustand ebenso wie in ihrer Verlorenheit, mit der Forderung, den »lost causes« endlich einen Namen zu geben.

Die Radikalität seiner Kritiken aus früherer Zeit, etwa an der kapitalistischen Moderne, tritt in seinen Überlegungen über Geschichte zurück. Entfremdung ist für Kracauer nun, was es radikal durchzuführen gilt. Entfremdung von der Gegenwart über das Aufzeigen des Namenlosen in fotografischen Medien, über das Dazwischenschalten des Objektivs zwischen Auge und Betrachtetem, Entfremdung von den Einflüssen der Gegenwart über Geschichtsschreibung, die Einsicht lehrt, dass die Welt in unauflösbaren Antinomien sich zeigt. War der Riss zu Anfang seiner immer wieder schmerzhaften Freundschaft mit Adorno vielleicht noch so klein, dass Hoffnung auf Heilung seine Schriften leiten konnte, so ist er in Geschichte zu einem ganzen Hohlraum geworden, vielmehr Hohlräumen im Plural, die überall sich zeigen: Hohlräume zwischen dogmatisierenden Theorien von Marxismus bis zum Historismus, im Ich zwischen verschiedenen Bewusstseinsstadien, in jeder Gruppierung zwischen Teilen, die sie als Gemeinschaft zeichnen, und denen, die als unpassend unterdrückt werden, zwischen einzelnen Zeiten, die sich nicht über ihre Abfolge auch bedingen.

Sein Interesse an der Geschichte gilt der Geburtsstunde großer Ideen. Der Geburtsstunde, da sie Neues bringt, dem immer ein Zauber innewohnt, wie einer neuen Freundschaft, aus der heraus die Welt sich in einem neuen Licht zeigt. Den Ideen, da sie alle einen Kern Wahrheit beinhalten, zwar nicht das große Ganze betreffen können, aber solange sie dies auch noch nicht in Anspruch nehmen, relevante Einsichten bieten. Nichts wird letztlich verworfen in Kracauers letztem Buch, außer eines: der Anspruch auf Einblick in eine einheitliche Totalität. Sein zweites Interesse an der Vergangenheit ist dennoch ein theologisches: die Sehnsucht nach den Toten um ihrer selbst willen.

 

Von der Herrschaft der chronologischen Zeit

Benjamins Nachdenken »Über den Begriff der Geschichte« zeichnet in 18 verdichteten Thesen einen »historischen Materialismus«, der dem von Marx erhofften Ende der Geschichte unter Zuhilfenahme theologischer Momente eine neue Bedeutung erweist. Nicht mehr der Fortgang der Zeit, die Chronologie, gilt als Garant für eine erlöste Menschheit in der Zukunft. Denn, so schreibt er im Passagenwerk: »Dass es ?so weiter? geht ist die Katastrophe.«(8) Der Titel ist Programm: Der Begriff der Geschichte muss neu definiert werden, damit das Kontinuum der Zeit in einer neuen Definition gesprengt werden kann. Das Ende, das es herbeizuführen gilt, sollte demnach das der fortschreitenden Zeit selbst sein, da nur so auch der Katastrophe ein Ende bereitet werden kann.

Benjamin revidiert hierbei neben dem herkömmlichen Verständnis des historischen Materialismus auch traditionelle messianische Ansichten: »Der Messias bricht die Geschichte ab; der Messias tritt nicht am Ende einer Entwicklung auf.«(9) Benjamins Messianismus kulminiert in der Vorstellung, dass Erlösung nicht am Ende der Geschichte steht, sondern dass in jedem Augenblick die erlöste Menschheit die Geschichte selbst beenden kann. Die Dringlichkeit dieser Hoffnung wird deutlich in seiner letzten überlieferten Nachricht, datiert auf den 25. September 1940, Port-Bou: »Dans une situation sans issue, je n?ai d?autre choix que d?en finir. ? Il me reste pas assez de temps pour écrire toutes ces lettres que j?eusse voulu écrire.«(10) In »Über den Begriff der Geschichte« scheint Benjamin dem hölderlinschen »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« Realität abgewinnen zu wollen, indem er verstärkt messianische Hoffnung, die sich nun auf das Jetzt statt eine Zukunft richtet, mit einbezieht.

Kracauer und Benjamin gilt es, »Lumpensammlern« gleich, den verlorenen, verborgenen Dingen zu gedenken. Der Feind, der die Toten nochmals besiegt, ist die Determinierung des Geschehenen anhand chronologischer Überlieferung. Die lost causes wirken aber, wird ihre Versehrtheit nicht augenfällig, in entstellter Form bis in die Gegenwart. Ihre Entstellung ist zugleich Kronzeugin im Prozess, der der Herrschaft der Chronologie und der damit implizierten Festschreibung der Entwicklung als notwendig in den Texten Benjamins und Kracauers gemacht wird.

»Wie Walter Benjamin scharfsinnig bemerkt,« schreibt Kracauer, »ist die Idee eines Fortschritts der Menschheit vor allem deshalb unhaltbar, weil sie unlöslich verbunden ist mit der Idee der chronologischen Zeit als Matrix eines bedeutungsvollen Prozesses.« In dem Kapitel »Ahasver oder das Rätsel der Zeit« folgt Kracauer dem benjaminschen Gebot, indem er das »Vertrauen in die Kontinuität des Geschichtsprozesses und dementsprechend in die Macht chronologischer Zeit« erschüttert. Gleichwohl verwirft er keineswegs die Bedeutung der Chronologie für jegliche Entwicklung. »Les extrêmes se touchent: unser eigentliches Sein und die völlig leere Art des Werdens sind miteinander verflochten.« Die »Antinomie im Innersten der Zeit« muss nicht nur theoretisch aufrechterhalten werden, sie bestimmt auch das Sein schlechthin. Lässt sich der Fortschrittsgedanke spätestens durch die Erfahrung von Auschwitz per se nicht mehr aufrechterhalten, so wird auch die Vorstellung vom Fortgang der Zeit in Bruchstücke zerteilt.

Es zeigt sich hier der Standpunkt eines Überlebenden, der erfahren hat, dass Geschichte trotz der Katastrophe weiterging, trotz aller untilgbarer Erfahrung. Der Chronologie selbst ist nicht zu entkommen, doch bedingt sie nicht alles, was sich ereignet. Statt als letztes Glied einer Kette von Begebenheiten stellt Kracauer die Gegenwart als Palimpsest dar, deren oberste Schicht sich nicht aus alten, nun vergangenen Schichten entwickelte, sondern diese unter sich aufhebt, bewahrt und gleichsam verbirgt. Sinnbild hierfür wird in Geschichte Ahasver, der Ewige Jude. Wie die Welt gezeichnet ist von Brüchen und »Verwerfungen«, vom Nebeneinander unvereinbarer Widersprüche, scheint der einzige Gewährsmann für die Lösung des Rätsels der Zeit, dem »Prozess des Werdens und Vergehens«, eine legendäre Figur zu sein: »(Wie unsagbar schrecklich er aussehen muss! Gewiss, sein Gesicht kann nicht durch den Prozess des Alterns gelitten haben, aber ich denke es mir aus vielen Gesichtern zusammengesetzt, von denen jedes einen der Zeiträume spiegelt, die er durchquerte und die alle immer neue Muster ergeben, während er auf seiner Wanderung ruhelos und vergeblich versucht, aus den Zeiten, die ihn formten, jene Zeit zu rekonstruieren, die er zu verkörpern verdammt ist.)«

Die Shoah bleibt Anathema in Kracauers Schriften. Dies mag seinen Ursprung darin haben, dass für ihn das Leiden nur darstellbar wird, wenn einzig die, die es erfahren haben, zur Sprache kommen. Sei es der Fotograf, der Kameramann oder der Historiker: Dem Unerträglichen der Geschichte, die »voll ist von menschlichem Leiden«, ist es erforderlich, ohne formgebende, künstlerische Ansprüche zu begegnen, sich selbst in seiner Subjektivität auszulöschen, um die »entsetzlichen Lebensbedingungen« in ihrer physischen Realität aufzuzeigen. Den Überlebenden muss der Raum gegeben werden, über das zu sprechen, wovon andere nicht sprechen können. Hier zeigt sich Kracauers empfindsames Gespür den Gebrochenen gegenüber.

In Kracauers Denken vollzieht sich eine Umkehrung von Benjamins revolutionär gedachter Sprengung des Zeitflusses. Benjamin schreibt: »Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.« Stellt sich bei ihm alles Gewesene als eine Zeiteinheit, eine einzige Katastrophe dar, so sieht Kracauer Geschichte im Bild »der hohlen Elfenbeinkugel, die ähnliche Kugeln abnehmender Größe enthält, von denen jede frei inmitten der nächst größeren kreist«. Bei Kracauer ist Geschehenes nicht mehr »der Fata Morgana der Einheit« verhaftet, die durch eine Neue abgelöst werden könnte. Doch, wie auch bereits in seinem Aufsatz »Das Ornament der Masse« von 1927, denkt er immer noch durch die Dinge »mitten hindurch« statt über sie hinweg. Die Leerstellen zwischen den Kugeln, die schon existent sind und nicht mehr erst herbeigeführt werden müssen, sind auch die Orte, die Kracauer den »Pfad nach Utopia« weisen.

 

Exkurs: Proust und Die Suche nach der verlorenen Zeit

»Leer und homogen« jedoch ist chronologisch geordnetes Geschehen nicht durch die Unterdrückung, die sich in ihr vollzieht. »Leer und homogen« bleibt ein jedes Datum, weil es der Erfahrung nicht zugänglich ist. Erinnerung ist nicht daran gebunden, das Erinnerte zeitlich einordnen zu können.

Prousts Roman ist der Versuch, sich seiner Kindheit bewusst zu werden. Dies gestaltet sich als ein schwieriges Vorhaben, wovon nicht nur die vielen Bände und die zehn Jahre währende Arbeit zeugen. Erinnerung überhaupt zeigt sich ihm immer wieder als unmöglich, wodurch das Vergessen einen fast ebenso großen Raum einnimmt. Proust scheidet willkürliche von unwillkürlicher Erinnerung. Was vergessen wurde, lässt sich nicht einfach willentlich heraufbeschwören. Nur zufällig, durch eine ähnliche Konstellation von Begebenheiten, wie die in einen bestimmten Tee getunkte Madeleine, stellt sich plötzlich Erinnerung an längst verlorene Erlebnisse ein.

Die Schwierigkeit, die verlorene Zeit zu vergegenwärtigen, zeigt sich auch Benjamin: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. ... Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« Die Gefahr, die das Verschwinden evoziert und die Vergangenheit gleichsam zum Vorschein bringt, ist, »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben«. Die vom Brett der Erinnerung geschlagenen Schachfiguren sind ständig über das Vergessen bedroht, erneut übergangen zu werden.

Proust malt hierfür das Bild der drei Geisterbäume, das Kracauer wieder aufnimmt. Sie rauschen in ihren Wipfeln eine geheime Botschaft aus der Vergangenheit, und mit gemischten Gefühlen fährt der Betrachter vorüber, wohl wissend, dass der Dolmetscher der alten Sprache nur dieser eine Moment sein kann: »Ganz als wollten sie sagen: ... wenn du uns am Wege wieder in das Nichts sinken lässt, aus dem wir uns bis zu dir haben heraufheben wollen, wird ein ganzer Teil deiner selbst, den wir dir bringen konnten, für immer verloren sein.«

Benjamins Forderung an seinen historischen Materialisten bleibt, stehen zu bleiben, statt weiterzufahren, das Bild aufzufangen, das ihm die Schatten der Vergangenheit entwerfen. Kracauer erinnert an Orpheus: Ihm gelingt wohl, in Hades Unterwelt zu fahren, seine geliebte Eurydike zu finden; auch kann er Hades überreden, sie wieder zu den Lebenden zu bringen. Doch das Gebot, sich nicht umzudrehen, können Orpheus wie die Historiker nicht einhalten, da nur im Blick zurück erkannt wird, was aus dem Dunkel heraufgeholt wurde. Im ersten Sonnenlicht fährt Eurydike wieder ins Schattenreich. Im ersten Sonnenlicht blickt der Historiker auf das, was er der Vergangenheit entreißen wollte: und verliert die Toten »in dem Augenblick, da sie für immer fortgehen, um in einer Geschichte zu entschwinden, die er selbst gemacht hat«. Dies beinhaltet schon nicht mehr das Geschichtsverständnis beider Intellektuellen, nun gilt es zu fragen, welche Form Historiografie anzunehmen habe.

 

Fotografische Medien und dialektisches Bild

Geschichte zeigt sich Kracauer und Benjamin in eingefrorenen Bildern. Der Historiograf Benjamins muss das flüchtige Aufblitzen der Vergangenheit im Augenblick festhalten. Der Historiograf Kracauers ist wie Orpheus von einer langen Reise zurückgekehrt, und muss sich erst einmal umschauen. Die mit Spannung geladene Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart im Bild erfordert bei Benjamin höchste Konzentration. Das Auftauchen aus dem Reich der Toten ist »eine Auferstehung in der Traumsphäre, eine Anschauung ungreifbarer Figuren, ein Anhören halbverstandener Wörter«. Für Kracauer ist der gegenwärtige Moment zu vernachlässigen. Kracauer gilt, das Bild sprechen zu lassen. In diesem Zusammenhang zitiert er Schopenhauer: »Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses selbst nicht anzureden: denn da würde er nur sich selber vernehmen.« Die Gegenwart als Ausgangspunkt zu nehmen, übertönte das leise Rauschen der Schatten.

Benjamins historischer Materialist konzentriert sich hingegen auf die Gegenwart. In ihr muss er die Zeit zum Stillstand bringen und dadurch das Unterdrückte dem Vergessen entreißen. Die traditionelle, lineare Form der Historiografie als Erzählung ist diesem Bild nicht mehr adäquat. Stattdessen soll der Historiograf in einer Beschreibung die gesellschaftliche Vermittlung im marxschen Basis-Überbau-Schema mit berücksichtigen, Geschichtliches als Monade aufzeigen, so »dass im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben«. Dies wird möglich über die Stillstellung von zeitlich Aufeinanderfolgendem zu diesem »dialektischen Bild«, in dem die monadische Form die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge aufweist. Die von Benjamin geforderte Sprengung des Kontinuums der Zeit ist als das Gegenteil zu denken: nicht wie in einer Explosion wird ein Ganzes in Einzelnes zerrissen, sondern das durch die Zeit Verteilte wird in einem Punkt zusammengeführt. Aus der leeren, chronologischen Zeit wird somit eine erfüllte, die Vergangenheit in die Aktualität verwoben.

Bei Kracauer wird das Bild nicht als stillstehendes festgeschrieben. Vielmehr fordert er, die »epische Qualität« in der Geschichtsschreibung zu bewahren. Gerade Zeiten der Krisen erforderten eine Erzählung statt einer Deutung, da Letztere sich als unmöglich oder gar als Rechtfertigung des Geschehenen erweisen müsste. Die unweigerlich anwachsende Katastrophe aus der Zeit des Exils, der Benjamin nur noch ein Stopp entgegenzusetzen möglich schien, ist seit den Fünfzigern zu einer Vergangenheit geworden, die die Frage nach der Darstellbarkeit stellt. In der Theorie des Films, die Kracauer 1954 veröffentlichte, vergleicht er die Kamera mit dem Schild Perseus, der es ermöglicht, dem Grauen, der Medusa, ins Antlitz zu blicken. Kracauer weiß darum, dass die im Zuge der Reeducation durch die Konzentrationslager geführten Deutschen dort wegsahen, wo sie in Filmen hinsehen mussten. Doch bringt der Primat des Optischen seine Schwierigkeiten mit sich, bleibt Sehen nicht einfach mit Verstehen gleichzusetzen. In Geschichte wird somit der Primat des Optischen dahingehend revidiert, dass keine Darstellungsform sich als Spiegel des Geschehenen erweist. Doch bieten fotografische Medien und Historiografie noch am ehesten die Möglichkeit, eine adäquate Form zu finden: »Die photographischen Medien (helfen uns), unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden, dass sie uns sozusagen zum ersten Mal mit ?dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist? (Gabriel Marcel) vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über sie hinweg. Anders gesagt, die photographischen Medien erleichtern es uns, die flüchtigen Phänomene der Außenwelt in uns aufzunehmen und sie so vor dem Vergessen zu erretten. Etwas Ähnliches wäre auch über die Geschichte zu sagen.« Dass die Erde nicht bewohnbar sich zeigt, sondern Medusa immer wieder zu viele versteinert, bringt Kracauer zu der Forderung, durch die Form der Erzählung die Starre zu lösen. Die Versteinerungen selbst sollen somit eine Möglichkeit erhalten, sich wieder bewegen zu können. Dies ist sein antiquarisches Interesse, seine Sehnsucht für die Toten.

Die Distanzierung, die die Kamera schafft, muss der Historiker dementsprechend in einem ersten Schritt übernehmen, indem er sich selbst auslöscht, um die Toten sprechen zu lassen. Ohne Selbstauslöschung wäre die Gefahr zu groß, dass der Historiker sich zum Künstler machte, und der »formgebenden Tendenz« mehr Gewicht als der notwendigen »realistischen Tendenz« verlieh. Neben dem realistischen Ansatz ist Empathie für die Botschaft Kracauer das Wichtigste, um der von Subjektivität und Gegenwart-Interesse verfärbten Darstellung zu entgehen, die die Vergangenheit wieder Hades überließe. »Without the gift of empathy, the historian would be lost«, schreibt er an den Rand zu Benjamins These, der historische Materialist müsse mit der Einfühlung brechen, um »des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt.« Einfühlung macht sich Benjamin immer zur Komplizin der Sieger, denn so wie kein Dokument »frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht«. Nur als distanzierter Betrachter wird es Benjamin gemäß dem Historiker möglich, auch die »namenlose Fron der Zeitgenossen« an der Entstehung der Kulturgüter aufzuweisen.

Kracauer übernimmt die Forderung nach Distanz, aber erweitert sie: Orpheus wird bei seiner Rückkehr aus dem Hades ein anderer sein, taucht nicht an derselben Stelle wieder auf, an der er seine Reise begann. Die Selbstauslöschung des Historikers wird, wenn er sich zurücklehnt und auf die Aussage seines Gegenstandes achtet, zu einer Selbsterweiterung durch die Aufnahme fremder Erfahrung als seine eigene. Die Antinomie von Selbstauslöschung und Selbsterweiterung vereint sich im Bild des Exilierten, der als Fremder an einem fremden Ort keine Wurzeln hat, die seine Deutung verfälschen könnten, die Distanz vielmehr schon in sich trägt. Nur als solcher lässt sich für Kracauer echte Geschichte verfassen. So ist auch der Historiker als Exilierter einem Palimpsest vergleichbar: Seine Selbstaufgabe lässt »sein früheres Ich unter seinem jetzigen weiterschwel(en)«, seine früheren Sehnsüchte sind immer noch vorhanden, aber »von ihren Wurzeln abgeschnitten. Seine Lebensgeschichte ist zerrissen«. So wie der Exilierte niemals ganz weder der alten noch der neuen Gemeinschaft angehören kann, so sollte auch der Historiker ein den Zeiten entfremdeter, ein »Kind von mindestens zwei Zeiten« bleiben. Der exilierte Historiker, so könnte man sagen, ist durch sein eigenes Leid, heimatlos zu sein, empfänglich für das der Anderen, das zu groß war.

 

Exkurs: Kafkas Sancho Pansa

Benjamin aber ist die Einfühlung in den Abfall der Geschichte keineswegs fremd. Die kleinen Gesten sind es, die ihn an Kafkas Schriften faszinieren, die aus dem Zusammenhang heraus große Bedeutung erlangen. Kafka ist ihm ein Prophet des entstellten Lebens, dessen Darstellung immer über sich selbst hinausweist. In der Strafkolonie zeigt sich die Last einer bei Kafka stets zentralen und doch zunächst undefinierbaren Schuld im Rücken: »Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.«(11) Die Wunden werden den von einer ebenso unbestimmten Autorität Verurteilten als Strafe von einer monströsen Foltermaschine in den Rücken eingraviert. Erlösung bei dieser Erzählung Kafkas wird gleichgestellt mit der Fähigkeit, die Schrift zu lesen, die Schuld, den Grund der Strafe, zu entziffern. Rettung sieht Walter Benjamin hierbei: »... ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist«.(12) Im Aufzeigen des entstellten Lebens wurzelt ihm zufolge die Fähigkeit, die Schwere der Last, den Wunden nicht ihren Namen geben zu können, zu erleichtern. Erst das Benennen der vorgeworfenen Schuld löst Gerechtigkeit bei Kafka. Erst das Aufzeigen der »Tradition der Unterdrückten« als Regel statt »Ausnahmezustand« löst in Benjamins Geschichtstheorie die Kraft des Klassenkampfes »als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit«. Im Aufweisen der Unterdrückung liegt der Anspruch auf Befreiung, liegt der Verweis auf die Notwendigkeit der Erlösung, der Anspruch, sich »der Sonne ... zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte am Aufgehen ist.«

In Kafkas Schriften findet sich ein Mann, der sich von der herrschaftlichen Willkür einer Autorität befreite, auf den Walter Benjamin wie Siegfried Kracauer sich beziehen:(13) »Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, dass dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.«(14)

Don Quixote, der Inbegriff der wechselseitigen Durchdringung von Schrift und Welt, der Dialektik von Konkretem und Abstraktem, wird hier von seiner eigentlichen Aufgabe, Herrschaft über seinen Knecht auszuüben, über Literatur abgelenkt. Hier wurzelt zum einen die Hoffnung Benjamins auf Veränderung der Realität durch Theorie. Weder Benjamin noch Kracauer bleiben bei einer dialektischen Interpretation: Bei Benjamin erzeugt die konkrete Gefahr die Notwendigkeit, ein Apriori der Theorie zu behaupten. Bei Kracauer erzeugt die Unmöglichkeit einer allumfassenden Theorie, die eine »nützliche Unterhaltung« und nicht mehr darstellt, die Notwendigkeit, auf ein Apriori des Konkreten zu bauen und zu hoffen, dass sein Aufnehmen in die Geschichtsschreibung mithilfe der Distanz Einsicht in das wirkliche Sein ermöglicht. Doch bleibt beiden die Stelle im Gedächtnis haften als ein Hinweis, dass im Kleinen Großes geändert werden kann.

 

Utopie und Bilderverbot

In ihren utopischen Vorstellungen gehen Walter Benjamin und Siegfried Kracauer nicht von einer fernen Zukunft als Ende der Geschichte aus. Utopie findet sich vielmehr als Hoffnung, im Aktuellen endlich wieder aufatmen zu können.

»Gegenwart« ist bei Benjamin also kein Bindeglied mehr zwischen »Vergangenheit« und »Zukunft«, sondern die, in der jederzeit die Erlösung möglich ist, und die demnach »in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«. Deswegen muss das Jetzt mit Vergangenheit gefüllt werden, beide Zeiten zu einer einzigen im »dialektischen Bild« festgehalten werden. Das Glück wie die Erlösung sind hierbei im Eingedenken aus der Gegenwart an verlorene Vergangenheit inbegriffen, sie sind die revolutionäre Stillstellung des Fortgangs der Zeit, die ein Schreiten der Sieger über Besiegte, der Ausbeutung von Menschen und Natur mit sich bringt. Das, was im herkömmlichen Verständnis Zukunft ist, ist Benjamin nur eine Verlängerung der gegenwärtigen Katastrophe.

Da über Geschichtsschreibung Momente der Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben werden können, trägt diese gleichsam die messianische Kraft, die einer jeden Generation innewohnt. Denn Benjamin bleibt nur noch die Hoffnung, das entstellte Leben werde »verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde«. Je mehr vor dem Vergessen errettet wurde, desto geringer ist der Unterschied zum messianischen Reich, dem letztlich jeder Moment der Vergangenheit aufgehoben sein wird. Hoffnung, wieder atmen zu können, verengte sich für Benjamin durch seine Erfahrungen auf den messianischen Glauben. Ist Rettung über Erinnern der Weg, den es zu beschreiten gilt, bleibt Erlösung Benjamin zufolge nicht mehr im Kleinen, sondern nur noch als Ganzes möglich.

Bei Kracauer kann Geschichtsschreibung dazu dienen, den letzten Dingen vor den letzten einen Raum zu geben. Dieser Raum bleibt jedoch ein Vorraum, ein Transit, ein vorläufiger Aufenthaltsort. Utopia liegt dahinter, und Kracauer sucht im Dickicht seiner Zeit und der Vergangenheit die Wegweiser dorthin. Er findet sie in einer jüdischen Legende, die berichtet, dass in jeder Generation 36 Gerechte wohnen, die, gerade weil sie nicht um ihre Bedeutung wissen, die Welt vor ihrem Untergang bewahren. Sie zu finden, macht Kracauer in der Einführung in Geschichte zu einer seiner Hauptaufgaben. Hierbei geht es ihm nicht so sehr um das Aufweisen bestimmter Personen, sondern vielmehr um das, was in ihrem Verhalten eine bessere Welt möglich macht. So ist Erasmus vor allem einer, der sich vor Autorität scheut. Statt eine falsche theoretische Einheit aufrechtzuerhalten, werden seine Schriften von einer »innere(n) Zweideutigkeit« bestimmt. Die wahre, utopische Kraft liegt für Kracauer genau darin, die Brüche, die die Welt bestimmen, auszuhalten und zu benennen. Jeder Versuch einer Theorie, die auf das große Ganze zielt, ginge an der Wirklichkeit vorüber.

Hoffnung lässt sich über eine kunstvolle Geschichtsschreibung, eine taktvolle Erinnerung an die Toten aufrechterhalten. Kunstvoll, indem sie in einer »Ursprünglichkeit« den Riss der Welt mit berücksichtigt, die Balance hält zwischen den Antinomien formgebender und realistischer Tendenzen der Erzählung, der Selbstauslöschung und Selbsterweiterung des Historikers, der Mikro- und der Makroebene, zwischen denen der chronologisch fortschreitenden Zeit und den Zeiträumen, die den Dingen eigen sind. Was nach dem Vorraum steht, ist mit Kracauers Bild von einer Leinwand verdeckt. Hier kommen Ideen ins Spiel: Manchen Theorien, wie etwa dem marxschen Basis-Überbau-Modell, gelingt es, die konkreten Dinge in eine Konstellation zu bringen, wodurch sie Einblick in einen Teil der Wahrheit ermöglichen. Sie durchlöchern die Leinwand, doch bleiben diese kleine Flecken auf einem großen Tuch.

Der messianischen Hoffnung Benjamins ist Kracauer nicht fern. Hierauf verweist der Vorraum als Wartehalle ebenso wie die Leinwand. Sein antiquarisches Interesse, sein wiederholtes Betonen der Sehnsucht nach den verlorenen Dingen, ließe sich mit messianischem Denken vergleichen. Die Unmöglichkeit, das, was die Welt im Innersten zusammenhält, zu erkennen und zu begreifen, verweist auf das Bilderverbot in zwei Richtungen. Zum einen lässt sich kein Bild machen von der erlösten Menschheit ? die Leinwand steht davor. Zum anderen liegt hier die Unmöglichkeit einer adäquaten Spiegelung der physischen Realität selbst verwurzelt. Doch die Forderung, den Namenlosen einen Namen zu geben, und die Hoffnung, dass dies über eine neue Geschichtsschreibung gelingen könnte, zeigt den Wunsch Kracauers, mit dem Bilderverbot zu brechen. Seine Utopie lässt sich nicht mit einer theologischen Tradition gleichsetzen, sein Geschichtsverständnis bleibt materialistisch, die Erkenntnis aus Erfahrung an die konkreten Dinge geheftet.

 

Exkurs: Talk with Teddy

Am 16. Oktober 1960 schrieb Kracauer an Adorno: »Wir denken noch viel an das Zusammensein mit Dir und Gretel im Hotel Sonnenheim bei strömenden Regen. Es war gut sich einmal ausgesprochen zu haben. Glaubst Du nicht auch? Ich hatte mir das sehr gewünscht.«(15) Ihre Auseinandersetzung über Utopie, ihr Verständnis von Dialektik und Ontologie, fand keineswegs zu einem Abschluss. Immer wieder taucht in ihren Briefen der Wunsch auf, sich genauer über ihre theoretischen Differenzen auszutauschen. Nach Kracauers Tod schrieb Adorno: »Bis zuletzt war zu hoffen, dass alle Fragen, die sein denkendes Verhalten aufwarf, in der lebendigen Diskussion mit ihm weitergetrieben werden könnten, so wie er in der Jugend ein dialogisch Philosophierender war.«(16)

So tauchen viele Gedankengänge Kracauers bereits in Adornos Aufsatz »Fortschritt« (1962) in anderer Begrifflichkeit und Konstellation auf. Der exilierte Fremde Kracauers ist bei Adorno der sich Entringende, Entfremdung ist bei ihm das Entkommensein. Der Riss Kracauers zeigt sich Adorno als Nicht-Identisches, Identität ist der ausgeübte Zwang dogmatisierender Theorien, das Unpassende zu unterdrücken. Utopie ist bei Adorno eine Verwirklichung des Begriffs Menschheit, die erst in einer zwanglosen Totalität sich herstellen kann: »Am einfachsten ist das zu verdeutlichen durch die Bestimmung von Menschheit als des schlechterdings nichts Ausschließendem. Würde sie eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr enthält ..., so wäre sie Totalität nicht länger: keine erzwungene Einheit.«(17) Adornos Kritik am Zwang zur Anpassung zielt auf das Verhältnis von Begriff und Bezeichnetem. Wie im der Gesellschaft zugrunde liegenden Tauschverhältnis wird im Bezeichnen die Illusion eines Tausches von zwei Gleichen evoziert, wo in Wahrheit immer ein Mehr den gesellschaftlich Mächtigeren zufällt. Dies verdeckte Missverhältnis gilt es ihm radikaler hervorzuheben noch, soll Aufhebung im dialektischen Sinne vollzogen werden, indem negiert, bewahrt und auf eine höhere Ebene gebracht wird. Der Begriff des Fortschrittes soll dem Schein entrungen werden, wahrer Fortschritt habe bereits stattgefunden, ohne den sich ereignenden Fortschritt der Naturbeherrschung zu verwerfen. So hat Fortschritt überhaupt noch nicht stattgefunden, doch das, was dafür gehalten wird, ist der Weg zu dem wahren, der erst eintritt, wenn die Totalität wiederum sich aufhebt. Erst wenn der Tausch nicht mehr Lüge ist, sondern wahrlich Gleich um Gleich getauscht wird, verschwindet dieser. Erst wenn der Fortschritt zu sich selbst gekommen ist, ist Menschheit als Anderssein ohne Angst denkbar. Der Fortschritt der Naturbeherrschung erzeugt die Möglichkeit, dass der wahre in jedem Augenblick beginnen könne. Der Begriff Fortschritt darf demnach nicht empirisch gelähmt werden, da er sonst nicht mehr verheißt, was er verspricht zu sein: »Antwort auf den Zweifel und die Hoffnung, dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen dürfen.«(18)

Kracauer kritisiert Adornos Festhalten an der »schwebenden« Wahrheit seiner immanenten Dialektik: »I cited Benjamin against him. Does not Benjamin, I continued, time and again feel him bound by visions of partial ontological truths? And does he not orient his penetrations of concrete entities toward these Messianic visions which are rich in content, as indeed Utopian ideas should be in order to carry meaning?«(19) So muss Adorno die Erlösung außerhalb der sinnlich erfahrbaren Sphäre aufsuchen, bleibt der echte Fortschritt in einer Abstraktion als das noch nicht Verwirklichte. Kracauer und Benjamin gehen von unten nach oben, Erfahrung im Konkreten wird der Ausgangspunkt der Erkenntnis sowie der Möglichkeit der Erlösung. Adorno hingegen, der die Dialektik als das alles Bestimmende als Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis begreift, sieht mit Benjamin Erlösung nur als Ganzes möglich, auch wenn er die Rettung im Einzelnen nicht abstreitet: »Gut ist das sich Entringende, das, was Sprache findet, das Auge aufschlägt.«(20) Muss die Totalität, die eine negative ist, im Ganzen abgelöst werden, so sind doch auch die Freiheiten Kracauers in den Rissen Adorno nicht unbekannt. Auch er hält an der Möglichkeit des Sichentringens fest, allerdings gibt es dies nur als nicht vollendete Anstrengung, Entrungensein bleibt für Adorno erst in der erlösten Menschheit möglich. Kracauer bleibt die Totalität Adornos, bleiben die letzten Dinge hinter der Leinwand verborgen, weder messianische noch dialektische Hoffnung können die erlöste Menschheit zu einer erfahrbaren machen.

All diese Überlegungen Benjamins, Adornos und Kracauers zeugen davon, dass sie, wie Adorno schrieb, »ebenso sich berühren, wie sie davon sich unterscheiden. Damit ist ja wohl genau die Sphäre des Dialogs umschrieben, den unsere Sachen von sich aus schon anstellen, ehe wir als Personen recht dazu kommen.«(21)

 

So wenig Geschichte ? Vor den letzten Dingen ein abgeschlossenes Ganzes darstellt, so wenig ist der Meinungsaustausch zu Ende geführt worden. Hier wurden Ausschnitte eines Dialogs aus einer Vergangenheit aufgenommen, der weitergeführt werden kann über die Erinnerung an die Hoffnungen der Toten, dass die erlöste Menschheit zu keiner Illusion sich wendet. Hierbei spielten die zeitgenössischen Erfahrungen eine wichtige Rolle. Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« bietet somit nicht nur einen immer noch neuen Zugang zum Geschichtsverständnis. Da politische Ereignisse seiner Zeit seinem Text eingeschrieben bleiben, geben sie gleichsam Zeugnis über die Erfahrung, die er in seiner Stellung als materialistischer Intellektueller und als Gegner des Nationalsozialismus machen musste. Dies verleiht seinen Thesen ihre eigentümliche Faszination. Kracauers postume Korrespondenz ist mehr als nur Erinnerung an einen alten Freund. Es ist zugleich ein Rekurs auf eine Theorie, die aus Erfahrung spricht, die sich aus dem konkreten Kontakt mit den Verhältnissen der Zeit ergab. Kracauer kehrte nach Kriegsende nicht mehr nach Deutschland zurück und hielt sich im Niemandsland, »wie ein aufs Land gesetzter Fisch«.(22) Das Thema der Shoah spart er nicht aus, doch nimmt sie keinen absoluten Stellenwert in seinem Geschichtsverständnis ein. Das Leid, auf das er rekurriert, ist nicht beschränkt auf das der Opfer der Shoah.

In Geschichte wird deutlich, dass sein Denken kein statu nascendi einer Idee ist, die eine radikale Kritik an den herrschaftlichen Verhältnissen der Welt darstellt. Auch spricht hier nicht die Hoffnung eines Hoffnungslosen; vielmehr zeigt sich die Möglichkeit, den Hoffnungslosen Hoffnung zu schenken, da sie die Notwendigkeit unterstreicht, gerade ihnen Raum und Ohr zu leihen, dass sie endlich sprechen können. Dies bohrt Löcher in die Leinwand, die stets daran hindert, die wahren Möglichkeiten eines Fortschritts zu erkennen. Adorno hoffte über seine Philosophie in Deutschland das Denken nach Auschwitz dahingehend zu verändern, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei«.(23) Benjamins dringende Forderung nach einer sofortigen Umwälzung der Verhältnisse musste in den Nachkriegsjahren durch die Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus zu einer Forderung nach Anerkennung des Erlebten werden. Die von Gewalterfahrung evozierten Schmerzen, die bei Kracauer und Adorno in ihrer Vergangenheit liegen, erschweren sonst allein schon die Erinnerung. Dies als Aufgabe der Geschichte zu setzen ist das Verdienst Walter Benjamins wie Siegfried Kracauers und auch Adornos.(24)

 

1

Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft II, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, Bd. 10.2, S. 617?638, S. 617.

2

Kracauer in einem Brief an Adorno vom 8. November 1963, in: Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel 1923?1966, hrsg. v. Wolfgang Schopf, Frankfurt am Main 2008, S. 621.

3

Zit. nach: Michael Klaus: »Vor dem Café. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer in Marseille«, in: Aber ein Sturm weht vom Paradies her. Texte zu Walter Benjamin, hrsg. v. Michael Opitz, Leipzig 1992, S. 209.

4

Brief von Soma Morgenstern an Gershom Scholem vom 21.12.1972, zit. nach: Puttnies, Hans/Smith, Garry (Hrsg.): Benjaminiana. Eine biographische Recherche; im Zus. m. d. Ausstellung »Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne« v. 28.12.90?28.4.91 (Berlin), Gießen 1991, S. 202 f.

5

Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, Bd. I.2, S. 691?704. Alle Zitate im Folgenden hieraus.

6

Kracauer, Siegfried: »Geschichte ? Vor den letzten Dingen«, in: Ders.: Werke, hrsg. v. Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke, Frankfurt am Main 2009, Bd. 4. Hieraus auch die folgenden, nicht extra ausgewiesenen Zitate.

7

Adorno Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel, 2008, S. 11.

8

Benjamin, Walter: »Das Passagenwerk. Aufzeichnungen und Materialien«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, Bd. V.1, S. 79?654, S. 592.

9

Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Anmerkungen der Herausgeber, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, Bd. I.3, S. 1243.

10

»Ich habe, in einer ausweglosen Situation, keine andere Wahl, als ein Ende zu setzen. ... Mir bleibt nicht mehr die Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich hätte schreiben wollen.« (Übers. V. M.) Zit. n.: Schiavoni, Giulio/Benjamin, Walter: Il figlio della felicità. Un percorso biografico e concettuale, Torino 2001, S. 365.

11

Kafka, Franz: »In der Strafkolonie«, in: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt am Main 1983, Bd. 4, S. 151?180, S. 160.

12

Benjamin, Walter: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: GS II.2, S. 438.

13

Benjamin, Walter: »Franz Kafka, Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: GS II.2, S. 438; Kracauer, Siegfried: »Franz Kafka«, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, S. 256?268, S. 263; und in: Ders.: Geschichte, 2009, S. 237<|>f.

14

Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt am Main 2008, S. 167.

15

Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel, 2008, S. 513.

16

Adorno, Theodor W.: »Nach Kracauers Tod«, in: Kracauer, Siegfried: Werke, 2009, Bd. 4., S. 431?434, S. 434.

17

Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S. 619 f.

18

Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S. 617.

19

Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel, 2008, S. 516.

20

Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: GS 10.2, S. 622.

21

Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel, 2008, S. 519 f.

22

Adorno, Theodor W./Kracauer, Siegfried: Briefwechsel, 2008, S. 556.

23

Adorno, Theodor W.: »Erziehung nach Auschwitz«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft II, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am M. 1977, Bd. 10.2, S. 674?690, S. 674.

24

Ich danke Jörg Später für die anregenden Gespräche, die gemeinsame Lektüre und seine redaktionelle Arbeit an diesem Artikel.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2010