An
Krisenprognosen wagen sich derzeit nicht allzu viele. Ist sie überhaupt schon
vorbei? In gehobenen US-Finanzkreisen wird angesichts guter Gewinne bei
frisierten Bilanzen (Milliardenpeanuts oder »unbedeutende Ungenauigkeiten«, so
das Wall Street Journal) zwar über Warnungen gespottet, dass das Tal der Tränen
noch (lange) nicht durchschritten ist. Aber auch durch New Yorker Börsenkreise
geistert das Bild einer »Double Tip Crisis«, deren zweite tiefe Kerbe bald ?
Nouriel Roubini spricht für die USA bereits vom Herbst dieses Jahres ? zu
erwarten sei. Trotzdem nimmt die Selbstsicherheit der Finanzführer und ihrer
Managerstäbe manchmal beklemmende, gar grelle Züge an. Nichts gelernt, meint
sogar das Handelsblatt. Zum einen haben zwar die »Pessimisten« (meist
»Keynesianer«) zuletzt recht behalten, das nervt etwas. Zum anderen jedoch
fühlen sich die maßgeblichen Großen bestens abgesichert durch eine zentrale
Krisenerfahrung: Denn vor dem »Feiglingsspiel« der »Too Big to Fail«-Firmen, schreibt
der US-Ökonom Simon Johnson, beugten sich selbst die mächtigsten Regierungen.
»Die Banken sagten: Wenn ihr uns nicht rettet, wird es höchstwahrscheinlich
eine zweite Große Depression geben.« Das funktionierte. Wer zu groß ist, kann
nicht scheitern, kann nur gewinnen. Das ist nichts anderes als die alte
imperiale, von allen demokratischen Lasten befreite Mentalität. Auch Barack
Obamas hochgemuter Versuch einer Reform des Finanzmarkts wird da nichts
Wesentliches ändern können. Die Global Players der Finanzwelt werden zwar
angekratzt, bleiben aber eine Welt für sich ? mit schwerwiegendem Einfluss auf
Staaten und Staatenwelt.
USA,
China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien: Der Nationalstaat war (und
bleibt vorerst) eine tragende Säule im Krisenmanagement. Aber es gibt kein
einfaches »Weiter so«, alle haben sich verändert. Der Staat wurde überall durch
den Finanz-Black-out in bisher nie da gewesener Weise zu fiskalischen »Sünden«
gezwungen. Der alte Interventions- und Steuerungsstaat ist er längst nicht
mehr. Frühere Sisyphosarbeiten zur Konsolidierung des Staatshaushalts wurden
Makulatur, schreibt Wolfgang Streeck (Leviathan 2/10). Es werde daher »eine
lange nachwirkende, säkulare Verschärfung der staatlichen Fiskalkrise« geben.
Untersuchungen des IWF zufolge treffen sie alle Länder der EU, graduell
unterschiedlich, aber für alle alarmierend für die nächsten zwanzig Jahre und
mehr. Von der Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen aber, so Streeck, hänge die
Politikfähigkeit eines Staates ab, somit seine Möglichkeiten, allein oder mit
anderen Staaten das globalisierte Finanzsystem zu regulieren ? so eine
Regierung dazu gewillt ist.
Zugleich
hat die Stunde größter Bewährung die Grenzen des Nationalstaats aufgezeigt. Die
»Griechenland-Krise« war in der Folge, wie Joschka Fischer aufzeigt (siehe S.
6), die Probe aufs Exempel. Ökonomisch können einzelne Staaten mit Global
Players und ihren Netzwerken nicht mithalten, kleine schon gar nicht. Doch
sollten nicht Banken, sondern Staaten mit ganz anderer Verantwortlichkeit als
Firmen »Too-Big-to-Fail« sein. Notfalls sind sie bei Angriffen wie jüngst von
der politischen Solidargemeinschaft zu verteidigen ? dahingehend wäre der
Charakter der EU zu ändern. Das »Weiter so« der Regierung taugt dazu nicht.
Deutschland kann sich nicht einfach auf den Lorbeeren eines Geberlandes
ausruhen; es hat sehr viel von und aus Europa genommen, sein Status wäre ohne
EU unvorstellbar.
Wirtschaftsminister
und Bundeskanzlerin haben sich in einer Regierungserklärung (1.7.) und einem
Artikel (Handelsblatt, 14.7.) zu Deutschlands wirtschaftlicher Lage
geäußert. Da lag ein heftiges Halbjahr hinter ihnen, Griechenland, Euro-Schock,
Sparpaket, Toronto-Gipfel und innenpolitische Desaster, die selbst
»bürgerliche« Medien auf Distanz gehen ließen. Natürlich gibt es auch eine
Reihe positiver Dinge zu vermerken: gute Auftragslagen in der Wirtschaft,
steigende Beschäftigung (freilich bei weiter steigendem Anteil flexibel
Beschäftigter), schöner Fußball des bunten Nationalteams bei der WM (siehe dazu
Herbert & Walter Hönigsberger, S. 89), kurz: »Aufschwung«.
Schweinsteiger,
Khedira, Podolski und Co. sind in der Öffentlichkeit so gut angekommen, weil
sie immer auch selbstkritisch auf ihre Schwächen blickten. Es kann eben nicht
alles gelingen. Angela Merkel und Rainer Brüderle hingegen inszenieren sich als
die perfekten Ingenieure des Aufschwungs. Nichts wird analysiert, aber
glänzende Erfolge werden verkündet. Für wen? Sinnfragen werden nicht gestellt.
Frau Merkel hat den Finanzmarkt und die Staatsfinanzen voll im Griff (»2016
ausgeglichene Haushalte ohne nennenswerte Neuverschuldung«); Herr Brüderle hat
die Krise beendet und macht Schluss mit Keynes. Dann weiter so ... Kein Wunder,
dass über derlei Politbüro-Berichte die Politikverdrossenheit weiter zunimmt.
In diesem Heft haben wir trotzdem über diese Lage hinweg, und auf die weite
Welt geblickt.
Börsianer
wetten bereits auf Termine, wann diese Regierung stürzt. Umfragen zufolge ist
sie alles andere als too big to fail. Aber ist die SPD wirklich schon so weit
und eine Alternative? Erstaunlich, dass bei den Ökonomen inzwischen die FDP
deutlich absteigt und die Grünen (trotz finanzmarktkritischer Positionen)
neuerdings der Favorit sind.