Michael Daxner und Jan Free

Die Teile sind mehr als das Ganze

 

Für Afghanistan wird es keinen einheitlichen Plan mehr geben, sondern die Konkurrenz der Einzelpläne

Nicht nur der »Heimatdiskurs« hat nach dem Zwischenfall von Kunduz eine neue politische Qualität erreicht. Mit den US- amerikanischen Überlegungen zu einem Strategie-Wechsel kommen einige bisherige Prämissen der Afghanistan-Politik der internationalen Gemeinschaft ins Wanken. Die Vereinfachung der Diskurse oder die Zuspitzung auf Bundeswehr und Deutschland verfehlen jedoch die Tragweite des Konfliktes und die Komplexität der Problemfelder, die sich unter der Chiffre »Afghanistan« verbergen. Unsere Autoren verdeutlichen das internationale Umfeld des »Krieges«, die innere Gemengelage in Afghanistan und ziehen Schlussforderungen für eine Auseinandersetzung, die sich gerade nicht im »Heimatdiskurs« erschöpfen kann.

Wunschdenken ade

In Deutschland ist die vorhergesagte Diskussion »Wir führen Krieg« voll ausgebrochen, die Amerikaner ändern ihre Strategie und fordern zugleich einen Strategiewechsel ... Aber es gelingt der analytischen Vernunft immer weniger, die Komplexität auch nur zu beschreiben, die durch eine hohe Differenzierung der Felder, auf denen die Akteure handeln, entstanden ist. Die militärische Diskussion hat sich von der Staatsbildungsdimension ebenso gelöst wie von Fragen wirtschaftlicher Rekonstruktion. Die betroffenen Menschen in Afghanistan sehen sich vor einer Mehrzahl von Problemfeldern, die nicht verbunden und nicht vernetzbar erscheinen, und nicht viel besser geht es uns.

Es ist leicht, die Entwicklungen in Afghanistan aus der vertrauten westlichen Position zu betrachten und sie mit den uns selbstverständlichen Normen zu beurteilen. Aber Afghanistan ist nicht Teil des Westens, weswegen eigentlich jedes Urteil, das schnell einleuchtet, letztlich zu verkürzt ist. Eine Meinung zu Afghanistan kann man sich schnell bilden. Aber wir werden nicht müde zu betonen: Diese Meinung bezieht sich in der Regel auf ein virtuelles Afghanistan, das nur im Diskurs der jeweiligen westlichen Entsendeländer existiert. Dieses Afghanistan des »Heimatdiskurses« ist primär eine Projektionsfläche, und Projektionen sind selten so kompliziert wie die Wirklichkeit. Kurzum: Das Heimatdiskurs-Afghanistan ist einfacher als das wirkliche Afghanistan.

Unsere Kernaussage ist, dass es eine einheitliche oder eindeutige Strategie für Afghanistan nur für das Heimatdiskurs-Afghanistan geben kann. Im wirklichen Afghanistan ist die soziale Differenzierung und Ausdifferenzierung jedoch weit vorangeschritten. Das liegt auch an der Anwesenheit der Intervenierenden, unser Term für nicht-einheimische Entwicklungshelfer, Berater, Militärs und selbst Forscher und Journalisten: Die zahlreichen zusätzlichen Akteure erzeugen zusätzliche soziale Strukturen, die teilweise mit den afghanischen derart eng verwoben sind, dass es müßig ist, noch zwischen afghanischer Gesellschaft und den Interventionstruppen zu unterscheiden. In Afghanistan gibt es eine Interventionsgesellschaft, die aus allen Akteuren besteht. Diese Gesellschaft ist ähnlich komplex wie die deutsche, und so, wie es keinen Generalplan für Deutschland gibt, wird es keinen Generalplan für Afghanistan geben können.

Bislang hofft man aber auf die »richtige Strategie«, mit der Afghanistan modernisiert werden kann. Wir betonen seit Langem, dass sich das Vorgehen der intervenierenden Akteure in Afghanistan nach den Notwendigkeiten im Land orientieren muss und nicht nach den politischen Großwetterlagen in den Entsendeländern (Daxner/Free 2009, Daxner/Free/Schüßler/Thiele 2007). Das würde bedeuten, dass die einzelnen Akteure sich neu sortieren müssen – sowohl im Land als auch auf der Ebene der internationalen Politik. Was alle, die sich zu Afghanistan äußern, bedenken sollten: Aus einer Situation unabgeschlossener Überlegungen und geringer empirischer Belegdichte für Prognosen sollen simplifizierte Tendenzen – Optimismus, Pessimismus et cetera – nicht herausgelesen werden.

Der Nahostkonflikt und Afghanistan

In der hochangesehenen New York Review of Books gibt es eine im Ton angenehm unhysterische Auseinandersetzung über die Rolle der israelischen Armee im Gaza-Krieg dieses Jahres,(1) die vieles behandelt, was auch in Afghanistan diskussionswürdig ist. Im Dialog prominenter Liberaler, unter ihnen die bekannten Philosophen Michael Walzer und Avishai Margalith, geht es darum, was militärisch überlegene Armeen machen dürfen, wenn sie in asymmetrische Kriege eintreten. Uns geht es um zwei Aspekte, die Shlomo Avineri, von der Hebräischen Universität Jerusalem, und Zeev Sternhell, Emeritus ebenda, einbringen. Avineri, Walzer und Margalith diskutieren das Argument, dass die Amerikaner den afghanischen Zivilisten so viel Sorgfalt angedeihen lassen müssten wie ihren Landsleuten zu Hause, woraus sich wiederum eine analoge Politik Israels gegenüber den Zivilisten im Gaza ableite. Avineri weist das Argument scharf zurück, Walzer und Margalith drehen es weiter: Sie fordern, dass Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht von der Nationalität der Gefährdeten im Risiko- oder Kriegsgebiet abhängen dürften. Wenn ich Menschen in Deutschland oder Israel oder den USA vor Terroristen schützen möchte, sollte geboten sein, dass ich die Zivilisten im Gaza oder in Afghanistan ebenso schütze wie die deutsche, israelische oder US-amerikanische Bevölkerung, auch wenn ich mit aller Gewalt gegen die Terroristen, Hamas oder die Taliban vorgehe. Hier dürfe man nicht differenzieren: Alle Menschen sind in gleichem Maße vor Terrorismus zu beschützen, auch wenn die Terroristen sich unter eine bestimmte Bevölkerung gemischt haben und wohl möglich sogar von Teilen der Bevölkerung unterstützt werden. Das ist doch naheliegend, oder?

Aber an der Bedingung des zweiten »Wenn« hängt das Problem: Was hat der Kampf gegen die Taliban mit dem Schutz der US-amerikanischen Zivilbevölkerung zu tun – oder der israelischen (im Kampf gegen Hamas) oder der deutschen Zivilbevölkerung? Auch hier ist das Problem, dass in den USA und den ISAF-Ländern der Afghanistan-Einsatz mit dem Schutz der eigenen Bevölkerung legitimiert wird – der Kriegszweck bleibt an die Heimat gebunden, während der Kriegsschauplatz externalisiert wird.

Und dann gibt es noch ein zweites Problem: Walzer und Margalith fordern eine »Rückkehr« zu ethischen Regeln der Kriegsführung. Seit Anbeginn von Operation Enduring Freedom und ISAF hat die Kritik am systematischen und kollateralen Töten von Zivilisten die Berichterstattung und Bewertung der Ereignisse begleitet. UNAMA ist bei den Amerikanern und der Nato vorstellig geworden, Karzai hat das Problem immer wieder und zuletzt in zunehmend undiplomatischen Formulierungen angesprochen, zum Unwillen der Militärs und der meisten Regierungsvertreter der Entsendeländer. Die Taliban haben mit der Hamas eines gemein – viele von ihnen sind »Zivilisten«, während andere explizit militärisch ausgebildete Kämpfer sind. Und oft spielt die afghanische Zivilbevölkerung eine ähnliche Rolle wie die palästinensischen Familien, die freiwillig oder erzwungen die Insurgenten schützen. Hier endet die Analogie. Aber das Problem sollte deutlich sein: Mit dem Aufbau der afghanischen Armee und Polizei allein ist es nicht getan, solange die Intervention den Afghanen nicht körperliche und rechtliche Sicherheit gewährt. Denn ob nun afghanische Polizisten Zivilisten erschießen oder NATO-Soldaten; die Toten bleiben Opfer der westlichen Intervention – zumindest aus der Sicht der meisten Afghanen. Es ist schließlich alles andere als klar, ob das heutige Afghanistan von der Mehrheit der Afghanen als ihr Staat angesehen wird, also das politische Gebilde, das sie kollektiv repräsentiert, oder als Staat der Intervention, also als prinzipiell willkommene, aber oktroyierte Struktur, die erst »afghanisiert« werden muss, weil sie zu sehr auch die Ideologie und politische Kultur der Intervenierenden repräsentiert. Deswegen sind auch afghanische Polizisten oder Soldaten erst einmal ähnlich fremd wie US-Marines oder deutsche Soldaten.

Gewiss sind die Opferzahlen in Afghanistan auch nicht ausschlaggebend dafür, ob die Afghanistan-Mission scheitert oder nicht. Dennoch kann es sich als sehr hilfreich erweisen, dass in Afghanistan die US-Militärs stärker als jemals zuvor versuchen, die negativen Auswirkungen des Kampfs gegen Taliban auf die Bevölkerung zu minimieren. Sinnfälligstes Zeichen dieser Anstrengungen ist ein neues Handbuch, das General Stanley McChrystal, der Oberkommandant der NATO- und US-Truppen in Afghanistan, verfasst hat. Das nur sieben Seiten lange Dokument fordert unmissverständlich den Schutz der Zivilbevölkerung unter allen Umständen: »Die Afghanen sind der Grund für unseren Einsatz. Sie zu beschützen ist die Mission. ... Werde die konventionelle Denkweise los. Konzentriere dich auf die Menschen, nicht auf die Aufständischen.«(2)

Deutschlands Freiheit und Sicherheit werden nur sehr indirekt im Kampf gegen die Taliban verteidigt. Was also in diesem Kampf ethisch geboten ist, hängt von einem anderen Zweck ab als der eigenen Sicherheit – dieser rechtfertigt ja jede Angriffs- und Präventionshandlung mit allen Mitteln. Also muss die Kondition, unter der gekämpft wird, ausgetauscht werden. Wir haben das auf die Kurzformel der Freiheit der Afghanen gebracht, wohl wissend, welche Randbedingungen – Frieden in der Region, Wirtschaftsinteressen, internationale Verflechtungen und so weiter – noch zu bedenken sind, die General McChrystal seiner Rolle entsprechend nicht bedenkt.

Wendet man darauf die Forderung nach der akzeptierten Ethik der Kriegsführung an, dann kommen wir sehr schnell zum Paradox, dass in Afghanistan ein Krieg geführt wird, ohne dass es Krieg gibt. Zumindest gibt es nicht diese Art von Krieg, für die jene ethischen Regeln entwickelt wurden, deren Gültigkeit heute wieder eingefordert wird. Das hat zur Folge, dass die ethischen Regeln in der Praxis dessen, was ja schon geschieht und nicht erst geplant ist, überdacht werden müssen. Eine einfache, problemlose Rückkehr zum fairen Krieg gibt es nicht – jedenfalls nicht in derart asymmetrischen Kriegen wie dem in Afghanistan und im Gazastreifen.

Eine dieser ethischen Leerstellen ist, wie wir, der Westen, damit umgehen, wenn die Befreiten von jemandem politisch repräsentiert werden, der nicht hält, was er verspricht. Karzai war einmal ein Hoffnungsträger, jetzt gilt er als Teil des Problems. Wie verhält man sich nun gegenüber einem Staatsmann, den man anfangs unterstützt hat? Wir, die beiden Autoren, haben immer gefordert, dass die Interventionstruppen den Kampf der Afghanen, Kurzformel: Karzais Staatsgründungskrieg, unterstützen sollen. Aber heute stellt sich alle Welt die Frage, ob der Mann mehr ist als ein Name; ob er der charismatische Führer sein kann, der »sein« Land in die Demokratie und Freiheit führt, von uns gestützt und geschützt. Ist das überhaupt »unser« Problem? Ja, ist es, schließlich wurde Karzai bereits 2001 als »unser Mann« auserkoren und deswegen auch als Präsident der Übergangsregierung durchgesetzt (Rashid, 2008). Aber was dürfen wir tun, um das Karzai-Problem zu lösen, ohne in kolonialistische Muster zurückzufallen? Oder, konkreter gefragt: Ist Wahlbetrug in Afghanistan eigentlich ebenso schlimm wie Wahlbetrug in Deutschland?

Janus Karzai und Doublette Abdullah

Präsident Karzai wird in diesen Tagen als ein Freund und Komplize von Bush dargestellt. Das war nicht immer so. Wenn man die Geschichte seiner Präsidentschaft von Anfang an verfolgt, gab es erhebliche Reserven der Amerikaner gegen ihn. Die Berichte der Botschaften über Karzai waren durchweg negativ, auch noch nach 9/11. Karzai verschaffte sich aber Respekt, als er ohne Rückendeckung der USA Anfang Oktober 2001 aus Pakistan nach Afghanistan reiste, um gegen die Taliban zu kämpfen. Er schaffte tatsächlich, sich mit einem Motorrad bis in die Provinz Uruzghan durchzuschlagen, wo er von den Taliban gestellt wurde. Karzai konnte jedoch entkommen und zog sich auf Gesuch von CIA-Agenten nach Helmand zurück. Auch wenn sein Husarenritt durch Südafghanistan militärisch recht ergebnislos war, wurde Karzai nun von den US-Amerikanern ernst genommen. Ein US-Agent erklärte dieses Umdenken recht lakonisch: »Er war der einzige Paschtune, der gegen die Taliban kämpfte und am Leben blieb« (Rashid, 2008, S. 88). Und weil der neue Präsident Afghanistans aus Gründen des ethnischen Proporzes ein Paschtune sein musste, legte sich die US-Regierung nun auf Karzai fest.

Weil sein Handlungsspielraum von Anfang an relativ begrenzt war,(3) könnte man ihn eher als einen politischen Tributär des amerikanischen Imperiums an dessen Peripherie verstehen, der relativ allein gelassen die Akzeptanz seines Staatsvolks gewinnen und behalten musste. Die Anhänger Karzais der ersten Jahre, soweit auf unseren politischen Diskurs eingestellt, argumentierten zu seinen Gunsten mit seiner »überethnischen« Einstellung, seinem Geschick, seine »ethnische« Position als Angehöriger der paschtunischen Elite einzubringen, seinem Charisma der Integration von Stammesführern, seinem Habitus. Allerdings war die Vorstellung, er würde die »Nation« zugleich schaffen und »einen«, unter den Afghanen noch weniger als unter den Intervenierenden sehr ausgeprägt.

Gewiss ist Karzai den Umständen entsprechend korrupt. Zweifelsohne hätten sich die meisten Menschen im Westen und auch viele Afghanen einen Präsidenten gewünscht, der deutlicher die afghanische Geschichte von Verrat, Vetternwirtschaft und ewigen latenten Konflikten hinter sich gelassen hätte. Aber so verständlich Wünsche nach Schlussstrichen und einem Neustart sind, es sind nur Wünsche: Kein Staatsführer kann nach einem Krieg einfach von vorne anfangen. Vor allem nicht in Afghanistan, wo es viele unterschiedliche Interessenlagen gibt: Den Reformisten geht die Reform nie schnell genug, die Kriegsgewinnler konsolidieren ihre Gewinne, und klare Fronten gibt es eh nicht, weil traditionelle Strukturen alle politischen oder ökonomischen Fraktionen aufweichen. Kurzum: Es ist ein derartiges Durcheinander, dass niemand sagen könnte, worunter Schlussstriche gezogen werden sollten.

Aber nicht nur Karzais vermeintlicher Unwille zur Transparenz und die afghanische Kultur des erkauften Konsens begünstigen Korruption. Was gerne vergessen wird, ist der Einfluss der von westlichen Experten maßgeschneiderten Verfassung. Die Amerikaner oktroyierten eine Präsidialverfassung, die viel weniger flexibel und transparent ist als eine Doppelspitze in Präsident und Premierminister (Rubin 2004). In der Position des einsamen Staatsführers bleiben symbolische und reale Herrschaft verschlungen, was selbstredend nicht zur Rationalisierung des politischen Geschehens in Afghanistan beiträgt.(4) Und weiter: Die Amerikaner sorgen dafür, dass es in Afghanistan ein Wahlsystem gibt, das ethnische Segmentierung fördert und Parteienbildung entlang von inhaltlichen Gegensätzen verhindert (Suhrke 2008). Karzai sollte keine allzu mächtige Opposition erhalten, um das Land ohne starken Widerstand in die friedliche Zukunft zu führen – ein löbliches Gedanke, aber dafür eine derart pseudo-demokratische Verfassung einzurichten, widerspricht dem Grundgedanken jeder republikanischen Demokratie, checks and balances.

In jüngster Zeit hört man oft, dass das Präsidialsystem aufgeweicht werden könnte, auch um Platz zu schaffen für eine Regierung der nationalen Einheit nach afrikanischem Vorbild (Lemarchand 2007). Darauf spekuliert Dr. Abdullah Abdullah, der frühere Außenminister, Halb-Tadschike und Halb-Paschtune, der größte Konkurrent Karzais in der Stimmauszählung. Ein enger Berater Abdullahs und früherer Minister unter Karzai charakterisiert Abdullah mit all den Attributen, die früher Karzai bekommen hatte – überethnisch, integrativ, nicht korrupt et cetera, wofür es in Abdullahs Biografie wenig Anhaltspunkte gibt. Möglicherweise entstehen unter manchen Afghanen – den Eliten zumal – Ansätze jenes republikanischen Motivs, wonach ein Wechsel nicht auf pragmatische, sondern prinzipielle Gründe aufbaut: Irgendwie fühlt man, dass es einfach an der Zeit ist, dass die Regierung wechselt – nicht aus konkreten inhaltlichen Gründen, sondern weil sich in der praktizierten Machtübergabe der republikanische Grundgedanke der Polis bewährt. Dem »Neuen« wird das kreditiert, was der »Alte« verspielt hat.

Wir können das nicht empirisch so belegen, wie wir es in Deutschland könnten. Die Meinungsumfragen geben das nicht her, und eine »Stimmungsdemokratie« in Afghanistan lässt sich mit Obamas »Yes, we can!« nicht vergleichen. Aber wir stützen die Ansicht auf drei jedenfalls in Ansätzen belegbare Sachverhalte: Zum einen kennen wir hinreichend viele vor allem junge Parlamentarier/-innen, Menschenrechtsaktivisten und New Professionals, die relativ ungeschützt die Zeit unter Karzai und den Amerikanern als eine Übergangszeit bezeichnen; zum anderen wissen wir von vielen offenen und verdeckten Wechslern in das Lager von Abdullah oder Ghani, die das fast ausschließlich mit dem nötigen Wechsel und nicht wirklich inhaltlich begründen; und zuletzt: Republikanismus ist in Transformationsperioden den Menschen plausibler und wichtiger als Demokratie. Das Letztere ist eine starke Hypothese, die wir zurzeit nur insoweit ausführen, als wir, so wie in vielen sich aus der Tradition emanzipierenden Gesellschaften, auch in Afghanistan feststellen, dass die politisch Interessierten mehr daran interessiert sind, die Bedingungen von Demokratie kennenzulernen, als eine Demokratie einzuführen, die ihren Erfahrungen und lebensweltlichen Regeln widerspricht. Kennt man die Bedingungen – ideengeschichtlich ist ja Republikanismus älter und grundlegender als Demokratie und hat insofern Demokratie bedingt –, ist es leichter, sich kollektiv eine passende Demokratieform zu geben. Ob es naiv ist, wenn sich dieser prinzipielle republikanische Impuls als diffuses Wechselbegehren manifestiert – der Neue wird’s besser machen, er kann es nur besser machen – oder der Wechselwillen prinzipiengeleitet ist, können wir unmöglich per Ferndiagnose feststellen; wahrscheinlich ist beides der Fall. In dieser Ungewissheit zeigt sich abermals, wie nachteilig es ist, dass es keine afghanische Sozialwissenschaft gibt.

Wir sagten: Abdullah sei Karzais Konkurrent in der Stimmauszählung, nicht bei der Wahl. Das Wahlergebnis hat mit der Wahl nicht so viel zu tun wie in deutschen Wahlen. Man kann den Wahlbetrug Karzais nicht schönreden: Wenn auch nur ein Bruchteil der 2600 Anschuldigungen stimmt, die bei der entsprechenden Kommission eingegangen sind, könnte man nicht mehr von einer fairen Wahl sprechen. Mehrere hochrangige Augenzeugen haben unabhängig voneinander berichtet, dass ungefähr 800 Wahllokale nur auf dem Papier bestanden, deren Wahlleiter aber dennoch ausgefüllte Stimmzettel vorweisen konnten. Ein westlicher Diplomat sagte der New York Times, dass mindestens 15 Prozent der Stimmen zugunsten Karzais gefälscht worden seien. Aus Kreisen der afghanischen Wahlkommission war zu hören, dass alle Stimmen aus 447 Wahllokalen annulliert werden sollen. Die Wahlkommission hat bereits angekündigt, dass in großem Unfang Stimmen erneut ausgezählt werden müssen.(5)

Das ist nicht schön, war aber zu erwarten. Wie manche angesehene Kommentatoren zu fordern, dass demokratische, geheime und faire Wahlen in einem Land wie Afghanistan nach unseren Vorstellungen ablaufen sollen – und Wahlen sind ziemlich gefestigt und fair bei uns – war schon im Kosovo naiv, war 2004 in Afghanistan naiv und ist es auch jetzt. Diese Forderung zeigt nur, wie tief die Hoffnung sitzt, dass demokratische Verfahren die Welt verbessern könnten. Gefährlicher, weil folgenreicher als diese letztlich sympathische Hoffnung ist es, dass Obama und Merkel die Wahlen am 21. August zunächst in den Himmel gelobt hatten, bevor irgendwelche verlässlichen Berichte über die Wahl vorlagen, und angesichts der später bekannt gewordenen Vorkommnisse jetzt, wegen der Wahlbetrugsbeschuldigungen, Verdruss über Karzai sowie die Wahlverantwortlichen zeigen (SZ, 29./30.8.09).

Karzai hatte vor der Wahl zwei umstrittene Verbündete in sein Lager geholt. Ob er deshalb die Wahlen eher gewonnen oder verloren hat, hat damit erkennbar wenig zu tun. Offenbar wird es aber im Westen, bei den Paschtunen und bei den »Republikanern« (s. o.) aus verschiedenen Gründen nicht durchgängig goutiert, dass sich Karzai die beiden großen Warlords Dostum (Usbeke) und Fahim (Tadschike aus dem Panjirtal) zu künftigen politischen Stützen und Kabinettsgrößen erkoren hatte, obwohl beide einen üblen Ruf in Menschenrechts- und Korruptionsfragen haben. Manche hatten angenommen, dieser Zug würde Karzai seine paschtunische Wählerschaft abspenstig machen, weil er sich zu sehr mit den Überbleibseln der generell anti-paschtunischen Nordallianz einließe. Nun, auch zur Wahl im Jahr 2004 war Karzai von alten Nordallianz-Warlords offen unterstützt worden, was aber seinem Zuspruch vonseiten der Paschtunen nicht sehr geschadet hatte.

Womöglich ist sein Kalkül, mit diesen erfahrenen Kommandanten den Kampf gegen die Taliban brutaler, aber effektiver zu machen und ihn zu »nationalisieren«. So würde es Karzai erleichtert, den Abzug der internationalen Truppen zu verlangen – oder zu überstehen. Wenn es Dostum und Fahim gelänge, die Taliban zu kontrollieren oder gar abermals zu vertreiben, wäre es ein bitterer Sieg, denn die Zivilbevölkerung und die Menschenrechte würden durch diese beiden Generäle gewiss nicht besser geschützt als durch die ISAF. Wenn aber Dostum und Fahim nur vorgeschobene Figuren für das Unbehagen der Politik wären, sähe sich Karzai im Falle eines hypothetischen »Erfolges« gegen die Taliban bestärkt und könnte nationalistischer argumentieren als bisher.

Dem Schachzug kann man eine »realistische« Position nicht absprechen. Die Zerschlagung der tamilischen Rebellen in Sri Lanka hat gezeigt, dass eine Regierung dann gegen Aufständische gewinnen kann, wenn sie buchstäblich über Leichen geht und ebenso ruchlos agiert wie diejenigen, die sie bekämpft. NATO-Truppen können so schlichtweg nicht operieren. Dostums und Fahims Männer würden da weniger Probleme haben.

Afghanistan soll ja eine Nation werden, also mehr sein als eine Bezeichnung einer Verwaltungseinheit. Ein Nationalstaat gilt schließlich als stabiler als andere Staaten (Hippler 2004). Zudem ist das Prinzip des Nationalstaats derart fest in der politischen Kultur eingebrannt (Smith, 1995), dass im Grunde immer von einem Nationalstaat die Rede ist, wenn es um Staatsaufbau geht (Rubin, 2005). Da man also ein Nation-Building seitens des Westens forciert anstrebt, müssten die Intervenierenden eigentlich die nationale Seite der Politik stärken. Aber kann man das vertreten, wenn Dostum und Fahim die Taliban niedermetzeln sollten? Im Endeffekt würde es gewiss einer nationalen Einigung zugutekommen, wenn die Taliban als Machtfaktor ausgeschaltet werden, nur würde der angestrebte Rechtsstaat unter einer solchen Entwicklung erheblich leiden oder gar nicht zustande kommen.

Da ist die Frage, was sich die Menschen in Afghanistan am meisten wünschen: körperliche Sicherheit (die Aufständischen werden nach einer kurzen, blutigen Kampagne niedergeschlagen, anschließend Friedhofsruhe) oder rechtliche Sicherheit (Eigentumsrechte, Bürgerrechte, geregeltes Zusammenleben)? Wenn man eine soziale und gerechte Gesellschaft aufbauen möchte, muss man seine Finger im Spiel behalten, auch wenn Dostum und Fahim in die Regierung integriert werden. Dann muss man selbst dann noch mitspielen, wenn sogar Taliban in die Regierung aufgenommen werden sollten, als Zeichen der nationalen Versöhnung. Da müssten in westlichen Hauptstädten und in internationalen Organisationen viele Impulse zum moralischen Aufbegehren heruntergeschluckt werden. Aber das Einzige, was die Intervention rechtfertigt, ist, wenn das Staatshandeln und das Leben in Afghanistan insgesamt besser werden. Wenn diese Verbesserung vermittelt ist durch eine unbarmherzige Schlachtung von Taliban – sowohl echten als auch vermeintlichen –, geraten die Intervenierenden in einen unlösbaren Widerspruch zwischen pragmatischen Erfordernissen am Ort und der legitimen Empörung des Heimatdiskurses darüber, dass unter den Augen der Menschenrechts-Garanteure Milizen mit staatlicher Duldung Menschen töten.

Nun, hoffentlich scheitert dieses Szenario an seinen zahlreichen »Wenns«. Es ist ja auch gar nicht gesagt, dass Dostum und Fahim ebenso schnell gegen die Taliban erfolgreich sein würden wie die pakistanische Armee im Swat-Tal. Aber auch wenn es nicht zu dem Dostum-Fahim-Feldzug gegen die Taliban kommt, stehen die Intervenierenden vor einem Dilemma: Es ist ja bereits in den letzten Jahren deutlich geworden, dass Nationsbildung zumeist eine blutige Angelegenheit ist und dass es – hier ist die spezielle Lehre aus Afghanistan – zulasten des nationalen Selbstaufbaus gehen kann, wenn versucht wird, den Staatsgründungskrieg gegen die zahlreichen Intermediärakteure an im Grunde unbeteiligte Ausländer zu delegieren und dadurch auf eine Zivilisierung und Beschleunigung des Staatsaufbaus zu hoffen. Die entscheidende Frage aus Sicht des Heimatdiskurses ist schon jetzt, ob man die Gegner des Staatsaufbaus in Afghanistan so besiegen kann, dass die moralische Weste des Westens einigermaßen weiß bleibt, oder ob man in Kauf nehmen will, dass man zwar gewinnt, aber dafür zeitweilig einige der Universalismen außer Kraft setzen muss, wegen denen man eingangs die Staatsaufbau-Intervention initiiert hatte.

Noch einmal, in aller Deutlichkeit: Wir sind keine Gegner der Intervention, aber wir machen darauf aufmerksam, dass fast alle ausgesprochenen und impliziten Erwartungen an die Intervention unrealistisch waren. Die Planungen waren ungenügend, Schwierigkeiten wurden ignoriert; die Wähler sollten ja nicht beunruhigt werden (Kornelius 2009, Korski 2008). In den USA ist seit dem Regierungswechsel etwas mehr Offenheit und Nachdenklichkeit eingezogen. Aber in Deutschland? Nun, immerhin, man redet wieder über Afghanistan.

McChrystal hat recht – mehr Besatzung, weniger Krieg

Der Krieg setzt sich langsam in den Diskursen und Gefühlen der Menschen in Deutschland fest. Spätestens nach der Diskussion bei Anne Will (23.8.09) war klar, dass sich die Auffassung des Kriegszustandes in ambivalenter Form zu verfestigen beginnt. Die Ambivalenz lautet, sehr verkürzt: Ja, es ist Krieg in Afghanistan; Ja, wir sind beteiligt an diesem Krieg; Nein, wir sind nicht hier im Krieg, wir sind dort im Krieg.(6) Das Dort, die Externalisierung, wurde durch zwei Bundeswehrangehörige bei dieser Diskussion repräsentiert, einen schwer verwundeten und beinamputierten ehemaligen Soldaten und einen Hauptfeldwebel, der als Erster die Tapferkeitsmedaille erhalten hatte, weil er Kameraden gerettet hatte. Die beiden Bundeswehrangehörigen haben viel deutlicher als Jung (Minister) und Wolffsohn (Professor an der BW-Universität) betont, dass sie den Kampf an der Seite der Afghanen um deren Freiheit willen führen und dies als richtig empfänden. Da war von der Verteidigung unserer Sicherheit nicht viel die Rede, überhaupt greift das Argument nicht mehr, seitdem 9/11 eher negativ mit dem Verlust der amerikanischen Würde in Abu Ghraib und Bagram (Afghanistan) konnotiert ist als mit weiter bestehender Bedrohung.

Al-Qaida ist eine virtuelle Gefahr, die nicht größer oder kleiner wird, wenn das Innenministerium unsere Freiheitsrechte einschränkt oder bewahrt. Und in Afghanistan ist al-Qaida seit Jahren nicht mehr (sondern mittlerweile in Pakistan). Die Taliban können so gut wie jede andere Terrorgruppe einen Anschlag machen, ob Schäuble oder BKA-Chef Zierke darauf gefasst sind oder nicht. Nur, die Taliban interessieren sich nicht für Deutschland oder die USA, sie kämpfen um ihre Version von Afghanistan in Afghanistan und Pakistan gegen Akteure in Afghanistan und Pakistan.

Es kommt aber nicht auf die konkreten globalen Zerstörungspotenziale an, sondern auf die Risiken. Im Fall Afghanistans hat der amerikanische Oberbefehlshaber McChrystal dies anscheinend begriffen und versucht eine entsprechende Taktik umzusetzen.

Nicht die Taliban zu verfolgen, mit ihnen Krieg zu führen, ist der neue Ausgangspunkt des US-Handelns, sondern die Dörfer und Menschen zu beschützen und zu verteidigen. Das Potenzial der Taliban wird nicht direkt dadurch verringert, dass die NATO-Soldaten afghanische Zivilisten beschützen, und deswegen hatte lange Zeit ihr Schutz nicht Priorität. Doch mit den gegebenen Möglichkeiten können weder die Special Forces der USA noch die NATO dieses Zerstörungspotenzial der Taliban hinabsetzen. Also soll man nun tun, was man kann: Man bleibt als Garnison vor Ort, man reduziert das Risiko von Angriffen durch ständige Bereitschaft, einen konkreten Ort zu verteidigen. Beschützen heißt: mehr Soldaten über längere Zeit im Land verteilt auf alle Orte, die Ziel der Taliban sein könnten. Das steht nicht im Widerspruch zu der sogenannten Integrierten Strategie von Präsident Obama im AfPak(7) und offenbar auch nicht zur Haltung der afghanischen Bevölkerung zur Anwesenheit von fremden Truppen (Koehler, 2008). Aber bisher sieht es nicht so aus, als stünden ausreichend Truppen zur Verfügung, um die eroberten Gebiete zu sichern. Es bleibt also beim alten Lied vom Wettlauf zwischen Hasen und Igel. Die Taliban sind immer schon da – weil die westlichen und afghanischen Truppen nicht überall gleichzeitig sein können.

Und wenn die Interventionstruppen am Ort sind, können sie Fehler machen, was wiederum den Taliban in die Hände spielt. Ein Vorfall wie der vom 4. September in Kunduz ist geeignet, das Vertrauen in die schützende Anwesenheit der Militärs zu untergraben; viele Zivilisten starben durch eine Luftattacke der ISAF, weil die Bundeswehr die Lage als für sich so brisant eingeschätzt hatte, dass sie offenbar die Bomber bestellten, ohne die Gesamtsituation hinreichend erfasst zu haben.(8) Selbst wenn die deutschen Militärs alle subjektiven Gründe für sich gehabt hätten, ändert das nichts an den negativen Folgen für die gesamte Afghanistan-Mission und McChrystals neue Afghans First!-Strategie: Sicherheit wurde eben nicht geliefert, sondern ihr Gegenteil: Verunsicherung.

Dennoch ist der Strategiewechsel grundsätzlich richtig: McChrystal will nicht die Hearts and Minds der Afghanen, sondern ihr Vertrauen. Der Unterschied ist minimal, aber wichtig: In der Hearts and Minds-Konzeption sollte sowohl gnädiges als auch überlegenes Handeln der Intervenierenden aus skeptischen Afghanen dankbare und hörige Afghanen machen. McChrystal hat andere Pläne. Nach seinen Vorstellungen soll sich die Taktik der Intervenierenden an den Bedürfnissen der Afghanen ausrichten. Seine Nachricht ist: Wir (die Intervenierenden) halten für euch (die Afghanen) unseren Kopf hin; wir kämpfen nicht mehr gegen die Taliban, sondern für eure Sicherheit. Und weil das so ist, wäre es auch für euch vorteilhaft, wenn ihr uns dafür sagt, wo die Sprengfallen versteckt sind. Dazu ist Vertrauen notwendig, von beiden Seiten, aber kein paternalistisches Abhängigkeitsverhältnis. McChrystal braucht emanzipierte Afghanen, weil er von freundlicher Bevormundung nicht viel hält.

Was heißt also Krieg? Wenn ISAF gegen Taliban kämpft, ist das ein Kriegszustand. In diesem Kriegszustand gilt, was wir eingangs in der Analogie zu den israelischen Truppen im Gaza gesagt haben. Dass Krieg ist, also in bestimmter Weise gewaltsam ein Konflikt mit dem Ziel zu gewinnen ausgetragen wird, heißt nur scheinbar paradox nicht, dass wir einen Krieg gegen den Terrorismus führen. Nicht jeder Verbrecher ist ein Terrorist, nicht jeder Terrorist ist ein Bestandteil der weltweiten Verschwörung gegen die westliche »freie« Welt. Al-Qaida und auch die Taliban sind gerade nicht das Produkt sozialer Ungerechtigkeiten – die führen zu sekundären Konflikten, die manchmal von den Taliban ausgebeutet werden (im Swat-Konflikt zu Beginn des Jahres) oder zur Spaltung in unseren Friedens- und Konfliktregelungsbewegungen dienen. Es geht um lokale Herrschaft, Macht, auch um die traditionellen Monopole von Ehemännern und Schriftkundigen, um die Verhinderung der Entstehung eines Demos – und wenn der Islam dafür herhalten kann, dann wird er dafür genommen, ansonsten ist er den Drogenhändlern und Waffenhändlern so gleichgültig wie anderswo andere religiöse Deckmäntel für das Verbrechen. Deshalb sind die Taliban weder radikal-islamisch (jedenfalls nicht als Ganzes), noch sind sie dasselbe wie al-Qaida, noch sind sie im regulierten Krieg der NATO zu besiegen. Mit ihnen reden kann und wird man müssen, wenn sie abgewehrt sind, im Einzelfall oder auf größerer Ebene.

Unabhängig davon, was Dostum, Fahim und Karzai machen, wird eines deutlich, wenn Interventionstruppen vermehrt und länger im Lande bleiben: Ein Ausstiegsszenario ist dringend notwendig – sonst besteht die Gefahr, dass man sich in der Rolle des Beschützers einrichtet. Obamas Strategie konnte man bis vor Kurzem so zusammenfassen: »Surge« (= Draufhauen) und dann raus. Ein wenig wie im Irak, aber mit mehr Integration ziviler Elemente, weniger zivilen Toten, mehr Aufbauhilfe und militärische Unterstützung durch die Alliierten. Es versteht sich, dass dies angesichts der Ausweitung des Kriegs auf Westpakistan keine Kopie der Irak-Erfahrung sein kann. Aber der qualitativ neue Aspekt, den McChrystal anstrebt, würde einen absehbaren Rückzug an mehrere Bedingungen knüpfen, die schwer miteinander zu vereinbaren und ebenso schwierig zu erreichen sind:

– Der afghanische Präsident und seine Regierung müssen eine so starke nationale Armee und Polizei vorweisen können, dass ihnen nicht nur die Intervenierenden, sondern auch die eigenen Bürger abnehmen, dass damit die Taliban im Schach zu halten sind sowie am Wieder-Erstarken gehindert werden können (Aber wer soll das bezahlen? Hier könnten die Privatarmeen von Dostum und Fahim helfen, aber wie sich diese finanzieren, will man erst gar nicht wissen.).

– Die Rechtsstaatlichkeit, die Institutionen und die Zivilgesellschaft müssen so weit entwickelt sein, dass »man« sie weitgehend sich selbst überlassen kann, das heißt finanziell unterstützt, aber nicht mehr von außen steuert. Ansonsten droht die Gefahr, dass viele Regierungen und NGOs nach dem Abzug nach neuen Formen der Intervention rufen, wenn die Zustände im Land »nicht hinnehmbar« erscheinen.

– Afghanistan braucht eine Außenpolitik, die es jetzt noch nicht gibt. In Gesprächen mit Außenpolitikern und Experten für Zentralasien hören wir oft, dass in den Stan-Staaten Umstürze und Unruhen erwartet werden. Iran und Pakistan sind komplizierte Nachbarn mit eigenen Interessen im Land, Russland, China und vor allem Indien sind regional gewichtige Akteure, die amerikanische Alleingänge ausschließen. Wir denken dabei nicht an großartige Bündnisse und Nichtangriffspakte, sondern die weitere Regelung pragmatischer Probleme wie grenzüberschreitende Flüchtlingspolitiken, Drogenhandel und grenzüberschreitende Arbeitsmärkte.

Deutschland im Krieg – aber im Krieg der NATO

Es ist auffällig und wird selten diskutiert, dass Deutschland nicht von sich aus den Afghanen nach dem September 2001 zugesagt hat, dass man sich an der Erneuerung des Landes und der Abwehr der Taliban beteiligen wolle. Der Wiederaufbau hätte ja in den alten Bahnen – BMZ, GTZ, DED et cetera – weitergehen können, vielleicht in größerem Umfang, qualitativ besser und stärker koordiniert. Es war die NATO, die der Operation Enduring Freedom, die eine aggressive und nur eingeschränkt nützliche Demonstration des War on Terrorism war, eine legitime Militärmacht zur Seite und vor die Nase setzen wollte, die vor allem dem Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte (Armee, Polizei, Geheimdienst) dienen sollte. Das ging nicht reibungslos, weil ISAF und OEF sich anfangs nur im Weg standen. Weil die Stabilisierungshilfe aber militärische Mittel braucht – schon lange vor der Verschlechterung der Sicherheitslage –, wurde der internationale Terrorismus als Legitimation im Heimatdiskurs herangezogen, um glaubwürdig zwei Ziele zu verbinden: den Schutz der eigenen Bevölkerung und den des afghanischen Aufbaus.

Für Deutschland war nicht der Aufbau, auch nicht 9/11, entscheidend für die Kooperation im Rahmen von ISAF, sondern die Bündnisverpflichtung. Vielleicht haben wir das in früheren Texten zum Problem zu wenig herausgearbeitet, wenn es um Deutschlands Rolle am Hindukusch geht. Der militärische Aspekt ist ja nur die eine Seite des NATO-Einsatzes. Der andere Aspekt, die Aufbauhilfe, und sei sie an militärische Mittel gekoppelt, ist weit komplizierter: Wäre es denkbar gewesen, dass Deutschland ohne NATO ein paar tausend Soldaten dem afghanischen Präsidenten 2001 zur Verfügung gestellt hätte, um deutsche Aufbauprojekte und -hilfen zu beschützen und die Afghanen in ihrem Bemühen um Freiheit zu unterstützen? Nein, das wäre nie passiert: Deutschland entzieht sich jeder Verpflichtung, indem auf die Verantwortung der internationalen Organisationen verwiesen wird.

Es geht uns nicht darum, diese Externalisierung des Handlungsdrucks während außenpolitischen Krisen zu kritisieren. Aber wir wollen darauf aufmerksam machen, dass keine noch so heftige Solidarität »der Deutschen« mit »den Afghanen« nach 2001 zur Entsendung einer »Stabilisierungstruppe« im nationalen Alleingang geführt hätte. Bis auf die USA hätten alle anderen Länder, genau wie Deutschland, auf die Institutionen transnationaler Regulierung zugreifen müssen, um derartige Absichten zu verwirklichen. Das heißt aber, dass der Heimatdiskurs nicht nur ein deutscher ist, sondern mindestens noch eine Entsprechung hat: nämlich den kollektiven Heimatdiskurs der NATO-Länder. Schon allein deswegen ist es unklug, wenn das Interesse deutscher Politiker sich zu sehr auf die ihrer Wählerschaft beschränkt.

Das Fazit unserer Überlegungen zu diesem Punkt ist einfach: Die deutsche Stimme auf der NATO-Führungsebene ist kaum wahrnehmbar im Afghanistan-Diskurs hierzulande. Das macht es den Kritikern des Einsatzes leicht, von Militarisierung zu sprechen, wo Entpolitisierung der richtige Begriff wäre. Das NATO-Bündnis hat ja noch keine Antworten auf McChrystals neue Strategie.

Das könnte sich jetzt schnell ändern. Nach der Kritik an der deutschen Taktik bei der Tankwagen-Entführung am 4.9.09 in Kunduz ist der Konflikt innerhalb der NATO keiner, der nur mehr auf Mäkeleien und Retourkutschen der Amerikaner an den Deutschen reduziert werden darf. (Man meint in den USA und auch in vielen Außenministerien, dass die Bundeswehr jetzt einmal das erlebt, was sie an der amerikanischen Kriegsführung vor McChrystal so gerne kritisiert hatte.) Für uns ist die Aufklärung, wie sie der Bundestag zu Recht verlangt, nur ein Aspekt; der wichtigere ist, dass Außenpolitik und NATO-Politik gemeinsam überholt werden müssen. Die Washington Post vom 8.9.09 (9) fasst zusammen, dass der Krieg den jeweiligen Bevölkerungen bislang gar nicht erklärt worden war, weil er der »Gute Krieg« war. Und dass die Ideologie von der Wiederaufbauhilfe überholt sei ... Krieg sei eben Krieg. Also gut, dann reden wir über den Krieg in Afghanistan und weswegen wir ihn führen. Aber bitte lasst uns dabei über das wirkliche Afghanistan reden, nicht über das einfache Afghanistan des Heimatdiskurses.

1

Avishai Margalith und Michael Walzer: »Israel: Civilians and Noncombatants«, in: New York Review of Books, No. 8, May 2009, S. 21 f.; die Repliken sind in Nr. 13, 13.8.09, S. 74.

2

http://www.NATO.int/Isaf/docu/official_texts/counterinsurgency_guidance.pdf (zuletzt abgerufen: 4.9.09).

3

Jan Free: »Afghanische Vetternwirtschaft«, Zeit Online, 20.8.09, http://www.zeit.de/online/2009/34/afghanistan-klientelismus (überprüft: 9.9.09).

4

Für einen echten »Amir« oder König, selbst noch für Zahir Shah, galt das Prinzip der beiden Körper des Königs (Kantorowicz), und das hätte dem Volk einen Anhaltspunkt einer echten »Spitze« ihres Gemeinwesens und Staates gegeben ... Karzai hatte übrigens in Bonn 2001 auf einer herausragend starken Position des Präsidenten bestanden.

5

»Recounts ordered in Afghan vote«, BBC, 9.9.09, http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8243276.stm (überprüft: 9.9.09).

6

Wobei deutlich darauf hingewiesen werden muss, dass diese Aussagen nicht für Minister Jung und sein Ministerium gelten. Noch am 4. September hat Jungs Pressesprecher den Begriff des Stabilisierungseinsatzes bekräftigt und den des Kriegs ausdrücklich zurückgewiesen.

7

Vgl. Michael Daxner: »Afghanistan: Graveyard of Good Intent«, in: World Policy Journal, Summer 2009.

8

Der Webblog Sicherheitspolitik hat dazu eine vorzügliche Dokumentation zusammengestellt: http://weblog-sicherheitspolitik.info/2009/09/06/tanklaster-vorfall-was-ist-bekannt-aktualisierter-sammelbeitrag/ (zuletzt überprüft: 7.9.09).

9

Craig Whitlock: »Anger in Germany over Airstrike«, in: Washington Post (0nline), 8.9.09.

Literatur:

Daxner, M./Free, J. H. (2009): »Afghanistan – europäische und lokale Perspektiven. Gelernte Lektionen und zukünftige Aufgaben«, in: Kommune, Heft 1/2009, S. 76–87

Daxner, M./Free, J. H./Schüßler, M./Thiele, U. (2007): »Staatsgründungskrieg und Heimatdiskurs. Afghanistan – und die Grundlagen und Probleme humanitärer Interventionen«; in: Kommune, Heft 6/2007, S. 62–81

Hippler, J. (Hrsg.) (2004): Nation-Building. Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn: Dietz

Koehler, J. (2008): »Auf der Suche nach Sicherheit. Die internationale Intervention in Nordost-Afghanistan«, SFB-Governance Working Paper Series 17/2008, Berlin: FU Berlin, SFB 700

Kornelius, S. (2009): Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan, Hamburg: Edition Körber

Korski, D. (2008): Afghanistan: Europe’s forgotten war, London: European Council on Foreign Relations

Lemarchand, R. (2007): »Consociationalism and Power Sharing in Africa: Rwanda, Burundi, and the Democratic Republic of the Congo«, in: African Affairs, London, 106 (422), S. 1–20

Rashid, A. (2008): Descent Into Chaos. How the War Against Islamic Extremism is Being Lost in Pakistan, Afghanistan and Central Asia, London: Allen Lane

Rubin, B. R. (2004): »Crafting a constitution for Afghanistan«, in: Journal of Democracy 15 (3), S. 5–19

Rubin, B. R. (2005): »Constructing sovereignty for security«, in: Survival 47 (4), S. 93–106

Smith, A. D. (1995): Nations and Nationalism in a Global Era, Oxford: Polity Press

Suhrke, A. (2008): »Democratizing a Dependent State: The Case of Afghanistan«, in: Democratization 15 (3), S. 630–648

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009