Für Afghanistan wird es keinen einheitlichen Plan mehr geben, sondern die Konkurrenz der Einzelpläne
Nicht nur der »Heimatdiskurs« hat nach dem Zwischenfall
von Kunduz eine neue politische Qualität erreicht. Mit den US- amerikanischen
Überlegungen zu einem Strategie-Wechsel kommen einige bisherige Prämissen der
Afghanistan-Politik der internationalen Gemeinschaft ins Wanken. Die Vereinfachung
der Diskurse oder die Zuspitzung auf Bundeswehr und Deutschland verfehlen
jedoch die Tragweite des Konfliktes und die Komplexität der Problemfelder, die
sich unter der Chiffre »Afghanistan« verbergen. Unsere Autoren verdeutlichen
das internationale Umfeld des »Krieges«, die innere Gemengelage in Afghanistan
und ziehen Schlussforderungen für eine Auseinandersetzung, die sich gerade
nicht im »Heimatdiskurs« erschöpfen kann.
Wunschdenken ade
In Deutschland ist die
vorhergesagte Diskussion »Wir führen Krieg« voll ausgebrochen, die Amerikaner
ändern ihre Strategie und fordern zugleich einen Strategiewechsel ... Aber es
gelingt der analytischen Vernunft immer weniger, die Komplexität auch nur zu
beschreiben, die durch eine hohe Differenzierung der Felder, auf denen die
Akteure handeln, entstanden ist. Die militärische Diskussion hat sich von der
Staatsbildungsdimension ebenso gelöst wie von Fragen wirtschaftlicher
Rekonstruktion. Die betroffenen Menschen in Afghanistan sehen sich vor einer
Mehrzahl von Problemfeldern, die nicht verbunden und nicht vernetzbar erscheinen,
und nicht viel besser geht es uns.
Es ist leicht, die
Entwicklungen in Afghanistan aus der vertrauten westlichen Position zu
betrachten und sie mit den uns selbstverständlichen Normen zu beurteilen. Aber
Afghanistan ist nicht Teil des Westens, weswegen eigentlich jedes Urteil, das
schnell einleuchtet, letztlich zu verkürzt ist. Eine Meinung zu Afghanistan
kann man sich schnell bilden. Aber wir werden nicht müde zu betonen: Diese
Meinung bezieht sich in der Regel auf ein virtuelles Afghanistan, das nur im
Diskurs der jeweiligen westlichen Entsendeländer existiert. Dieses Afghanistan
des »Heimatdiskurses« ist primär eine Projektionsfläche, und Projektionen sind
selten so kompliziert wie die Wirklichkeit. Kurzum: Das
Heimatdiskurs-Afghanistan ist einfacher als das wirkliche Afghanistan.
Unsere Kernaussage ist, dass
es eine einheitliche oder eindeutige Strategie für Afghanistan nur für das
Heimatdiskurs-Afghanistan geben kann. Im wirklichen Afghanistan ist die soziale
Differenzierung und Ausdifferenzierung jedoch weit vorangeschritten. Das liegt
auch an der Anwesenheit der Intervenierenden, unser Term für nicht-einheimische
Entwicklungshelfer, Berater, Militärs und selbst Forscher und Journalisten: Die
zahlreichen zusätzlichen Akteure erzeugen zusätzliche soziale Strukturen, die
teilweise mit den afghanischen derart eng verwoben sind, dass es müßig ist,
noch zwischen afghanischer Gesellschaft und den Interventionstruppen zu
unterscheiden. In Afghanistan gibt es eine Interventionsgesellschaft, die aus
allen Akteuren besteht. Diese Gesellschaft ist ähnlich komplex wie die
deutsche, und so, wie es keinen Generalplan für Deutschland gibt, wird es
keinen Generalplan für Afghanistan geben können.
Bislang hofft man aber auf
die »richtige Strategie«, mit der Afghanistan modernisiert werden kann. Wir
betonen seit Langem, dass sich das Vorgehen der intervenierenden Akteure in
Afghanistan nach den Notwendigkeiten im Land orientieren muss und nicht nach
den politischen Großwetterlagen in den Entsendeländern (Daxner/Free 2009,
Daxner/Free/Schüßler/Thiele 2007). Das würde bedeuten, dass die einzelnen
Akteure sich neu sortieren müssen – sowohl im Land als auch auf der Ebene der
internationalen Politik. Was alle, die sich zu Afghanistan äußern, bedenken
sollten: Aus einer Situation unabgeschlossener Überlegungen und geringer
empirischer Belegdichte für Prognosen sollen simplifizierte Tendenzen –
Optimismus, Pessimismus et cetera – nicht herausgelesen werden.
Der Nahostkonflikt und
Afghanistan
In der hochangesehenen New
York Review of Books gibt es eine im Ton angenehm unhysterische
Auseinandersetzung über die Rolle der israelischen Armee im Gaza-Krieg dieses
Jahres,(1) die vieles behandelt, was auch in Afghanistan diskussionswürdig ist.
Im Dialog prominenter Liberaler, unter ihnen die bekannten Philosophen Michael
Walzer und Avishai Margalith, geht es darum, was militärisch überlegene Armeen
machen dürfen, wenn sie in asymmetrische Kriege eintreten. Uns geht es um zwei
Aspekte, die Shlomo Avineri, von der Hebräischen Universität Jerusalem, und
Zeev Sternhell, Emeritus ebenda, einbringen. Avineri, Walzer und Margalith
diskutieren das Argument, dass die Amerikaner den afghanischen Zivilisten so
viel Sorgfalt angedeihen lassen müssten wie ihren Landsleuten zu Hause, woraus
sich wiederum eine analoge Politik Israels gegenüber den Zivilisten im Gaza
ableite. Avineri weist das Argument scharf zurück, Walzer und Margalith drehen
es weiter: Sie fordern, dass Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht
von der Nationalität der Gefährdeten im Risiko- oder Kriegsgebiet abhängen
dürften. Wenn ich Menschen in Deutschland oder Israel oder den USA vor
Terroristen schützen möchte, sollte geboten sein, dass ich die Zivilisten im
Gaza oder in Afghanistan ebenso schütze wie die deutsche, israelische oder
US-amerikanische Bevölkerung, auch wenn ich mit aller Gewalt gegen die
Terroristen, Hamas oder die Taliban vorgehe. Hier dürfe man nicht differenzieren:
Alle Menschen sind in gleichem Maße vor Terrorismus zu beschützen, auch wenn
die Terroristen sich unter eine bestimmte Bevölkerung gemischt haben und wohl
möglich sogar von Teilen der Bevölkerung unterstützt werden. Das ist doch
naheliegend, oder?
Aber an der Bedingung des
zweiten »Wenn« hängt das Problem: Was hat der Kampf gegen die Taliban mit dem
Schutz der US-amerikanischen Zivilbevölkerung zu tun – oder der israelischen
(im Kampf gegen Hamas) oder der deutschen Zivilbevölkerung? Auch hier ist das
Problem, dass in den USA und den ISAF-Ländern der Afghanistan-Einsatz mit dem
Schutz der eigenen Bevölkerung legitimiert wird – der Kriegszweck bleibt an die
Heimat gebunden, während der Kriegsschauplatz externalisiert wird.
Und dann gibt es noch ein
zweites Problem: Walzer und Margalith fordern eine »Rückkehr« zu ethischen
Regeln der Kriegsführung. Seit Anbeginn von Operation Enduring Freedom und ISAF
hat die Kritik am systematischen und kollateralen Töten von Zivilisten die
Berichterstattung und Bewertung der Ereignisse begleitet. UNAMA ist bei den
Amerikanern und der Nato vorstellig geworden, Karzai hat das Problem immer
wieder und zuletzt in zunehmend undiplomatischen Formulierungen angesprochen,
zum Unwillen der Militärs und der meisten Regierungsvertreter der Entsendeländer.
Die Taliban haben mit der Hamas eines gemein – viele von ihnen sind »Zivilisten«,
während andere explizit militärisch ausgebildete Kämpfer sind. Und oft spielt
die afghanische Zivilbevölkerung eine ähnliche Rolle wie die palästinensischen
Familien, die freiwillig oder erzwungen die Insurgenten schützen. Hier endet
die Analogie. Aber das Problem sollte deutlich sein: Mit dem Aufbau der
afghanischen Armee und Polizei allein ist es nicht getan, solange die
Intervention den Afghanen nicht körperliche und rechtliche Sicherheit gewährt.
Denn ob nun afghanische Polizisten Zivilisten erschießen oder NATO-Soldaten;
die Toten bleiben Opfer der westlichen Intervention – zumindest aus der Sicht
der meisten Afghanen. Es ist schließlich alles andere als klar, ob das heutige
Afghanistan von der Mehrheit der Afghanen als ihr Staat angesehen wird, also
das politische Gebilde, das sie kollektiv repräsentiert, oder als Staat der
Intervention, also als prinzipiell willkommene, aber oktroyierte Struktur, die
erst »afghanisiert« werden muss, weil sie zu sehr auch die Ideologie und
politische Kultur der Intervenierenden repräsentiert. Deswegen sind auch
afghanische Polizisten oder Soldaten erst einmal ähnlich fremd wie US-Marines
oder deutsche Soldaten.
Gewiss sind die Opferzahlen
in Afghanistan auch nicht ausschlaggebend dafür, ob die Afghanistan-Mission
scheitert oder nicht. Dennoch kann es sich als sehr hilfreich erweisen, dass in
Afghanistan die US-Militärs stärker als jemals zuvor versuchen, die negativen
Auswirkungen des Kampfs gegen Taliban auf die Bevölkerung zu minimieren. Sinnfälligstes
Zeichen dieser Anstrengungen ist ein neues Handbuch, das General Stanley
McChrystal, der Oberkommandant der NATO- und US-Truppen in Afghanistan,
verfasst hat. Das nur sieben Seiten lange Dokument fordert unmissverständlich
den Schutz der Zivilbevölkerung unter allen Umständen: »Die Afghanen sind der
Grund für unseren Einsatz. Sie zu beschützen ist die Mission. ... Werde die
konventionelle Denkweise los. Konzentriere dich auf die Menschen, nicht auf die
Aufständischen.«(2)
Deutschlands Freiheit und
Sicherheit werden nur sehr indirekt im Kampf gegen die Taliban verteidigt. Was
also in diesem Kampf ethisch geboten ist, hängt von einem anderen Zweck ab als
der eigenen Sicherheit – dieser rechtfertigt ja jede Angriffs- und Präventionshandlung
mit allen Mitteln. Also muss die Kondition, unter der gekämpft wird, ausgetauscht
werden. Wir haben das auf die Kurzformel der Freiheit der Afghanen gebracht,
wohl wissend, welche Randbedingungen – Frieden in der Region, Wirtschaftsinteressen,
internationale Verflechtungen und so weiter – noch zu bedenken sind, die
General McChrystal seiner Rolle entsprechend nicht bedenkt.
Wendet man darauf die
Forderung nach der akzeptierten Ethik der Kriegsführung an, dann kommen wir
sehr schnell zum Paradox, dass in Afghanistan ein Krieg geführt wird, ohne dass
es Krieg gibt. Zumindest gibt es nicht diese Art von Krieg, für die jene ethischen
Regeln entwickelt wurden, deren Gültigkeit heute wieder eingefordert wird. Das
hat zur Folge, dass die ethischen Regeln in der Praxis dessen, was ja schon geschieht
und nicht erst geplant ist, überdacht werden müssen. Eine einfache, problemlose
Rückkehr zum fairen Krieg gibt es nicht – jedenfalls nicht in derart asymmetrischen
Kriegen wie dem in Afghanistan und im Gazastreifen.
Eine dieser ethischen
Leerstellen ist, wie wir, der Westen, damit umgehen, wenn die Befreiten von
jemandem politisch repräsentiert werden, der nicht hält, was er verspricht.
Karzai war einmal ein Hoffnungsträger, jetzt gilt er als Teil des Problems. Wie
verhält man sich nun gegenüber einem Staatsmann, den man anfangs unterstützt
hat? Wir, die beiden Autoren, haben immer gefordert, dass die Interventionstruppen
den Kampf der Afghanen, Kurzformel: Karzais Staatsgründungskrieg, unterstützen
sollen. Aber heute stellt sich alle Welt die Frage, ob der Mann mehr ist als
ein Name; ob er der charismatische Führer sein kann, der »sein« Land in die Demokratie
und Freiheit führt, von uns gestützt und geschützt. Ist das überhaupt »unser«
Problem? Ja, ist es, schließlich wurde Karzai bereits 2001 als »unser Mann«
auserkoren und deswegen auch als Präsident der Übergangsregierung durchgesetzt
(Rashid, 2008). Aber was dürfen wir tun, um das Karzai-Problem zu lösen, ohne
in kolonialistische Muster zurückzufallen? Oder, konkreter gefragt: Ist
Wahlbetrug in Afghanistan eigentlich ebenso schlimm wie Wahlbetrug in
Deutschland?
Janus Karzai und
Doublette Abdullah
Präsident Karzai wird in
diesen Tagen als ein Freund und Komplize von Bush dargestellt. Das war nicht
immer so. Wenn man die Geschichte seiner Präsidentschaft von Anfang an
verfolgt, gab es erhebliche Reserven der Amerikaner gegen ihn. Die Berichte der
Botschaften über Karzai waren durchweg negativ, auch noch nach 9/11. Karzai verschaffte
sich aber Respekt, als er ohne Rückendeckung der USA Anfang Oktober 2001 aus
Pakistan nach Afghanistan reiste, um gegen die Taliban zu kämpfen. Er schaffte
tatsächlich, sich mit einem Motorrad bis in die Provinz Uruzghan
durchzuschlagen, wo er von den Taliban gestellt wurde. Karzai konnte jedoch
entkommen und zog sich auf Gesuch von CIA-Agenten nach Helmand zurück. Auch
wenn sein Husarenritt durch Südafghanistan militärisch recht ergebnislos war,
wurde Karzai nun von den US-Amerikanern ernst genommen. Ein US-Agent erklärte
dieses Umdenken recht lakonisch: »Er war der einzige Paschtune, der gegen die
Taliban kämpfte und am Leben blieb« (Rashid, 2008, S. 88). Und weil der neue
Präsident Afghanistans aus Gründen des ethnischen Proporzes ein Paschtune sein
musste, legte sich die US-Regierung nun auf Karzai fest.
Weil sein Handlungsspielraum
von Anfang an relativ begrenzt war,(3) könnte man ihn eher als einen
politischen Tributär des amerikanischen Imperiums an dessen Peripherie
verstehen, der relativ allein gelassen die Akzeptanz seines Staatsvolks
gewinnen und behalten musste. Die Anhänger Karzais der ersten Jahre, soweit auf
unseren politischen Diskurs eingestellt, argumentierten zu seinen Gunsten mit
seiner »überethnischen« Einstellung, seinem Geschick, seine »ethnische«
Position als Angehöriger der paschtunischen Elite einzubringen, seinem Charisma
der Integration von Stammesführern, seinem Habitus. Allerdings war die
Vorstellung, er würde die »Nation« zugleich schaffen und »einen«, unter den
Afghanen noch weniger als unter den Intervenierenden sehr ausgeprägt.
Gewiss ist Karzai den
Umständen entsprechend korrupt. Zweifelsohne hätten sich die meisten Menschen
im Westen und auch viele Afghanen einen Präsidenten gewünscht, der deutlicher
die afghanische Geschichte von Verrat, Vetternwirtschaft und ewigen latenten
Konflikten hinter sich gelassen hätte. Aber so verständlich Wünsche nach
Schlussstrichen und einem Neustart sind, es sind nur Wünsche: Kein Staatsführer
kann nach einem Krieg einfach von vorne anfangen. Vor allem nicht in Afghanistan,
wo es viele unterschiedliche Interessenlagen gibt: Den Reformisten geht die
Reform nie schnell genug, die Kriegsgewinnler konsolidieren ihre Gewinne, und
klare Fronten gibt es eh nicht, weil traditionelle Strukturen alle politischen
oder ökonomischen Fraktionen aufweichen. Kurzum: Es ist ein derartiges
Durcheinander, dass niemand sagen könnte, worunter Schlussstriche gezogen
werden sollten.
Aber nicht nur Karzais
vermeintlicher Unwille zur Transparenz und die afghanische Kultur des erkauften
Konsens begünstigen Korruption. Was gerne vergessen wird, ist der Einfluss der
von westlichen Experten maßgeschneiderten Verfassung. Die Amerikaner
oktroyierten eine Präsidialverfassung, die viel weniger flexibel und
transparent ist als eine Doppelspitze in Präsident und Premierminister (Rubin
2004). In der Position des einsamen Staatsführers bleiben symbolische und reale
Herrschaft verschlungen, was selbstredend nicht zur Rationalisierung des
politischen Geschehens in Afghanistan beiträgt.(4) Und weiter: Die Amerikaner
sorgen dafür, dass es in Afghanistan ein Wahlsystem gibt, das ethnische
Segmentierung fördert und Parteienbildung entlang von inhaltlichen Gegensätzen
verhindert (Suhrke 2008). Karzai sollte keine allzu mächtige Opposition
erhalten, um das Land ohne starken Widerstand in die friedliche Zukunft zu
führen – ein löbliches Gedanke, aber dafür eine derart pseudo-demokratische
Verfassung einzurichten, widerspricht dem Grundgedanken jeder republikanischen
Demokratie, checks and balances.
In jüngster Zeit hört man
oft, dass das Präsidialsystem aufgeweicht werden könnte, auch um Platz zu
schaffen für eine Regierung der nationalen Einheit nach afrikanischem Vorbild
(Lemarchand 2007). Darauf spekuliert Dr. Abdullah Abdullah, der frühere Außenminister,
Halb-Tadschike und Halb-Paschtune, der größte Konkurrent Karzais in der
Stimmauszählung. Ein enger Berater Abdullahs und früherer Minister unter Karzai
charakterisiert Abdullah mit all den Attributen, die früher Karzai bekommen
hatte – überethnisch, integrativ, nicht korrupt et cetera, wofür es in
Abdullahs Biografie wenig Anhaltspunkte gibt. Möglicherweise entstehen unter
manchen Afghanen – den Eliten zumal – Ansätze jenes republikanischen Motivs,
wonach ein Wechsel nicht auf pragmatische, sondern prinzipielle Gründe aufbaut:
Irgendwie fühlt man, dass es einfach an der Zeit ist, dass die Regierung
wechselt – nicht aus konkreten inhaltlichen Gründen, sondern weil sich in der
praktizierten Machtübergabe der republikanische Grundgedanke der Polis
bewährt. Dem »Neuen« wird das kreditiert, was der »Alte« verspielt hat.
Wir können das nicht
empirisch so belegen, wie wir es in Deutschland könnten. Die Meinungsumfragen
geben das nicht her, und eine »Stimmungsdemokratie« in Afghanistan lässt sich
mit Obamas »Yes, we can!« nicht vergleichen. Aber wir stützen die Ansicht auf
drei jedenfalls in Ansätzen belegbare Sachverhalte: Zum einen kennen wir hinreichend
viele vor allem junge Parlamentarier/-innen, Menschenrechtsaktivisten und New
Professionals, die relativ ungeschützt die Zeit unter Karzai und den
Amerikanern als eine Übergangszeit bezeichnen; zum anderen wissen wir von
vielen offenen und verdeckten Wechslern in das Lager von Abdullah oder Ghani,
die das fast ausschließlich mit dem nötigen Wechsel und nicht wirklich
inhaltlich begründen; und zuletzt: Republikanismus ist in
Transformationsperioden den Menschen plausibler und wichtiger als Demokratie.
Das Letztere ist eine starke Hypothese, die wir zurzeit nur insoweit ausführen,
als wir, so wie in vielen sich aus der Tradition emanzipierenden Gesellschaften,
auch in Afghanistan feststellen, dass die politisch Interessierten mehr daran
interessiert sind, die Bedingungen von Demokratie kennenzulernen, als eine Demokratie
einzuführen, die ihren Erfahrungen und lebensweltlichen Regeln widerspricht.
Kennt man die Bedingungen – ideengeschichtlich ist ja Republikanismus älter und
grundlegender als Demokratie und hat insofern Demokratie bedingt –, ist es
leichter, sich kollektiv eine passende Demokratieform zu geben. Ob es naiv ist,
wenn sich dieser prinzipielle republikanische Impuls als diffuses
Wechselbegehren manifestiert – der Neue wird’s besser machen, er kann es nur
besser machen – oder der Wechselwillen prinzipiengeleitet ist, können wir
unmöglich per Ferndiagnose feststellen; wahrscheinlich ist beides der Fall. In
dieser Ungewissheit zeigt sich abermals, wie nachteilig es ist, dass es keine
afghanische Sozialwissenschaft gibt.
Wir sagten: Abdullah sei
Karzais Konkurrent in der Stimmauszählung, nicht bei der Wahl. Das Wahlergebnis
hat mit der Wahl nicht so viel zu tun wie in deutschen Wahlen. Man kann den
Wahlbetrug Karzais nicht schönreden: Wenn auch nur ein Bruchteil der 2600
Anschuldigungen stimmt, die bei der entsprechenden Kommission eingegangen sind,
könnte man nicht mehr von einer fairen Wahl sprechen. Mehrere hochrangige Augenzeugen
haben unabhängig voneinander berichtet, dass ungefähr 800 Wahllokale nur auf
dem Papier bestanden, deren Wahlleiter aber dennoch ausgefüllte Stimmzettel vorweisen
konnten. Ein westlicher Diplomat sagte der New York Times, dass
mindestens 15 Prozent der Stimmen zugunsten Karzais gefälscht worden seien. Aus
Kreisen der afghanischen Wahlkommission war zu hören, dass alle Stimmen aus 447
Wahllokalen annulliert werden sollen. Die Wahlkommission hat bereits angekündigt,
dass in großem Unfang Stimmen erneut ausgezählt werden müssen.(5)
Das ist nicht schön, war
aber zu erwarten. Wie manche angesehene Kommentatoren zu fordern, dass
demokratische, geheime und faire Wahlen in einem Land wie Afghanistan nach
unseren Vorstellungen ablaufen sollen – und Wahlen sind ziemlich gefestigt und
fair bei uns – war schon im Kosovo naiv, war 2004 in Afghanistan naiv und ist
es auch jetzt. Diese Forderung zeigt nur, wie tief die Hoffnung sitzt, dass
demokratische Verfahren die Welt verbessern könnten. Gefährlicher, weil
folgenreicher als diese letztlich sympathische Hoffnung ist es, dass Obama und
Merkel die Wahlen am 21. August zunächst in den Himmel gelobt hatten, bevor
irgendwelche verlässlichen Berichte über die Wahl vorlagen, und angesichts der
später bekannt gewordenen Vorkommnisse jetzt, wegen der
Wahlbetrugsbeschuldigungen, Verdruss über Karzai sowie die Wahlverantwortlichen
zeigen (SZ, 29./30.8.09).
Karzai hatte vor der Wahl
zwei umstrittene Verbündete in sein Lager geholt. Ob er deshalb die Wahlen eher
gewonnen oder verloren hat, hat damit erkennbar wenig zu tun. Offenbar wird es
aber im Westen, bei den Paschtunen und bei den »Republikanern« (s. o.) aus verschiedenen
Gründen nicht durchgängig goutiert, dass sich Karzai die beiden großen Warlords
Dostum (Usbeke) und Fahim (Tadschike aus dem Panjirtal) zu künftigen
politischen Stützen und Kabinettsgrößen erkoren hatte, obwohl beide einen üblen
Ruf in Menschenrechts- und Korruptionsfragen haben. Manche hatten angenommen,
dieser Zug würde Karzai seine paschtunische Wählerschaft abspenstig machen,
weil er sich zu sehr mit den Überbleibseln der generell anti-paschtunischen
Nordallianz einließe. Nun, auch zur Wahl im Jahr 2004 war Karzai von alten
Nordallianz-Warlords offen unterstützt worden, was aber seinem Zuspruch vonseiten
der Paschtunen nicht sehr geschadet hatte.
Womöglich ist sein Kalkül,
mit diesen erfahrenen Kommandanten den Kampf gegen die Taliban brutaler, aber
effektiver zu machen und ihn zu »nationalisieren«. So würde es Karzai
erleichtert, den Abzug der internationalen Truppen zu verlangen – oder zu überstehen.
Wenn es Dostum und Fahim gelänge, die Taliban zu kontrollieren oder gar abermals
zu vertreiben, wäre es ein bitterer Sieg, denn die Zivilbevölkerung und die Menschenrechte
würden durch diese beiden Generäle gewiss nicht besser geschützt als durch die
ISAF. Wenn aber Dostum und Fahim nur vorgeschobene Figuren für das Unbehagen
der Politik wären, sähe sich Karzai im Falle eines hypothetischen »Erfolges«
gegen die Taliban bestärkt und könnte nationalistischer argumentieren als
bisher.
Dem Schachzug kann man eine
»realistische« Position nicht absprechen. Die Zerschlagung der tamilischen
Rebellen in Sri Lanka hat gezeigt, dass eine Regierung dann gegen Aufständische
gewinnen kann, wenn sie buchstäblich über Leichen geht und ebenso ruchlos agiert
wie diejenigen, die sie bekämpft. NATO-Truppen können so schlichtweg nicht
operieren. Dostums und Fahims Männer würden da weniger Probleme haben.
Afghanistan soll ja eine
Nation werden, also mehr sein als eine Bezeichnung einer Verwaltungseinheit.
Ein Nationalstaat gilt schließlich als stabiler als andere Staaten (Hippler
2004). Zudem ist das Prinzip des Nationalstaats derart fest in der politischen
Kultur eingebrannt (Smith, 1995), dass im Grunde immer von einem Nationalstaat
die Rede ist, wenn es um Staatsaufbau geht (Rubin, 2005). Da man also ein
Nation-Building seitens des Westens forciert anstrebt, müssten die
Intervenierenden eigentlich die nationale Seite der Politik stärken. Aber kann
man das vertreten, wenn Dostum und Fahim die Taliban niedermetzeln sollten? Im
Endeffekt würde es gewiss einer nationalen Einigung zugutekommen, wenn die
Taliban als Machtfaktor ausgeschaltet werden, nur würde der angestrebte
Rechtsstaat unter einer solchen Entwicklung erheblich leiden oder gar nicht
zustande kommen.
Da ist die Frage, was sich
die Menschen in Afghanistan am meisten wünschen: körperliche Sicherheit
(die Aufständischen werden nach einer kurzen, blutigen Kampagne niedergeschlagen,
anschließend Friedhofsruhe) oder rechtliche Sicherheit (Eigentumsrechte,
Bürgerrechte, geregeltes Zusammenleben)? Wenn man eine soziale und gerechte
Gesellschaft aufbauen möchte, muss man seine Finger im Spiel behalten, auch
wenn Dostum und Fahim in die Regierung integriert werden. Dann muss man selbst
dann noch mitspielen, wenn sogar Taliban in die Regierung aufgenommen werden
sollten, als Zeichen der nationalen Versöhnung. Da müssten in westlichen
Hauptstädten und in internationalen Organisationen viele Impulse zum
moralischen Aufbegehren heruntergeschluckt werden. Aber das Einzige, was die
Intervention rechtfertigt, ist, wenn das Staatshandeln und das Leben in
Afghanistan insgesamt besser werden. Wenn diese Verbesserung vermittelt ist
durch eine unbarmherzige Schlachtung von Taliban – sowohl echten als auch
vermeintlichen –, geraten die Intervenierenden in einen unlösbaren Widerspruch
zwischen pragmatischen Erfordernissen am Ort und der legitimen Empörung des
Heimatdiskurses darüber, dass unter den Augen der Menschenrechts-Garanteure
Milizen mit staatlicher Duldung Menschen töten.
Nun, hoffentlich scheitert
dieses Szenario an seinen zahlreichen »Wenns«. Es ist ja auch gar nicht gesagt,
dass Dostum und Fahim ebenso schnell gegen die Taliban erfolgreich sein würden
wie die pakistanische Armee im Swat-Tal. Aber auch wenn es nicht zu dem
Dostum-Fahim-Feldzug gegen die Taliban kommt, stehen die Intervenierenden vor
einem Dilemma: Es ist ja bereits in den letzten Jahren deutlich geworden, dass
Nationsbildung zumeist eine blutige Angelegenheit ist und dass es – hier ist
die spezielle Lehre aus Afghanistan – zulasten des nationalen Selbstaufbaus
gehen kann, wenn versucht wird, den Staatsgründungskrieg gegen die zahlreichen
Intermediärakteure an im Grunde unbeteiligte Ausländer zu delegieren und
dadurch auf eine Zivilisierung und Beschleunigung des Staatsaufbaus zu hoffen.
Die entscheidende Frage aus Sicht des Heimatdiskurses ist schon jetzt, ob man
die Gegner des Staatsaufbaus in Afghanistan so besiegen kann, dass die
moralische Weste des Westens einigermaßen weiß bleibt, oder ob man in Kauf
nehmen will, dass man zwar gewinnt, aber dafür zeitweilig einige der
Universalismen außer Kraft setzen muss, wegen denen man eingangs die
Staatsaufbau-Intervention initiiert hatte.
Noch einmal, in aller
Deutlichkeit: Wir sind keine Gegner der Intervention, aber wir machen darauf
aufmerksam, dass fast alle ausgesprochenen und impliziten Erwartungen an die
Intervention unrealistisch waren. Die Planungen waren ungenügend, Schwierigkeiten
wurden ignoriert; die Wähler sollten ja nicht beunruhigt werden (Kornelius
2009, Korski 2008). In den USA ist seit dem Regierungswechsel etwas mehr
Offenheit und Nachdenklichkeit eingezogen. Aber in Deutschland? Nun, immerhin,
man redet wieder über Afghanistan.
McChrystal hat recht –
mehr Besatzung, weniger Krieg
Der Krieg setzt sich langsam
in den Diskursen und Gefühlen der Menschen in Deutschland fest. Spätestens nach
der Diskussion bei Anne Will (23.8.09) war klar, dass sich die Auffassung des
Kriegszustandes in ambivalenter Form zu verfestigen beginnt. Die Ambivalenz
lautet, sehr verkürzt: Ja, es ist Krieg in Afghanistan; Ja, wir sind
beteiligt an diesem Krieg; Nein, wir sind nicht hier im Krieg, wir sind dort im
Krieg.(6) Das Dort, die Externalisierung, wurde durch zwei
Bundeswehrangehörige bei dieser Diskussion repräsentiert, einen schwer
verwundeten und beinamputierten ehemaligen Soldaten und einen Hauptfeldwebel,
der als Erster die Tapferkeitsmedaille erhalten hatte, weil er Kameraden
gerettet hatte. Die beiden Bundeswehrangehörigen haben viel deutlicher als Jung
(Minister) und Wolffsohn (Professor an der BW-Universität) betont, dass sie den
Kampf an der Seite der Afghanen um deren Freiheit willen führen und dies
als richtig empfänden. Da war von der Verteidigung unserer Sicherheit nicht
viel die Rede, überhaupt greift das Argument nicht mehr, seitdem 9/11 eher
negativ mit dem Verlust der amerikanischen Würde in Abu Ghraib und Bagram
(Afghanistan) konnotiert ist als mit weiter bestehender Bedrohung.
Al-Qaida ist eine virtuelle
Gefahr, die nicht größer oder kleiner wird, wenn das Innenministerium unsere
Freiheitsrechte einschränkt oder bewahrt. Und in Afghanistan ist al-Qaida seit
Jahren nicht mehr (sondern mittlerweile in Pakistan). Die Taliban können so gut
wie jede andere Terrorgruppe einen Anschlag machen, ob Schäuble oder BKA-Chef
Zierke darauf gefasst sind oder nicht. Nur, die Taliban interessieren sich
nicht für Deutschland oder die USA, sie kämpfen um ihre Version von Afghanistan
in Afghanistan und Pakistan gegen Akteure in Afghanistan und Pakistan.
Es kommt aber nicht auf die
konkreten globalen Zerstörungspotenziale an, sondern auf die Risiken. Im
Fall Afghanistans hat der amerikanische Oberbefehlshaber McChrystal dies
anscheinend begriffen und versucht eine entsprechende Taktik umzusetzen.
Nicht die Taliban zu
verfolgen, mit ihnen Krieg zu führen, ist der neue Ausgangspunkt des
US-Handelns, sondern die Dörfer und Menschen zu beschützen und zu verteidigen.
Das Potenzial der Taliban wird nicht direkt dadurch verringert, dass die NATO-Soldaten
afghanische Zivilisten beschützen, und deswegen hatte lange Zeit ihr Schutz
nicht Priorität. Doch mit den gegebenen Möglichkeiten können weder die Special
Forces der USA noch die NATO dieses Zerstörungspotenzial der Taliban hinabsetzen.
Also soll man nun tun, was man kann: Man bleibt als Garnison vor Ort, man reduziert
das Risiko von Angriffen durch ständige Bereitschaft, einen konkreten Ort zu verteidigen.
Beschützen heißt: mehr Soldaten über längere Zeit im Land verteilt auf alle Orte,
die Ziel der Taliban sein könnten. Das steht nicht im Widerspruch zu der
sogenannten Integrierten Strategie von Präsident Obama im AfPak(7) und offenbar
auch nicht zur Haltung der afghanischen Bevölkerung zur Anwesenheit von fremden
Truppen (Koehler, 2008). Aber bisher sieht es nicht so aus, als stünden
ausreichend Truppen zur Verfügung, um die eroberten Gebiete zu sichern. Es
bleibt also beim alten Lied vom Wettlauf zwischen Hasen und Igel. Die Taliban
sind immer schon da – weil die westlichen und afghanischen Truppen nicht
überall gleichzeitig sein können.
Und wenn die
Interventionstruppen am Ort sind, können sie Fehler machen, was wiederum den
Taliban in die Hände spielt. Ein Vorfall wie der vom 4. September in Kunduz ist
geeignet, das Vertrauen in die schützende Anwesenheit der Militärs zu
untergraben; viele Zivilisten starben durch eine Luftattacke der ISAF, weil die
Bundeswehr die Lage als für sich so brisant eingeschätzt hatte, dass sie
offenbar die Bomber bestellten, ohne die Gesamtsituation hinreichend erfasst zu
haben.(8) Selbst wenn die deutschen Militärs alle subjektiven Gründe für sich
gehabt hätten, ändert das nichts an den negativen Folgen für die gesamte
Afghanistan-Mission und McChrystals neue Afghans First!-Strategie:
Sicherheit wurde eben nicht geliefert, sondern ihr Gegenteil: Verunsicherung.
Dennoch ist der
Strategiewechsel grundsätzlich richtig: McChrystal will nicht die Hearts and
Minds der Afghanen, sondern ihr Vertrauen. Der Unterschied ist
minimal, aber wichtig: In der Hearts and Minds-Konzeption sollte sowohl
gnädiges als auch überlegenes Handeln der Intervenierenden aus skeptischen
Afghanen dankbare und hörige Afghanen machen. McChrystal hat andere Pläne. Nach
seinen Vorstellungen soll sich die Taktik der Intervenierenden an den
Bedürfnissen der Afghanen ausrichten. Seine Nachricht ist: Wir (die
Intervenierenden) halten für euch (die Afghanen) unseren Kopf hin; wir kämpfen
nicht mehr gegen die Taliban, sondern für eure Sicherheit. Und weil das so ist,
wäre es auch für euch vorteilhaft, wenn ihr uns dafür sagt, wo die Sprengfallen
versteckt sind. Dazu ist Vertrauen notwendig, von beiden Seiten, aber kein
paternalistisches Abhängigkeitsverhältnis. McChrystal braucht emanzipierte
Afghanen, weil er von freundlicher Bevormundung nicht viel hält.
Was heißt also Krieg? Wenn
ISAF gegen Taliban kämpft, ist das ein Kriegszustand. In diesem Kriegszustand
gilt, was wir eingangs in der Analogie zu den israelischen Truppen im Gaza
gesagt haben. Dass Krieg ist, also in bestimmter Weise gewaltsam ein
Konflikt mit dem Ziel zu gewinnen ausgetragen wird, heißt nur scheinbar paradox
nicht, dass wir einen Krieg gegen den Terrorismus führen. Nicht jeder
Verbrecher ist ein Terrorist, nicht jeder Terrorist ist ein Bestandteil der
weltweiten Verschwörung gegen die westliche »freie« Welt. Al-Qaida und auch die
Taliban sind gerade nicht das Produkt sozialer Ungerechtigkeiten – die führen
zu sekundären Konflikten, die manchmal von den Taliban ausgebeutet werden (im
Swat-Konflikt zu Beginn des Jahres) oder zur Spaltung in unseren Friedens- und
Konfliktregelungsbewegungen dienen. Es geht um lokale Herrschaft, Macht, auch
um die traditionellen Monopole von Ehemännern und Schriftkundigen, um die
Verhinderung der Entstehung eines Demos – und wenn der Islam dafür herhalten
kann, dann wird er dafür genommen, ansonsten ist er den Drogenhändlern und
Waffenhändlern so gleichgültig wie anderswo andere religiöse Deckmäntel für das
Verbrechen. Deshalb sind die Taliban weder radikal-islamisch (jedenfalls nicht
als Ganzes), noch sind sie dasselbe wie al-Qaida, noch sind sie im regulierten
Krieg der NATO zu besiegen. Mit ihnen reden kann und wird man müssen, wenn
sie abgewehrt sind, im Einzelfall oder auf größerer Ebene.
Unabhängig davon, was
Dostum, Fahim und Karzai machen, wird eines deutlich, wenn Interventionstruppen
vermehrt und länger im Lande bleiben: Ein Ausstiegsszenario ist dringend
notwendig – sonst besteht die Gefahr, dass man sich in der Rolle des Beschützers
einrichtet. Obamas Strategie konnte man bis vor Kurzem so zusammenfassen: »Surge«
(= Draufhauen) und dann raus. Ein wenig wie im Irak, aber mit mehr Integration
ziviler Elemente, weniger zivilen Toten, mehr Aufbauhilfe und militärische Unterstützung
durch die Alliierten. Es versteht sich, dass dies angesichts der Ausweitung des
Kriegs auf Westpakistan keine Kopie der Irak-Erfahrung sein kann. Aber der
qualitativ neue Aspekt, den McChrystal anstrebt, würde einen absehbaren Rückzug
an mehrere Bedingungen knüpfen, die schwer miteinander zu vereinbaren und
ebenso schwierig zu erreichen sind:
– Der afghanische Präsident
und seine Regierung müssen eine so starke nationale Armee und Polizei vorweisen
können, dass ihnen nicht nur die Intervenierenden, sondern auch die eigenen
Bürger abnehmen, dass damit die Taliban im Schach zu halten sind sowie am
Wieder-Erstarken gehindert werden können (Aber wer soll das bezahlen? Hier
könnten die Privatarmeen von Dostum und Fahim helfen, aber wie sich diese
finanzieren, will man erst gar nicht wissen.).
– Die Rechtsstaatlichkeit,
die Institutionen und die Zivilgesellschaft müssen so weit entwickelt sein,
dass »man« sie weitgehend sich selbst überlassen kann, das heißt finanziell
unterstützt, aber nicht mehr von außen steuert. Ansonsten droht die Gefahr,
dass viele Regierungen und NGOs nach dem Abzug nach neuen Formen der
Intervention rufen, wenn die Zustände im Land »nicht hinnehmbar« erscheinen.
– Afghanistan braucht eine
Außenpolitik, die es jetzt noch nicht gibt. In Gesprächen mit Außenpolitikern
und Experten für Zentralasien hören wir oft, dass in den Stan-Staaten Umstürze
und Unruhen erwartet werden. Iran und Pakistan sind komplizierte Nachbarn mit
eigenen Interessen im Land, Russland, China und vor allem Indien sind regional
gewichtige Akteure, die amerikanische Alleingänge ausschließen. Wir denken dabei
nicht an großartige Bündnisse und Nichtangriffspakte, sondern die weitere
Regelung pragmatischer Probleme wie grenzüberschreitende Flüchtlingspolitiken,
Drogenhandel und grenzüberschreitende Arbeitsmärkte.
Deutschland im Krieg –
aber im Krieg der NATO
Es ist auffällig und wird
selten diskutiert, dass Deutschland nicht von sich aus den Afghanen nach dem
September 2001 zugesagt hat, dass man sich an der Erneuerung des Landes und der
Abwehr der Taliban beteiligen wolle. Der Wiederaufbau hätte ja in den alten
Bahnen – BMZ, GTZ, DED et cetera – weitergehen können, vielleicht in größerem
Umfang, qualitativ besser und stärker koordiniert. Es war die NATO, die der
Operation Enduring Freedom, die eine aggressive und nur eingeschränkt nützliche
Demonstration des War on Terrorism war, eine legitime Militärmacht zur
Seite und vor die Nase setzen wollte, die vor allem dem Aufbau der afghanischen
Sicherheitskräfte (Armee, Polizei, Geheimdienst) dienen sollte. Das ging nicht
reibungslos, weil ISAF und OEF sich anfangs nur im Weg standen. Weil die
Stabilisierungshilfe aber militärische Mittel braucht – schon lange vor der
Verschlechterung der Sicherheitslage –, wurde der internationale Terrorismus
als Legitimation im Heimatdiskurs herangezogen, um glaubwürdig zwei Ziele zu
verbinden: den Schutz der eigenen Bevölkerung und den des afghanischen Aufbaus.
Für Deutschland war nicht
der Aufbau, auch nicht 9/11, entscheidend für die Kooperation im Rahmen von
ISAF, sondern die Bündnisverpflichtung. Vielleicht haben wir das in früheren
Texten zum Problem zu wenig herausgearbeitet, wenn es um Deutschlands Rolle am
Hindukusch geht. Der militärische Aspekt ist ja nur die eine Seite des
NATO-Einsatzes. Der andere Aspekt, die Aufbauhilfe, und sei sie an militärische
Mittel gekoppelt, ist weit komplizierter: Wäre es denkbar gewesen, dass
Deutschland ohne NATO ein paar tausend Soldaten dem afghanischen Präsidenten
2001 zur Verfügung gestellt hätte, um deutsche Aufbauprojekte und -hilfen zu
beschützen und die Afghanen in ihrem Bemühen um Freiheit zu unterstützen? Nein,
das wäre nie passiert: Deutschland entzieht sich jeder Verpflichtung, indem auf
die Verantwortung der internationalen Organisationen verwiesen wird.
Es geht uns nicht darum,
diese Externalisierung des Handlungsdrucks während außenpolitischen Krisen zu
kritisieren. Aber wir wollen darauf aufmerksam machen, dass keine noch so
heftige Solidarität »der Deutschen« mit »den Afghanen« nach 2001 zur Entsendung
einer »Stabilisierungstruppe« im nationalen Alleingang geführt hätte. Bis auf
die USA hätten alle anderen Länder, genau wie Deutschland, auf die
Institutionen transnationaler Regulierung zugreifen müssen, um derartige
Absichten zu verwirklichen. Das heißt aber, dass der Heimatdiskurs nicht nur
ein deutscher ist, sondern mindestens noch eine Entsprechung hat: nämlich den
kollektiven Heimatdiskurs der NATO-Länder. Schon allein deswegen ist es unklug,
wenn das Interesse deutscher Politiker sich zu sehr auf die ihrer Wählerschaft
beschränkt.
Das Fazit unserer
Überlegungen zu diesem Punkt ist einfach: Die deutsche Stimme auf der
NATO-Führungsebene ist kaum wahrnehmbar im Afghanistan-Diskurs hierzulande. Das
macht es den Kritikern des Einsatzes leicht, von Militarisierung zu sprechen,
wo Entpolitisierung der richtige Begriff wäre. Das NATO-Bündnis hat ja noch
keine Antworten auf McChrystals neue Strategie.
Das könnte sich jetzt
schnell ändern. Nach der Kritik an der deutschen Taktik bei der
Tankwagen-Entführung am 4.9.09 in Kunduz ist der Konflikt innerhalb der NATO
keiner, der nur mehr auf Mäkeleien und Retourkutschen der Amerikaner an den
Deutschen reduziert werden darf. (Man meint in den USA und auch in vielen
Außenministerien, dass die Bundeswehr jetzt einmal das erlebt, was sie an der
amerikanischen Kriegsführung vor McChrystal so gerne kritisiert hatte.) Für uns
ist die Aufklärung, wie sie der Bundestag zu Recht verlangt, nur ein Aspekt;
der wichtigere ist, dass Außenpolitik und NATO-Politik gemeinsam überholt
werden müssen. Die Washington Post vom 8.9.09 (9) fasst zusammen, dass
der Krieg den jeweiligen Bevölkerungen bislang gar nicht erklärt worden war,
weil er der »Gute Krieg« war. Und dass die Ideologie von der Wiederaufbauhilfe
überholt sei ... Krieg sei eben Krieg. Also gut, dann reden wir über den Krieg
in Afghanistan und weswegen wir ihn führen. Aber bitte lasst uns dabei über das
wirkliche Afghanistan reden, nicht über das einfache Afghanistan des
Heimatdiskurses.
1
Avishai Margalith und Michael
Walzer: »Israel: Civilians and Noncombatants«, in: New York Review of Books,
No. 8, May 2009, S. 21 f.; die Repliken sind in Nr. 13, 13.8.09, S. 74.
2
http://www.NATO.int/Isaf/docu/official_texts/counterinsurgency_guidance.pdf
(zuletzt abgerufen: 4.9.09).
3
Jan Free: »Afghanische Vetternwirtschaft«, Zeit Online,
20.8.09, http://www.zeit.de/online/2009/34/afghanistan-klientelismus
(überprüft: 9.9.09).
4
Für einen echten »Amir« oder König, selbst noch für Zahir
Shah, galt das Prinzip der beiden Körper des Königs (Kantorowicz), und
das hätte dem Volk einen Anhaltspunkt einer echten »Spitze« ihres Gemeinwesens
und Staates gegeben ... Karzai hatte übrigens in Bonn 2001 auf einer
herausragend starken Position des Präsidenten bestanden.
5
»Recounts ordered in Afghan
vote«, BBC, 9.9.09, http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8243276.stm
(überprüft: 9.9.09).
6
Wobei deutlich darauf hingewiesen werden muss, dass diese Aussagen
nicht für Minister Jung und sein Ministerium gelten. Noch am 4. September hat
Jungs Pressesprecher den Begriff des Stabilisierungseinsatzes bekräftigt und
den des Kriegs ausdrücklich zurückgewiesen.
7
Vgl. Michael Daxner:
»Afghanistan: Graveyard of Good Intent«, in: World Policy Journal,
Summer 2009.
8
Der Webblog Sicherheitspolitik hat dazu eine
vorzügliche Dokumentation zusammengestellt:
http://weblog-sicherheitspolitik.info/2009/09/06/tanklaster-vorfall-was-ist-bekannt-aktualisierter-sammelbeitrag/
(zuletzt überprüft: 7.9.09).
9
Craig Whitlock: »Anger in
Germany over Airstrike«, in: Washington Post (0nline), 8.9.09.
Literatur:
Daxner, M./Free, J. H. (2009): »Afghanistan – europäische
und lokale Perspektiven. Gelernte Lektionen und zukünftige Aufgaben«, in: Kommune,
Heft 1/2009, S. 76–87
Daxner, M./Free, J. H./Schüßler, M./Thiele, U. (2007):
»Staatsgründungskrieg und Heimatdiskurs. Afghanistan – und die Grundlagen und
Probleme humanitärer Interventionen«; in: Kommune, Heft 6/2007, S. 62–81
Hippler, J. (Hrsg.) (2004): Nation-Building.
Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn:
Dietz
Koehler, J. (2008): »Auf der Suche nach Sicherheit. Die
internationale Intervention in Nordost-Afghanistan«, SFB-Governance Working
Paper Series 17/2008, Berlin: FU Berlin, SFB 700
Kornelius, S. (2009): Der unerklärte Krieg. Deutschlands
Selbstbetrug in Afghanistan, Hamburg: Edition Körber
Korski, D. (2008): Afghanistan:
Europe’s forgotten war, London: European Council on Foreign Relations
Lemarchand, R. (2007):
»Consociationalism and Power Sharing in Africa: Rwanda, Burundi, and the
Democratic Republic of the Congo«, in: African Affairs, London, 106
(422), S. 1–20
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Into Chaos. How the War Against Islamic Extremism is Being Lost in Pakistan,
Afghanistan and Central Asia, London: Allen Lane
Rubin, B. R. (2004):
»Crafting a constitution for Afghanistan«, in: Journal of Democracy 15
(3), S. 5–19
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»Constructing sovereignty for security«, in: Survival 47 (4), S. 93–106
Smith, A. D. (1995): Nations
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Suhrke, A. (2008):
»Democratizing a Dependent State: The Case of Afghanistan«, in: Democratization
15 (3), S. 630–648
In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009