Balduin Winter
1989 – Freiheit, Gerechtigkeit und Wirtschaft
Ob man die Revolution
vergessen habe, fragte Aleksander Smolar vor zehn Jahren (Transit 20/01), als Europa, im Westen wie im
Osten, ziemlich zurückhaltend dem Jahr der Epochenwende gedachte. Der Euphorie
über den Sturz der kommunistischen Diktaturen und die »Rückkehr nach Europa«
war allenthalben Ernüchterung gefolgt aufgrund der jugoslawischen Kriege; aber
auch wegen der »Mühen der Ebene« bei der demokratischen Transformation. »Die
großen Ereignisse von heute heißen Globalisierung, entfesselte Kapitalbewegung,
Informations- und Biotechnologien. Nach welchem Bezugssystem ordnen wir heute
die Ereignisse in die Geschichte ein? Worin besteht heute die große Erzählung?
Wie kann man heute Visionen für die Zukunft formulieren? Die Geschehnisse, über
die wir hier sprechen und die doch erst vor kaum mehr als zehn Jahren
stattfanden, scheinen heute anachronistisch, als gehörten sie einer fernen, abgeschlossenen
Vergangenheit an. Die große Zäsur des Jahres 1989 rückt die Schlüsselereignisse
von damals in den Bereich der Prähistorie. So ermöglichte es das Jahr 1989 der
Welt, das Buch der Vergangenheit zu schließen.«
Doch blitzt 1989, dieses
»annus mirabilis«, immer wieder in erstaunlicher Weise als zentrales Element
auf. Radka Denemarková aus Prag, geboren im Jahr des Frühlings und der
sowjetischen Invasion, hat 2006 einen inzwischen hoch dekorierten, nun ins
Deutsche übersetzten Roman geschrieben: Ein herrlicher Flecken Erde
(DVA, München 2009). Sie erzählt die Geschichte der Gita Lauschmannová, Tochter
eines Großgrundbesitzers, die 1945 aus der Tschechoslowakei flüchten muss und
60 Jahre später »heimkehrt«. Der Besitz im mährischen Puklice in der Nähe von
Jihlava (Iglau) ist enteignet, Fremde leben da, der »Deutschen« schlägt, wie
einst, Hass entgegen. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung. Es geht
nicht um Rückgewinnung eines Stück Landes, vielmehr entrollt sich vor dem Leser
die Biografie einer deutschen Jüdin, die 1945 aus dem Konzentrationslager kommt
und vor dem tschechischen Antisemitismus fliehen muss. Der Frau geht es um
Gerechtigkeit. Und zwar um Gerechtigkeit jenseits der kurzsichtigen
Siegermentalität, die Rache und Vergeltung für erlittenes Unrecht zur
Gerechtigkeit erklärt. Um Gerechtigkeit jenseits einer Klasse und ihrer diktatorischen
Sachverwalter. Aber jene Gerechtigkeit, die ihr vorschwebt, findet sie weder in
der kurzen Nachkriegsphase noch während des kommunistischen Regimes. Aber auch
nach der »Wende«, nein, nach der friedlichen Revolution – »Wende« ist, wie
Dieter Rulff in Vorgänge 185 (1/09) feststellt, eine »posthume Weichzeichnung«
– bleibt der Kampf der alten jüdischen Dame für Gerechtigkeit enorm schwierig,
ihr Tod beendet ihn, ungelöst, auch wenn er einiges Nachdenken auslöst.
Es geht hier um mehr als
eine tschechische Stimme zu Verfolgung und Vertreibung. Indem Radka Denemarková
das Thema der Gerechtigkeit in die Zeit der Demokratie nach 1989 hinaufzieht,
wirft sie implizit eine der drängendsten Grundfragen Zentraleuropas auf, über
die György Konrád schon 1990 eher resignierend im Kursbuch bemerkt hat:
»Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hier in Osteuropa ist ziemlich trostlos.
... Die Ermordung von zwei Dritteln des europäischen Judentums war nicht nur
das Werk der Deutschen. Die faschistischen Bewegungen der gesamten Region haben
dabei mitgewirkt.« Die Literatur bringt wieder und wieder ins Gedächtnis, was
die Politik bislang unbeantwortet lässt.
Kein Zweifel, die
Freiheit war das überragende Gut, das es 1989 zu erkämpfen galt. Ohne sie ließen sich Denemarkovás Fragen gar nicht
stellen. In seinen »Reflexionen über 1989« tritt Adam Michnik zur »Verteidigung
der Freiheit« (Osteuropa 2-3/09) an: »Der Kampf gegen den Kommunismus
offenbarte den Glauben an den Sinn menschlicher Freiheit. Doch diese Freiheit
brachte Paradoxien mit sich. Die Arbeiter, die in Polen die Freiheit erstreikt
hatten, waren die ersten Opfer der Transformation. Hochburgen der Solidarnosc
gingen Bankrott. Aber im gesamten Raum mit Ausnahme des Balkans und Russlands
hat es nie bessere 20 Jahre gegeben als die zurückliegenden.« Michnik sieht
deutlich, dass sie den Kämpfenden bittere Opfer abverlangen. Streikende Helden
von damals sind heute oft nach langer Arbeitslosigkeit bitterarme Rentner: »Stellen
wir uns einen großen Industriebetrieb vor, der durch Streiks die Machthaber zu
Zugeständnissen bewegen konnte. Dieser Betrieb stellte Lenin-Büsten für
Schreibtische her. Die Beschäftigten arbeiteten gut. 1989 hörten sie nicht auf,
gut zu arbeiten. Doch heute braucht niemand mehr Lenin-Büsten. Der Markt hat
diesen Betrieb zerstört. Die Arbeiter, mit deren Hilfe die Freiheit erstreikt
werden konnte, fielen dieser Freiheit zum Opfer.«
Adam Michnik, selbst ein
langjähriger Kämpfer gegen die kommunistische Diktatur, will mit aller Kraft
das wunderbare Jahr der »Revolution ohne Revolution« hochhalten: »... nie
bessere 20 Jahre gegeben«? Tatsächlich ist man hierzulande in breiten Kreisen –
trotz aktiver Beteiligung durch Jahrhunderte – mit den historischen
Demütigungen Polens wenig vertraut, um den Hintergrund dieses Jubelrufes
verstehen zu können. Vielleicht überbetont er damit auch die helle Seite der
»Paradoxien«, denn an den »Ausnahmen«, insbesondere dem Balkan mit seinen
Kriegen und Kriegsfolgen, hat Europa noch heute hart zu arbeiten. Doch wendet
er sich am Schluss »wider das zynische Europa«, gegen Berlusconismus (»eine
Koalition zwischen der Geschäftswelt, der Politik, den Medien und der Mafia«),
Putinismus und alle Bedrohungen des demokratischen Europas: »... ein zu
Schwäche führender Zynismus, der jede Wertelehre und jedes Wertesystem
aushöhlt, auf der anderen Seite alle autoritären oder gar totalitären
Projekte.« Angesicht wachsender Verachtung der Institutionen freier Staaten
warnt er: »Es könnte wieder so weit kommen, dass niemand die Demokratie wird
verteidigen wollen.«
Adam Michnik zählt mit einer
Reihe anderer ostmitteleuropäischer Intellektueller zu den Verfechtern einer
Revolutionsauffassung, die zu Jürgen Habermas’ These der »nachholenden
Revolution« im Widerspruch steht. Er sieht wohl die Kluft zwischen der politischen
Freiheit und einer Reihe von »Ungerechtigkeiten«, die im »Chaos der Freiheit«
lauern – nicht zuletzt in den Freiheiten der Marktwirtschaft. Deren Grundwert –
Konkurrenz – ist doch einem seiner ethischen Grundwerte – gesellschaftliche
Solidarität – diametral entgegengesetzt. Ungeachtet der kapitalistischen Goldgräberstimmung
im Lande hat Wladyslaw Bartoszewski diese Haltung geradezu programmatisch zum
polnischen EU-Beitritt ausgedrückt: »Einer der Grundwerte, die die Basis für
das sich einende Europa bildeten, war gerade die Solidarität; dieselbe
Solidarität, die viele Jahre später der polnischen antikommunistischen
Opposition Kraft verlieh, den Demonstranten von Dresden, Leipzig und Ostberlin,
und die heute den Hauptwert der sich neu konstituierenden erweiterten
Europäischen Union bilden sollte.« (»Europas Identität nach der Osterweiterung«,
ZEI Discussion Paper, 9.10.03)
Aber Freiheit und
Gerechtigkeit sind keine leiblichen Geschwister. In ihrem Buch Über die Revolution vergleicht
Hannah Arendt die französische und die amerikanische Revolution. Sie weist auf
ein Spezifikum der US-Revolution hin: pursuit of happiness. Die gängige
Auslegung sei die Verfolgung des individuellen Glücks als eine Art Inbegriff
der Freiheitsidee der Neuen Welt. Tatsächlich verstand man in der politischen
Literatur des 18. Jahrhunderts den »Verfolg des öffentlichen Glücks«; dieser
Ausdruck, damals gang und gäbe, wurde denn auch oft verkürzt (»das Wohl und
Glück unserer Untertanen«). Die Gründungsväter, meint Arendt, haben zwar über
ein pursuit of public happiness diskutiert, Jefferson setzte die
Formulierung ohne dieses »public« in die Unabhängigkeitserklärung. Mit
Industrialisierung und Individualisierung habe sie einen grundlegenden
Bedeutungswandel durchgemacht, das »public« sei aus dem öffentlichen Gedächtnis
verschwunden; genau das hätte jedoch in einer Dialektik der Freiheit Sinn gemacht.
Viele Menschen in Osteuropa
haben schon vor der globalen Wirtschaftskrise die neue Freiheit nicht als
beglückend empfunden. Über die Schattenseiten der Transition, das Manko an
»public happiness« gibt es reichlich Literatur. Symptomatisch erscheinen dafür
Untersuchungen über die hohe Akzeptanz des alten kommunistischen Regimes bei Meinungsumfragen
in den baltischen Staaten. In Estland hatte die einstige KP-Diktatur gegenüber
der neuen Demokratie fünfzehn Jahre nach der Revolution immer noch fast ebenso
hohe Zustimmungswerte; in Litauen wurde sie zwischen 2001 und 2004 sogar
deutlich besser als die gewählte Regierung bewertet (Susanne Schaller, »Der
Einfluss von Korruption auf die Einschätzung des politischen Regimes am
Beispiel Estlands und Litauens«, Arbeitspapier 58/05 des
Osteuropa-Instituts der FU Berlin). »Die Erinnerung an den Kommunismus in
Südosteuropa« problematisieren Ulf Brunnbauer und Stefan Troebst in dem von
ihnen herausgegebenen Band Zwischen Amnesie und Nostalgie (Köln 2007),
worin sie auf die »Domestizierung der Religion im Kommunismus« und auf die
Wirkung von »Kommunismus und Nationalismus als zivile Religionen« verweisen.
Predrag J. Markovic versucht diese »Religion« mit einer »eleganten« Liturgie
von »sieben S-Werten der Nostalgie« auszustatten: Solidarität, Sicherheit,
Stabilität, Soziale Inklusion, Soziabilität, Solidität und Selbstachtung –
Metaphern einer verklärend-verzerrenden Erinnerung.
Es findet sich trotz
Einkommenszuwächsen im gesamten osteuropäischen Raum – das Pro-Kopf-Einkommen
in den neuen Mitgliedstaaten wuchs zwischen 1999 und 2008 von 40 auf 52 Prozent
des Schnitts der alten EU-Länder – ein beträchtliches desintegratives
Potenzial. »Die Finanzkrise hat unsere Verwundbarkeiten offengelegt«, heißt es
in einem Bericht der EU-Kommission und meldet, dass Osteuropa mit 1,3 Billionen
Euro in der Kreide steht. Beeindruckten in der Vergangenheit oft zweistellige
Wachstumsraten den saturierten Westen der Union und deuteten ein hohes Aufholtempo
an, werden in der Krise nunmehr mit einem Schlag die tiefen Schwächen des Transitionsprozesses
klar. Wie Joachim Becker von der Wiener Wirtschaftsuniversität schreibt, ist
die aktuelle Malaise die »Konsequenz einer verfehlten Entwicklungsstrategie«,
die vor allem die »Außenabhängigkeit« auf die Spitze trieb (Wirtschaft +
Entwicklung 03-04/09). Allerdings zeigen empirische Untersuchungen bei den
osteuropäischen Eliten ein sehr hohes Ausmaß an neoliberalen Einstellungen. Die
Kritik an »Brüssel«, »die EU« habe die Integration zu sehr dem »freien Spiel«
der Wirtschaft überlassen, kann also nicht einseitig an den Westen adressiert
werden. Vordergründig geht es dabei um das Verhältnis von Politik und Ökonomie.
Aber wenn die neoliberale Freiheit des Marktes die Politik dominiert, ist es um
die grundlegenden Fragen des Staatsaufbaus nicht gut bestellt. Zumal die tiefen
Finanzprobleme noch von den jüngsten ethno-nationalistischen Konflikten in
Ungarn und in der Slowakei gerahmt werden. Das sind Indikatoren noch immer
labiler politischer Verhältnisse, die wohl eher die Habermas’sche These der
nachholenden Revolution zu bestätigen scheinen.
»Abgesehen von Fragen der
Ökonomie scheint das Gefühl für gegenseitige Abhängigkeit in Europa und in der
Welt geringer zu sein als in den Zeiten des Kalten Krieges«, schreibt der
bekannte Publizist der Washington Post, E. J. Dionne. Einigen Beiträgen
zu 1989 merkt man die Enttäuschung an, dass sich eine unbändige Ökonomie über
die politische Entwicklung gelegt hat: Ein tschechisches Magazin erinnert mit
nostalgischer Ironie an alte politische Kämpfe zwischen den »beiden Václavs«,
Havel und Klaus, dem Bürgerrechtler und dem Marktradikalen. Das »Zentrum für
Europäische Integrationsforschung« gibt sich krisenbewusst, es spricht in
seinem Jahresbericht 2008 von der »andauernden Doppelkrise der
Europäischen Union, die sich einerseits in einer Erweiterungskrise aufgrund
zunehmender Erweiterungsmüdigkeit und andererseits einer Reformkrise aufgrund
eines abnehmenden europapolitischen Konsenses manifestiert«. Doch hebt es als
»einen Kernbereich der europäischen Integration« den »Interkulturellen Dialog«
hervor, in dem, typisch EU, anstelle einer großen Idee unzählige kleine Ideen
zusammenfließen und jenseits der von Smolar angefragten »grands récits« jenen
Mörtel produzieren, der das Haus Europa trotz aller existierender Ungerechtigkeiten
entscheidend zusammenhält.
Wer heute 1989 als
»neoliberale Gegenrevolution« darstellt wie Marcus Hawel in Vorgänge
1/09, der fällt auf Mythen herein, die damals in Teilen einer ratlosen Linken
kursierten und von einer Verschwörung des Weltkapitals fabulierten. Die Michniks,
Konráds, Havels, Geremeks und Co. wissen aber zu gut, wogegen und wofür sie
gekämpft haben.
In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009