Birgit Laubach
Deutsches Europa oder europäisches Deutschland
Das BVG übersieht das Neue
an der EU
Bundestag und Bundesrat
haben es kurz vor den Bundestagswahlen geschafft, die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil zum Lissabon-Vertrag mit den
sogenannten vier Begleitgesetzen umzusetzen. Es wäre aber zu einfach, damit das
Kapitel abzuhaken. Während der Bundesrat die Begleitgesetze abschließend
behandelte, kündigte einer der Kläger eine neue Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht an. Mit einem Eilverfahren will er die Ratifizierung
des Vertrages von Lissabon verhindern. Kernpunkt ist der schon im
Bundestagswahlkampf seitens der CSU populistisch inszenierte Streit, ob
parlamentarisch beschlossen werden muss, dass der Vertrag von Lissabon »nur in
der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht« gilt. Dass solche Forderungen
nach einer »Ewigkeitsklausel« nicht nur marginal sind, belegt auch der
Kommentator der SZ, Heribert Prantl, wenn er vom »kastrierten
Lissabon-Urteil« redet und moniert, dem Bundestag fehle offenbar der Wille,
unzweideutig und rechtsverbindlich zu erklären, dass dies (das Urteil) »die für
Deutschland definitive Auslegung« darstelle.
Souveränität neu denken
Das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts wirft einige grundsätzliche Fragen auf: Man hätte
erwartet, dass angesichts der weiter gewachsenen Internationalisierung die im
Maastricht-Urteil entwickelte Sicht auf die EU als Staatenverbund bestärkt
wird. Stattdessen bezieht sich das Urteil auf die tradierten Sichtweisen aus
der Staatenwelt des 19. Jahrhunderts auf Souveränität und (Staats-)Volk. Ignoriert
wird das grundlegend gewandelte Souveränitätsverständnis. Diese Entwicklung hat
mit der Verabschiedung der UN-Charta begonnen und auf der internationalen Ebene
einen vorläufigen Abschluss mit der Resolution »responsibility to protect« auf
dem Milleniumsgipfel gefunden.
Der »Souveränitätspanzer«
des abgeschlossenen Nationalstaates funktionierte nach innen und außen. Die
territoriale Grenze bildete als bedeutsamste Trennungslinie die schützende
Außenhaut, flankiert vom absoluten Verbot der Einmischung in die inneren
Angelegenheiten. Souveränität nach außen entsprach die Gehorsamspflicht der
Bürger und Bürgerinnen im Inneren. Das Souveränitätsverständnis der
internationalen Gemeinschaft speist sich demgegenüber aus der Rückbindung der
Souveränität an die Herrschaft der Menschenrechte und rechtsstaatliche
Prinzipien. Die Auswirkungen von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates auf
einzelne Individuen sowie die strafrechtliche Zuständigkeit des Internationalen
Strafgerichtshofs für Menschheitsverbrechen, die von staatlichen Vertretern
begangen wurden, belegen dieses neue Verständnis. Die Grenzen eines Staates
sind nicht mehr sakrosankt. Schwerste Menschenrechtsverletzungen in einem Staat
ziehen ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft nach sich. So bleiben die
souveränen Staaten elementar für die internationale Rechtsgemeinschaft; sie
schaffen überhaupt erst den Rahmen für eine demokratische Ordnung in einer
globalisierten Welt, die sich international und innerstaatlich entfalten
kann.
Der Anspruch des Bundesverfassungsgerichts
auf »Totalaufsicht über die gesamte Europapolitik Deutschlands«(1) speist sich
dagegen aus einem Souveränitätsverständnis, welches dem Nationalstaat
prinzipiell die Herrschaft über die Lebensbelange der Bürgerinnen und Bürger
zuweist. Ein Verstoß gegen die souveräne Staatlichkeit liegt nach dem Urteil
nämlich dann vor, wenn »kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der
wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt«.
Darunter sind vor allem politische Entscheidungen zu verstehen, die in
»besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse«
angewiesen sind. Demokratische Selbstbestimmung sei darauf angewiesen, sich im
eigenen Kulturraum verwirklichen zu können. Dies gelte insbesondere für
Entscheidungen, die im Schul- und Bildungssystem, im Familienrecht und bei der
Sprache getroffen werden: »Die Gestaltung von Schule und Bildung berührt wie
das Recht der familiären Beziehungen … in besonderem Maße gewachsene
Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen Traditionen und
Erfahrungen verwurzelt sind. Demokratische Selbstbestimmung erfordert hier,
dass die jeweilige mit solchen Traditionen und Überzeugungen verbundene
politische Gemeinschaft das Subjekt demokratischer Legitimität bleibt.« Hätte
das Gericht dies mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet, wäre es in Ordnung.
Problematisch ist die
Verkoppelung mit demokratischer Selbstbestimmung. Entscheidungen über
beispielsweise das dreigliedrigen Schulsystems sind keine »Schicksalsfragen«.
Die von den Richtern hervorgehobene Integrationsverantwortung des Bundestages
würde das parlamentarische Mandat darauf beschränken, es im Rahmen der vom
Verfassungsgericht vorgegebenen Interpretation auszuüben. Darauf zielen die
Interventionen des Abgeordneten Gauweiler und der CSU-Fraktion. Das
Bundesverfassungsgericht hat dem Vertrag von Lissabon zugestimmt, zweifelt aber
ersichtlich daran, ob eine weitere Vertiefung und Kompetenzerweiterung der
Europäischen Union mit Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, nämlich dem
»unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität« vereinbar ist. Die
»Ewigkeitsklausel«, als Absicherung gegen jedwede Diktatur gedacht, erhält
einen ganz neuen Interpretationsgegenstand, scheint doch künftig die
europäische Integration an ihr gemessen zu werden. Dieses apriorische
Verständnis von Lebenssachverhalten, die in einer globalisierten Welt ständigem
Wandel unterworfen sind, ist befremdlich. Verfassungen entstehen aus
vorgreiflichen kulturellen, historischen und religiösen Traditionen. Diese sind
jedoch nicht in Stein gemeißelt. Unverfügbar sind Menschenwürde und
unveräußerliche Menschenrechte. Um die geht es aber Vertrag von Lissabon nicht.
Demokratieprinzip
Das Verfassungsgericht
sieht nur im souveränen Staat das Demokratieprinzip verwirklicht. Es lässt den
Lissabon-Vertrag passieren, weil die EU nicht staatsanalog aufgebaut sei
und das Prinzip »one man, one vote« für sie nicht gelte. Der Lissabon-Vertrag
verwirklicht Elemente von partizipativer Demokratie für die Bürgerinnen und
Bürger. Er schafft weitere Beteiligungsrechte für die nationalen Parlamente,
den Dialog der Unionsorgane mit Verbänden und der Zivilgesellschaft sowie die
europäische Bürgerinitiative. Auch die doppelte Mehrheitsregel für den Rat soll
die EU demokratisch abstützten. Die Ignoranz gegenüber diesen neuartigen
partizipativen und demokratischen Regeln bewegt sich auf der Achse von
souveränem Staat und Demokratieprinzip, die im Denken der Richter untrennbar
miteinander verwoben sind. Deshalb werden die partizipativen Elemente des
Lissabon-Vertrages und das Europäische Parlament einschließlich der
Unionsbürgerschaft als »nicht geeignet, auf der Ebene des Rechts ein neues
Leitbild zu setzen« beziehungsweise die durch »Wahl begründete Herrschaft der
Mehrheit zu ersetzen«, diskreditiert.
Internationalisierung als Chance
Europäisierung und
Internationalisierung haben einen grundlegenden Wandel der Staatlichkeit zur
Folge. Die dabei wirkmächtige Globalisierung ist nicht nur als fortschreitende
ökonomische und kommunikative Verflechtung zu sehen. Sie hat eine Welt
von formell unabhängigen und gleichberechtigten Staaten und eine
Weltwirtschaft, die auf Staatsgrenzen überschreitender Vernetzung beruht,
hervorgebracht. In aufgeklärten völkerrechtlichen Kreisen wird darüber
nachgedacht, wie sich diese »neue Welt« »konstitutionalisieren« lässt, in der
nicht nur die einzelnen Staaten gestalten, sondern internationale Netzwerke von
G 20, G 8 über G 2, BRIC und wie sie alle heißen agieren, oder neu entstehen
und in der große bürgerschaftliche Stiftungen und eine transnationale
Zivilgesellschaft staatliche Aufgaben, wie beispielsweise die
Entwicklungszusammenarbeit übernehmen.
Der mühsame und recht
unelegante Prozess einer permanenten Abstimmung unter 27 Mitgliedstaaten, wie
ihn die EU vorführt, zeigt die Schwierigkeit der Zusammenarbeit in einer Welt
von morgen, die auf Multilateralität, geteilter Souveränität, gemeinsamen
Regeln und Normen und einer politisch eingehegten (sozialen und ökologischen)
Marktwirtschaft beruht. Gerade die langwierigen Verhandlungen im Rat belegen,
dass ein wesentlich höheres Maß an Konsens zwischen den Akteuren herbeigeführt
werden muss, als bei der innerstaatlichen Gesetzgebung. Die europäische
Gesetzgebung wirkt zwischen den Staaten ordnend und konfliktentschärfend und
trägt damit zur Solidarität bei. Dabei geht es um das Leitbild einer vernetzten
Ordnung, das heißt eines mehrdimensionalen Systems aus nationalem Staat,
europäischem Staatenverbund und einem Kommunikations- und Kooperationszusammenhang
von internationalen Organisationen, informellen Gremien,
zivilgesellschaftlicher Partizipation und kooperativem Verwaltungshandeln.
Kennzeichen des offenen Staates, des Staates in der globalisierten Welt ist der
poröse Charakter seiner Grenzen und seine Durchlässigkeit für transnationales
Handeln in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft bis hin zur administrativen
Kooperation.
Die Europäische Union
wurde 1957 als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Entscheidend für ihr Gelingen
war die Entwicklung des Grundrechtsschutzes – also der Flankierung der
wirtschaftlichen Rechte durch Grundrechte – wie die Freizügigkeit, die
Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, das Eigentumsrecht und so fort.
Spätestens seit der Einführung der Unionsbürgerschaft ist sie Staatenunion und
Bürgerunion. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten sind nicht nur
unmittelbar Betroffene von europäischen und innerstaatlichen Recht, sondern sie
legitimieren auch das innerstaatliche und europäische Recht. Staatsstrukturelle
Vorstellungen des 19. Jahrhunderts sehen die EU nur als werdenden Bundesstaat.
Die Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht spiegeln diese nach
wie vor am abgeschlossenen Nationalstaat orientierten Sichtweisen wider. Dabei
wird übersehen, dass das europäische mehrdimensionale System, welches den
einzelnen souveränen Mitgliedstaat, die vergemeinschaftete Politik auf
europäischer Ebene und die nach wie vor auch vorhandene intergouvernementale
Zusammenarbeit gleichermaßen umfasst und wechselseitig aufeinander bezieht,
etwas Neues darstellt, für das die Definitionen von Souveränität und
demokratischer Legitimation auch neu zu denken sind. Die Fähigkeit, sich
freiwillig zu binden, ist heute Ausdruck von Souveränität im Leben der Staaten
wie im privaten Leben. Souveränität ist nicht einfach erodiert – wie vielfach
immer wieder befürchtet wird, sondern hat sich funktionell gewandelt. Bezogen
auf die künftige verfassungsrechtliche Entwicklung, also das Verhältnis
zwischen Integration und Souveränität würde vielleicht folgende Sichtweise die
geänderten Beziehungen der Staaten zu einander gut beschreiben: Deutschland
bleibt als Mitgliedstaat der Europäischen Union souveräner Staat; zugleich
beschreibt das Mitgliedschaftsverhältnis die Tatsache, dass die Staaten in der
Europäischen Union nicht nebeneinander stehen, sondern in einem wechselseitigen
Verhältnis aufeinander einwirken. Sie bilden eine Union, die sich nicht nur
fortwährend selbst verändert, sondern auch ihre Mitglieder. Die Mitgliedstaaten
geben als souveräne Staaten nicht nur Kompetenzen ab, sondern gewinnen neue
Kompetenzen im Rahmen der Kooperation in der Union hinzu.
Die Europäische Union ist
sicherlich ein komplizierteres Konstrukt als der Nationalstaat, weniger
demokratisch ist dieses Konstrukt deshalb aber nicht. Die Union leidet
darunter, dass sie immer noch nicht an ihren eigenen, spezifischen Bedingungen,
sondern an der Form des Nationalstaates gemessen wird, den sie einschließt,
aber nicht ersetzt.
1
Vgl. Christian Callies: »Unter Karlsruher Totalaufsicht«, FAZ,
27.8.09.
In: Kommune, Forum für Politik,
Ökonomie, Kultur 5/2009