Peter Lohauß
Die Rückkehr der Klassengesellschaft
Soziale Gegensätze verfestigen sich
Wie konnte es geschehen, dass in Deutschland die Armut
scheinbar so plötzlich wieder angewachsen ist, die Reallöhne seit Jahren
rückläufig sind, die Unternehmensgewinne und Einkommen der Selbstständigen bis
zur großen Kreditkrise explodierten? Zeitlich fällt die dramatische Wende aller
wirtschaftlichen und sozialen Parameter in die Zeit der rot-grünen Koalition.
Kann es sein, dass zwischen 1998 und 2005 politisch entscheidende Weichen für
eine Rückkehr der Klassengesellschaft gestellt wurden? Werden sich die
gewachsenen sozialen Gegensätze zu einer neuen offenen Klassenspaltung
verfestigen, zumal die Weltwirtschaft mitten in der tiefsten Finanz- und
Wirtschaftskrise steckt? Im Bundestagswahlkampf wurden diese Themen von allen
Parteien verdrängt, doch sie werden die nächste Legislaturperiode bestimmen.
Deutschland auf
Wachstumskurs: mehr Reiche, mehr Arme
Das jüngste Jahrzehnt war
sozial und wirtschaftlich für einen großen Teil der Bevölkerung aus
westdeutscher Sicht desaströs, aus ostdeutscher gespalten. Fünf Jahrzehnte nach
der Gründung der Bundesrepublik und einer Geschichte beispiellosen Aufschwungs
und sozialer Errungenschaften und zehn Jahre nach der ostdeutschen Revolution
und eines ambivalenten wirtschaftlichen und sozialen Umbaus ereignen sich dramatische
Einbrüche in der sozialen Lebenslage großer Teile der Bevölkerung, erodiert die
Mittelschicht und eignet sich eine wachsende Gruppe von Superreichen ungeheure
Reichtümer an.
Bemerkenswert offen heißt es
in einem regierungsoffiziellen Bericht: »Vor dem Hintergrund der
vergleichsweise schwachen konjunkturellen Entwicklung in Deutschland im
Zeitraum 2003 bis 2006 haben sich die Einkommen preisbereinigt durchweg eher
rückläufig entwickelt. Eine der zentralen Ursachen hierfür kann in dem
konjunkturell bedingten Anstieg der Zahl der Arbeitslosen gesehen werden. In
dem relevanten Zeitraum nahm die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland deutlich
zu und erreichte mit 4,861 Millionen in 2005 ihren bisherigen Höchststand seit
der Wiedervereinigung. Parallel hierzu setzte sich ein seit 2002 andauernder
Trend der Abnahme der Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisse weiter fort, sodass in 2005 mit 26,178 Millionen der
niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung beobachtet wurde.«(1)
Die Haushaltseinkommen
sanken insgesamt von 2003 bis 2006 um zwei Prozent. Ostdeutschland fiel
gegenüber Westdeutschland wieder zurück: War dort 1998 mit 93 Prozent im
Verhältnis zum Westen schon fast der Gleichstand erreicht, öffnete sich die
Schere wieder auf 88 Prozent. Vor allem aber verstärkte sich nach Jahrzehnten
der Einkommensangleichung wieder die soziale Spaltung von Reich und Arm, und
zwar in den Jahren 1998 bis 2001 und weiter von 2005 auf 2006. Da verdienten
die Haushalte am unteren Rand der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung
bereits das 4,2-Fache derjenigen am oberen Rand des ärmsten Zehntels. Dabei
konnte sich das reichste Zehntel über einen Einkommenszuwachs von über vier
Prozent freuen, während bei allen anderen Einkommensverluste zu verzeichnen
waren und das unterste Zehntel sogar einen realen Verlust von zwölf Prozent
hinnehmen musste. Diese Veränderungen sind so dramatisch, dass sie ohne
Vergleich in der Geschichte der Bundesrepublik sind.
Die Analysen zeigen auch,
woher diese Unterschiede kommen: »Die funktionale Einkommensverteilung – also
die Anteile der Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Tätigkeit (Lohnquote) und
der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen (Gewinnquote) am
Volkseinkommen – veränderte sich vom Jahr 2002 bis zum Jahr 2005 stark zu
Ungunsten der Lohnquote. Die Lohnquote sank von 71,6 Prozent auf 67,0 Prozent,
während die Gewinnquote von 29,9 Prozent auf 32,7 Prozent stieg. Dies war – historisch
gesehen – eine außerordentlich starke Veränderung, mit der eine Stagnation der
Lohnsumme einherging, während die Summe der Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen um 21,9 Prozent zunahm. Preisbereinigt, das heißt real gesehen, verminderte
sich die Lohnsumme sogar um 4,4 Prozent, während die Einkommen aus Unternehmertätigkeit
immerhin noch um 16,4 Prozent zunahmen«.(2) Seit etwa zehn Jahren findet also
eine verstärkte, systematische Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen statt, ein
schnell wachsender Teil des gesamtgesellschaftlichen Reichtums sammelt sich in
den Händen derjenigen, die über Kapital verfügen, sei es als Eigentümer, immer
mehr aber auch als Finanz- oder sonstige Manager.
Dabei werden alle bisher
bekannten Dimensionen gesprengt: So erachtet der letzte Vorstandsvorsitzende
von Arcandor, der nur ein halbes Jahr tätig war und den Konzern der Insolvenz
entgegenführte, 15 Millionen Euro für eine angemessene »Entlohnung«, mit der
Begründung, dass er die gleiche Summe für seinen Fünf-Jahres Vertrag mit
weniger Risiko auch bei seinem vorherigen Arbeitgeber Telecom erhalten hätte(3)
– nur vor wenigen Jahren wurde die vormalige Post noch von Beamten geführt, die
im ganzen Arbeitsleben nur einen Bruchteil solcher Summen verdienten. Die andere
Seite dieser Medaille ist der Abbau von Zehntausenden sozial abgesicherten
Vollzeitarbeitsplätzen bei der Post, dafür Tausende neue Arbeitsverhältnisse
bei privaten Zustellern für nicht einmal einen Mindestlohn.
Gewinner- und
Verlierergruppen lassen sich beschreiben: Die Gruppe mit ausgeprägtem
Einkommensreichtum (mehr als das Dreifache des Durchschnittseinkommens) hat
sich von 1998 bis 2006 verdreifacht, und zwar um 650.000 auf knapp zwei
Millionen Menschen. Auch die Gruppe der einkommensstarken Bevölkerung (mehr als
das Doppelte des Durchschnittseinkommens) wurde größer und betrug schließlich
rund zehn Prozent der Bevölkerung. Angesichts einer mehr oder weniger
stagnierenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung haben sich nicht nur
»geldgierige Banker« bereichert, sondern eine beträchtliche Bevölkerungsgruppe
von Rentnern und Pensionären (rund 40 %), Selbstständigen (rund 20 %) und
leitenden Angestellten und Beamten (rund 25 %). Die reichsten zehn Prozent der
Bevölkerung besaßen 2007 rund zwei Drittel des gesamten Nettovermögens, die
Vermögenskonzentration hat sich erheblich verstärkt. In Deutschland würden
somit etwa acht Millionen Menschen – den gleichen Anteil unterstellt – allein über
ein Geldvermögen von rund drei Billionen Euro kommandieren, elfmal so viel wie
der Bundeshaushalt des gleichen Jahres. Kann der demokratische Rechtsstaat ein
so hohes Maß an Reichtumskonzentration ohne Schaden verkraften?
Wachsender Reichtum ist
durchaus das erste wirtschaftspolitische Ziel jeder Regierung, aber die Verteilungsgerechtigkeit
ist dabei auf der Strecke geblieben. Seit 2000 kam es zu einer dramatischen
Zunahme der Armut, die Quote stieg von rund 12 auf 18 Prozent, sodass 2006 rund
15 Millionen Menschen unterhalb der Armutsschwelle leben mussten. Berechnet man
die Einkommenslagen der Bevölkerung vor und nach staatlichen Transfers, so
zeigt sich, dass das staatliche Umverteilungssystem zudem die Armutsquote am
Ende dieser Zeitperiode um ein Drittel weniger stark absenkte, mit anderen
Worten, dass die Sozialpolitik deutlich weniger Armut verhindert.
Eine weitere, noch
beunruhigendere Entwicklung ist das Wachstum des Niedriglohnbereichs, also der
»working poor«. Seit 1998 hat sich deren Zahl bis 2006 nahezu verdoppelt. Der
Anteil des Niedriglohnbereichs an allen Erwerbseinkommensbeziehern betrug damit
36 Prozent.(4) Die bedeutsame Verschiebung liegt darin, dass immer mehr Menschen
keine andere Einkommensquelle haben, die sie über die Armutsschwelle bringt.
Neben die viel zu hohe Zahl der arbeitslosen oder nichterwerbsfähigen Armen
tritt nun eine wachsende Gruppe von arbeitenden Armen. Anders als für die aus
dem Erwerbssystem Ausgeschlossenen gilt für diese Gruppe (z. B. in den
Zustelldiensten), dass ihre minimalen Löhne direkt mit den höheren Verdiensten
der so schnell Reicherwerdenden zusammenhängen.
Die Zahlen zeigen eindeutig,
dass die große Bereicherung für wenige und die große Verarmung für so viele in
der Periode der rot-grünen Koalition zwischen 1998 bis 2005 eingeleitet wurde.
Die große Koalition hat seit 2006 keine nennenswerten Änderungen der regulatorischen
Rahmenbedingungen vorgenommen, sodass bis heute die Gesetzesänderungen aus der
Periode der rot-grünen Koalition im Wesentlichen unverändert wirksam sind. Es
besteht kein Zweifel daran, dass diese sozialökonomischen Folgen nicht direkt
vorsätzlich geplant wurden. Überhaupt sind die konkreten Zahlen erst seit relativ
kurzer Zeit bekannt – dass ist nicht zuletzt übrigens das Verdienst der von der
rot-grünen Koalition veranlassten deutlich verbesserten statistischen Erfassung
von Reichtum und Armut, die gleichwohl nie topaktuell ist. Zumindest bis 2007
haben die beschriebenen Trends angehalten, eine leichte Verbesserung gab es
2008 wegen der zeitweise zurückgegangenen Arbeitslosigkeit, die Folgen der
großen Kreditkrise werden für 2009 und 2010 mit Sicherheit eine weitere
Verschlechterung bringen. Die Relationen zwischen Gewinnen und Löhnen werden
sich – wie immer in konjunkturellen Krisen – kurzfristig zu Lasten der Gewinne
verringern, da die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen immer
stärker auf die Konjunktur reagieren als die Löhne.
Grundsätzlich entstehen
Arbeitsplätze und Gewinne innerhalb des gegebenen Rahmenwerkes
gesellschaftlicher Regulierungen natürlich aufgrund von ökonomischen Vorgängen.
Die Politik kann zum Beispiel nur sehr beschränkt Arbeitsplätze schaffen – das
hat gerade die rot-grüne Koalition zu ihrem Leidwesen erfahren müssen. Die
Verteilung des einmal geschaffenen Reichtums ist nun aber in ganz hohem Maße
abhängig von steuerlichen und anderen regulatorischen Wirkungen. Einkommensumverteilung
kann nur durch den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat bewirkt werden, von allein konzentrieren
sich die marktwirtschaftlich bestimmten Einkommen, und ohne gesellschaftliche
Regulierung erhalten die Verlierer in der Konkurrenz allenfalls freiwillige
Almosen. Die dümmste und verheerendste neoliberale Propagandalüge ist das Bild
vom Boot, das mit der steigenden Flut (der Gewinne) alle von allein mit nach
oben trägt – die marktwirtschaftlichen Gesetze bewirken das direkte Gegenteil.
Als Gegenlager zur Verarmung der Vielen und Bereicherung der Wenigen gibt es
als Hebel nur die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerorganisationen auf der
einen Seite und gesellschaftliche Regulierungen durch das Steuersystem und Sozialgesetze
auf der anderen. Die Politik selbst kann dabei unmittelbar nur auf zwei Wege
setzen: den Reichtum durch Einkommens- und Unternehmensbesteuerung
umzuverteilen und den in der Konkurrenz zu kurz Gekommenen durch soziale
Regulierungen zu helfen. Wie wir sehen werden, ist auf beiden Feldern zwischen
1998 und 2005 ein radikaler Umschwung erfolgt.
Die neoliberale
Revolution der Unternehmensbesteuerung
Bis Anfang der
Achtzigerjahre lag der Durchschnitt der Unternehmenssteuersätze in der OECD bei
nahezu 50 Prozent, in Deutschland bei über 60 Prozent. Das Rätsel der
Steuerpolitik in Deutschland ist, warum es der Regierung Kohl nicht gelang, die
Unternehmenssteuersätze auf OECD-Niveau zu senken, obwohl sie es mit aller
Macht wollte, und warum dies schließlich die Regierung Schröder, die dies
zunächst explizit nicht wollte, im Jahr 2001 realisierte. Im Ergebnis kam es
dazu, dass von den exorbitanten Gewinnen der letzten zehn Jahre nur noch ein
Bruchteil über die staatliche Umverteilung für öffentliche Aufgaben verwendet
werden konnte. Zur Erklärung dieses Phänomens muss man sich ein wenig auf das
deutsche Steuerrecht und die verschlungenen politischen Positionen der Parteien
im deutschen Föderalismus einlassen.
»Steuerrechtlich gehören zu
den Einkommen nicht die Ausgaben, die nötig sind, um Einkommen zu erzielen
(Nettoprinzip). Analytisch lässt sich die Bemessungsgrundlage einer
Einkommenssteuer in drei unterschiedliche Elemente aufspalten:
– Arbeitseinkommen;
– Kapitaleinkommen (im
engeren Sinne);
– Reingewinne (sowie andere
ökonomische Renten).
Arbeits- und
Kapitaleinkommen sind die Zahlungen, die notwendig sind, damit die beiden
Produktionsfaktoren ihre Leistung hervorbringen. Darüber hinaus gibt es jedoch
Einkommen, die über die reine ›Entschädigung‹ der Produktionsfaktoren hinausgehen.
Da diese sogenannten ökonomischen Renten nicht notwendig sind, damit die
beiden Produktionsfaktoren ihre Leistung hervorbringen, hat ihre Besteuerung keinen
Einfluss auf das Angebot an Produktionsfaktoren. Eine wichtige Art von
ökonomischer Rente … ist der sogenannte Reingewinn. Ihn kann man folgendermaßen
verstehen: Wenn ein Investor eine Maschine kauft, dann braucht er dafür Geld.
Mit diesem Geld hätte er aber auch eine sichere Finanzanlage tätigen können,
die ihm einen bestimmten Zins eingebracht hätte. Dieser entgangene Zinsertrag
muss durch den Kauf der Maschine zumindest wieder reingeholt werden, damit
diese Investition überhaupt getätigt wird; diese ›Entschädigung‹ des
Produktionsfaktors Kapital nennt man auch den Eigenkapitalzins. Er stellt das
Kapitaleinkommen im engeren Sinne dar. Die Einkommen, die über die alternative
Eigenkapitalverzinsung hinausgehen, nennt man dagegen Reingewinn.«(5)
Während das Kapitaleinkommen
in der Regel im Unternehmen als nicht entnommener Gewinn verbleibt, kann der
Reingewinn an die Kapitaleigner ausgeschüttet oder zur erweiterten Investition
genutzt werden. Das Problem besteht nun darin, dass eine Besteuerung der
Einkommensarten sehr unterschiedliche Wirkungen hat: Eine Besteuerung der
Arbeitseinkommen schmälert zwar die privaten Konsummöglichkeiten der Erwerbstätigen,
dafür erhalten sie aber auch gemeinschaftliche Güter (von Rechtssicherheit bis
Bildung). Eine Besteuerung des Kapitaleinkommens greift dagegen in die
Substanzerhaltung der Unternehmen ein und eine Besteuerung des Reingewinns
schmälert die Investitions- und damit Wachstumskraft einer Volkswirtschaft und
damit auch die Basis der Arbeitsplätze.
Ein weiteres Problem
entsteht bei Personengesellschaften – in Deutschland immerhin 80 Prozent der
Unternehmen und dazu noch, im internationalen Vergleich höchst ungewöhnlich,
auch gerade die größten. Sind die Steuersätze auf Arbeitseinkommen und
Kapitaleinkommen unterschiedlich, kann der Unternehmer leicht seine Steuer nach
dem geringsten Satz beliebig »gestalten«. Es wäre also von Vorteil, wenn die
Grenzsteuersätze der Einkommenssteuer und der Unternehmenssteuer gleich hoch
wären. Nun ist fast überall auf der Welt die Einkommenssteuer progressiv, aber
die Unternehmenssteuer proportional, das bedeutet, mit einem festen Satz. Dies
scheint erforderlich, um den Unternehmen eine verlässliche Kalkulationsbasis zu
geben und nicht bessere Unternehmen für ihren Erfolg »zu bestrafen«.
In Deutschland hatte die
SPD/FDP-Regierung 1977 ein fortschrittliches Körperschaftssteuersystem
eingeführt, in dem der Körperschaftssteuersatz und der Spitzensatz der
Einkommenssteuer bei 56 Prozent lagen. Diese hohen nominellen Sätze wurden allerdings
»erkauft« mit großzügigen Abschreibungssätzen und einer Fülle von Ausnahmen und
Sondertatbeständen für bevorzugte Wirtschaftszweige (z. B. Landwirtschaft) und
Personengruppen (z. B. Nacht- und Schichtarbeiter).
Nun wäre man mit diesem
System weiterhin gut gefahren, hätten nicht im Zuge der neoliberalen Revolution
die Regierungen von Reagan und Thatcher für zwei der wichtigsten Akteure auf
dem Weltmarkt die Unternehmenssteuersätze ab 1986 dramatisch gesenkt und damit
den weltweiten Raubzug der Kapitaleigentümer gegen die Einkommen der restlichen
Welt eingeleitet. Damit wurde der Weg geebnet, dass multinationale Konzerne
ihre Gewinne in Länder mit niedrigeren Sätzen transferieren konnten, und
zunehmend wurden auch die Steuersätze zumindest zu einem Teil ausschlaggebend
für den Ort internationaler Investitionen. Zuerst zogen kleinere Länder nach,
die stärker von internationalen Investitionen abhängig sind, und verstärkten
damit die Schere. Bereits 1993 lag der durchschnittliche
OECD-Unternehmenssteuersatz bei nur noch 37 Prozent und damit ganz erheblich
unter dem deutschen Spitzensteuersatz von 56 Prozent.
Die höhere
Unternehmenssteuerbelastung war eine Dimension des in den Achtzigerjahren
entdeckten Standortnachteils Deutschlands und wurde umstandslos als Sachzwang
der anonymen Macht der Globalisierung dargestellt. Der Regierung Kohl gelang es
aber nicht, die Unternehmenssteuersätze nachhaltig zu senken, sondern sie
verfing sich in den Dilemmata der westdeutschen föderalen Politik gegenläufiger
organisierter Interessengruppen: (6) Ein wichtiger Teil der CDU (und natürlich
auch die SPD) wollte vom Dogma der Koppelung von Einkommenssteuerhöchstsatz und
Körperschaftssteuersatz nicht abrücken und war entschieden gegen eine Senkung
des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Den Ausweg über eine Senkung oder
Abschaffung der Gewerbesteuer (die in Deutschland zusammen mit der Körperschaftssteuer
die Unternehmenssteuer bildet) blockierten die CDU-Ministerpräsidenten (und die
SPD), weil diese die wichtigste Steuergrundlage der Gemeinden ist. Und
überhaupt hatten selbst Amerikaner und Engländer keineswegs mit der Senkung der
Unternehmenssteuersätze auf zu viele staatliche Einnahmen verzichtet, sondern
die auch in ihren Ländern bis dahin üblichen Sondertatbestände und Ausnahmen
abgebaut – zur Finanzierung der Steuerausfälle, die sogenannte »Verbreiterung
der Bemessungsgrundlagen«. Aber dies machte eigentlich Sinn nur für neoliberale
Ideologen, die jegliche Staatsintervention verteufeln. Gerade die vielen
Ausnahmen und Sonderregeln bildeten das Element staatlich-korporativer Wirtschaftspolitik
sowohl der CDU wie der SPD und beide waren nicht geneigt, hieran viel zu
ändern.
So schleppte sich die
deutsche Wirtschaftspolitik ohne tiefgreifende Problemlösung dahin, bis die CDU
1998 im Spendenskandal abtreten musste. In der neuen Regierung trat mit den Grünen
ein neuer Akteur auf, der den Dogmen deutscher Steuerpolitik nicht verhaftet
war. Sie wollten zunächst den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent und den Körperschaftssteuersatz
zunächst auf 35 Prozent absenken. Außerdem sollten Steuervergünstigungen für Arbeitnehmer
abgeschafft und die Abschreibungsbedingungen für Investitionen verschlechtert
werden. Die SPD änderte unter dem Druck immer weiter wachsender Differenzen
zwischen den deutschen und internationalen Steuersätzen ihre Position und
wollte schließlich auch einen differenzierten Steuertarif zulassen, um einerseits
die Körperschaftssteuersätze zu senken, andererseits aber die
Spitzensteuersätze beim Einkommen beizubehalten und die ausgeschütteten Gewinne
auch progressiv zu besteuern. Unter Führung von Lafontaine setzte sich die SPD
durch mit der Forderung einer Absenkung des Spitzensteuersatzes auf »nur« 48,5
Prozent, gewerblicher Einkommen auf 43 Prozent und Beibehaltung der
Abschreibungs- und Ausnahmetatbestände. Insgesamt plante die Koalition eine gesamte
Nettoentlastung von sieben Milliarden Euro, die überwiegend unteren und
mittleren Einkommen zugute kommen sollte.
Der Finanzminister
Lafontaine setzte seinen Konfrontationskurs mit der nunmehrigen Opposition fort
und verweigerte jegliche Verhandlungen mit der CDU. Damit war eine Blockade im
Bundesrat ausgemacht. Stattdessen schlug die SPD die Taktik ein, direkt mit den
Unternehmerverbänden zu verhandeln, um über diese Druck auf die CDU auszuüben.
Damit wandte sie sich allerdings gerade an den politischen Akteur als Bündnispartner,
der am hartnäckigsten für eine Senkung aller ihn betreffenden Steuern eintrat.
Das Mitte 2000 nach vielen Kuhhändeln mit den Ländern durchgesetzte Ergebnis
gilt als der größte politische Erfolg Schröders und der Koalition. Es stellte
im Wesentlichen das Gegenteil der ursprünglich angepeilten Ziele dar und schuf
ein Eldorado neoliberaler Unternehmensbesteuerung – jedenfalls brüstete sich
Lafontaines Nachfolger Eichel damit, dass Deutschland nunmehr die niedrigsten
Unternehmenssteuersätze in Europa habe. Das Ergebnis des Kompromisses mit
Unternehmerverbänden und CDU/CSU/FDP brachte eine Verzehnfachung der
ursprünglich geplanten Nettoentlastung innerhalb eines Jahres – von circa drei
Milliarden Euro der Kabinettsvorlage auf 32 Milliarden Euro, die Senkung des
Spitzensteuersatzes auf nur noch 42 Prozent ab 55.000 Euro, die komplette
Herausnahme der Zinsbesteuerung aus der Progression mit einem Proportionalsatz
von lächerlichen 25 Prozent, die vollständige Steuerbefreiung von Gewinnen aus
der Veräußerung von Kapitalanteilen, die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens
(Anteilseigner müssen nur noch die Hälfte der Ausschüttungen einer
Kapitalgesellschaft im Rahmen der Einkommenssteuer versteuern, dafür entfällt
die Verrechnung der vom Unternehmen bereits gezahlten Körperschaftssteuer) und
eine Körperschaftssteuer von ebenfalls nur 25 Prozent.
Das Finanzministerium
beschönigte die Reform im Juli 2000: »Familien, Arbeitnehmer und
mittelständische Wirtschaft sind die Hauptgewinner der Reform: Rund 33
Milliarden Mark des gesamten Entlastungsvolumens kommen privaten Haushalten,
gut 23 Milliarden dem Mittelstand zugute. Durch diese Steuerentlastung geben
wir Verbrauchern und Unternehmern spürbar mehr Geld in die Hand. Das stärkt den
Konsum und erleichtert die Finanzierung von Investitionen – beides
Grundbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Durch die deutliche
Senkung der Steuersätze für Kapitalgesellschaften verbunden mit der
Strukturreform der Unternehmensbesteuerung wird unser Steuersystem
international wettbewerbsfähig und europatauglich«. Es kam dem Finanzministerium
offenbar nicht in den Sinn, dass sich das Geld sozial höchst ungleich verteilen
würde und dass Wachstum und Beschäftigung ausbleiben könnten.
Es kann erörtert werden, ob
die Wende von SPD und Grünen eher einen »neoliberalism by surprise« darstellte
oder nicht doch ein »Zwangs-Neoliberalismus« war.(7) Ich neige dazu, die
politischen Absichten der Akteure eher an ihren Plänen als an den Ergebnissen
des verschlungenen Konsensprozesses zu beurteilen. Überdies war der Abbau der
Arbeitslosigkeit das oberste Ziel, und die steuerliche Erleichterung von
Investitionen schien ein Erfolg versprechender Weg zu sein, neue Arbeitsplätze
zu fördern sowie den Drohungen der Kapitalabwanderung aus Deutschland Paroli zu
bieten. Nur, warum hatte keiner ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet, dass
die den Kapitaleignern letztlich bereitwillig überlassenen Milliarden
keineswegs in arbeitsplatzschaffende Investitionen, sondern in spekulative Finanzgeschäfte
gesteckt wurden? Die Steuerreform hatte zwar unbestreitbar auch eine soziale
Seite, insofern sie zusätzlich Geringverdiener entlastete, doch legte sie den
Grundstein dafür, dass die maßlosen Gewinne der neoliberalen Phase der
Weltwirtschaft zu einer bis dahin nie gekannten Einkommenskonzentration bei
Kapitaleignern und -managern führten. An der massiven Verschiebung der Einkommensverhältnisse
lässt sich überdeutlich ablesen, dass der soziale Ausgleich auf der Strecke
blieb.
Die Flexibilisierung des
Arbeitsmarkts ohne soziale Absicherung
Die starke Zunahme der
sozialen Ungleichheit beruht nicht nur auf einer beschleunigten Bereicherung
von Kapitaleignern und -managern gegenüber dem Rest der Bevölkerung.
Insbesondere die Erwerbseinkommen werden ungleicher, verbunden mit einer
Zunahme der Zahl derjenigen im erwerbsfähigen Alter, die überhaupt keine Arbeitseinkommen
mehr erzielen. Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Einkommen
sich nach unten polarisieren, stoßen wir auf drei Hauptentwicklungen, die sich
gegenseitig bedingen: erstens eine Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen,
zweitens ein vermehrtes Auftreten von Niedriglöhnen und drittens eine
allgemeine Stagnation sowie ein Sinken der realen Durchschnittseinkommen.
Erstens: Forderungen, den
Arbeitsmarkt zu deregulieren, waren neben Steuersenkungen und Deregulierung der
Finanzmärkte ein weiteres großes Thema der neoliberalen Wende. Unter Ökonomen
dominierte die Auffassung, die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sei in erster
Linie auf Inflexibilitäten des Arbeitsmarktes zurückzuführen. Unter
Flexibilität verstand man vor allem den Abbau des gesetzlichen Kündigungsschutzes.
Hier widerstand die Koalition, aber um den Preis der umso schnelleren Einführung
aller anderen Dimensionen der Flexibilisierung, vor allem im Rahmen der
»Hartz-Gesetze«: den Einsatz von Leiharbeit, befristeter und geringfügiger
Beschäftigung sowie von Teilzeitarbeit, also der Förderung der sogenannten
atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Seit den frühen 1990er-Jahren nehmen
sämtliche Formen atypischer Beschäftigung zu, allerdings mit unterschiedlichem
Tempo und ausgehend von unterschiedlichen Niveaus: (8)
– Teilzeit stellt mit
Abstand die am weitesten verbreitete Form dar (über 26 %). Ihre Ausweitung über
die Konjunkturzyklen hinweg hängt eng mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von
Frauen zusammen, die nach wie vor über 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten
ausmachen.
– Eine Folge der
»Hartz-Gesetze« ist die rasante Zunahme von Minijobs. Bereits ein Fünftel aller
abhängig Beschäftigten geht mittlerweile nur einer geringfügigen Beschäftigung
nach. Ein gravierendes Problem ist daraus erwachsen, dass die überwiegende
Mehrheit dieser Minijobs nicht etwa Nebenverdienste von Ehefrauen sind, sondern
das alleinige Arbeitseinkommen der Betroffenen darstellen.
– Befristete
Beschäftigungsverhältnisse haben trotz mehrfacher Deregulierungen seit Mitte
der 1980er-Jahre im Vergleich zu den anderen Formen nur moderat auf etwa zehn
Prozent zugelegt.
– Der Einsatz von Leiharbeit
verdoppelte sich aufgrund der Hartz-Gesetze auf über zwei Prozent der
Beschäftigten. In der Krise werden diese Arbeitsplätze nicht durch Kurzarbeit
geschützt, sondern als erste wieder abgebaut.
– Hinzuzurechnen sind noch
formell Selbstständige ohne Beschäftigte (Solo-Selbständige), deren Zahl sich
infolge von Maßnahmen der Beschäftigungsförderung zwischen 1998 und 2008 von
1,7 auf 2,1 Millionen vergrößerte.
Durch die großen Anteile
Selbstständiger und atypisch Beschäftigter arbeitete 2008 nur noch jeder Zweite
in einem Normalarbeitsverhältnis in den Wirtschaftsabschnitten Grundstückswesen
und Unternehmensdienstleistungen, sonstige öffentliche und persönliche
Dienstleistungen, Gastgewerbe, private Haushalte. Die meisten atypisch Beschäftigten
arbeiten im Gesundheits- und Sozialwesen (1,3 Mio.), im Handel, Verarbeitenden
Gewerbe und Unternehmensdienstleistungen (je rund 1,2 Mio.).
Insgesamt sind bis 2007 37
Prozent aller abhängig Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen,
es wurde also hier ein neues relevantes Segment von rund zehn Millionen
Arbeitsplätzen geschaffen, bei denen die sozialen Sicherungsmechanismen des
sogenannten Normalarbeitsverhältnisses nicht mehr in Gänze greifen. Damit werden
entscheidende soziale Absicherungen wie Gesundheitssicherung, Rentensicherung
und Arbeitslosensicherung, und damit auch die Grundlagen für eine verlässliche
soziale Perspektive im Erwerbsleben, nachhaltig eingeschränkt. Dabei arbeitet
die Mehrheit der Frauen (57 %) in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis,
was bedeutet, dass die weiter anhaltende Zunahme der Frauenerwerbstätigen unter
Bedingungen der Spaltung des Arbeitsmarktes nach Geschlecht verläuft und zur Ausweitung
von Diskriminierungstatbeständen führt.
Gleichzeitig polarisieren
sich die Einkommen auf der Ebene der Haushalte. »Der Anteil der Haushalte, in
denen keine Person oder aber beide Haushaltsvorstände nur mehr geringfügig am
Arbeitsmarkt teilnehmen, hat sich ebenso erhöht wie der Anteil derjenigen
Haushalte, bei denen ein oder beide Haushaltsvorstände erfolgreich am
Arbeitsmarkt agieren. Infolgedessen haben sich die Haushaltsmarkteinkommen
langjährig polarisiert.«(9) Die zunehmende Individualisierung der
Lebensverhältnisse führt unter diesen Bedingungen viele derjenigen in die
Armutsfalle, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Lebensgemeinschaften
mit zwei guten Arbeitseinkommen leben.
Zweitens: Die
Einkommensstrukturen werden ungleicher, weil am unteren Ende immer niedrigere
Löhne gezahlt werden. Mit Niedriglohn wird ein Verdienst bezeichnet, der
weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns beträgt. Für 2006 waren das
9,85 Euro. Dabei sind die atypischen Beschäftigungsverhältnisse nicht nur
schlechter sozial abgesichert als die Normalarbeitsverhältnisse, ihre Löhne
liegen auch besonders häufig, nämlich bei fast der Hälfte, unter der
Niedriglohngrenze. Die Hauptursache für die Zunahme der Niedriglöhne ist also
die Zunahme der atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Damit wurde ein Teilziel
der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erreicht, nämlich die Schaffung von
Beschäftigung unterhalb der bisherigen tariflichen Festlegungen.
»Beim Lohn schneiden alle
Formen atypischer Beschäftigung schlechter ab als das Normalarbeitsverhältnis.
Besonders krass fallen die Lohnabschläge bei geringfügiger Beschäftigung aus,
etwas moderater bei der Leiharbeit, aber auch befristete und Teilzeitbeschäftigte
sind, wenn man die individuellen Merkmale kontrolliert, nicht den Beschäftigten
mit Normalarbeitsverhältnis gleichgestellt. Die ausgeprägte Lohndiskriminierung
der geringfügig Beschäftigten dürfte mit der indirekten Subventionierung dieser
Beschäftigungsform zu tun haben.«(10)
Dies führt unmittelbar zur
Zunahme von Armut unter den Erwerbstätigen. Von 1998 bis 2008 stieg das
Armutsrisiko unter den Erwerbstätigen um 730.000 Personen von 4,6 auf 6,2
Prozent, auf zusammen knapp zwei Millionen Personen. Unter den neu hinzugekommenen
Armen waren 580.000 atypisch Beschäftigte, 70.000 Solo-Selbstständige und »nur«
60.000 NormalarbeitnehmerInnen.(11)
Es fragt sich, wieso bei den
Hartz-Reformen nicht berücksichtigt wurde, dass eine weitere Absenkung der
Löhne insbesondere im Dienstleistungsbereich zu einer Zunahme der Armut führen
musste. Dies ist umso gravierender, als das Beschäftigungsziel der Arbeitsmarktreformen
ja ebenfalls verfehlt wurde. Die Bewertungen der Folgen dieser Reform sind
ausgesprochen krass: »Die Reform der Leiharbeit (hat) nur in geringem Umfang
die Beschäftigungsentwicklung beeinflusst, teilweise hat sie reguläre
Beschäftigung verdrängt, teilweise zusätzliche Stellen geschaffen. Kaum anders
werden die Beschäftigungseffekte der Minijobs beurteilt. Einem geringen
positiven Beschäftigungs- steht ein geringer Substitutionseffekt gegenüber ...
Resümierend lässt sich festhalten, dass atypische Beschäftigungsformen
systematisch höhere Prekaritätsrisiken als Normalarbeitsverhältnisse aufweisen.
Die Beschäftigungseffekte sind ebenfalls als gering einzustufen.«(12)
Zu den Hartz-Gesetzen könnte
man eine ebensolche Analyse der verschlungenen Abläufe der Konsensbildung im
föderalen politischen System machen wie für die Steuergesetzgebung. Auch hier
kam manches anders heraus, als es Rot-Grün geplant hatte. Die Darstellung
unterbleibt hier nicht nur aus Platzgründen, sondern auch, weil die Ergebnisse
tatsächlich vergleichsweise weniger weit auseinanderlagen wie in der
Steuerfrage, und auch, weil die SPD offiziell nach wie vor behauptet, dass
diese Reformen optimal gewesen seien.
Drittens: Während die
Senkung der Steuern auf Gewinne, Zinsen und hohe Einkommen die Reicheren
begünstigte und am unteren Ende eine neue Schicht prekärer Beschäftigungsverhältnisse
als nunmehr normales Segment des Arbeitsmarktes etabliert wurde, erodierte die
mittlere Schicht. Von 2004 bis 2008, also nunmehr hauptsächlich in der Ära der
Großen Koalition, gingen die Netto-Reallöhne zurück, eine in der Geschichte der
Bundesrepublik einmalige Entwicklung, denn nie zuvor ging ein durchaus
kräftiges Wirtschaftswachstum mit einer Senkung der realen Nettolöhne über
mehrere Jahre einher. Das ist umso bemerkenswerter, als sich die Qualifikation
der beschäftigten Arbeitnehmer im Durchschnitt erhöht hat, was für sich genommen,
zu einem Anstieg der Verdienste hätte führen müssen.(13) Nach Angaben des
Statistischen Amtes der EU gingen die Arbeitnehmerentgelte in Deutschland von
2000 bis 2008 um neun Prozent zurück, das war die stärkste Abnahme in der EU,
in Frankreich stagnierten sie, in Großbritannien stiegen sie um mehr als 18
Prozent. Zum einen heißt dies: Der »Exportweltmeister« Deutschland konkurriert
seine Nachbarländer über Lohndrückerei nieder, vornehmer ausgedrückt: »Die
schwache Lohnentwicklung hat ohne Zweifel die Wettbewerbsfähigkeit deutscher
Unternehmen auf dem Weltmarkt gestärkt und dem Export Impulse gegeben ... Zudem
gibt es Hinweise darauf, dass aufgrund der Arbeitsmarktreformen die
Bereitschaft der Erwerbslosen – insbesondere der gering Qualifizierten –
gestiegen ist, eine Beschäftigung auch mit einer vergleichsweise geringen Entlohnung
anzunehmen. Das ist ein durchaus gewünschtes Ergebnis«.(14) Während infolge der
Arbeitsmarktreformen die Lohnentwicklung gedrückt wurde, wurden zusätzlich noch
Sozialabgaben in der gesetzlichen Krankenkasse von den Arbeitgebern auf die
Arbeitnehmer verlagert. Die staatliche Umverteilung hat auch hier zu Lasten der
Arbeitnehmer die Selbstständigen und Beamten begünstigt. Schon die Regierung
Kohl hatte die Kosten der deutschen Einheit wesentlich über Sozialbeiträge und
Steuern für Arbeitnehmer finanziert. Dies wurde nunmehr fortgesetzt und somit
die Normalarbeitsverhältnisse über Gebühr belastet. Die Nettolohnentwicklung
wäre ohne den beschleunigten Anstieg von Lohnsteuern und Sozialabgaben nicht
negativ gewesen. Als wichtiges Element kommt außerdem die Teilprivatisierung
der Rentenversicherung hinzu (Riester-Rente), wodurch weitere Teile des
Nettolohns zur privaten Finanzierung der sozialer Absicherung verwendet werden
müssen.
Soziale Gegensätze
verfestigen sich
Die Unterscheidung von
sozialen Klassen nach ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln gehört zu den
Grundbegriffen der politischen Ökonomie. Wie weit diese Grundbegriffe aber das
soziale Leben prägen und zu sichtbaren und folgenreichen Bestimmungsgründen von
Lebens- oder gar Bewusstseinslagen werden, ergibt sich nicht unmittelbar aus
dem System der kapitalistischen Produktionsweise. Starke
Arbeitnehmerorganisationen und der Ausbau des Sozialstaates haben in allen
entwickelten Ländern nach der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre sowie
nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer sozialen Integration der Arbeiterklasse und
zur Herausbildung einer von Mittelklassen geprägten Gesellschaft geführt.
Angesichts der oben beschriebenen Entwicklungen ist nun zu konstatieren, dass
politische Eingriffe in die sozialen Grundstrukturen des Wohlfahrtsstaates die
Polarisierung der Gesellschaft entlang der Linien der Verfügung über Kapital in
einer neuen Form sichtbar machen.
Die wichtigste neuere
Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist hierbei sicherlich die Herausbildung
einer Schicht von vermögenden Vorständen und Geschäftsführern, Finanzmanagern,
leitenden Angestellten und Beamten (siehe auch den Kasten »nachgezählt«). Ihnen
ist es gelungen, sich aus Finanzgeschäften und aus Unternehmensgewinnen
exorbitante Einkommen zu sichern, ja selbst Teile der Substanz von Unternehmen
privat zu entnehmen, die sie wiederum als Finanzkapital einsetzen können. Das
Anwachsen und die neuen Formen des Finanzkapitals haben nicht nur zu einer Dominanz
gegenüber dem produktiven Kapital geführt, es entstand auch eine Schicht von Finanzmanagern,
die, ohne formell Unternehmenseigentümer zu sein, hohe Gewinne aus dem
eingesetzten Kapital ziehen können, und es wurden Wege geschaffen, die es allen
Vermögenden ermöglichen, unabhängig von ihrer sonstigen sozialen Verortung
aktiv auf dem Finanzmarkt zu agieren. Dies macht die eindeutige
sozialstrukturelle Abgrenzung dieser Schicht schwierig. Wessen Einkünfte aus
Boni, Tantiemen, Zinsen, sonstigen Vermögen oder als »Gehalt« oder
Unternehmerlohn größer sind als das Gehalt der qualifiziertesten Arbeitskräfte
oder eine daraus abgeleitete Rente wäre sicher zu dieser Schicht zu zählen. Auf
der anderen Seite bilden diejenigen, die über Kapital verfügen, lebensweltlich
keine einheitliche Klasse und teilen untereinander nicht dieselben Lebenslagen.
Das sozialökonomisch
unterste Segment der Gesellschaft bilden demgegenüber aus dem Erwerbsprozess
Herausgefallene, atypisch Beschäftigte, Minilohnbezieher, Alleinerziehende, ein
großer Teil der Migranten, Deklassierte in Ostdeutschland und wenig Gebildete.
Der Bezug von SGB-II-Leistungen führt zwar zu einem Einkommen an der
Armutsschwelle, verfestigt aber gerade den Status als »Prekariat«. Ihr gemeinsames
Merkmal, nicht über Kapital zu verfügen, führt auch sie nicht zu einer Klasse
zusammen, gleichwohl ist ihre Armut komplementär zum Reichtum der oberen
Klasse, und ihre jeweiligen Lebensverhältnisse und Lebenschancen sind bei allen
individuellen Verschiedenheiten krass entgegengesetzt.
Für die weitere soziale und
politische Entwicklung ist es wichtig, ob es Bedingungen gibt, aus denen sich
diese sozialen Gegensätze reproduzieren beziehungsweise sich verfestigen. In
der Tat gibt es in der Vermögensbildung und im Bildungssystem Strukturen, die
in Richtung einer Verfestigung einer Klassenspaltung wirken. Mit Bezug auf die
Vermögen ist es klar, dass diese mit dem Wachstum ihrer Größe tendenziell immer
relativ schneller als die Arbeitseinkommen steigen müssen und einen immer
größeren Teil der Staatsausgaben fressen werden. Über die Vererbung zirkulieren
die Vermögen innerhalb einer sozial abgegrenzten Schicht. Auf der anderen Seite
hat sich mit dem in Deutschland gegliederten Schulwesen ein Instrument
herausgebildet, das in hohem Maße ungebildeten Eltern ungebildete Kinder
beschert und akademisch gebildeten Eltern akademisch gebildete Kinder. Neuere
Analysen des Heirats- und Beziehungsverhaltens zeigen, dass es wieder nach
Bildungsstand nahezu geschlossene Beziehungskreise gibt. Die schrumpfenden
Mittelschichten grenzen sich von den wachsenden Unterschichten bereits recht
effektiv über das Bildungssystem ab.
Nur insofern die Spaltung
der Gesellschaft an der Trennlinie der Verfügung über Kapital, die begrifflich
im Kapitalismus immer gegeben ist, wieder lebensweltlich deutlicher hervortritt,
kann man von einer Rückkehr der Klassengesellschaft sprechen. Die großen
gesetzgeberischen Vorhaben der Steuer- und Arbeitsmarktgesetze haben unter dem
Strich zur Verschärfung der sozialen Gegensätze an dieser Trennungslinie
geführt. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, wird die Klassengesellschaft
zurückkehren.
Die Parteien, die die
letzten zehn Jahre im Bund regiert haben, haben sich diesen Fragen bislang
nicht gestellt. Die Frage ist nun: Wird man nun, wo viele Fakten vorliegen,
wenigstens hinterher klüger? Dabei stellt sich das durchaus schwerwiegende
politische Problem, dass die Zurechnung von politischen Programmen zu politischen
Ergebnissen so eindeutig nicht ausfällt. Bezüglich der Einkommenssteuerreform
kann man den Schluss ziehen: »In der deutschen Einkommenssteuerreform war
bisher keines der beiden politischen Lager auch nur zeitweise in der Lage, sein
Konzept in kohärenter Form umzusetzen und es anschließend einem Wählervotum
auszusetzen. Stattdessen gibt es entweder Blockaden oder eilig
zusammengestrickte Kompromisse, die keinerlei System folgen und die niemand den
Wählern erklären kann oder will.«(15) Das Gleiche lässt sich mit Fug und Recht
von den Hartz-Gesetzen sagen, aber auch von der Gesundheits- und der
Rentenreform. Wenn das aber so ist, wird eine nachträgliche vorurteilsfreie Bewertung
umso wichtiger.
Ein großes Problem auf dem
Weg zu rationaleren Politiken sind die weit verbreiteten ideologischen
Fehldeutungen. Zum einen der angebliche Zwang der Globalisierung: Wenn eine
Entwicklung in anderen Ländern negativ ist, dann wird eine Herstellung der
»Wettbewerbsfähigkeit« die Negativentwicklung nur schneller importieren und
stellt die Globalisierung erst wirklich her. Ein wirklicher Nachweis der
negativen Folgen der angeblich mangelnden Wettbewerbsfähigkeit des Standorts
Deutschland wurde jedenfalls nicht geführt. Bemerkenswerterweise konnten andere
Länder (z. B. Schweden und Norwegen) in der gleichen Zeit auch Unternehmenssteuersätze
anheben, ohne in einen wirtschaftlichen Abschwung zu geraten. Zum Zweiten die
fatale Exportorientierung, die ja nicht nur zu einem Wettlauf des Drucks auf
die Löhne, sondern auch zu einer fatalen Schwäche des inländischen Konsums
geführt hat und die Abhängigkeit im Wettbewerb eher verstärkte. Zum anderen
eine Blindheit gegenüber den Folgen von Steuer- und Arbeitsmarktgesetzen für
die Einkommensverteilung. Diese ist auch in einer individualisierten
Gesellschaft in erheblich höherem Maße von gesellschaftlichen Regulierungen abhängig,
als gemeinhin unterstellt wird. Auch wenn die gegenwärtig überall propagierte
Zauberformel wahr werden würde und alle gut ausgebildet wären, wäre nicht jeder
seines Glückes Schmied, sondern würde sich die ungleiche Verteilung durch
Entwertung vorhandener Bildung wieder herstellen und es bedürfte weiterhin
gesellschaftlicher Umverteilung des Reichtums.
Es scheint fast so, als sei
es für viele politische Akteure eine Überforderung, die Zusammenhänge von
Steuergesetzgebung, sozialer Regulierung und Bildungssystem mit
Erwerbsstrukturen, Einkommensverteilung und Familienbildung zu überschauen.
Aber die Fakten zeigen deutlich, dass hier massive Fehlentwicklungen
stattgefunden haben. Die politischen Stellschrauben für eine Politik, die die
zunehmende soziale Spaltung wieder mildern könnte, sind im Grunde bekannt: die
Verbindung von Flexibilität mit sozialer Sicherheit, ein flächendeckendes
System genügend hoher Mindestlöhne, geschlechtergerechte Strukturen im
Erwerbsleben, Strukturveränderungen des Bildungssystems und weltweite Rückkehr
zu einer angemessenen Unternehmens- und Einkommensbesteuerung einschließlich
einer Tobin-Tax zur Vermeidung übermäßiger Spekulationsgewinne. Jedwede
Variante von Koalitionen steht in der nächsten Legislaturperiode vor der
Aufgabe, Korrekturen der bisherigen Politik vorzunehmen, wenn sie dem Ziel
sozialer Gerechtigkeit wieder näher kommen will.
1
DIW, ZEW, R. Hauser, I. Becker: »Integrierte Analyse der
Einkommens- und Vermögensverteilung. Abschlussbericht zur Studie im Auftrag des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales«, Bonn 2007.
2
Ebd. Dabei ist noch zu bedenken, dass nicht unerhebliche
Teile von Vergütungen von Unternehmensvorständen usw. unter dem irreführenden
Titel von Gehältern bezogen werden, aber eigentlich den Gewinnen zugerechnet
werden müssten.
3
SZ, 12.6.09: »Arcandor: Eick verteidigt Millionen-Gehalt«.
4
DIW, ZEW, R. Hauser, I. Becker, 2007, a. a. O., S. V.
5
Vgl. Steffen Ganghof: Wer regiert in der Steuerpolitik?
Einkommensteuerreform zwischen internationalem Wettbewerb und nationalen
Verteilungskonflikten, Frankfurt am Main: Campus 2004, S. 32.
6
Vgl. ausführlich und genauer ebd.
7
Ebd., S. 117.
8
Berndt Keller, Hartmut Seifert: »Atypische
Beschäftigungsverhältnisse: Formen, Verbreitung, soziale Folgen«, in: APuZ
27/09.
9
Jan Goebel, Peter Krause: »Gestiegene Einkommensungleichheit
in Deutschland«, in: Wirtschaftsdienst 12/07.
10
Berndt Keller, Hartmut Seifert, a. a. O., S. 43.
11
Statistisches Bundesamt: »Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit«,
19.8.09.
12
Berndt Keller, Hartmut Seifert, a. a. O., S. 46, und
Deutscher Bundestag: »Bericht 2006 der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, Drucksache 16/3982.
13
DIW: »Reallöhne in Deutschland über mehrere Jahre
rückläufig«, Wochenbericht 33/09.
14
Ebd., S. 559.
15
Steffen Ganghof, a. a. O., S. 125.
In: Kommune,
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009