Peter Lohauß

Die Rückkehr der Klassengesellschaft
Soziale Gegensätze verfestigen sich

Wie konnte es geschehen, dass in Deutschland die Armut scheinbar so plötzlich wieder angewachsen ist, die Reallöhne seit Jahren rückläufig sind, die Unternehmensgewinne und Einkommen der Selbstständigen bis zur großen Kreditkrise explodierten? Zeitlich fällt die dramatische Wende aller wirtschaftlichen und sozialen Parameter in die Zeit der rot-grünen Koalition. Kann es sein, dass zwischen 1998 und 2005 politisch entscheidende Weichen für eine Rückkehr der Klassengesellschaft gestellt wurden? Werden sich die gewachsenen sozialen Gegensätze zu einer neuen offenen Klassenspaltung verfestigen, zumal die Weltwirtschaft mitten in der tiefsten Finanz- und Wirtschaftskrise steckt? Im Bundestagswahlkampf wurden diese Themen von allen Parteien verdrängt, doch sie werden die nächste Legislaturperiode bestimmen.

Deutschland auf Wachstumskurs: mehr Reiche, mehr Arme

Das jüngste Jahrzehnt war sozial und wirtschaftlich für einen großen Teil der Bevölkerung aus westdeutscher Sicht desaströs, aus ostdeutscher gespalten. Fünf Jahrzehnte nach der Gründung der Bundesrepublik und einer Geschichte beispiellosen Aufschwungs und sozialer Errungenschaften und zehn Jahre nach der ostdeutschen Revolution und eines ambivalenten wirtschaftlichen und sozialen Umbaus ereignen sich dramatische Einbrüche in der sozialen Lebenslage großer Teile der Bevölkerung, erodiert die Mittelschicht und eignet sich eine wachsende Gruppe von Superreichen ungeheure Reichtümer an.

Bemerkenswert offen heißt es in einem regierungsoffiziellen Bericht: »Vor dem Hintergrund der vergleichsweise schwachen konjunkturellen Entwicklung in Deutschland im Zeitraum 2003 bis 2006 haben sich die Einkommen preisbereinigt durchweg eher rückläufig entwickelt. Eine der zentralen Ursachen hierfür kann in dem konjunkturell bedingten Anstieg der Zahl der Arbeitslosen gesehen werden. In dem relevanten Zeitraum nahm die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland deutlich zu und erreichte mit 4,861 Millionen in 2005 ihren bisherigen Höchststand seit der Wiedervereinigung. Parallel hierzu setzte sich ein seit 2002 andauernder Trend der Abnahme der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse weiter fort, sodass in 2005 mit 26,178 Millionen der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung beobachtet wurde.«(1)

Die Haushaltseinkommen sanken insgesamt von 2003 bis 2006 um zwei Prozent. Ostdeutschland fiel gegenüber Westdeutschland wieder zurück: War dort 1998 mit 93 Prozent im Verhältnis zum Westen schon fast der Gleichstand erreicht, öffnete sich die Schere wieder auf 88 Prozent. Vor allem aber verstärkte sich nach Jahrzehnten der Einkommensangleichung wieder die soziale Spaltung von Reich und Arm, und zwar in den Jahren 1998 bis 2001 und weiter von 2005 auf 2006. Da verdienten die Haushalte am unteren Rand der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung bereits das 4,2-Fache derjenigen am oberen Rand des ärmsten Zehntels. Dabei konnte sich das reichste Zehntel über einen Einkommenszuwachs von über vier Prozent freuen, während bei allen anderen Einkommensverluste zu verzeichnen waren und das unterste Zehntel sogar einen realen Verlust von zwölf Prozent hinnehmen musste. Diese Veränderungen sind so dramatisch, dass sie ohne Vergleich in der Geschichte der Bundesrepublik sind.

Die Analysen zeigen auch, woher diese Unterschiede kommen: »Die funktionale Einkommensverteilung – also die Anteile der Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Tätigkeit (Lohnquote) und der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen (Gewinnquote) am Volkseinkommen – veränderte sich vom Jahr 2002 bis zum Jahr 2005 stark zu Ungunsten der Lohnquote. Die Lohnquote sank von 71,6 Prozent auf 67,0 Prozent, während die Gewinnquote von 29,9 Prozent auf 32,7 Prozent stieg. Dies war – historisch gesehen – eine außerordentlich starke Veränderung, mit der eine Stagnation der Lohnsumme einherging, während die Summe der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 21,9 Prozent zunahm. Preisbereinigt, das heißt real gesehen, verminderte sich die Lohnsumme sogar um 4,4 Prozent, während die Einkommen aus Unternehmertätigkeit immerhin noch um 16,4 Prozent zunahmen«.(2) Seit etwa zehn Jahren findet also eine verstärkte, systematische Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen statt, ein schnell wachsender Teil des gesamtgesellschaftlichen Reichtums sammelt sich in den Händen derjenigen, die über Kapital verfügen, sei es als Eigentümer, immer mehr aber auch als Finanz- oder sonstige Manager.

Dabei werden alle bisher bekannten Dimensionen gesprengt: So erachtet der letzte Vorstandsvorsitzende von Arcandor, der nur ein halbes Jahr tätig war und den Konzern der Insolvenz entgegenführte, 15 Millionen Euro für eine angemessene »Entlohnung«, mit der Begründung, dass er die gleiche Summe für seinen Fünf-Jahres Vertrag mit weniger Risiko auch bei seinem vorherigen Arbeitgeber Telecom erhalten hätte(3) – nur vor wenigen Jahren wurde die vormalige Post noch von Beamten geführt, die im ganzen Arbeitsleben nur einen Bruchteil solcher Summen verdienten. Die andere Seite dieser Medaille ist der Abbau von Zehntausenden sozial abgesicherten Vollzeitarbeitsplätzen bei der Post, dafür Tausende neue Arbeitsverhältnisse bei privaten Zustellern für nicht einmal einen Mindestlohn.

Gewinner- und Verlierergruppen lassen sich beschreiben: Die Gruppe mit ausgeprägtem Einkommensreichtum (mehr als das Dreifache des Durchschnittseinkommens) hat sich von 1998 bis 2006 verdreifacht, und zwar um 650.000 auf knapp zwei Millionen Menschen. Auch die Gruppe der einkommensstarken Bevölkerung (mehr als das Doppelte des Durchschnittseinkommens) wurde größer und betrug schließlich rund zehn Prozent der Bevölkerung. Angesichts einer mehr oder weniger stagnierenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung haben sich nicht nur »geldgierige Banker« bereichert, sondern eine beträchtliche Bevölkerungsgruppe von Rentnern und Pensionären (rund 40 %), Selbstständigen (rund 20 %) und leitenden Angestellten und Beamten (rund 25 %). Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besaßen 2007 rund zwei Drittel des gesamten Nettovermögens, die Vermögenskonzentration hat sich erheblich verstärkt. In Deutschland würden somit etwa acht Millionen Menschen – den gleichen Anteil unterstellt – allein über ein Geldvermögen von rund drei Billionen Euro kommandieren, elfmal so viel wie der Bundeshaushalt des gleichen Jahres. Kann der demokratische Rechtsstaat ein so hohes Maß an Reichtumskonzentration ohne Schaden verkraften?

Wachsender Reichtum ist durchaus das erste wirtschaftspolitische Ziel jeder Regierung, aber die Verteilungsgerechtigkeit ist dabei auf der Strecke geblieben. Seit 2000 kam es zu einer dramatischen Zunahme der Armut, die Quote stieg von rund 12 auf 18 Prozent, sodass 2006 rund 15 Millionen Menschen unterhalb der Armutsschwelle leben mussten. Berechnet man die Einkommenslagen der Bevölkerung vor und nach staatlichen Transfers, so zeigt sich, dass das staatliche Umverteilungssystem zudem die Armutsquote am Ende dieser Zeitperiode um ein Drittel weniger stark absenkte, mit anderen Worten, dass die Sozialpolitik deutlich weniger Armut verhindert.

Eine weitere, noch beunruhigendere Entwicklung ist das Wachstum des Niedriglohnbereichs, also der »working poor«. Seit 1998 hat sich deren Zahl bis 2006 nahezu verdoppelt. Der Anteil des Niedriglohnbereichs an allen Erwerbseinkommensbeziehern betrug damit 36 Prozent.(4) Die bedeutsame Verschiebung liegt darin, dass immer mehr Menschen keine andere Einkommensquelle haben, die sie über die Armutsschwelle bringt. Neben die viel zu hohe Zahl der arbeitslosen oder nichterwerbsfähigen Armen tritt nun eine wachsende Gruppe von arbeitenden Armen. Anders als für die aus dem Erwerbssystem Ausgeschlossenen gilt für diese Gruppe (z. B. in den Zustelldiensten), dass ihre minimalen Löhne direkt mit den höheren Verdiensten der so schnell Reicherwerdenden zusammenhängen.

Die Zahlen zeigen eindeutig, dass die große Bereicherung für wenige und die große Verarmung für so viele in der Periode der rot-grünen Koalition zwischen 1998 bis 2005 eingeleitet wurde. Die große Koalition hat seit 2006 keine nennenswerten Änderungen der regulatorischen Rahmenbedingungen vorgenommen, sodass bis heute die Gesetzesänderungen aus der Periode der rot-grünen Koalition im Wesentlichen unverändert wirksam sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese sozialökonomischen Folgen nicht direkt vorsätzlich geplant wurden. Überhaupt sind die konkreten Zahlen erst seit relativ kurzer Zeit bekannt – dass ist nicht zuletzt übrigens das Verdienst der von der rot-grünen Koalition veranlassten deutlich verbesserten statistischen Erfassung von Reichtum und Armut, die gleichwohl nie topaktuell ist. Zumindest bis 2007 haben die beschriebenen Trends angehalten, eine leichte Verbesserung gab es 2008 wegen der zeitweise zurückgegangenen Arbeitslosigkeit, die Folgen der großen Kreditkrise werden für 2009 und 2010 mit Sicherheit eine weitere Verschlechterung bringen. Die Relationen zwischen Gewinnen und Löhnen werden sich – wie immer in konjunkturellen Krisen – kurzfristig zu Lasten der Gewinne verringern, da die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen immer stärker auf die Konjunktur reagieren als die Löhne.

Grundsätzlich entstehen Arbeitsplätze und Gewinne innerhalb des gegebenen Rahmenwerkes gesellschaftlicher Regulierungen natürlich aufgrund von ökonomischen Vorgängen. Die Politik kann zum Beispiel nur sehr beschränkt Arbeitsplätze schaffen – das hat gerade die rot-grüne Koalition zu ihrem Leidwesen erfahren müssen. Die Verteilung des einmal geschaffenen Reichtums ist nun aber in ganz hohem Maße abhängig von steuerlichen und anderen regulatorischen Wirkungen. Einkommensumverteilung kann nur durch den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat bewirkt werden, von allein konzentrieren sich die marktwirtschaftlich bestimmten Einkommen, und ohne gesellschaftliche Regulierung erhalten die Verlierer in der Konkurrenz allenfalls freiwillige Almosen. Die dümmste und verheerendste neoliberale Propagandalüge ist das Bild vom Boot, das mit der steigenden Flut (der Gewinne) alle von allein mit nach oben trägt – die marktwirtschaftlichen Gesetze bewirken das direkte Gegenteil. Als Gegenlager zur Verarmung der Vielen und Bereicherung der Wenigen gibt es als Hebel nur die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerorganisationen auf der einen Seite und gesellschaftliche Regulierungen durch das Steuersystem und Sozialgesetze auf der anderen. Die Politik selbst kann dabei unmittelbar nur auf zwei Wege setzen: den Reichtum durch Einkommens- und Unternehmensbesteuerung umzuverteilen und den in der Konkurrenz zu kurz Gekommenen durch soziale Regulierungen zu helfen. Wie wir sehen werden, ist auf beiden Feldern zwischen 1998 und 2005 ein radikaler Umschwung erfolgt.

Die neoliberale Revolution der Unternehmensbesteuerung

Bis Anfang der Achtzigerjahre lag der Durchschnitt der Unternehmenssteuersätze in der OECD bei nahezu 50 Prozent, in Deutschland bei über 60 Prozent. Das Rätsel der Steuerpolitik in Deutschland ist, warum es der Regierung Kohl nicht gelang, die Unternehmenssteuersätze auf OECD-Niveau zu senken, obwohl sie es mit aller Macht wollte, und warum dies schließlich die Regierung Schröder, die dies zunächst explizit nicht wollte, im Jahr 2001 realisierte. Im Ergebnis kam es dazu, dass von den exorbitanten Gewinnen der letzten zehn Jahre nur noch ein Bruchteil über die staatliche Umverteilung für öffentliche Aufgaben verwendet werden konnte. Zur Erklärung dieses Phänomens muss man sich ein wenig auf das deutsche Steuerrecht und die verschlungenen politischen Positionen der Parteien im deutschen Föderalismus einlassen.

»Steuerrechtlich gehören zu den Einkommen nicht die Ausgaben, die nötig sind, um Einkommen zu erzielen (Nettoprinzip). Analytisch lässt sich die Bemessungsgrundlage einer Einkommenssteuer in drei unterschiedliche Elemente aufspalten:

– Arbeitseinkommen;

– Kapitaleinkommen (im engeren Sinne);

– Reingewinne (sowie andere ökonomische Renten).

Arbeits- und Kapitaleinkommen sind die Zahlungen, die notwendig sind, damit die beiden Produktionsfaktoren ihre Leistung hervorbringen. Darüber hinaus gibt es jedoch Einkommen, die über die reine ›Entschädigung‹ der Produktionsfaktoren hinausgehen. Da diese sogenannten ökonomischen Renten nicht notwendig sind, damit die beiden Produktionsfaktoren ihre Leistung hervorbringen, hat ihre Besteuerung keinen Einfluss auf das Angebot an Produktionsfaktoren. Eine wichtige Art von ökonomischer Rente … ist der sogenannte Reingewinn. Ihn kann man folgendermaßen verstehen: Wenn ein Investor eine Maschine kauft, dann braucht er dafür Geld. Mit diesem Geld hätte er aber auch eine sichere Finanzanlage tätigen können, die ihm einen bestimmten Zins eingebracht hätte. Dieser entgangene Zinsertrag muss durch den Kauf der Maschine zumindest wieder reingeholt werden, damit diese Investition überhaupt getätigt wird; diese ›Entschädigung‹ des Produktionsfaktors Kapital nennt man auch den Eigenkapitalzins. Er stellt das Kapitaleinkommen im engeren Sinne dar. Die Einkommen, die über die alternative Eigenkapitalverzinsung hinausgehen, nennt man dagegen Reingewinn.«(5)

Während das Kapitaleinkommen in der Regel im Unternehmen als nicht entnommener Gewinn verbleibt, kann der Reingewinn an die Kapitaleigner ausgeschüttet oder zur erweiterten Investition genutzt werden. Das Problem besteht nun darin, dass eine Besteuerung der Einkommensarten sehr unterschiedliche Wirkungen hat: Eine Besteuerung der Arbeitseinkommen schmälert zwar die privaten Konsummöglichkeiten der Erwerbstätigen, dafür erhalten sie aber auch gemeinschaftliche Güter (von Rechtssicherheit bis Bildung). Eine Besteuerung des Kapitaleinkommens greift dagegen in die Substanzerhaltung der Unternehmen ein und eine Besteuerung des Reingewinns schmälert die Investitions- und damit Wachstumskraft einer Volkswirtschaft und damit auch die Basis der Arbeitsplätze.

Ein weiteres Problem entsteht bei Personengesellschaften – in Deutschland immerhin 80 Prozent der Unternehmen und dazu noch, im internationalen Vergleich höchst ungewöhnlich, auch gerade die größten. Sind die Steuersätze auf Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen unterschiedlich, kann der Unternehmer leicht seine Steuer nach dem geringsten Satz beliebig »gestalten«. Es wäre also von Vorteil, wenn die Grenzsteuersätze der Einkommenssteuer und der Unternehmenssteuer gleich hoch wären. Nun ist fast überall auf der Welt die Einkommenssteuer progressiv, aber die Unternehmenssteuer proportional, das bedeutet, mit einem festen Satz. Dies scheint erforderlich, um den Unternehmen eine verlässliche Kalkulationsbasis zu geben und nicht bessere Unternehmen für ihren Erfolg »zu bestrafen«.

In Deutschland hatte die SPD/FDP-Regierung 1977 ein fortschrittliches Körperschaftssteuersystem eingeführt, in dem der Körperschaftssteuersatz und der Spitzensatz der Einkommenssteuer bei 56 Prozent lagen. Diese hohen nominellen Sätze wurden allerdings »erkauft« mit großzügigen Abschreibungssätzen und einer Fülle von Ausnahmen und Sondertatbeständen für bevorzugte Wirtschaftszweige (z. B. Landwirtschaft) und Personengruppen (z. B. Nacht- und Schichtarbeiter).

Nun wäre man mit diesem System weiterhin gut gefahren, hätten nicht im Zuge der neoliberalen Revolution die Regierungen von Reagan und Thatcher für zwei der wichtigsten Akteure auf dem Weltmarkt die Unternehmenssteuersätze ab 1986 dramatisch gesenkt und damit den weltweiten Raubzug der Kapitaleigentümer gegen die Einkommen der restlichen Welt eingeleitet. Damit wurde der Weg geebnet, dass multinationale Konzerne ihre Gewinne in Länder mit niedrigeren Sätzen transferieren konnten, und zunehmend wurden auch die Steuersätze zumindest zu einem Teil ausschlaggebend für den Ort internationaler Investitionen. Zuerst zogen kleinere Länder nach, die stärker von internationalen Investitionen abhängig sind, und verstärkten damit die Schere. Bereits 1993 lag der durchschnittliche OECD-Unternehmenssteuersatz bei nur noch 37 Prozent und damit ganz erheblich unter dem deutschen Spitzensteuersatz von 56 Prozent.

Die höhere Unternehmenssteuerbelastung war eine Dimension des in den Achtzigerjahren entdeckten Standortnachteils Deutschlands und wurde umstandslos als Sachzwang der anonymen Macht der Globalisierung dargestellt. Der Regierung Kohl gelang es aber nicht, die Unternehmenssteuersätze nachhaltig zu senken, sondern sie verfing sich in den Dilemmata der westdeutschen föderalen Politik gegenläufiger organisierter Interessengruppen: (6) Ein wichtiger Teil der CDU (und natürlich auch die SPD) wollte vom Dogma der Koppelung von Einkommenssteuerhöchstsatz und Körperschaftssteuersatz nicht abrücken und war entschieden gegen eine Senkung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Den Ausweg über eine Senkung oder Abschaffung der Gewerbesteuer (die in Deutschland zusammen mit der Körperschaftssteuer die Unternehmenssteuer bildet) blockierten die CDU-Ministerpräsidenten (und die SPD), weil diese die wichtigste Steuergrundlage der Gemeinden ist. Und überhaupt hatten selbst Amerikaner und Engländer keineswegs mit der Senkung der Unternehmenssteuersätze auf zu viele staatliche Einnahmen verzichtet, sondern die auch in ihren Ländern bis dahin üblichen Sondertatbestände und Ausnahmen abgebaut – zur Finanzierung der Steuerausfälle, die sogenannte »Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen«. Aber dies machte eigentlich Sinn nur für neoliberale Ideologen, die jegliche Staatsintervention verteufeln. Gerade die vielen Ausnahmen und Sonderregeln bildeten das Element staatlich-korporativer Wirtschaftspolitik sowohl der CDU wie der SPD und beide waren nicht geneigt, hieran viel zu ändern.

So schleppte sich die deutsche Wirtschaftspolitik ohne tiefgreifende Problemlösung dahin, bis die CDU 1998 im Spendenskandal abtreten musste. In der neuen Regierung trat mit den Grünen ein neuer Akteur auf, der den Dogmen deutscher Steuerpolitik nicht verhaftet war. Sie wollten zunächst den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent und den Körperschaftssteuersatz zunächst auf 35 Prozent absenken. Außerdem sollten Steuervergünstigungen für Arbeitnehmer abgeschafft und die Abschreibungsbedingungen für Investitionen verschlechtert werden. Die SPD änderte unter dem Druck immer weiter wachsender Differenzen zwischen den deutschen und internationalen Steuersätzen ihre Position und wollte schließlich auch einen differenzierten Steuertarif zulassen, um einerseits die Körperschaftssteuersätze zu senken, andererseits aber die Spitzensteuersätze beim Einkommen beizubehalten und die ausgeschütteten Gewinne auch progressiv zu besteuern. Unter Führung von Lafontaine setzte sich die SPD durch mit der Forderung einer Absenkung des Spitzensteuersatzes auf »nur« 48,5 Prozent, gewerblicher Einkommen auf 43 Prozent und Beibehaltung der Abschreibungs- und Ausnahmetatbestände. Insgesamt plante die Koalition eine gesamte Nettoentlastung von sieben Milliarden Euro, die überwiegend unteren und mittleren Einkommen zugute kommen sollte.

Der Finanzminister Lafontaine setzte seinen Konfrontationskurs mit der nunmehrigen Opposition fort und verweigerte jegliche Verhandlungen mit der CDU. Damit war eine Blockade im Bundesrat ausgemacht. Stattdessen schlug die SPD die Taktik ein, direkt mit den Unternehmerverbänden zu verhandeln, um über diese Druck auf die CDU auszuüben. Damit wandte sie sich allerdings gerade an den politischen Akteur als Bündnispartner, der am hartnäckigsten für eine Senkung aller ihn betreffenden Steuern eintrat. Das Mitte 2000 nach vielen Kuhhändeln mit den Ländern durchgesetzte Ergebnis gilt als der größte politische Erfolg Schröders und der Koalition. Es stellte im Wesentlichen das Gegenteil der ursprünglich angepeilten Ziele dar und schuf ein Eldorado neoliberaler Unternehmensbesteuerung – jedenfalls brüstete sich Lafontaines Nachfolger Eichel damit, dass Deutschland nunmehr die niedrigsten Unternehmenssteuersätze in Europa habe. Das Ergebnis des Kompromisses mit Unternehmerverbänden und CDU/CSU/FDP brachte eine Verzehnfachung der ursprünglich geplanten Nettoentlastung innerhalb eines Jahres – von circa drei Milliarden Euro der Kabinettsvorlage auf 32 Milliarden Euro, die Senkung des Spitzensteuersatzes auf nur noch 42 Prozent ab 55.000 Euro, die komplette Herausnahme der Zinsbesteuerung aus der Progression mit einem Proportionalsatz von lächerlichen 25 Prozent, die vollständige Steuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräußerung von Kapitalanteilen, die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens (Anteilseigner müssen nur noch die Hälfte der Ausschüttungen einer Kapitalgesellschaft im Rahmen der Einkommenssteuer versteuern, dafür entfällt die Verrechnung der vom Unternehmen bereits gezahlten Körperschaftssteuer) und eine Körperschaftssteuer von ebenfalls nur 25 Prozent.

Das Finanzministerium beschönigte die Reform im Juli 2000: »Familien, Arbeitnehmer und mittelständische Wirtschaft sind die Hauptgewinner der Reform: Rund 33 Milliarden Mark des gesamten Entlastungsvolumens kommen privaten Haushalten, gut 23 Milliarden dem Mittelstand zugute. Durch diese Steuerentlastung geben wir Verbrauchern und Unternehmern spürbar mehr Geld in die Hand. Das stärkt den Konsum und erleichtert die Finanzierung von Investitionen – beides Grundbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Durch die deutliche Senkung der Steuersätze für Kapitalgesellschaften verbunden mit der Strukturreform der Unternehmensbesteuerung wird unser Steuersystem international wettbewerbsfähig und europatauglich«. Es kam dem Finanzministerium offenbar nicht in den Sinn, dass sich das Geld sozial höchst ungleich verteilen würde und dass Wachstum und Beschäftigung ausbleiben könnten.

Es kann erörtert werden, ob die Wende von SPD und Grünen eher einen »neoliberalism by surprise« darstellte oder nicht doch ein »Zwangs-Neoliberalismus« war.(7) Ich neige dazu, die politischen Absichten der Akteure eher an ihren Plänen als an den Ergebnissen des verschlungenen Konsensprozesses zu beurteilen. Überdies war der Abbau der Arbeitslosigkeit das oberste Ziel, und die steuerliche Erleichterung von Investitionen schien ein Erfolg versprechender Weg zu sein, neue Arbeitsplätze zu fördern sowie den Drohungen der Kapitalabwanderung aus Deutschland Paroli zu bieten. Nur, warum hatte keiner ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet, dass die den Kapitaleignern letztlich bereitwillig überlassenen Milliarden keineswegs in arbeitsplatzschaffende Investitionen, sondern in spekulative Finanzgeschäfte gesteckt wurden? Die Steuerreform hatte zwar unbestreitbar auch eine soziale Seite, insofern sie zusätzlich Geringverdiener entlastete, doch legte sie den Grundstein dafür, dass die maßlosen Gewinne der neoliberalen Phase der Weltwirtschaft zu einer bis dahin nie gekannten Einkommenskonzentration bei Kapitaleignern und -managern führten. An der massiven Verschiebung der Einkommensverhältnisse lässt sich überdeutlich ablesen, dass der soziale Ausgleich auf der Strecke blieb.

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ohne soziale Absicherung

Die starke Zunahme der sozialen Ungleichheit beruht nicht nur auf einer beschleunigten Bereicherung von Kapitaleignern und -managern gegenüber dem Rest der Bevölkerung. Insbesondere die Erwerbseinkommen werden ungleicher, verbunden mit einer Zunahme der Zahl derjenigen im erwerbsfähigen Alter, die überhaupt keine Arbeitseinkommen mehr erzielen. Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Einkommen sich nach unten polarisieren, stoßen wir auf drei Hauptentwicklungen, die sich gegenseitig bedingen: erstens eine Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, zweitens ein vermehrtes Auftreten von Niedriglöhnen und drittens eine allgemeine Stagnation sowie ein Sinken der realen Durchschnittseinkommen.

Erstens: Forderungen, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, waren neben Steuersenkungen und Deregulierung der Finanzmärkte ein weiteres großes Thema der neoliberalen Wende. Unter Ökonomen dominierte die Auffassung, die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sei in erster Linie auf Inflexibilitäten des Arbeitsmarktes zurückzuführen. Unter Flexibilität verstand man vor allem den Abbau des gesetzlichen Kündigungsschutzes. Hier widerstand die Koalition, aber um den Preis der umso schnelleren Einführung aller anderen Dimensionen der Flexibilisierung, vor allem im Rahmen der »Hartz-Gesetze«: den Einsatz von Leiharbeit, befristeter und geringfügiger Beschäftigung sowie von Teilzeitarbeit, also der Förderung der sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Seit den frühen 1990er-Jahren nehmen sämtliche Formen atypischer Beschäftigung zu, allerdings mit unterschiedlichem Tempo und ausgehend von unterschiedlichen Niveaus: (8)

– Teilzeit stellt mit Abstand die am weitesten verbreitete Form dar (über 26 %). Ihre Ausweitung über die Konjunkturzyklen hinweg hängt eng mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen zusammen, die nach wie vor über 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten ausmachen.

– Eine Folge der »Hartz-Gesetze« ist die rasante Zunahme von Minijobs. Bereits ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten geht mittlerweile nur einer geringfügigen Beschäftigung nach. Ein gravierendes Problem ist daraus erwachsen, dass die überwiegende Mehrheit dieser Minijobs nicht etwa Nebenverdienste von Ehefrauen sind, sondern das alleinige Arbeitseinkommen der Betroffenen darstellen.

– Befristete Beschäftigungsverhältnisse haben trotz mehrfacher Deregulierungen seit Mitte der 1980er-Jahre im Vergleich zu den anderen Formen nur moderat auf etwa zehn Prozent zugelegt.

– Der Einsatz von Leiharbeit verdoppelte sich aufgrund der Hartz-Gesetze auf über zwei Prozent der Beschäftigten. In der Krise werden diese Arbeitsplätze nicht durch Kurzarbeit geschützt, sondern als erste wieder abgebaut.

– Hinzuzurechnen sind noch formell Selbstständige ohne Beschäftigte (Solo-Selbständige), deren Zahl sich infolge von Maßnahmen der Beschäftigungsförderung zwischen 1998 und 2008 von 1,7 auf 2,1 Millionen vergrößerte.

Durch die großen Anteile Selbstständiger und atypisch Beschäftigter arbeitete 2008 nur noch jeder Zweite in einem Normalarbeitsverhältnis in den Wirtschaftsabschnitten Grundstückswesen und Unternehmensdienstleistungen, sonstige öffentliche und persönliche Dienstleistungen, Gastgewerbe, private Haushalte. Die meisten atypisch Beschäftigten arbeiten im Gesundheits- und Sozialwesen (1,3 Mio.), im Handel, Verarbeitenden Gewerbe und Unternehmensdienstleistungen (je rund 1,2 Mio.).

Insgesamt sind bis 2007 37 Prozent aller abhängig Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, es wurde also hier ein neues relevantes Segment von rund zehn Millionen Arbeitsplätzen geschaffen, bei denen die sozialen Sicherungsmechanismen des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses nicht mehr in Gänze greifen. Damit werden entscheidende soziale Absicherungen wie Gesundheitssicherung, Rentensicherung und Arbeitslosensicherung, und damit auch die Grundlagen für eine verlässliche soziale Perspektive im Erwerbsleben, nachhaltig eingeschränkt. Dabei arbeitet die Mehrheit der Frauen (57 %) in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis, was bedeutet, dass die weiter anhaltende Zunahme der Frauenerwerbstätigen unter Bedingungen der Spaltung des Arbeitsmarktes nach Geschlecht verläuft und zur Ausweitung von Diskriminierungstatbeständen führt.

Gleichzeitig polarisieren sich die Einkommen auf der Ebene der Haushalte. »Der Anteil der Haushalte, in denen keine Person oder aber beide Haushaltsvorstände nur mehr geringfügig am Arbeitsmarkt teilnehmen, hat sich ebenso erhöht wie der Anteil derjenigen Haushalte, bei denen ein oder beide Haushaltsvorstände erfolgreich am Arbeitsmarkt agieren. Infolgedessen haben sich die Haushaltsmarkteinkommen langjährig polarisiert.«(9) Die zunehmende Individualisierung der Lebensverhältnisse führt unter diesen Bedingungen viele derjenigen in die Armutsfalle, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Lebensgemeinschaften mit zwei guten Arbeitseinkommen leben.

Zweitens: Die Einkommensstrukturen werden ungleicher, weil am unteren Ende immer niedrigere Löhne gezahlt werden. Mit Niedriglohn wird ein Verdienst bezeichnet, der weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns beträgt. Für 2006 waren das 9,85 Euro. Dabei sind die atypischen Beschäftigungsverhältnisse nicht nur schlechter sozial abgesichert als die Normalarbeitsverhältnisse, ihre Löhne liegen auch besonders häufig, nämlich bei fast der Hälfte, unter der Niedriglohngrenze. Die Hauptursache für die Zunahme der Niedriglöhne ist also die Zunahme der atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Damit wurde ein Teilziel der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erreicht, nämlich die Schaffung von Beschäftigung unterhalb der bisherigen tariflichen Festlegungen.

»Beim Lohn schneiden alle Formen atypischer Beschäftigung schlechter ab als das Normalarbeitsverhältnis. Besonders krass fallen die Lohnabschläge bei geringfügiger Beschäftigung aus, etwas moderater bei der Leiharbeit, aber auch befristete und Teilzeitbeschäftigte sind, wenn man die individuellen Merkmale kontrolliert, nicht den Beschäftigten mit Normalarbeitsverhältnis gleichgestellt. Die ausgeprägte Lohndiskriminierung der geringfügig Beschäftigten dürfte mit der indirekten Subventionierung dieser Beschäftigungsform zu tun haben.«(10)

Dies führt unmittelbar zur Zunahme von Armut unter den Erwerbstätigen. Von 1998 bis 2008 stieg das Armutsrisiko unter den Erwerbstätigen um 730.000 Personen von 4,6 auf 6,2 Prozent, auf zusammen knapp zwei Millionen Personen. Unter den neu hinzugekommenen Armen waren 580.000 atypisch Beschäftigte, 70.000 Solo-Selbstständige und »nur« 60.000 NormalarbeitnehmerInnen.(11)

Es fragt sich, wieso bei den Hartz-Reformen nicht berücksichtigt wurde, dass eine weitere Absenkung der Löhne insbesondere im Dienstleistungsbereich zu einer Zunahme der Armut führen musste. Dies ist umso gravierender, als das Beschäftigungsziel der Arbeitsmarktreformen ja ebenfalls verfehlt wurde. Die Bewertungen der Folgen dieser Reform sind ausgesprochen krass: »Die Reform der Leiharbeit (hat) nur in geringem Umfang die Beschäftigungsentwicklung beeinflusst, teilweise hat sie reguläre Beschäftigung verdrängt, teilweise zusätzliche Stellen geschaffen. Kaum anders werden die Beschäftigungseffekte der Minijobs beurteilt. Einem geringen positiven Beschäftigungs- steht ein geringer Substitutionseffekt gegenüber ... Resümierend lässt sich festhalten, dass atypische Beschäftigungsformen systematisch höhere Prekaritätsrisiken als Normalarbeitsverhältnisse aufweisen. Die Beschäftigungseffekte sind ebenfalls als gering einzustufen.«(12)

Zu den Hartz-Gesetzen könnte man eine ebensolche Analyse der verschlungenen Abläufe der Konsensbildung im föderalen politischen System machen wie für die Steuergesetzgebung. Auch hier kam manches anders heraus, als es Rot-Grün geplant hatte. Die Darstellung unterbleibt hier nicht nur aus Platzgründen, sondern auch, weil die Ergebnisse tatsächlich vergleichsweise weniger weit auseinanderlagen wie in der Steuerfrage, und auch, weil die SPD offiziell nach wie vor behauptet, dass diese Reformen optimal gewesen seien.

Drittens: Während die Senkung der Steuern auf Gewinne, Zinsen und hohe Einkommen die Reicheren begünstigte und am unteren Ende eine neue Schicht prekärer Beschäftigungsverhältnisse als nunmehr normales Segment des Arbeitsmarktes etabliert wurde, erodierte die mittlere Schicht. Von 2004 bis 2008, also nunmehr hauptsächlich in der Ära der Großen Koalition, gingen die Netto-Reallöhne zurück, eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Entwicklung, denn nie zuvor ging ein durchaus kräftiges Wirtschaftswachstum mit einer Senkung der realen Nettolöhne über mehrere Jahre einher. Das ist umso bemerkenswerter, als sich die Qualifikation der beschäftigten Arbeitnehmer im Durchschnitt erhöht hat, was für sich genommen, zu einem Anstieg der Verdienste hätte führen müssen.(13) Nach Angaben des Statistischen Amtes der EU gingen die Arbeitnehmerentgelte in Deutschland von 2000 bis 2008 um neun Prozent zurück, das war die stärkste Abnahme in der EU, in Frankreich stagnierten sie, in Großbritannien stiegen sie um mehr als 18 Prozent. Zum einen heißt dies: Der »Exportweltmeister« Deutschland konkurriert seine Nachbarländer über Lohndrückerei nieder, vornehmer ausgedrückt: »Die schwache Lohnentwicklung hat ohne Zweifel die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt gestärkt und dem Export Impulse gegeben ... Zudem gibt es Hinweise darauf, dass aufgrund der Arbeitsmarktreformen die Bereitschaft der Erwerbslosen – insbesondere der gering Qualifizierten – gestiegen ist, eine Beschäftigung auch mit einer vergleichsweise geringen Entlohnung anzunehmen. Das ist ein durchaus gewünschtes Ergebnis«.(14) Während infolge der Arbeitsmarktreformen die Lohnentwicklung gedrückt wurde, wurden zusätzlich noch Sozialabgaben in der gesetzlichen Krankenkasse von den Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer verlagert. Die staatliche Umverteilung hat auch hier zu Lasten der Arbeitnehmer die Selbstständigen und Beamten begünstigt. Schon die Regierung Kohl hatte die Kosten der deutschen Einheit wesentlich über Sozialbeiträge und Steuern für Arbeitnehmer finanziert. Dies wurde nunmehr fortgesetzt und somit die Normalarbeitsverhältnisse über Gebühr belastet. Die Nettolohnentwicklung wäre ohne den beschleunigten Anstieg von Lohnsteuern und Sozialabgaben nicht negativ gewesen. Als wichtiges Element kommt außerdem die Teilprivatisierung der Rentenversicherung hinzu (Riester-Rente), wodurch weitere Teile des Nettolohns zur privaten Finanzierung der sozialer Absicherung verwendet werden müssen.

Soziale Gegensätze verfestigen sich

Die Unterscheidung von sozialen Klassen nach ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln gehört zu den Grundbegriffen der politischen Ökonomie. Wie weit diese Grundbegriffe aber das soziale Leben prägen und zu sichtbaren und folgenreichen Bestimmungsgründen von Lebens- oder gar Bewusstseinslagen werden, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem System der kapitalistischen Produktionsweise. Starke Arbeitnehmerorganisationen und der Ausbau des Sozialstaates haben in allen entwickelten Ländern nach der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre sowie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer sozialen Integration der Arbeiterklasse und zur Herausbildung einer von Mittelklassen geprägten Gesellschaft geführt. Angesichts der oben beschriebenen Entwicklungen ist nun zu konstatieren, dass politische Eingriffe in die sozialen Grundstrukturen des Wohlfahrtsstaates die Polarisierung der Gesellschaft entlang der Linien der Verfügung über Kapital in einer neuen Form sichtbar machen.

Die wichtigste neuere Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist hierbei sicherlich die Herausbildung einer Schicht von vermögenden Vorständen und Geschäftsführern, Finanzmanagern, leitenden Angestellten und Beamten (siehe auch den Kasten »nachgezählt«). Ihnen ist es gelungen, sich aus Finanzgeschäften und aus Unternehmensgewinnen exorbitante Einkommen zu sichern, ja selbst Teile der Substanz von Unternehmen privat zu entnehmen, die sie wiederum als Finanzkapital einsetzen können. Das Anwachsen und die neuen Formen des Finanzkapitals haben nicht nur zu einer Dominanz gegenüber dem produktiven Kapital geführt, es entstand auch eine Schicht von Finanzmanagern, die, ohne formell Unternehmenseigentümer zu sein, hohe Gewinne aus dem eingesetzten Kapital ziehen können, und es wurden Wege geschaffen, die es allen Vermögenden ermöglichen, unabhängig von ihrer sonstigen sozialen Verortung aktiv auf dem Finanzmarkt zu agieren. Dies macht die eindeutige sozialstrukturelle Abgrenzung dieser Schicht schwierig. Wessen Einkünfte aus Boni, Tantiemen, Zinsen, sonstigen Vermögen oder als »Gehalt« oder Unternehmerlohn größer sind als das Gehalt der qualifiziertesten Arbeitskräfte oder eine daraus abgeleitete Rente wäre sicher zu dieser Schicht zu zählen. Auf der anderen Seite bilden diejenigen, die über Kapital verfügen, lebensweltlich keine einheitliche Klasse und teilen untereinander nicht dieselben Lebenslagen.

Das sozialökonomisch unterste Segment der Gesellschaft bilden demgegenüber aus dem Erwerbsprozess Herausgefallene, atypisch Beschäftigte, Minilohnbezieher, Alleinerziehende, ein großer Teil der Migranten, Deklassierte in Ostdeutschland und wenig Gebildete. Der Bezug von SGB-II-Leistungen führt zwar zu einem Einkommen an der Armutsschwelle, verfestigt aber gerade den Status als »Prekariat«. Ihr gemeinsames Merkmal, nicht über Kapital zu verfügen, führt auch sie nicht zu einer Klasse zusammen, gleichwohl ist ihre Armut komplementär zum Reichtum der oberen Klasse, und ihre jeweiligen Lebensverhältnisse und Lebenschancen sind bei allen individuellen Verschiedenheiten krass entgegengesetzt.

Für die weitere soziale und politische Entwicklung ist es wichtig, ob es Bedingungen gibt, aus denen sich diese sozialen Gegensätze reproduzieren beziehungsweise sich verfestigen. In der Tat gibt es in der Vermögensbildung und im Bildungssystem Strukturen, die in Richtung einer Verfestigung einer Klassenspaltung wirken. Mit Bezug auf die Vermögen ist es klar, dass diese mit dem Wachstum ihrer Größe tendenziell immer relativ schneller als die Arbeitseinkommen steigen müssen und einen immer größeren Teil der Staatsausgaben fressen werden. Über die Vererbung zirkulieren die Vermögen innerhalb einer sozial abgegrenzten Schicht. Auf der anderen Seite hat sich mit dem in Deutschland gegliederten Schulwesen ein Instrument herausgebildet, das in hohem Maße ungebildeten Eltern ungebildete Kinder beschert und akademisch gebildeten Eltern akademisch gebildete Kinder. Neuere Analysen des Heirats- und Beziehungsverhaltens zeigen, dass es wieder nach Bildungsstand nahezu geschlossene Beziehungskreise gibt. Die schrumpfenden Mittelschichten grenzen sich von den wachsenden Unterschichten bereits recht effektiv über das Bildungssystem ab.

Nur insofern die Spaltung der Gesellschaft an der Trennlinie der Verfügung über Kapital, die begrifflich im Kapitalismus immer gegeben ist, wieder lebensweltlich deutlicher hervortritt, kann man von einer Rückkehr der Klassengesellschaft sprechen. Die großen gesetzgeberischen Vorhaben der Steuer- und Arbeitsmarktgesetze haben unter dem Strich zur Verschärfung der sozialen Gegensätze an dieser Trennungslinie geführt. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, wird die Klassengesellschaft zurückkehren.

Die Parteien, die die letzten zehn Jahre im Bund regiert haben, haben sich diesen Fragen bislang nicht gestellt. Die Frage ist nun: Wird man nun, wo viele Fakten vorliegen, wenigstens hinterher klüger? Dabei stellt sich das durchaus schwerwiegende politische Problem, dass die Zurechnung von politischen Programmen zu politischen Ergebnissen so eindeutig nicht ausfällt. Bezüglich der Einkommenssteuerreform kann man den Schluss ziehen: »In der deutschen Einkommenssteuerreform war bisher keines der beiden politischen Lager auch nur zeitweise in der Lage, sein Konzept in kohärenter Form umzusetzen und es anschließend einem Wählervotum auszusetzen. Stattdessen gibt es entweder Blockaden oder eilig zusammengestrickte Kompromisse, die keinerlei System folgen und die niemand den Wählern erklären kann oder will.«(15) Das Gleiche lässt sich mit Fug und Recht von den Hartz-Gesetzen sagen, aber auch von der Gesundheits- und der Rentenreform. Wenn das aber so ist, wird eine nachträgliche vorurteilsfreie Bewertung umso wichtiger.

Ein großes Problem auf dem Weg zu rationaleren Politiken sind die weit verbreiteten ideologischen Fehldeutungen. Zum einen der angebliche Zwang der Globalisierung: Wenn eine Entwicklung in anderen Ländern negativ ist, dann wird eine Herstellung der »Wettbewerbsfähigkeit« die Negativentwicklung nur schneller importieren und stellt die Globalisierung erst wirklich her. Ein wirklicher Nachweis der negativen Folgen der angeblich mangelnden Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland wurde jedenfalls nicht geführt. Bemerkenswerterweise konnten andere Länder (z. B. Schweden und Norwegen) in der gleichen Zeit auch Unternehmenssteuersätze anheben, ohne in einen wirtschaftlichen Abschwung zu geraten. Zum Zweiten die fatale Exportorientierung, die ja nicht nur zu einem Wettlauf des Drucks auf die Löhne, sondern auch zu einer fatalen Schwäche des inländischen Konsums geführt hat und die Abhängigkeit im Wettbewerb eher verstärkte. Zum anderen eine Blindheit gegenüber den Folgen von Steuer- und Arbeitsmarktgesetzen für die Einkommensverteilung. Diese ist auch in einer individualisierten Gesellschaft in erheblich höherem Maße von gesellschaftlichen Regulierungen abhängig, als gemeinhin unterstellt wird. Auch wenn die gegenwärtig überall propagierte Zauberformel wahr werden würde und alle gut ausgebildet wären, wäre nicht jeder seines Glückes Schmied, sondern würde sich die ungleiche Verteilung durch Entwertung vorhandener Bildung wieder herstellen und es bedürfte weiterhin gesellschaftlicher Umverteilung des Reichtums.

Es scheint fast so, als sei es für viele politische Akteure eine Überforderung, die Zusammenhänge von Steuergesetzgebung, sozialer Regulierung und Bildungssystem mit Erwerbsstrukturen, Einkommensverteilung und Familienbildung zu überschauen. Aber die Fakten zeigen deutlich, dass hier massive Fehlentwicklungen stattgefunden haben. Die politischen Stellschrauben für eine Politik, die die zunehmende soziale Spaltung wieder mildern könnte, sind im Grunde bekannt: die Verbindung von Flexibilität mit sozialer Sicherheit, ein flächendeckendes System genügend hoher Mindestlöhne, geschlechtergerechte Strukturen im Erwerbsleben, Strukturveränderungen des Bildungssystems und weltweite Rückkehr zu einer angemessenen Unternehmens- und Einkommensbesteuerung einschließlich einer Tobin-Tax zur Vermeidung übermäßiger Spekulationsgewinne. Jedwede Variante von Koalitionen steht in der nächsten Legislaturperiode vor der Aufgabe, Korrekturen der bisherigen Politik vorzunehmen, wenn sie dem Ziel sozialer Gerechtigkeit wieder näher kommen will.

1

DIW, ZEW, R. Hauser, I. Becker: »Integrierte Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung. Abschlussbericht zur Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales«, Bonn 2007.

2

Ebd. Dabei ist noch zu bedenken, dass nicht unerhebliche Teile von Vergütungen von Unternehmensvorständen usw. unter dem irreführenden Titel von Gehältern bezogen werden, aber eigentlich den Gewinnen zugerechnet werden müssten.

3

SZ, 12.6.09: »Arcandor: Eick verteidigt Millionen-Gehalt«.

4

DIW, ZEW, R. Hauser, I. Becker, 2007, a. a. O., S. V.

5

Vgl. Steffen Ganghof: Wer regiert in der Steuerpolitik? Einkommensteuerreform zwischen internationalem Wettbewerb und nationalen Verteilungskonflikten, Frankfurt am Main: Campus 2004, S. 32.

6

Vgl. ausführlich und genauer ebd.

7

Ebd., S. 117.

8

Berndt Keller, Hartmut Seifert: »Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Formen, Verbreitung, soziale Folgen«, in: APuZ 27/09.

9

Jan Goebel, Peter Krause: »Gestiegene Einkommensungleichheit in Deutschland«, in: Wirtschaftsdienst 12/07.

10

Berndt Keller, Hartmut Seifert, a. a. O., S. 43.

11

Statistisches Bundesamt: »Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit«, 19.8.09.

12

Berndt Keller, Hartmut Seifert, a. a. O., S. 46, und Deutscher Bundestag: »Bericht 2006 der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, Drucksache 16/3982.

13

DIW: »Reallöhne in Deutschland über mehrere Jahre rückläufig«, Wochenbericht 33/09.

14

Ebd., S. 559.

15

Steffen Ganghof, a. a. O., S. 125.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009