Werner Polster


Und immer wieder die Wachstumsfrage – weil es die zentrale Frage ist




Nach einem Jahr Wirtschafts- und Finanzkrise und der lähmenden Angst, mit dem Kapitalismus könnte es zu Ende gehen, mehren sich die Anzeichen eines glimpflichen Ausgangs der Krise. Es bleibt, dass mit dem Wachstumseinbruch in Deutschland der mit Abstand schärfste Einbruch in der Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit eingetreten ist, dass die sozialen Katastrophen erst noch folgen werden und dass die Bundesrepublik mit ihrem extrem exportbasierten Wachstumsmodell exorbitant betroffen ist. Welches Wachstumsmodell soll es zukünftig sein? Unser Autor sichtet die Debatten – und plädiert gegen einen Bescheidenheitsduktus und für Dynamik.


Die Wachstumsprognosen für Deutschland werden zurzeit leicht nach oben korrigiert, mit einer Schrumpfung des BIP um fünf Prozent im Jahr 2009 sei nur noch zu rechnen. Das ist ein deutliches Stück von dem Rückgang um 30 Prozent in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nach 1929 entfernt, sodass die Auguren am Horizont schon ein V ausmachen: Auf einen schroffen Abschwung könnte ein steiler Anstieg der Konjunktur folgen.

Nicht ganz vorne an der Rampe, doch vernehmlich und gewissermaßen als Querschnittsthema durch alle Schichten der krisenanalytischen Diskurse hat sich im Jahr eins nach der Lehman-Pleite eine Wachstumsdebatte entwickelt. Selten wird sie als solche geführt, umso deutlicher aber ist, dass sie die unmittelbaren Fragen und Themen aus dem mal ökonomischen, mal ökologischen und mal sozialphilosophischen Hintergrund heraus bestimmt.


Aspekte der heutigen ökologischen Wachstumskritik

Der österreichischen Schule, speziell Friedrich August von Hayek, geriet der methodologische Individualismus so weit, dass gesamtwirtschaftliche Größen, etwa das Sozialprodukt, nicht nur obsolet erschienen, sondern als irrelevante, künstliche Phantomgrößen abgetan wurden. In der Konsequenz liefen diese Überlegungen auf die Negation der Existenz von Gesamtwirtschaft oder Marktwirtschaft hinaus, stattdessen prägte Hayek den Begriff der Katalaxie.

Tatsächlich ist es so, dass das Wachstum des Sozialprodukts eines Wirtschaftsraumes als solches nicht vorab bestimmbar ist, sondern sich als Prozessgröße ergibt. Die in den Prozess eingehenden und als solche bestimmbaren volkswirtschaftlichen Größen beziehen sich auf den Zins, den Staatshaushalt, die Einkommen und so fort. Die Wachstumskritik aus den Zeiten der Club-of-Rome-Studie von den »Grenzen des Wachstums« und die daraus folgende Problematisierung des Wachstums als solchem stand immer in der Gefahr, zu einem faktischen Plädoyer für Hochzinspolitik, staatliche Austeritätspolitik und Einkommensabbau zu führen.

Diese Zeiten der »plumpen« Wachstumskritik sind längst vorbei, vor allem weil die Kritik als solche vollständig politikuntauglich war und erst in Wirtschaftspolitik übersetzt werden musste. Die asketische Wachstumskritik fristet nur noch ein Nischendasein. In der Nische halten sich aber solche Ansätze und rücken angesichts der Wirtschaftskrise, deren Phänomene nur Ausdruck von tiefer liegenden Prozessen seien, in die öffentliche Aufmerksamkeit. Ein solcher Ansatz ist die auf eine spezifische Keynes-Interpretation zurückgehende »Theorie der endogenen Wachstumsabschwächung« (Zinn 2009). Ihr Hauptargument hat seinen Ausgangspunkt in einer abnehmenden Konsumdynamik in fortgeschrittenen Volkswirtschaften, die ihrerseits zu einem »gesättigten Investitionsbedarf« führte. Auch wenn der Staat hier als Investor einspringe, lasse sich die fundamental ausbleibende Dynamik nicht ausbügeln. Nun ist die These von der Sättigung, auch wenn sie »keynesianisch« vorgetragen wird, ebenso wenig neu, wie sich etwas daran geändert hat, dass sowohl in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und schon gar nicht auf der Ebene des Weltsystems auch nur ansatzweise Sättigung als säkulares Phänomen abzusehen ist. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang eher, wie hartnäckig sich solche Thesen halten.

Ähnlich steht es mit einer anderen Variante, die eher philosophisch vorgetragen wird (Etzioni 2009). Dort wird die »amerikanische Krankheit des Konsumdenkens« postuliert, die einem obsessiven konsumistischen Umgang mit Gütern und Dienstleistungen fröne. Ansätze einer »florierenden Gesellschaft mit gezügelter Ökonomie« ließen sich bei jenen Schichten bereits erkennen, deren Grundbedürfnisse tatsächlich gesättigt sind. Ganz dem kommunitaristischen Denkansatz verpflichtet, kommen solche Überlegungen über die Lebensweise einer minoritären sozialen Schicht in fortgeschrittenen Gesellschaften kaum hinaus, abgesehen davon, dass die in diesen Überlegungen geschilderte Entwicklung für den weit überwiegenden Teil der globalen Bevölkerung im günstigsten Fall ein Zukunftsphänomen darstellt.

Neben diese eher antiquierten Ansätze treten in neuerer Zeit Theorie- und Programmentwürfe, die einen immanenten Zusammenhang von Finanzkrise, Klimawandel und Ressourcenverknappung in einen integrierten Entwurf zusammenbinden.(1) Wenn es die »Grenzen des Wachstums« gibt, werden sie denn wohl auch eher aus dem Natursystem heraus markiert werden und nicht durch Sättigungserscheinungen im Gesellschaftssystem. Die These, dass die gegenwärtige Wirtschaftskrise nur Symptom einer viel tieferen Systemkrise sei, in der sich Ressourcenknappheit und massive ökologische Schieflagen manifestierten, ist als solche aber schneller aufgestellt als bewiesen. Ein belastbares Indiz dafür, dass die Finanzkrise eine stoffliche Ressourcenknappheit indiziere, das Marktsystem also im vergangenen Jahr der rasant nach oben schnellenden Rohölpreise seiner Informationsfunktion nachgekommen sei, hat sich im Nachhinein nicht ergeben. Der Rohölpreis war spekulativ überhitzt und rutschte mit zurückgehender Nachfrage sofort wieder ab. Gesamtwirtschaftlich spielt das Rohöl auch längst nicht mehr die Rolle wie in den 1970er-Jahren. Was aber für die Zukunft offen bleibt ist die Frage, wie sich ökologische Katastrophen (abrupte oder schleichende) und stoffliche Ressourcenverknappungen in das Marktsystem übersetzen.


Die deutschen Neoliberalen – die eigentlichen Wachstumsfeinde

Auf der plakativen Ebene trägt der deutsche Neoliberalismus das Wachstum als wirtschaftspolitische Zielgröße durchaus vor sich her. Mit der speziellen Präferenz für eine exklusiv auf Preisstabilität eingeschworenen Notenbank wird das Bekenntnis aber schon relativiert. Dass die Europäer sich diese deutsche Spezialität bei den europäischen Integrationsbemühungen diktieren ließen, wird ihnen als Problem ja erst nach und nach bewusst. Der nächste deutsche Schritt, das Ziel des ausgeglichenen Staatshaushalts, das ohne jede Absprache in der EU in das Blei des Grundgesetzes gegossen wurde, wird den Europäern noch bitter aufstoßen, wenn sie versuchen werden, ihre Nationalwirtschaften nach der Krise wieder zum Wachstum zu bringen.

Bei allen theoretischen Handwerkeleien und Bemühungen in der Ökonomie darf nicht vergessen werden, dass hinter den Theorien, Modellen und Systemen Überzeugungen verborgen sind, die als verschwiegener Input in die Reflexionsprodukte eingegangen sind. Manche nennen so etwas Moral oder Ideologie. Selten hat sich die verborgene Moral deutlicher gezeigt als in den letzten Wochen und Monaten in der neoliberalen Krisendiagnose. Die entlarvende Metaphorik trug vor: Es war die Politik des »leichten Geldes« der amerikanischen Zentralbank, welche einerseits Finanzjongleure zu »Gier« (Boni) und »rauschhaftem Verhalten« bei der Erfindung von Finanzprodukten getrieben und andererseits ahnungslose Verbraucher »verführt« habe, sich in Immobilienabenteuer zu stürzen. Verdichtet hat sich das Gemisch zum »amerikanischen Virus« (Hank 2009).

In einer stärker denunziatorischen Sprache hört sich das so an: »Es gehörte zum sozialpolitischen Traum des Roosevelt’schen New Deal, auch jenen Amerikanern zu einem eigenen Heim zu verhelfen, die sich das eigentlich gar nicht leisten konnten.« Mit der expansiven Politik des billigen Geldes wurde ein »staatliches Sozialbeglückungsprogramm gegen die Logik der Märkte« verwirklicht, entsprungen aus einem vulgären »Bastardkeynesianismus«, eine Blase, die zwangsläufig platzen musste (Straubhaar u. a. 2009).

In ihrem Furor wider das Wachstum poltern die Altvorderen neoliberaler Wachstumskritik hinterher: »Die Industrieländer folgen seit mindestens drei Jahrzehnten einem verfehlten Wachstumsbegriff. Das Wachstum ist zum Fetisch geworden, mit all seinen irrationalen Konsequenzen, die wir heute als Ausbeutung der Umwelt, Zerstörung des Klimas und Belastung nachfolgender Generationen erleben« (Biedenkopf 2009). Das 21. Jahrhundert müsse ein »Jahrhundert der Bescheidenheit« werden.

Bei einem anderen (Miegel 2009) ist es die »Droge« »Wachstum, Wachstum um jeden Preis«, der sich die westlichen Gesellschaften hingegeben hätten. In der heilsamen Krise würde deutlich: »Hinter uns liegt eine Phase des Rausches. Was dringend gebraucht wird, ist Bodenhaftung. Wie manche Unternehmen, Banken und Staaten gewirtschaftet haben, konnte nicht gut gehen. Sie mussten in den Schuldenbergen stecken bleiben, die sie seit Jahren vor sich herschieben. Die künstliche Aufschäumung der Geldmenge sprengt jedes Vorstellungsvermögen (Hervorh. d. Verf.).«

Das entstehende Gebräu enthält die Zutaten Elitarismus, Moralismus und Anti-Amerikanismus, ergänzt noch um eine Brise Provinzialismus und Anti-Globalisierung, je nach Perspektive. Die ökonomische Unterfütterung ist die aufgeblähte Geldmenge mit dem daraus entspringenden künstlichen Wachstum. Bescheidenheit lautet hier die zentrale wirtschaftspolitische Parole der Zukunft. In dieser Welt ist bekannt, was gesund ist, was moralisch ist und was jemandem zukommt. Dahinter steckt der elitäre, ständestaatsähnliche Bescheidenheitsduktus der 1950er-Jahre, der in der modernen Wachstumskritik eine Wiederauferstehung feiert. Wenn es nicht mehr weiterging und man sich in Sackgassen verirrte, gab man auch damals schon die Parole des Maßhaltens aus.


Exportorientierung – das deutsche Modell als Störfaktor in Europa

Gemessen an dem schweren Wasser älterer Diskurse hat die gegenwärtige Krise eine beachtenswerte Offenheit in Hinblick auf das deutsche Wachstumsmodell gezeigt. Stark vereinfacht lässt sich dieses Modell als extreme Exportorientierung bei gleichzeitig restringierter Binnennachfrage kennzeichnen. Die Exportquote (Anteil der Exporte am BIP) stieg von etwa 25 Prozent zu Beginn der Neunzigerjahre auf in den letzten Jahren fast 50 Prozent. Parallel dazu gab es bei den Einkommen einen säkularen Realeinkommensrückgang, sodass die Binnennachfrage als Wachstumsfaktor praktisch ausfiel.

Aufgeworfen werden damit zunächst massive Strukturprobleme in der europäischen Währungsunion. Sie gehen zurück auf unterschiedliche wirtschaftspolitische Profile der einzelnen Länder, die sich aus der Zusammensetzung von staatlichen und realwirtschaftlichen Politiken ergeben. Sie zeigen sich in der national unterschiedlichen Entwicklung der Lohnstückkosten (Flassbeck 2009a, S. 66 ff.). Die Lohnstückkosten ergeben sich aus dem Zusammenhang von nominaler Lohnentwicklung und Produktivität und bestimmen nach innen hin die Preis- und Kostenstruktur eines Landes und nach außen seine Wettbewerbsfähigkeit.

Innerhalb der Währungsunion haben sich seit der Einführung des Euro bei den Lohnstückkosten gefährliche Niveauunterschiede aufgebaut. Während die Lohnstückkosten in Deutschland in diesem Zeitraum nur verhalten gestiegen sind, zeigten sich in anderen Ländern der Währungsunion gravierende, teils doppelt so hohe Anstiege (Italien, Frankreich, Portugal, Spanien, Irland). Zuletzt sprach die EU-Kommission in einem Sonderbericht in diesem Zusammenhang von »signifikanten Divergenzen«. Da es in Europa zwar einen ordnungspolitischen Binnenmarkt, aber noch keine einheitliche Gesamtwirtschaft gibt, mithin durchaus noch Grenzen bestehen, zeigen sich diese Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit in auflaufenden Überschüssen oder Defiziten in den nationalen Leistungsbilanzen. Und hier kommt es dann zu den bedrohlichen Spreizungen, die bis dahin führen können, dass die Währungsunion einer Zerreißprobe ausgesetzt ist.

Seit Bestehen der Währungsunion hat Deutschland einen enormen außenwirtschaftlichen Überschuss aufgebaut, spiegelbildlich dazu sind Länder wie Spanien, Italien, Griechenland oder Irland in ebenso beachtliche Defizitpositionen geraten. Als es noch national unterschiedliche Währungen gab, bot sich bei solchen Konstellationen von Zeit zu Zeit die Wechselkurskorrektur an, die Defizitländer haben ihre Währung dann abgewertet, sodass sie im Exportwettbewerb wieder konkurrenzfähig wurden und ihre Bilanzen glätten konnten. In der Währungsunion ist das nicht mehr möglich.

Das Auseinanderdriften bei den Lohnstückkosten ist das Ergebnis einer Politik der Lohndämpfung im Überschussland einerseits und der Entwicklung von vernünftigen Löhnen in den Defizitländern. Schon lange vor dem Beschluss zur Einführung der Währungsunion (1992), nämlich mit Beginn der 1980er-Jahre, hat sich in der damaligen Bundesrepublik eine Entwicklung der Reallohnstagnation oder des Reallohnabbaus eingependelt, die in den Neunzigerjahren durch die Aufweichung des Flächentarifvertrags, die Deregulierung an den Arbeitsmärkten, fehlende Mindestlöhne et cetera beschleunigt wurde.

Die drohende Zerreißprobe für die Währungsunion, die ordnungspolitische Dominanz der Deutschen in Europa und die weiterhin völlig ungetrübte neoliberale Grundorientierung in der EU-Kommission werden dazu führen, dass nicht das Überschussland sich anpasst, also ein nachhaltiges Aufholen bei den deutschen Einkommen einsetzt, sondern dass umgekehrt die Defizitländer unter Druck geraten und ihrerseits eine Anpassung ihrer Löhne nach unten vornehmen.

Die Dimensionierung des deutschen Konjunkturpakets – gemessen an internationalen Maßnahmen nahm man hierzulande nicht einmal die Hälfte an Finanzmitteln in die Hand – lässt darauf schließen, welchen Wachstumspfad man in Deutschland in den nächsten Jahren einschlagen wird. Man wird weiter auf Exportorientierung setzen und darauf hoffen, dass das Ausland, insbesondere das europäische, für entsprechende Nachfrage sorgt (zwei Drittel des deutschen Exports gehen in die EU). Gesamtwirtschaftlich wird das – zusammen mit der Drift nach unten bei den Lohnstückkosten – zu höchst mäßigen Wachstumsraten in der Euro-Gruppe führen, sodass sich Europa im weltwirtschaftlichen Kontext weiter mit einer Art einfachen Reproduktion zufriedengibt. Dass das exportorientierte Wachstumsmodell hierzulande meist gefeiert und nicht darüber reflektiert wird, dass man damit das Wirtschaftsprofil eines Schwellenlandes hat, also so tut, als käme es auf nachholende Entwicklung an, steht auf einem anderen Blatt.


Das globale Wachstum mit der US-Notenbank als Impulsgeber

Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass globales Wachstum nach einem bestimmten Muster verläuft. Ihren Ausgangspunkt bekommt die Dynamik von einem Zentrum aus, das in der Lage ist, sowohl monetär wie auch realwirtschaftlich die Steuerung der Weltwirtschaft zu übernehmen. In der Zeit des Goldstandards, also durch das 19. Jahrhundert hindurch bis zum Ersten Weltkrieg, übernahm Großbritannien diese Steuerungsfunktion. Sie ging – nach einer Zeit des Übergangs zwischen den beiden Weltkriegen – über an die USA, die zunächst über das Währungssystem von Bretton Woods, später dann, ab den 1970er-Jahren, vernehmlicher noch nach dem Ende des Kalten Krieges, auch im Währungswettbewerb in die Rolle des globalen Steuerungszentrums hineinwuchsen. Monetär beeinflusst dieses globale Zentrum den Konjunkturrhythmus über die Zinspolitik und die eigene Währung, die zur Weltleitwährung wird mit allerlei sekundären Folgen (Devisenschatz, Parallelwährung, Wechselkurszentrum). Realwirtschaftlich transformiert das Zentrum die äußere Rolle in ein bestimmtes Konsummodell der eigenen Bevölkerung, das dann auch eine entsprechende Attraktivität in der Welt ausstrahlt.

Es wird kein Zufall sein, dass die ökonomische Vormacht sich mit der militärischen Hegemonie paarte. Insbesondere seit 1990, also nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz, investierten die USA gigantische Summen in die Weltordnungspolitik, ohne dass es dafür einen ökonomischen Rückfluss gab. Die Gratifikation für diese Art der Ausgaben besteht vielmehr darin, dass die politische Grundrichtung unilateral bestimmt werden kann und die Partner der Ungleichgewichte, etwa China mit seinen Dollar-Reserven, die Situation nicht ausnutzen. – Das ökonomische Zentrum der Welt steht demnach für einen Dreiklang aus Führungswährung, Konsummodell und Militärmacht.(2)

Bei den wohlfeilen Krisenanalysen hierzulande bleibt diese globale Perspektive, von der Übernahme globaler Verantwortung gar nicht zu reden, strikt ausgeblendet, sie tritt bestenfalls durch die Brille des Gleichgewichtsdenkens ins Bewusstsein. Lauthals reklamiert wird, dass die skizzierten »Defizite« der USA (Haushalt und Leistungsbilanz) ausgeglichen werden müssten, dabei sind sie tatsächlich die Impulsgeber, die weltwirtschaftliches Wachstum ermöglichen. Das Gegenstück zu dem Leistungsbilanzdefizit der USA sind die Exportüberschüsse der Chinesen, ohne den Konsum der Mittelschichten in den USA keine Wachstumsraten in China, ohne Niedrig-Zinspolitik kein Stimulus für die Mittelschichten.

In der Wirtschaftsgeschichte gab es noch keine »nachholende« Entwicklung wie die Chinas, die einen Sonderfall von außerordentlicher Ausprägung darstellt. Die Wachstumsraten liegen seit nunmehr zwei Jahrzehnten im zweistelligen Bereich. In für Volkswirtschaften – zumal dieser Größenordnung – rasender Geschwindigkeit wurde China zur größten Exportnation der Welt, zur drittgrößten Wirtschaftsmacht und durchschreitet zügig den Übergang vom Schwellenland zum Industriestaat. Das Pro-Kopf-Einkommen der riesigen Bevölkerung steigt kontinuierlich, und das Land ist bereit, internationale wirtschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Sicher nicht die Hälfte dieser Entwicklung, doch ein großes Stück davon geht auf die spezifischen Wirtschaftsbeziehungen mit den USA zurück. Die USA als realwirtschaftlicher Handelspartner nehmen den chinesischen Export ab, China schatzt Dollarreserven in seinem Nationalschatz auf und so fort. Weltwirtschaftliche Verantwortung geht in diesen Wirtschaftsbeziehungen eine geglückte Allianz mit nachholender Entwicklung ein.(3)


Die Zukunft des Wachstums nach der Finanzmarktregulation

Obgleich es so aussieht, als ob die Reformbereitschaft im Finanzsektor und bei den durch ihn geprägten angelsächsischen Staaten in dem Maße zurückgeht, wie die Schrecken der Krise durch das wiederkehrende Wachstum weichen, wird ein Rest an neuer Regulierung in den nationalen und internationalen Ordnungsmodellen eingeführt werden. Etwas wird bleiben von der Zerschlagung der Großbanken, der Erhöhung der Eigenkapitalbasis und dem Verbot besonders ziselierter Finanzprodukte. Es wird darauf hinauskommen, dass ein Teil an Dynamik aus dem Finanzsektor herausgenommen wird.

Alle Metaphern, sei es die eher »linke« Metapher vom Kasino-Kapitalismus oder die eher neoliberale Metapher von der Politik des leichten Geldes und dem »Sozialbeglückungsprogramm« oder auch die moralisierende Kritik von der Gier und dem Rausch oder die naive Malerei vom »künstlichen Wachstum«, haben einen gemeinsamen krisendiagnostischen Nenner: Sie unterstellen ein Zuviel, das irgendwie zurückgestutzt werden muss. Dynamik und Wachstum müsse, so der Tenor, aus dem gesamtwirtschaftlichen Funktionsgetriebe der Welt herausgenommen werden. Mit dem Zuviel sind aber mehr Fragen aufgeworfen als einer Lösung näher gekommen. Um wie viel Zuviel handelt es sich denn, wer hat sich das Zuviel eigentlich angeeignet, und was passiert, wenn an dem Zuviel die Heckenschere der Finanzmarktregulation angesetzt wird?

Bei Flassbeck (2009b) liest man in diesem Zusammenhang: »Uns allen könnte es besser gehen, wenn wir uns mit zwei Prozent Wachstum begnügten. Aber das wollen die Akteure am Finanzmarkt nicht.« Und: »Arbeitnehmer und Kapitaleigner können ihre Lebensumstände verbessern, wenn sie bereit sind, sich mit den zwei Prozent Zuwachs zu bescheiden, die gut funktionierende Marktwirtschaften pro Jahr hervorbringen können.«

Einmal abgesehen davon, dass die trendmäßige Wachstumsverlangsamung in Westeuropa schon längst auf diese zwei Prozent heruntergekommen ist, auch abgesehen davon, dass es noch zu beweisen gilt, dass zwei Prozent des BIP-Zuwachses im Finanzsektor hängen bleiben, und abgesehen von einigen anderen Fragen, hat der Autor in seinem kurz zuvor auf den Markt gekommenen Buch (Flassbeck 2009a) das Problem eines solchen Vorschlags gleich mitformuliert. Dort wird nämlich entwickelt, dass die herrschende neoliberale wirtschaftspolitische Denkweise im Linearen von Unternehmensreformen stecken bleibt und nicht beachtet, dass in dem System Gesamtwirtschaft an jeder Stelle, an der etwas weggenommen wird, etwa zwei Prozent Wachstum, Systemfolgen entstehen, sprich Nachfrage- und Einkommensausfall an anderer Stelle und so weiter.

Insbesondere der deutsche Neoliberalismus, der ja drauf und dran ist, seine Version der Schlussfolgerungen aus dem Zuviel auf Europa zu verallgemeinern, wird mit einer Wachstumsverlangsamung nicht nur gut leben können, er sehnt sie ja nachgerade herbei. Binnenwirtschaftliche Nachfrageimpulse werden ausbleiben, es wird eine Welle von Spar- und Maßhalteappellen über das Land schwappen, und die Bescheidenheit wird zur Primärtugend stilisiert werden. Es wird sich zeigen, ob sich die moralisierend-naturalisierende Redeweise vom durch die Geldpolitik angetriebenen Rausch und Schaumberg, die für »künstliches« Wachstum in den USA, China und der Welt gesorgt hätten, als Krisenerklärung durchsetzt.

Angesichts des rhetorisch aufgeblasenen staatlichen »Schuldenbergs« und der zu Ehrfurcht gemahnenden konstitutionell verankerten Schuldenbremse wird der neue Bescheidenheitsduktus auf viele Jahre hinaus das wirtschaftlich-soziale Leben in Deutschland bestimmen. Zusammen mit der spezifischen Variante des »moral hazard«, das europäische und globale Ausland durch den eigenen Export weiter auszumergeln, wird das vielleicht eine Zeit lang gut gehen. Wachstums- und Entwicklungsperspektiven und gesellschaftliche Dynamik – dringend nötig für den Schuldenabbau, die ökologische Innovation und globale Entwicklungsperspektiven – werden sich damit nicht eröffnen.

Statt dass Europa an die Seite der USA tritt und moderne globale Entwicklungspolitik treibt, vulgo mit einer verantwortungsvollen Zentralbank für ausreichende, günstige Liquidität sorgt, sein Exportzentrum (Deutschland) in ein Nachfrage- und ökologisches Innovationszentrum umbaut und, wenn die Investitionskraft zurückgeht, mit staatlicher Finanzierung voranschreitet, wenn der private Sektor ausfällt, entzieht sich die EU der weltwirtschaftlichen Verantwortung und mauert sich in einer selbstgenügsamen regionalen Wirtschaftsmacht mit einem großen Binnenmarkt ein. Weltwirtschaftliche Dynamik ist so von Europa nicht zu erwarten.


1

Die Ansätze geben sich in dem Begriff vom »Grünen New Deal« einen gemeinsamen Nenner. Finanzkrise, Klimawandel und Ölpreisentwicklung werden in diesem Kontext auf ihren inneren Zusammenhang untersucht.

2

Gegen alle Unkereien über den Niedergang des Dollars sei hier die These vertreten, dass der Dollar stärker denn je ist. Der säkulare Kursrückgang gegenüber dem Euro und die Anteilsverluste bei den Weltwährungsreserven können nicht verdecken, dass die beiden letzten Krisen im Dollarraum ihren Ursprung hatten und sich dann weltweit ausbreiteten und der Dollar, wenn es Spitz auf Knopf kommt, das rettende Ufer ist. Es war der Euro, für den Anfang Oktober 2008 die deutsche Kanzlerin und ihr Finanzminister mit ihrer überraschenden Garantieerklärung für die Spareinlagen das Wort ergriffen. Der Euro-Währungsraum wäre wohl auseinandergeflogen, hätte es die Garantie nicht gegeben. – Dem Dollar wiederum droht nicht Konkurrenz durch den provinziellen Euro, sondern – in einigen Jahrzehnten vielleicht – durch die chinesische Währung.

3

Eine hanebüchene Karikatur dieser Entwicklung war kürzlich in einem Kommentar der SZ zu lesen. Der Text begann so: »Dies ist die Geschichte von zwei Riesen ... Sie gefielen sich in ihrer Größe vor aller Welt, die neureiche Supermacht ebenso wie der Aufsteiger mit jahrhundertealter Tradition. Doch ihr Wachstum war künstlich (Hervorh. d. Verf.). Der Aufsteiger China pumpte die Supermacht Amerika mit Anabolika voll, bis sie vor Stärke kaum laufen konnte. Eine Stärke, die nur geliehen war. Der amerikanische Riese brach zusammen – und riss den Rest der Welt ins tiefste Loch seit Jahrzehnten.« (Hagelüken 2009) So lächerlich die Metapher und die folgende Analyse auch sind, sie bringen viel von dem auf den Punkt, was in jüngster Zeit so an Krisenanalysen zirkulierte. Dass alles wirtschaftliche Wachstum künstlich ist, ist einer solchen Vorstellung fremd. Natürliches Wachstum gibt es – wie überraschend – nur in der Natur.


Literatur

Biedenkopf, K. (2009): »Jahrhundert der Bescheidenheit« (Spiegel-Gespräch), in: Der Spiegel, Nr. 31

Etzioni, A. (2009): »Eine florierende Gesellschaft«, in: FAZ, Nr. 200

Flassbeck, H. (2009a): Gescheitert. Warum die Politik vor der Wirtschaft kapituliert, Frankfurt am Main

Flassbeck, H. (2009b): »Was sozial ist, schafft Arbeit!«; in: FAZ, Nr. 142

Hagelüken, A. (2009): »Die vergessene Gefahr. Wie Amerika und China den Globus ins nächste Chaos stürzen könnten«; in: SZ, Nr. 210

Hank, R. (2009): Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash, München

Miegel, M. (2009): »2015 – das Jahr der finalen Krise«; in: FAZ, Nr. 126

Straubhaar, Th./Wohlgemuth, M./Zweynert, J. (2009): »Rückkehr des Keynesianismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20

Zinn, K. G. (2009): »Sättigung oder zwei Grenzen des Wachstums. John Maynard Keynes hat über die Not des Augenblicks hinausgedacht«; in: Le Monde diplomatique, Juli

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009